Die geplagte Krabbe

Die geplagte Krabbe.

In uralten Zeiten, als die Tiere noch wie die Menschen lebten, Häuser bauten und Felder bestellten, lebte einmal in einem kleinen, sauberen Häuschen eine Krabbe, dicht an einem Berge und zwar an dessen Schattenseite, weil es dort nicht zu heiß wird, sondern immer hübsch kühl und feucht bleibt, wie es die Krabben lieben. Diese Krabbe war eine fleißige und tüchtige Hausfrau, die sich mit ihrer Hände Arbeit mühselig aber redlich durchs Leben schlug, dabei ihr Häuschen stets in Ordnung hielt und so von früh bis spät beschäftigt war. Eines Tages nun hatte es sich ein Pilger im Schatten nahe bei ihrem Hause bequem gemacht und sein Mittagsmahl gehalten. Als er wieder weiter wanderte, ließ er einige kleine Reste gekochten Reises liegen und die Krabbe hatte nichts eiliger zu tun, als diese Reste in ihr Häuschen zu schaffen. Dies hatte aber ein Affe beobachtet, der ebenfalls Appetit auf Reis hatte. Er kam schnell herbei und schlug der Krabbe vor den Reis zu teilen. Die gutmütige Krabbe war dazu gern bereit, aber die Hälfte des Restes war dem Affen doch zu wenig, um seinen Appetit zu befriedigen und so schlug er vor, die Krabbe solle ihm den ganzen Rest des Reises geben, wofür er ihr eine Hand voll Kakikerne geben wolle. Er hatte nämlich kurz vorher eine rote, saftige Kaki24 gegessen und die Kerne aufgehoben: Man sieht, der Affe war ein schlauer Patron und dachte die Krabbe zu überlisten.

Die Krabbe ging auch auf den Tausch ein und nahm die Kakikerne in Empfang, während der Affe den Reis empfing, den er sogleich verzehrte und sich dann, die dumme Krabbe verspottend, lachend entfernte. Die Krabbe war aber gar nicht so dumm als der Affe dachte; sie wußte sehr wohl, warum sie den Tausch annahm. Nachdem sich nämlich der Affe entfernt hatte, ging sie in ihren Garten, der sich vor ihrem Häuschen befand, wählte dort eine schöne Stelle gerade am Eingange und pflanzte dort die Kerne ein, dann trug sie Wasser aus dem nahen Bache herbei und goß dieses auf die eingepflanzten Kerne. Dann sorgte sie tagtäglich, daß der Platz ungestört blieb und hatte endlich die Freude zu sehen, daß aus einem der Kerne wirklich ein Pflänzchen emporschoß.

Im Laufe der Zeit entwickelte sich aus dem zarten Pflänzchen, dank der Sorgfalt und Pflege, die die Krabbe darauf verwendete, ein recht kräftiger Kakibaum, der auch bald schöne, saftige Früchte, so süß wie Ame25 trug, und dessen Zweige der Krabbe überdies reichlich Schatten spendeten.

So verging eine geraume Zeit. Eines schönen Tages aber spazierte unser Affe vorbei und sah mit großem Erstaunen den schönen Kakibaum voll herrlicher Früchte. Er trat näher, begrüßte die Krabbe mit ausgesuchtester Höflichkeit und fragte, wie dieser Baum hieher komme, wo doch früher nicht einmal ein Strauch war. Die Krabbe erzählte mit großer Befriedigung, daß der Baum aus einem der Kerne ersprossen sei, die sie vor Jahren von dem Affen gegen den Reis eingetauscht habe. »So, so!« meinte da der Affe, »dann wäre es ja eigentlich mein Baum und die Früchte wären ebenfalls mein Eigentum!«

»Warum nicht gar!« rief entrüstet die Krabbe; »du hast die Kerne in Tausch gegeben, ich habe sie also redlich erworben. Die Kerne waren also nicht mehr dein Eigentum, denn du hast den Reis dafür genommen. Überdies ist es nur meiner Arbeit und meiner Mühe gelungen, den Baum großzuziehen, du hast also gar keinen Anteil daran.«

»Na, seid nur nicht gleich so bös!« entgegnete lachend der Affe, »ich habe ja nur einen Scherz gemacht; oder dachtet ihr, ich würde euch den schweren Baum fortschleppen? Aber, damit ich es euch sage, ich habe gerade etwas Hunger und so einige schöne Kaki hätte ich gern wieder einmal gegessen!«

Die Krabbe war schnell besänftigt, und da der Affe gar zu schön zu bitten verstand, erlaubte sie es ihm, sich selbst einige Früchte vom Baume zu holen, da sie nicht so gut klettern könne als er, der Affe. Auch mußte dieser ihr versprechen die Hälfte der reifen Früchte ihr herabzuwerfen, die andere Hälfte könne er dann verzehren oder mitnehmen. Der Affe ließ sich dies nicht zweimal sagen, sondern versprach der Krabbe ihren Wunsch zu erfüllen, und kletterte schnell am Baum empor.

Kaum war er oben, als er an sein Versprechen nicht mehr dachte, er suchte sich die schönsten Früchte aus und verspeiste sie in aller Gemütlichkeit. Die arme Krabbe wartete und wartete, aber der Affe dachte nicht daran, ihr auch nur eine Kaki hinabzuwerfen, so daß sie ihn endlich an Erfüllung seines Versprechens mahnte. Der jedoch warf ihr jetzt lachend nur die Kerne ins Gesicht und als die Krabbe darüber ärgerlich wurde und den Affen einen Schwindler, Betrüger und Dieb nannte, da riß er unreife und harte Früchte ab und schleuderte sie auf die Krabbe, die sich dem Bombardement nur durch schleunigste Flucht entziehen konnte.

