Schlauheit schützt nicht vor Täuschung

Schlauheit schützt nicht vor Täuschung.

Im japanischen Meere lebt ein giftiger Fisch, der den Namen Fugu33 hat. Einen solchen Fisch hatte einst ein Mann gefangen und sich zubereitet. Schließlich kamen ihm aber doch Bedenken und er warf zunächst ein Stückchen seiner Katze hin. Diese ergriff es und eilte damit davon. Der Mann lief ihr nach um zu sehen, ob es ihr etwas schade. Die Katze aber war unter einen Holzhaufen gekrochen und kam nach einem Weilchen wieder ganz munter hervor.

Nun dachte der Mann, daß die Katze das Stück Fisch ohne Schaden zu sich genommen habe. Wenn ein so schlaues Tier, wie eine Katze, einen Fisch, der für giftig gehalten wird, nicht verabscheue, sondern unbedenklich verzehre, dann könne er es auch tun; er setzte sich hin und aß mit großem Behagen das Fischgericht. Die Katze aber war wirklich ein schlaues Tier; denn auch ihr waren Bedenken gekommen und sie hatte deshalb das Stück Fisch vorläufig versteckt um erst zu sehen, ob ihr Herr vom Fische genieße. Als sie nun sah, daß er ihn mit gutem Appetit verzehrte, da lief auch sie zurück und ließ es sich schmecken. Aber die Folgen blieben nicht aus. Das Gift fing bald an zu wirken und Herr und Katze starben unter großen Qualen. So sieht man, wie sich selbst der Schlaueste manchmal täuschen läßt.

  1. Fugu, ein stachlicher Fisch zur Gattung der Tetrodon gehörig; das Fleisch dieses Fisches ist giftig und daher ungenießbar. Er wird nur gefangen um als Düngemittel verwendet zu werden.

Der bedächtige Reiher

Der bedächtige Reiher.

Ein Reiher spazierte am frühen Morgen im Teiche gravitätisch auf und ab; er hatte Hunger und suchte sich Beute. Da sah er plötzlich einen zierlichen Aal sich durch das klare Wasser schlängeln; auch ein munteres Fischlein kam herbeigeschwommen und endlich hüpfte ein Frosch auf ein großes Lotosblatt und stimmte seinen Morgengesang an.

»Hei!« dachte der Reiher, »das ist reiche Beute! Aber welchen von den dreien nehme ich zuerst?«

Nachdenkend neigte er seinen Kopf, aber während er überlegte, hatten die drei Tierlein ihren gefährlichen Feind erblickt.

Der Frosch war mit einem Satz im Wasser verschwunden; das Fischlein tauchte schnell unter und schwamm davon und der Aal verkroch sich im tiefsten Schlamm. Da stand nun der Reiher, als er sich entschieden hatte, wieder einsam, die sichere Beute war verschwunden und neue wollte sich nicht zeigen. Er steht noch heute nachdenklich im Teiche und wartet noch immer. So geht es allen zu Bedächtigen, die über dem Überlegen das Handeln vergessen.

Juki-onna

Juki-onna

s waren einmal zwei Holzhauer: der eine hieß Nishikaze,2 dieser war ein älterer Mann, während der andere Teramichi hieß und noch ein Jüngling war. Beide wohnten im gleichen Dorfe und gingen jeden Tag zusammen in den Wald um Holz zu schlagen. Um in den Wald zu gelangen, mußten sie einen großen Fluß passieren, über den eine Fähre eingerichtet war. Als sie eines Tages spät mit ihrer Arbeit fertig waren, wurden sie von einem furchtbaren Schneesturm überrascht; sie eilten zur Fähre, mußten aber zu ihrem großen Schrecken sehen, daß der Fährmann soeben übergesetzt war und sich auf der anderen Seite des reißenden Flusses befand, von der er des rasenden Sturmes wegen vorläufig nicht zurück konnte. Da die Beiden im Freien das Ende des Sturmes nicht abwarten konnten, beschlossen sie in das nahebei befindliche Haus des Fährmanns zu gehen und dort dessen Rückkehr abzuwarten. Gesagt, getan! Im Hause angekommen, warfen sie sich zur Erde, nachdem sie Tür und Fenster wohl verwahrt hatten und lauschten dem Tosen des Sturmes. Der Ältere, ermüdet von des Tages Last und Arbeit, war bald in Schlaf verfallen; aber der Jüngere konnte kein Auge schließen, denn das Heulen, Brausen, Rauschen und Krachen war unheimlich und das Häuschen erzitterte in allen Fugen.