Da sie nun einsah, daß sie auf diese Weise mit dem Affen nicht fertig würde, dachte sie sich eine List aus und rief, indem sie langsam zurückkehrte, als der Affe sich gerade seine Taschen mit den reifsten Früchten gefüllt hatte:

»Nun laß es einmal genug sein des absonderlichen Spaßes; daß du werfen kannst, habe ich gesehen. Man sagt aber auch, daß ihr Affen so schöne Purzelbäume schlagen und am Schwanze hängend euch von Zweig zu Zweig schwingen könnt, das kannst du sicherlich nicht!«

»Was kann ich nicht, du dumme Krabbe? Ich kann keine Purzelbäume schlagen?« schrie ganz empört der Affe. »Da schau her, du dummes Vieh!« Dies sagend, hing er sich am Schwanze auf, schwang sich über verschiedene Zweige und machte die schönsten Bauchwellen an einem kräftigen, glatten Aste. Darauf nun hatte die Krabbe nur gewartet; denn beim Herabhängen und Schwingen waren natürlicherweise dem Affen die Früchte aus den Taschen gefallen und rollten am Boden dahin, wo sie die Krabbe schnell auflas und in ihr Häuschen in Sicherheit brachte.

Als der Affe mit seinen Turnkunststückchen fertig war und siegesbewußt der Krabbe einige Spottworte zurufen wollte, da merkte er, daß seine Taschen leer waren und sah, wie die Krabbe soeben die letzte Kaki auflas.

Voller Wut, sich überlistet zu sehen, war er mit einem Satze vom Baume, warf sich auf die Krabbe, prügelte sie windelweich und ließ sie halbtot liegen, dann machte er sich schleunigst davon. Die arme Krabbe aber schleppte sich, als der Affe verschwunden war, mühselig und unter großen Schmerzen zum Bache, wo sie ihre Wunden wusch und kühlte. Nun hatte aber die Krabbe eine Freundin, nämlich eine Wespe, die in einem alten, abgestorbenen Baume, der am Rande des Baches stand, wohnte. Diese sah, wie die Krabbe ihre Wunden wusch; sie flog herbei und fragte, was denn geschehen sei.

Die Krabbe erzählte ihr die Schandtat des Affen, worüber die Wespe sehr empört war und beschloß den Affen zu bestrafen; sie flog zu einigen anderen Freunden, erzählte denen die Geschichte weiter und hatte es endlich auch soweit gebracht, daß zwei derselben, nämlich ein Ei und ein großer, schwerer Reismörser sich mit ihr einig erklärten den Affen zu bestrafen. Zunächst aber mußte die Krabbe erst wieder gesund werden, weshalb die drei sie aufsuchten und in ihrem Leiden so vortrefflich verpflegten, daß sie bald wieder ganz hergestellt war bis auf eine kleine Lähmung im rechten Vorderbein.

Als nun die Krabbe wieder ausgehen konnte, wurde Kriegsrat gehalten. Die Krabbe, die gutmütig war und mit dem Aufhören der Schmerzen auch keine Rachegedanken mehr hatte, wollte jedoch von einer so strengen Bestrafung, wie das Töten des Affen, das die andern vorschlugen, nichts wissen. Schließlich einigte man sich dahin, daß, wenn der Affe um Verzeihung bitte und verspreche nichts Böses mehr gegen die Krabbe zu unternehmen, ihm verziehen werden solle; wenn nicht, müsse es ihm ans Leben gehen.

Die Wespe erhielt den Auftrag diesen Beschluß dem Affen zu verkünden und ihn aufzufordern, vor dem Hause der Krabbe zu erscheinen, um seine Entschuldigung vorzubringen. Sie flog, sum, sum, in den nicht zu weit entfernten Wald, wo der Affe wohnte, und hatte das Glück ihn anzutreffen. Mit lautem Summen flog sie durchs Fenster ins Zimmer, wo der Affe bei einem Fläschchen Sake26 hockte.27

»Was bringt ihr denn Gutes, Frau Wespe?« fragte er.

»Gutes oder Böses, wie ihr es nehmen wollt!« entgegnete die Wespe und richtete ihren Auftrag aus. Der Affe lachte: »Eure Drohung verlache ich, wie könnt ihr euch erdreisten mir mit dem Tode zu drohen, da müssen doch erst andre kommen als ihr winzigen Geschöpfe.« »Seid nur nicht zu übermütig«, sagte die Wespe, »so klein wir sind, haben wir doch unsre Waffen!«

»Prahle nicht, dummes Vieh!« rief der Affe ärgerlich; aber kaum hatte er das gesagt, so saß ihm die Wespe schon auf der Nase und versetzte ihm einen recht kräftigen Stich. Brüllend vor Schmerz sprang er da auf und schrie: »Ich komme, ich werde kommen!«

»Schön! das war dein Glück! Aber hüte dich vor schlechten Streichen, du entrinnst uns nicht!« Mit diesen Worten flog die Wespe davon und verkündete ihren Freunden daheim das Resultat ihrer Sendung.

Am andern Tage mußte die Krabbe sich noch krank stellen und sie legte sich auf ihr Lager sich bis zum Kopfe zudeckend, der Mörser stellte sich außen auf einen Vorsprung oberhalb der Tür, das Ei legte sich auf den Herd und die Wespe setzte sich auf den Rand eines Wasserkübels, der in einer dunkeln Ecke stand. So erwarteten alle vier den Affen. Es dauerte auch gar nicht lange, so kam er ganz furchtsam angeschlichen. Seine Nase war infolge des Wespenstiches furchtbar angeschwollen, das sah so komisch aus, daß der Mörser sich vor Lachen schüttelte und fast von seinem Platze gestürzt wäre, wenn er sich nicht schnell festgehalten hätte. Der Affe sah sich sorgfältig nach allen Seiten um; als er aber niemanden erblickte, kam er näher und spähte durch die Tür ins Zimmer, wo er die Krabbe still liegen sah. Nun kehrte sein Mut zurück und er trat keck ins Zimmer und begrüßte mit scheinheiliger Miene die Krabbe, die ganz krank und elend tat und mit leiser Stimme seinen Gruß erwiderte. Sie erwartete, daß der Affe seine Bitte um Verzeihung vorbringen werde; dem war aber sein alter Übermut wieder zurückgekehrt und er dachte gar nicht daran sich zu demütigen, vielmehr erblickte er das Ei auf dem Herde, das er schnell ergriff, indem er höhnisch lächelnd sagte: »Du also bist eins von denen, die mir ans Leben wollen? Das darf nicht ungestraft dahingehen. Deine Frechheit soll jetzt dich das Leben kosten und dabei sollst du mir noch recht schön schmecken, denn Eier esse ich zu gerne!«

»Hüte dich, Affe,« rief warnend die Krabbe, »du weißt, was deiner wartet, wenn du deine bösen Streiche nicht läßt!«

»Da sieh, wie ich deine und deiner sogenannten Freunde Drohung fürchte!« sagte da der Affe und legte das Ei auf die glühenden Kohlen um es zu backen. Aber die Strafe folgte auf dem Fuße; denn als er sich auf das Ei niederbeugte um zu beobachten, wie die Schale sich durch die heiße Glut braun färbte, da platzte die Schale und die heißen Stücke flogen ihm in die Augen und verbrannten ihm das Gesicht.

Um den Schmerz zu lindern, eilte er zum Wasserkübel; aber hier wartete seiner die Wespe, die, als er sein Gesicht ins Wasser stecken wollte, unbarmherzig auf ihn losstach, so daß er vor Schmerz heulend aus dem Zimmer eilen wollte; doch, als er durch die Türe lief, sprang von oben der Mörser herunter und hieb mit seinem Schlegel auf den Affen ein; nun kam auch die Krabbe und die Wespe heraus; erstere setzte sich auf das Genick des Affen und zwickte ihn, die Wespe zog ihr Schwert und stach ihn tot. Auch das Ei hatte sich wieder erholt und schaute dem Spektakel zu.

So straften die unscheinbaren Wesen den böswilligen Affen.

Daraus folgt, daß böse Taten immer ihren Lohn finden und daß man als Rächer auch den Kleinsten nicht gering achten soll.

Nach dem Tode des Affen lebte die Krabbe noch viele, viele Jahre in Ruhe und Zufriedenheit im Schatten des Kakibaumes und wenn man sie auch nicht getötet hat, so lebt sie heute doch nicht mehr.

  1. Kaki = Persimonpflaume. Diospyros Kaki hat in Japan die Größe eines Apfels und ist sehr beliebt. Wird frisch gegessen, auch getrocknet nach Feigenart.
  2. Ame (Ton auf dem e) = Weizengluten. Aus Weizen bereiteter Sirup, dem Honig entsprechend.
  3. Sake = Reiswein.
  4. Bekanntlich sitzen die Japaner nicht auf Stühlen sondern hocken auf dem Fußboden, wie verschiedene Bilder dieses Buches zeigen.

Der kluge Hase

Der kluge Hase.

Eines schönen Tages schwamm der Fischkönig28 in seinem Reiche wohlgemut umher; es war ein wunderschöner Tag und die Sonne erhellte das Wasser bis nahe auf den Grund. Da erblickte er plötzlich vor sich einen dicken, fetten Wurm, der ihm gar appetitlich erschien und da er gerade einen kleinen Hunger verspürte, so schwamm er auf den Wurm zu, schnappte nach ihm und – ein furchtbarer Schmerz durchzuckte seinen Körper, denn er saß an einer Angel, deren Haken ihm im Maule saß. Er zerrte und zerrte, und nach heftigem Kampfe und unter großen Schmerzen gelang es ihm endlich die Angelschnur zu zerreißen und in sein Schloß zu schwimmen, wo er sich auf sein Lager warf und die Leibärzte rufen ließ. Als diese am Bette des Fischkönigs standen, erzählte er ihnen sein Ungemach, wie er an der Angel festgesessen und wie es ihm endlich gelungen sei, sich durch Zerreißen der Angelschnur zu befreien und sich davor zu bewahren, daß sein königlicher Leib gewöhnlichen Zweibeinern, die man Menschen heiße, zur Speise diene.

»Aber der verdammte Haken,« schloß er seine Erzählung, »der sitzt hier fest im Halse und mir ist es unmöglich ihn zu entfernen, ich leide furchtbare Schmerzen. Wer ihn mir herausbringt, den will ich königlich belohnen.« Da standen nun die Ärzte ratlos am Bette des Fischkönigs und beratschlagten, was zu tun sei.

Der König wurde ärgerlich und ließ in seinem Reiche verkünden, wer ihm den Angelhaken aus dem Halse entferne, den werde er mit königlichen Ehren versehen und reich belohnen.

Da ward eine große Bewegung im Wasser, von allen Seiten eilten die Untertanen herbei, die Großen und Würdenträger bis zu den Kleinsten, vom Walfisch bis zum Stint. Alle, alle kamen, hörten die Botschaft, aber sie schüttelten ihr Haupt, denn niemand wußte Rat, niemand konnte sagen, wie man einen Angelhaken aus dem Schlunde eines Fisches entferne.