Plötzlich gab es einen fürchterlichen Schlag, als wollte der Sturm das Haus zertrümmern, die Tür sprang auf und ein eisiger Wind mit einer riesigen Schneewolke drang herein. Entsetzt starrte Teramichi auf die Wolke, denn diese bewegte sich auf und ab und nahm endlich menschliche Gestalt an, die Gestalt einer Frau in weißem Gewande und wandte sich zu der Stelle, wo Nishikaze schlief; dort beugte sie sich zu dem Schläfer nieder, ihrem Munde entströmte ein weißer Nebel, der sich auf das Gesicht des Mannes ausbreitete, dann richtete sie sich auf und kam auf Teramichi zu, der, unfähig ein Glied zu rühren, die Augen angstvoll weit geöffnet hielt. Dicht vor ihm angekommen neigte sie sich nahe auf sein Gesicht und sah ihn ein Weilchen ruhig an; dann sprach sie leise, ihre Stimme war wie ein Hauch und ihr Gesicht nahm freundlichere Züge an: »Deinen Kameraden habe ich getötet, wie alles, das in mein Bereich kommt. Auch du solltest sein Los teilen, doch bist du noch kein Mann und hast noch nicht gelebt. Drum sei verschont! Doch diese Schonung wird dir nur so lange Zeit, als du schweigen kannst. Kommt auch nur ein Wort von dem über deine Lippen, was du hier erlebtest, – sei es zu wem es wolle, nicht Vater, nicht Mutter, nicht Weib noch Kind, niemand, hörst du, niemand darf erfahren, was hier geschah, – so treffe ich dich, wo es auch sei! Denke daran!«

Nach diesen Worten schwebte sie langsam empor und verschwand durch die Tür.

Jetzt wich der Bann von dem jungen Manne, er sprang auf, eilte zur Tür und verschloß sie fest. Dann wandte er sich zu seinem Kameraden und rief ihn an; doch dieser rührte sich nicht, er war steif und starr, er war tot, sein Gesicht verklärte ein glückliches Lächeln. Endlich ließ der Sturm nach und der Morgen brach an und der Fährmann, der nun zurückkehrte, fand beide Männer in seinem Häuschen und hielt sie für tot, für erfroren; doch als er sie aufhob, tat Teramichi einen tiefen Seufzer, schlug die Augen auf und kam bald wieder zu sich, während Nishikaze tot blieb und begraben wurde.

Der junge Mann aber ging wieder seinem Berufe nach und wanderte tagtäglich in den Wald, erzählte niemand sein Abenteuer, das er mit der Schneefrau, denn eine solche war es, wie ihm zur Gewißheit wurde, hatte. So gingen zwei Jahre dahin.

Als er eines Abends nach vollbrachtem Tagewerk wieder heimwärts wanderte, begegnete ihm ein junges hübsches Mädchen, das ihm so gefiel, daß er sich in ein Gespräch einließ. Das Mädchen erzählte ihm, daß es Waise sei und zu entfernt wohnenden Verwandten wandern wolle, wo es hoffe aufgenommen zu werden.

Als das Paar nahe dem Dorfe war, in dem Teramichi wohnte, sprach dieser zu dem Mädchen:

»Es ist jetzt Abend und kalt und die Wege sind unsicher; komm mit in meine armselige Hütte und nimm teil an dem bescheidenen Mahle, das meine Mutter bereitet hat! Ruhe dich dann aus und so du willst, kannst du morgen früh deine Wanderung fortsetzen!«

Das Mädchen, das sich »Juki« nannte, nahm dies Anerbieten an und begleitete den jungen Mann in sein Haus, wo die Mutter ihm eine freundliche Aufnahme bereitete. Als es sich ausgeruht hatte und am andern Morgen sich wieder auf den Weg machen wollte, bat die Mutter, es möge doch noch einige Tage bleiben und wenn es niemand in der Welt habe, der es erwarte, so möge es bleiben, so lang es wolle und ihr etwas zur Hand gehen, da sie selbst schon alt sei und sich schon längst eine Stütze im Hause gewünscht habe. Da auch Teramichi, der zu dem Mädchen in heißer Liebe entbrannt war, sich den Bitten seiner Mutter anschloß, so schlug es ein und blieb im Hause.

Wie es nun so geht, wenn ein Mann einem Mädchen mit reiner Liebe zugetan, daß das Mädchen schließlich auch Liebe empfindet, so war es auch hier und es dauerte nicht lange Zeit, so hatten sich beide ihre Liebe erklärt und Teramichi und Juki wurden ein Paar.

Juki war stets eine brave Frau und verehrte ihre Schwiegermutter in kindlicher Liebe bis diese starb; dann widmete sie sich nur ihrem Manne und ihren Kindern, von denen sie im Laufe der Jahre ihrem Gatten zehn geschenkt hatte. Die Kinder blühten und gediehen und wuchsen heran; keine Krankheit, kein Unglück störte den Frieden und das Glück dieser Ehe, die jedermann als die beste im ganzen Lande pries.

Als ganz besonderes Wunder aber wurde erwähnt, daß Juki immer jung aussah, immer blühend und in voller Kraft war und man keinerlei Spuren des Alterns bei ihr wahrnehmen konnte. So vergingen die Jahre, als eines Abends im Winter, als das Paar im traulichen Zwiegespräch beisammensaß, wieder einmal ein furchtbarer Schneesturm losbrach. Der Mann erschauerte, indem er seines Erlebnisses in der Hütte des Fährmannes gedachte und sinnend betrachtete er seine Frau, die ihm schöner als je erschien und plötzlich glaubte er in ihrem Gesicht eine Ähnlichkeit mit der Schneefrau zu entdecken, die ihm damals vor vielen Jahren das Leben schenkte. Diese Ähnlichkeit trat immer deutlicher hervor, so daß er den Ausruf nicht zurückhalten konnte: »Nein, du bist schöner!«

Juki wurde aufmerksam und fragte, was diese Worte bedeuten sollten; ohne zu zögern, halb im Traum, erzählte er ihr nun sein Abenteuer, das er mit der Schneefrau hatte und schloß seine Erzählung mit den Worten: »Sie war schön, aber geisterhaft schön; du aber bist menschlich, natürlich schön!«

Da erhob sich Juki und erschreckt sah der Mann, wie sie größer und größer wurde, wie ihr Gesicht sich verklärte, die Kleidung sich in lichtes Weiß verwandelte und sie endlich so vor ihm stand, wie damals die Schneefrau. Er stürzte zu Boden, streckte die Arme aus und rief: »Ja du bist es doch, verzeih, verzeih!«

Sie aber schüttelte das Haupt und herrschte ihn an:

»Ja ich bin es! Konntest du den Mund nicht halten, nachdem du solange geschwiegen hast? Ich könnte dich jetzt töten; ein Hauch aus meinem Munde würde deine Glieder erstarren lassen, das wäre die gerechte Strafe, daß du nicht nur dein, sondern auch mein Glück zerstört hast! Denn sieh!« – hier nahm ihre Stimme einen milden Klang an – »als ich dich damals in jener Hütte als blühenden hübschen Jüngling so hilflos vor mir sah, da tatest du mir leid, aber nicht nur leid; ich fühlte den Wunsch in mir, auch einmal Menschenglück zu genießen, anstatt stets zu zerstören. Ja, ich liebte dich und nahte mich dir in menschlicher Gestalt, ich genoß an deiner Seite Jahre ungetrübten Glücks. Jetzt hast du es selbst zerstört und ich muß zurück in mein kaltes Reich und du? – Ich gedenke des Glücks, das ich genossen und der armen dort ruhenden Kinder, denen ich neben der Mutter nicht auch den Vater rauben will. Mögest du drum leben; bleibe den Kindern ein guter Vater und suche dadurch dein heutiges Unrecht zu sühnen!«