Da meldete sich endlich eine Schildkröte, die ganz im Hintergrunde gestanden hatte. Man schob sie nach vorne und da erklärte sie, daß das beste Mittel zwei ganz frische Hasenaugen (Lichter) seien; diese müsse man auf die Stelle auflegen, wo der Haken sitze, dann würde der Haken durch die Hasenaugen herausgezogen. Die Anwesenden stimmten der Schildkröte zu, und auch den Ärzten, die den Rat mit angehört hatten, erschien er gut.

Aber wo die Hasenaugen hernehmen? Der König entschied: »Wer ein Hilfsmittel vorschlägt, hat auch für ein solches zu sorgen; geh also Schildkröte und besorge mir die Hasenaugen oder du darfst dich in meinem Reiche nicht mehr blicken lassen!«

»Gut!« sagte die Schildkröte, »ich werde Euch einen Hasen herbeischaffen, die Augen müßt ihr Ärzte selbst ihm nehmen und mir gestatten mich zu entfernen, da ich kein Blut sehen und riechen kann!«

Des waren alle zufrieden und die Schildkröte machte sich auf den Weg und freute sich schon auf die großen Ehren und Geschenke, die ihr zuteil werden würden, wenn es ihr gelinge den Hasen in des Königs Schloß zu bringen. Sie kletterte also aus dem Wasser und wanderte einem Hügel zu, auf dem, wie sie wußte, ein Hase sich niedergelassen hatte. Sie hatte Glück; denn als sie mühsam den Hügel erklettert hatte, sah sie den Hasen gerade beim Frühstück sitzen; er hatte einen prachtvollen Krautkopf vor sich, an dem er knabberte. Als der Hase das Geräusch der sich nähernden Schildkröte hörte, ließ er erschreckt den Krautkopf fallen und richtete sich auf seinen Hinterbeinen empor, um zu sehen, wer da komme. Da er aber sah, daß es nur die Schildkröte war, beruhigte er sich und begrüßte sie. »Was verschafft mir denn die Ehre Eueres Besuches, verehrte Frau Schildkröte?« fragte er.

»Nichts Besonderes, Herr Lampe!« antwortete die Schildkröte, vom Klettern noch ganz atemlos. »Man hat im Reiche des Fischkönigs die wunderschöne Aussicht gerühmt, die man von hier haben soll, und so bin ich abgesandt, festzustellen, ob dies wirklich so ist. Ihr gestattet doch, daß ich mich ein wenig umschaue!«

»Bitte, bitte!« erwiderte der Hase.

Die Schildkröte schaute hierauf nach vorn, schaute nach hinten, schaute nach rechts und schaute nach links, machte auch einige Schritte bald nach dieser, bald nach jener Seite und tat, als ob sie alles sorgfältig betrachtete, dann meinte sie: »So etwas besonders Schönes kann ich nicht sehen, da hat man diese Gegend mehr gerühmt als sie wert ist!«

»Ja, Frau Schildkröte,« entgegnete der Hase, »auf dieser Seite des Hügels gibt es nichts Besonderes zu sehen, da müßt Ihr Euch schon auf die andre Seite bemühen! Kommt, ich will Euch führen!«

»Was gibt es denn auf der andern Seite des Hügels?«

»Viel, viel Besseres als hier! Hier gibt es nur Wiesen und Weiden, aber auf der andern Seite prachtvolle Kraut- und Rübenfelder, so saftig, so delikat, eine wahre Wonne!« rief der Hase.

Die Schildkröte lachte und meinte: »Ihr seht die Sache mit dem Magen anstatt mit den Augen. Doch bleibt nur, ich habe keine Lust, Kraut- und Rübenfelder zu sehen, da lob ich mir doch das Land des Fischkönigs, da gibt es alles Gute und Schöne, prachtvolle, kühle Wälder, herrliche Wiesen, Täler, Höhen und Felder, auf denen die Krautköpfe viel größer und saftiger sind als hier auf der trockenen Erde. Und dann die Bequemlichkeit, keine Mühe und Anstrengung. Hier mußte ich um zu Euch zu gelangen, mühsam klettern, so daß ich fast den Atem verlor, während mich das Wasser überall hinträgt, wohin ich will. Und dann die Ruhe und Sicherheit dort unten, da gibt es keine Menschen und keine Jäger! Nein, wißt Ihr Herr Hase, Eure ganze schöne Gegend und die ganze Erde kann mir gestohlen werden, ich lobe mir mein Reich und will mich nur schnell wieder auf den Heimweg machen!«

»Hm, Hm!« machte der Hase und dachte ein Weilchen nach. »Hört mal, Frau Schildkröte, Ihr habt mir Eure Gegend so schön geschildert, daß ich wirklich Lust bekomme, sie einmal zu sehen; aber leider geht es nicht, denn in dem verflixten Wasser kann unsereiner ja gar nicht leben. Könntet Ihr mir nicht einen Krautkopf von da unten gelegentlich mal schicken oder mitbringen?«

»Das geht leider nicht!« entgegnete die listige Schildkröte, die bemerkte, daß der Hase Lust hatte in das Reich des Fischkönigs mitzukommen. »Unsere Krautköpfe sind so groß, daß ich auch nicht einen tragen kann. Aber, kommt doch mit mir. Das Wasser wird Euch keinerlei Umstände machen, ob Ihr in der Luft oder im Wasser lebt, ist alles gleich, das ist alles nur Gewohnheit!«

»Das mag gut und schön sein, aber ich kann nicht schwimmen!« sagte betrübt der Hase.