Damit drückte sie ihm einen Kuß auf die Stirne, der, obgleich eiskalt, wie Feuer brannte; die Tür sprang auf, ein wirbelnder Schneeschauer durchtobte das Haus und entführte Juki-onna, den Mann einsam zurücklassend.

Von diesem Tage an blieb er, der sonst stets heiter und guter Dinge war, ernst und kein fröhliches Wort kam mehr über seine Lippen; er lebte nur seinen Kindern, zog sie zu tüchtigen, braven Menschen auf und als nach vielen Jahren wieder einmal ein Schneesturm brauste, nahm dieser die Seele des Mannes mit und führte sie seiner »Juki-onna« zu.

Die Leute aber sagten, als sie ihn am andern Morgen tot fanden, er sei erfroren.

  1. Juki = Schnee, onna = Frau, Juki-onna = Schneefrau.
  2. Sprich Nishikase.

Belohnte Kindesliebe

Belohnte Kindesliebe.

Vor ungefähr zweihundert Jahren lebte in der zwischen Inaba und Harima gelegenen Provinz Mino nahe beim Städtchen Tarni ein Holzhacker, der nur einen Sohn hatte. Beide waren sehr arm und mußten täglich ins Gebirge, um durch Holzhauen ihr Brot mühsam und spärlich zu verdienen. Solange beide gesund und kräftig waren, gelang es ihnen auch ihren Lebensunterhalt zu gewinnen. Aber der Vater wurde immer älter und immer steifer und ungelenkiger wurden seine Glieder, sodaß schließlich der Sohn allein in den Wald gehen mußte, während der Alte daheim blieb. Dem jungen Manne machte dies keine große Sorge; kräftig und rüstig, wie er war, arbeitete er umso fleißiger und war glücklich, wenn er außer der täglichen Nahrung noch einige Sen34 mehr verdient hatte, um seinem alten Vater ein Fläschchen Sake35 kaufen zu können, den dieser leidenschaftlich gern trank und der ihm auch wohltat und ihn kräftigte.

Nun kam aber einmal ein sehr kalter Winter und der Schnee bedeckte bis spät in den Frühling Feld und Flur und machte die Wege ungangbar, sodaß der junge Holzhauer nur einen kärglichen Verdienst fand und daher oftmals seinem Vater nicht den gewohnten Sake kaufen konnte. Darüber war er natürlich sehr traurig und betete oft zu den Göttern, sie möchten doch dem harten Winter ein Ende machen oder ihm anderweit Hilfe senden. Eines Tages hatte er wieder nur eine ganz kleine Last Holz in die Stadt bringen können, und der Erlös reichte nicht einmal zu dem Nötigsten, geschweige denn zu einem Fläschchen Sake für den Vater. Obgleich ihm der Sakehändler gern auf Borg gegeben hätte, wollte der junge Mann davon nichts wissen, denn er gedachte des Sprichworts: »Schulden sind schlimmer als Motten im Pelz!«36

So ging er denn betrübt heim und dachte während seines Weges nur darüber nach, wie er seinem Vater eine Stärkung verschaffen könnte. Am Fuße des Tagiyama angekommen, hockte er sich nieder um ein Weilchen auszuruhen, aber auch hier fand er keine Ruhe vor seinen Sorgen und so wandte er sich wieder in inbrünstigem Gebete zu den Göttern.