»Das macht nichts!« rief die Schildkröte, die kaum noch ihre Aufregung und Freude unterdrücken konnte, »wenn Ihr mit mir geht, will ich Euch gerne aus reiner Freundschaft helfen und in unser Reich bringen. Ihr steigt, wenn wir am Wasser angekommen sind, auf meinen Rücken, steckt Eure Pfoten vorne unter mein Schild und haltet Euch so fest an. Ich führe Euch dann sicher hinunter und, wenn es Euch nicht gefällt, ebenso sicher wieder zurück!«

Der Hase traute der Geschichte doch nicht so recht, er hatte eine furchtbare Angst vor dem Wasser, aber die Schildkröte stellte ihm die Reise ganz ungefährlich dar und gab ihm schließlich sogar ihr Ehrenwort, daß ihm das Wasser nicht das geringste tun werde.

Da war der Hase überwunden und er beschloß die Reise zu wagen. Als nun beide am Rande des Wassers angekommen waren, stieg er auf den Rücken der Schildkröte und hielt sich mit seinen Vorderpfoten am Schilde der Kröte fest, die langsam ins Wasser ging. Dem Hasen wurde es doch ungemütlich, als er das kalte Wasser fühlte und als es ihm sogar über den Kopf ging, da schloß er ängstlich die Augen. Dann öffnete er sie wieder und sah nun, daß das Wasser ihm wirklich keine Beschwerde machte. Er war ganz entzückt von den Wundern unter dem Wasser, von denen er bisher keine Ahnung hatte, er sah blühende Täler mit saftigen Wiesen, grünende Felder, schimmernde Berge, bewachsen mit Rosen und anderen Blumen, die er nicht kannte.

Und dann das Leben im Wasser! Tausende von Fischen umschwärmten ihn und jubelten ihm zu. Da kamen auf einmal lange, schmale, zierliche Fische angeschwommen, denen alle andern ehrerbietig Platz machten. »Was sind das für Tiere?« fragte der Hase. »Das sind Diener des Königs!« antwortete die Schildkröte.

Als diese Fische nahe waren, machten sie dem Hasen ihr Kompliment, beglückwünschten ihn, daß er den Mut zu solcher Reise gehabt habe und erzählten ihm, daß der König von seinem Besuche gehört habe und seinen Mut bewundre. Der König wolle einen so mutigen Hasen sehen und lade ihn in sein Schloß ein.

Der Hase war ganz stolz auf solche Ehre und nahm die Einladung an. Die Fische kehrten um und schwammen voran, während die Schildkröte mit dem Hasen folgte.

Im Schlosse des Königs angelangt, stieg der Hase von seinem Sitze und wurde in das Krankenzimmer geführt, während die Schildkröte sich einstweilen aus dem Staube machte.

Im Krankenzimmer waren nur die Ärzte um den König versammelt, die den Hasen freundlich einluden auf einem prachtvollen Muschelsessel Platz zu nehmen. Dann besprachen sich die Ärzte leise, wie man wohl am leichtesten dem Hasen die Augen nehmen könne. Der Hase hatte aber gute Ohren und so hörte er mit Entsetzen dieses leise Gespräch und obwohl ihm die Haare klitschnaß am Leibe klebten, standen sie ihm doch sogleich vor Angst zu Berge. Er verwünschte seine Neugier und überlegte, wie er sich am besten aus dieser Schlinge ziehen könne, die ihm die Schildkröte gelegt hatte. Endlich kam ihm ein Gedanke. »Hört, Ihr Herren!« rief er, »ich hörte, daß Ihr von meinen Augen sprachet. Was ist es damit, was wollt Ihr mit meinen Augen?«

Die Ärzte erklärten ihm in höflicher Weise die ganze Angelegenheit und baten, daß er, um das Leben des Königs zu retten, seine Augen freiwillig hergeben solle!

»Das ist aber dumm,« sagte der Hase, der tat, als ob er nachdenke und seine Ohren hin und her bewegte, »ja, ja das ist dumm von der Schildkröte, daß sie mir das nicht gleich gesagt hat, dann wäre Eurem König jetzt schon geholfen. Ihr müßt nämlich wissen, Ihr hohen und gelehrten Herren, daß wir Hasen vier Augen haben, nämlich zwei natürliche und zwei aus Bergkristall gefertigte. Diese letzteren tragen wir, um die natürlichen Augen zu schonen, so bei staubigem oder Regenwetter, bei Sturm und Ungewitter. Da mir nun Eure Schildkröte nicht sagte, weshalb ich herkommen sollte, so steckte ich meine künstlichen Augen ein, weil ich glaubte, daß die natürlichen Augen, mit denen ich auf dem Lande sehe, hier im Wasser mir wenig nützen würden oder sogar beschädigt werden könnten. Diese natürlichen Augen habe ich daheim verborgen und es wird mir eine große Freude sein, sie Eurem König zu seiner Heilung anzubieten. Es bleibt nichts weiter übrig,« fügte er scheinheilig hinzu, »als daß Ihr die Schildkröte wieder ans Land schickt und meine Augen holen lasset!« »Ja, wird denn die Schildkröte die Augen auch finden?« warf einer der Ärzte ein.

»Man muß sie fragen!« sagte ein anderer und so wurde die Schildkröte wieder gerufen. Diese kam fröhlich herbei, denn sie glaubte nun sei alles zu Ende und ihr Glück sei gemacht. Aber wie erschrak sie, als sie den Hasen ganz munter, mit seinen Augen im Kopfe auf dem Muschelsessel sitzen sah. Sie wußte nicht, was sie denken sollte und war höchst erstaunt, daß sie Scheltworte zu hören bekam, anstatt Worte des Dankes. Man machte ihr Vorwürfe, daß sie einem so liebenswürdigen Herrn nicht gleich gesagt habe, was man von ihm wolle, sie habe dadurch die Heilung des Königs verzögert.

»Das ist gut!« dachte die Schildkröte, »aber das kommt davon her, wenn man Großen einen Dienst erweisen will. Wie man es auch macht, richtig ist es nie!« Die Schildkröte wurde nun gefragt, ob sie sich getraue, die Augen des Hasen zu finden und herzubringen, wenn der Hase ihr den Ort genau beschreibe, wo er sie verborgen habe.

Aber die Schildkröte erklärte, daß sie es wohl übernehmen wolle, die Augen zu finden; sie aber herzubringen, das sei für sie zu riskant, denn sie verstehe es nicht, mit so empfindlichen Dingen, als die Augen sind, umzugehen. Am besten sei es wohl, wenn der Hase sie selbst hole, hin und her wolle sie den Hasen gern tragen. Das war es, was der Hase gern wollte, er tat aber so, als ob das für ihn zuviel verlangt sei, auch der König wurde ärgerlich und sagte:

»Ist es nicht genug, daß der Hase uns seine Augen anbietet? Sollen wir einem so liebenswürdigen Herrn zumuten, auch noch selbst den Weg zu machen, bloß weil Ihr Schildkröte zu lässig waret? Nein! machet Euch sofort auf den Weg und seht zu, wie Ihr die Augen herbringt. Eure Sache ist es, den Fehler, den ihr begangen, wieder gut zu machen!«

Der Hase, der Angst hatte, daß man ihn wirklich da behalten würde, nahm sich zusammen und entgegnete:

»Verzeiht, edler König! Aber ich glaube Frau Schildkröte hat Recht. Wenn sie die Augen auch findet, fürchte ich doch, daß sie damit nicht richtig umgeht und sie verletzt, so daß sie für Euch ohne Nutzen sind. Erlaubt also, daß ich die Schildkröte begleite und die Augen selbst überreiche. Dieser kleine Weg ist keine Mühe, und selbst, wenn es Mühe wäre, für Euch, edler König, um Euch zu helfen ist mir keine Mühe zu groß!«

Alle waren erstaunt über solch großen Edelmut, sie schämten sich aber auch zugleich, daß man den Hasen habe betrügen wollen, ihn, der so großmütig war, den Weg nochmals zu machen, nur um dem König einen Dienst erweisen zu können. Nach langem Hin- und Herreden wurde der Schildkröte denn schließlich befohlen, den Hasen ans Land zu bringen und ihn ungefährdet mit den Augen wieder zum König zu führen.

Die Schildkröte nahm also den Hasen, nachdem sich dieser höflichst verabschiedet hatte, wieder auf den Rücken und trug ihn ans Land. Dort angekommen, schüttelte der Hase das Wasser aus seinem Fell und sprach zur Schildkröte:

»Du listiges Vieh, beinahe hättest du mich überlistet, aber meine List war besser als die deine und Eure Dummheit größer als die meine. Wenn du Hasenaugen brauchst, suche sie dir nur. Ich brauche die meinen vorläufig noch für mich. Lebt also wohl und grüßet Euren König recht schön von mir!«

Sprach’s, sprang auf und eilte den Hügel hinan, die verdutzte Schildkröte sprachlos zurücklassend.

Seit dieser Zeit geht der Hase einer jeden Schildkröte vorsichtig aus dem Wege und die Schildkröte lebt seitdem bald im Wasser, bald auf dem Lande, denn im Wasser fürchtet sie den Fischkönig und auf dem Lande hofft sie noch immer ein Paar Hasenaugen zu finden.

  1. Gemeint ist der Karpfen, der in Japan als Sinnbild der Kraft und Stärke gilt, weil er gegen den Strom schwimmt und selbst Wasserfälle und Stromschnellen überwindet.

Maorigashima

Maorigashima

Maorigashima war einst eine blühende Insel, deren Bewohner glücklich und zufrieden leben konnten, da alles, was man zum Leben braucht, die Insel hervorbrachte. Auch gab es dort einen vorzüglichen Ton, aus dem die Leute prachtvolle Töpfe und Schalen bereiteten, die hochbezahlt wurden. Aus diesem Grunde herrschte auf der Insel Wohlstand und Reichtum, arme Leute gab es dort überhaupt nicht.

Die Insel lag im Süden von Japan, nahe bei dem heutigen Formosa, ihr Herrscher war Pairuno, ein gottesfürchtiger und gerechter Fürst, der mit großer Betrübnis sah, wie der Reichtum und das Wohlleben die Sitten seiner Untertanen verdarb, wie diese immer mehr sich der Völlerei und dem Nichtstun ergaben und die Lehren der Götter verachteten.

Alle Mahnungen und das gute Beispiel eines gottgefälligen, redlichen Lebens des Herrschers vermochten nicht, die Bewohner von Maorigashima wieder auf den Pfad eines ehrsamen Lebenswandels zurückzubringen; im Gegenteil, die Laster nahmen überhand, selbst die Beamten, die sich bisher noch immer in Schranken gehalten hatten, ergaben sich schließlich dem lasterhaften Leben und vernachlässigten ihre Pflichten. Als Pairuno sah, daß alle seine guten Lehren nichts helfen wollten und daß ihm die Macht fehlte, gewaltsam eine Besserung der Zustände herbeizuführen, weil ja die Beamten selbst ein zügelloses Leben führten und nicht mehr gehorchten, wandte er sich an die Götter und bat diese um Hilfe und Rettung.