Da hörte er plötzlich ein seltsames Rauschen, Dampf stieg an der Seite des Berges auf und ein eigentümlicher Geruch, fast wie erwärmter Sake, erfüllte die Luft. Schnell war die Müdigkeit des jungen Mannes verschwunden, er sprang auf und eilte zur Stelle, wo der leichte Dampf aufstieg.

Was erblickte er da? Welches Wunder sahen seine Augen?

Dort, wo stets eine kahle Felsenstelle war, sprang jetzt ein munterer Quell hervor und hüpfte in lustigen Sprüngen dem Tale zu. Der junge Mann schöpfte in der hohlen Hand etwas Wasser, das warm war, und kostete es. Welch‘ eigentümlicher Geschmack! So etwas hatte er noch nie getrunken. »Das ist ein Geschenk von Euch, o Götter!« rief er aus und füllte, nachdem er ein Dankgebet verrichtet hatte, seine Reiseflasche mit dem kostbaren Naß.

Frohgemut und seiner Sorge ledig, eilte er nun seinem Heime zu, wo er seinem Vater den wundervollen Trank verabreichte. Es war aber auch wirklich ein Wundertrank, denn der alte Mann fühlte neue Kräfte in seinen Körper einziehen; ja, am nächsten Tage fühlte er sich schon so weit gekräftigt, daß er aufstehen und, auf seinen Sohn gestützt, zur Quelle wandern konnte. »Sollte diese Gabe der Götter nur zum Trinken sein?« fragte sich der Sohn und riet seinem Vater in dem warmen Wasser ein Bad zu nehmen, was dieser auch tat. Er merkte, daß nach dem Bade seine Gliederschmerzen nachließen.

Tagtäglich wanderten nun beide zu dem wunderbaren Quell und nach kurzer Zeit war der Alte so weit hergestellt, daß er seinen Sohn wieder in den Wald begleiten und bei seinem Tagwerke helfen konnte; infolgedessen waren beide von aller Sorge befreit und konnten zufrieden und glücklich leben.

Die Kunde von dieser wunderbaren Heilung verbreitete sich natürlich schnell und von fern und nah eilten Kranke und Gebrechliche herbei um Heilung ihrer Leiden zu suchen und zu finden. Selbst dem Kaiser wurde von dieser Heilquelle berichtet, der, nachdem er sich von der Richtigkeit überzeugt hatte, ihr den Namen Yoro37 geben ließ, ja, er nannte sogar die Zeitepoche von der Entstehung der Quelle »Yoro-Zeit.«38

Die Quelle – eine Mineralquelle – hat ihre Heilkraft bis auf den heutigen Tag behalten.39

  1. Japanische Kupfermünze heutiger Währung = 2 Pfg.
  2. Reiswein.
  3. Japanisches Sprichwort. Es ähnelt dem deutschen »Borgen macht Sorgen!«
  4. Yo = Kraft, Stärke, Pflege, ro = das Alter, Yoro = Kräftigung oder Pflege des Alters.
  5. Wie in China ist es auch in Japan Sitte, die Jahreszahl nicht ununterbrochen fortlaufend zu führen, sondern in Zeitepochen, von irgend einem besonderen Ereignis abgeleitet. So haben die Japaner jetzt nicht 1912 sondern das Jahr »45 Meiji«, d.h. »Aera des wahren Friedens«.
  6. Der vollständige Name der Quelle ist: Yoronotaki auch Yorogataki, taki = Wasserfall, Yoro siehe oben.

Der bestrafte Tierquäler

Der bestrafte Tierquäler.

In Yedo40 lebte vor Jahren ein Schirmmacher, dessen Verdienst sehr gering war, sodaß er mit Not und Sorgen zu kämpfen hatte. Auf einem Jahrmarkt sah er einmal in einer Bude einen Tiger ausgestellt und als er beobachtete, wie sich alles Volk in diese Bude drängte und der Besitzer eine gute Einnahme hatte, kam er auf den Gedanken gleichfalls auf den Märkten einen Tiger auszustellen.