Eines Tages war er wieder im Tempel in inbrünstigem Gebete versunken, da hörte er eine Stimme, die ihm zuraunte:

»Das Maß der Sünden Maorigashima’s ist voll und die Götter haben beschlossen, die Insel mit allen Bewohnern zu vernichten. Du allein bist ausersehen am Leben zu bleiben, um der Nachwelt den Untergang der Insel zu verkünden, auf daß andre sich daran ein Beispiel nehmen. Halte darum ein Schiff bereit, um, wenn die Stunde naht, dich dem Strafgerichte zu entziehen, das die Götter über Maorigashima und seine Bewohner verhängt haben. Weil du gerecht bist und die Götter ehrst, sollst du die Stunde des Gerichts wissen. Wenn das Antlitz der Tempelwächter, die als Bildsäulen am Eingang des Tempels stehen, rot sein werden, dann schiffe dich ein und säume nicht; solange die Antlitze ihre weiße Farbe behalten, hat es keine Gefahr!«

Pairuno dankte den Göttern für die Offenbarung und bat diese seinen Untertanen bekannt geben zu dürfen, auf daß sich bekehren könne, wer es wolle. Die Götter bewilligten die Bitte und gaben Pairuno die Zusicherung, daß ein Jeder, der sich freiwillig mit ihm einschiffe, verschont und gerettet sein werde. Hocherfreut ging der Herrscher in seinen Palast zurück. Er ließ alle Beamten rufen und verkündete ihnen, was ihm die Götter offenbart hatten; auch gab er Befehl, dies dem ganzen Volke bekannt zu geben.

Aber die Beamten und das Volk verlachten die Warnung und spotteten über ihren Fürsten, ja einer der Beamten schlich sich eines Nachts heimlich zum Tempel und beschmierte die Gesichter der Bildsäulen mit rotem Ton.

Als Pairuno dies am Morgen sah, glaubte er die Stunde des Strafgerichts gekommen und schiffte sich schnell mit den Seinen ein. Er forderte das Volk auf sich zu retten und bat zu ihm aufs Schiff zu kommen. Doch alle verlachten ihn und der Spötter, der in der Nacht die Gesichter der Bildsäulen beschmiert hatte, gestand seine Tat hohnlachend ein, indem er erklärte, daß nicht die Götter, sondern er die Rotfärbung vorgenommen habe.

Aber Pairuno entgegnete ernst:

»Die Götter haben mir nicht gesagt, daß sie selbst das Weiß der Angesichter der Tempelwächter in Rot verwandeln werden, sondern sie haben mir nur gesagt, wenn das Antlitz rot sein werde, dann sei die Stunde gekommen! Rot sind jetzt die Angesichter und an den Worten der Götter soll man nicht drehen und deuteln. Wenn du Spötter den Göttern vorgegriffen hast, umso schlimmer für dich!«

Damit gab Pairuno den Befehl vom Lande abzustoßen und in angemessener Entfernung zu verharren. Kaum war das geschehen, da verfinsterte sich die Luft, ein Brausen ertönte aus der Tiefe des Meeres, dessen Wellen sich hoch auftürmten, und die Insel sank mit allem, was darauf war, auf den Meeresgrund. Dann wurde es wieder licht, das Meer lag ruhig wie immer, ein azurblauer Himmel lächelte, aber von der blühenden Insel war nichts mehr zu sehen. Pairuno fuhr nach dem Festlande und gab Kunde vom Ende Maorigashima’s und seiner Bewohner.

Noch heute, wenn bei ruhigem Wetter und mondklaren Nächten Fischer über die Stätte fahren, da die Insel einst gestanden, können sie tief unten die Straßen und Häuser erkennen; manchmal geschieht es auch, daß die Netze das eine oder andere Stück der früher auf Maorigashima angefertigten kostbaren Töpferwaren, eine Vase, eine Schale oder irgend einen Topf enthalten. Solche Gegenstände sind sehr begehrt und werden hoch bezahlt, deshalb wird ein jeder Fischer glücklich gepriesen, der ein solches Stück findet. Viele hat es schon verlockt, nach solchen Gegenständen zu suchen, doch nur, wer reinen Herzens ist und den nicht die Sucht nach Reichtum treibt, den lassen die Götter einiges finden; alle übrigen aber müssen mit leeren Händen und oftmals auch mit zerrissenen Netzen heimkehren.

  1. Sprich: Maurigaschima. Diese Sage erinnert an die »Vineta« Sage.

Zur Einführung

Zur Einführung.

Nicht mit Unrecht wird Japan als das »wunderbare Sonnenland« bezeichnet; denn neben seinen wirklich wunderbaren Naturreizen bieten Kunst und Literatur, ganz besonders die des Altertums, eine schier unerschöpfliche Fundgrube nicht nur für den wissenschaftlichen Forscher sondern auch für den Schöngeist und für den Freund eines reinen Volkstums. Gar reich, und nicht hinter der deutschen zurückstehend, ist die japanische Märchenwelt, aus der ich hier eine Auswahl zusammengestellt und für die deutsche Jugend bearbeitet habe.

Es ist dies meines Wissens das erste Werk, das aus dem reichen Märchenschatze Japans der deutschen Jugend eine sorgfältig zusammengestellte Auswahl bietet; mag auch das eine oder andere hier und dort einmal irgendwo veröffentlicht und dadurch bekannt sein, so ist dies doch meistens zerstreut in Zeitungen, Zeitschriften oder wissenschaftlichen Werken in wörtlicher Übersetzung erfolgt und nur für Erwachsene geeignet.