Wo aber einen Tiger hernehmen? In Japan gab es keine, zum Kaufen hatte er kein Geld. Er wußte sich jedoch zu helfen. In einem Laden hatte er ein Tigerfell gesehen, dies erhandelte er; dann nahm er ein Kalb und nähte dieses in das Tigerfell. Damit es aber durch sein Blöken seine wahre Gestalt nicht verrate, band er dem Tiere das Maul zu.

Nun zog er auf die Messen und Märkte und hatte großen Zulauf, denn solch einen zahmen und friedfertigen Tiger hatte noch niemand gesehen.

Da der Verkehr in seiner Bude vom frühen Morgen bis zum späten Abend kein Ende nahm, er aber auch durch eine Pause seine Einnahmen nicht schmälern wollte, so fand er keine Zeit und Gelegenheit das arme Kalb zu füttern oder zu tränken, sodaß dasselbe nach einigen Tagen zu Grunde ging. Da kaufte er sich ein anderes Kalb und so weiter, bis er wohl an zehn Kälber seiner Geldgier geopfert hatte. Doch die Götter schlafen nicht und rächen jede Unbill, die ihren Geschöpfen zugefügt wird.

Eines Tages wurde der Mann krank, er verlor seine Sprache und nur ein klägliches Blöken ertönte, wenn er sprechen wollte. Dann ergriff ihn der Wahnsinn; er riß seine Kleider vom Leibe, umhüllte sich mit dem Tigerfell und eilte in komischen Sprüngen und unter fortwährendem Blöken auf die Straße. Hier diente er der Jugend zum Spott, die ihn mit Steinen und Unrat bewarf. So trieb er es drei Tage lang, er konnte weder essen noch trinken und starb endlich eines elenden Todes.

Das war die Strafe der Götter für seine Tierquälerei.

  1. Das heutige Tokyo.

Rai-taro

Rai-taro

Raiden, auch Rai-jin, der Donnergott, genießt in Japan große Verehrung; er ist aber sehr gefürchtet, wenn er in Begleitung von Futen, dem Sturmgeist, auftritt; denn dann tobt und heult er in den Bergen und in den Schluchten; dann kracht es in den Wäldern und die Sonne versteckt sich vor dem wütenden Heer der Sturm- und Donnergeister. Allen voran stürmt hoch oben in den Lüften, umgeben von schwarzen Wolken, Futen heran, ein behaartes grausiges Ungeheuer mit krallenbewehrten Händen und Füßen. Zwei große lange Hauer ragen aus seinem Maule, eine glatte Nase, stumpfe, kurze Ohren und tückisch blitzende Augen vervollständigen die schreckenerregende Gestalt dieses Unholds. Diesem folgt, ihm an Gestalt und Aussehen gleich, Raiden, der fünf Trommeln mit sich führt, auf die er mit einer großen Keule schlägt; zwischendurch wirft er die feurige Donnerkatze, die überall, wo sie hinfällt, Unheil anrichtet. Mit ihren glühenden Krallen zerschmettert sie Berge und zündet Bäume und Häuser an, sengt Menschen und Vieh zu Tode oder zeichnet sie für Lebenszeit. Futen trägt quer über den Schultern einen Sack, der vier Öffnungen hat und in dem die Winde stecken. Hält er den Sack geschlossen, dann herrscht Windstille auf Erden; aber die Schiffer auf dem Meere bitten ihn doch den Sack ein klein wenig zu öffnen, auf daß sie gute Fahrt haben. Macht Futen eine Öffnung ganz auf, dann bricht ein Gewittersturm heraus; wehe, dreimal wehe aber, wenn er den Sack an zwei Stellen öffnet, denn dann kommt ein Wirbelsturm daher, der alles in seinen Bereich Kommende vernichtet. Einen solchen Sturm nennt man in Japan »Tai-fu« – großer Wind – Orkan. – Und nun will ich einmal von diesen beiden Unholden ein Stücklein erzählen, aus dem man ersehen kann, daß sie nicht immer so böswillige Gesellen sind, als sie scheinen.