Keine jener Veröffentlichungen ist von mir benutzt worden oder hat mir als Vorlage gedient, sondern lediglich die japanischen Ausgaben und mündliche Erzählungen der Japaner; deshalb enthält das Vorliegende auch viele Fabeln und dergl., die nur im Munde des Volkes leben, von denen sich also in der Literatur selbst keine Spuren finden.

Da dieses Buch der deutschen Jugend gewidmet ist, mußten bei der Auswahl und Bearbeitung größte Sorgfalt aufgewendet und manche Stellen verändert, fortgelassen oder durch andere ersetzt werden, um das ganze dem Verständnis der Jugend anzupassen, dies umsomehr, als die Originale oft eine derart freie Sprache führen, daß man sie, unserem deutschen Moralempfinden entsprechend, nicht jedermann in die Hand geben kann.

Durch Beifügung erläuternder Anmerkungen, historischer Daten usw. dürfte dieses Buch einen über den Rahmen einfacher Märchenlektüre hinausgehenden Wert gewinnen.

Besonderer Dank sei an dieser Stelle den Herren Dr. Miyauchi, Ohno, Nakamura, Hajime Iwane und K. Nakamatsu für ihre liebenswürdige Beihilfe zu diesem Werke; auch dem Herrn T. Tokikuni, der die farbigen Bilder zeichnete, während die übrigen älteren und neueren japanischen Werken entnommen sind.

Möge daher diese Gabe, die ich der Jugend in meiner deutschen Heimat von hier aus dem fernen Osten, aus dem Lande der aufgehenden Sonne biete, gern angenommen werden und Beifall finden.

Tokyo.
Karl Alberti.

Die Kröte von Osaka und die von Kyoto

Die Kröte von Osaka und die von Kyoto.

In Kyoto wohnte einmal eine Kröte, die sehr reich und gelehrt war. Einmal hörte sie von Naniwa19 und den dortigen Kunstschätzen sprechen und sie bekam den Wunsch diese einmal zu sehen.

Eines schönen Frühlingstages machte sie sich denn auch auf die Reise, die sie aber zu Fuß unternahm, weil man bei einer Fußreise mehr sehen und erfahren kann.

So wanderte sie denn von Kyoto den Weg entlang, der nach Osaka führt und kam über Myosin und Yamasaki bei Hishi Kaido, wo der berühmte Berg Tenno ist, über den der Weg führt.

Da der Tenno yama20 in der Mitte zwischen Kyoto und Osaka liegt, so beschloß die Kröte, als sie mit Mühe und Not die Berghöhe erklettert hatte Rast zu machen.

Nun wohnte aber auch in Osaka eine Kröte, die zur gleichen Zeit den Wunsch hatte, Kyoto zu sehen; auch diese machte sich auf den Weg und kam nach vieler Mühe über Tokatsuki ebenfalls auf dem Gipfel des Tennoyama an, wo sie mit ihrer Kollegin aus Osaka zusammentraf.

Beide Kröten begrüßten sich, wie es bei solch hohen Herrschaften üblich ist, mit vielen Verbeugungen und besprachen ihre Reise.

Schließlich sagten sie: »Wir haben hier erst die Hälfte unserer Reise hinter uns und die andere Hälfte noch vor uns. Aber unsere Beine und Hüften schmerzen uns und drücken uns nieder. Da wir von hier Osaka und Kyoto sehen können, so wollen wir uns auf unsere fünf Zehen stellen und jede den Ort betrachten, wo wir hin wollten. Auf diese Weise vermeiden wir weitere Anstrengung und Schmerzen!«

So taten sie.

Die Kröte von Osaka wendete den Kopf nach Kyoto, die von Kyoto nach Osaka, dann richteten sie sich auf ihren Hinterfüßen auf und betrachteten aufmerksam die betreffende Stadt.

Da nun aber die Kröten ihre Augen oben auf dem Kopfe haben, (woran die beiden nicht dachten), so schauen sie, wenn sie sich emporrichten stets rückwärts. Und so kam es, daß die Kröte von Osaka nicht Kyoto sondern Osaka und die andere gleichfalls nicht Osaka sondern Kyoto sah, jede also die Stadt, von der sie hergekommen war.

Als sie genug geschaut hatten, sagte die Kröte von Kyoto: »Ich habe gehört, daß Osaka eine berühmte Kunststadt sein soll; aber ich sehe, sie ist gar nicht anders als Kyoto. Da ist es besser gleich heimzukehren!«

Auch die Kröte von Osaka sagte, indem sie eine verächtliche Grimasse schnitt: »Und ich hörte, daß die Hauptstadt21 die schönste Stadt des Landes sei und einer Blume gleiche; jetzt sehe ich aber, daß sie vollständig Osaka gleicht. Da kehre ich auch um und gehe heim!«

Sie begrüßten sich gegenseitig zum Abschied und gingen eine jede in ihre Heimatstadt zurück.

Wir können an diesem Beispiel lernen, daß oft ein falsches Urteil gefällt wird, weil man seine Augen nicht richtig benutzt und nicht weiß, wo man sie hat. Daher ergeht es vielen Menschen so wie diesen Kröten.

  1. Naniwa = altjapanischer Name für Osaka.
  2. Tennoyama = Berg Tenno, Tenno = Name, yama = Berg.
  3. Kyoto war von 794 bis 1869 die Hauptstadt Japans.

Karl Alberti

Karl Alberti

Karl Alberti

Japanische Märchen

Sagen und Fabeln Japans für die deutsche Jugend ausgewählt und frei ins Deutsche übersetzt von Karl Alberti