Hoch oben an der Nordwestküste Japans, im Nordosten vom Biwasee, ragt das ewig weiße Haupt eines der höchsten Berge Japans stolz empor. Es ist der Hakusan42 auch »Shirayama« genannt.

Am Fuße dieses Berges wohnte vor Zeiten ein armer Bauer, namens Bimbo,43 er trug also seinen Namen mit Recht. Dieser Bauer hatte sich zeitlebens schwer geplagt, konnte es aber nie zum Wohlstand oder sorgenfreien Leben bringen, denn sein kleiner Acker befand sich hoch in einer Einbuchtung des Berges und die Ernte hing allein vom Wetter ab, da ihm jede andere Wasserzufuhr mangelte. Mit vieler Mühe hatte er mit seinem Weibe jahraus, jahrein das Feld bestellt, doch der Erntesegen blieb oft aus.

Auch in diesem Jahre, da diese Geschichte beginnt, hatte er große Sorgen, denn Tag für Tag sandte die Sonne ihre verzehrenden Strahlen auf das Reisfeld des armen Bimbo. Kein regenspendendes Wölkchen ließ sich blicken, kein Windhauch regte sich und die noch nicht reifen Reisähren hingen schlaff herab.

Bimbo und sein Weib seufzten schwer und bang und fragten sich oft, warum der Himmel ihnen zürne. Alles schlage ihnen zum Unheil aus. Selbst das höchste Glück des Menschen, der größte Segen der Götter, ein Kind, war ihnen bisher versagt geblieben, obgleich sie oft inbrünstig darum gebeten hatten. Jetzt waren sie schon betagt und hatten jede Hoffnung aufgegeben, ihren Lebensabend durch Kinder verschönt zu sehen; sie hatten sich darein ergeben, ein einsames Alter in Sorgen und Not zu haben; denn auch jetzt wieder schien die Ernte durch den heißen, trocknen Sommer vernichtet zu werden.

Sehnsüchtig und flehend sahen die beiden Leutchen nach dem Wetter aus, ob sich denn nirgends ein Lüftchen rege und den segenspendenden Regen bringe. Doch nichts, nichts! Der Himmel blieb klar und wolkenlos und betrübt wollten die beiden nach Hause gehen, als sich fern am Horizonte ein leichter Schleier zeigte.

»Wind – Sturm!« rief der Bauer freudig aus, »das bringt Regen!«

Er hatte sich nicht getäuscht.

Näher und näher wehte der Schleier, er zerriß in viele Fetzen, die sich zu dunkeln Wolken formten, sich näherten und endlich zu einer dichten Wolkenwand zusammenballten. Da kam es heran, zuerst ein leises Raunen, dann ein Flüstern in den Zweigen. Scheu verkrochen sich die Vögel und die Sänger des Waldes verstummten, nur krächzende Raben und Sturmvögel durchkreisten die Luft. Jetzt zischte und pfiff es zwischen den Bäumen, die angstvoll und bebend ihre Häupter senkten. Nun ging es los das Stöhnen, Knattern, Rasseln, Fauchen, Heulen und Dröhnen und wie ein Heer wilder Rachegeister raste der Sturm heran. Bimbo und sein Weib achteten nicht des furchtbaren Unwetters; ihr Herz war voller Freude, denn dieser Sturm bedeutete für sie Segen; Segen nicht nur der Ernte, sondern noch einen andern Segen, den sie nicht erwarteten.

Nach dem ersten Anprall des Sturmes ergoß sich das kostbare Naß des Himmels auf die lechzenden Fluren und tränkte die ausgedörrte Mutter Erde. Bimbo sah dies alles mit Entzücken und drückte zufrieden die Hand seines Weibes. Da fuhr plötzlich ein blendender Blitzstrahl zwischen ihnen zur Erde und blendete ihnen die Augen, während ein furchtbarer Donnerschlag ertönte, sodaß beide betäubt niedersanken. Als sie aus ihrer Betäubung erwachten, hatte sich das Unwetter verzogen und die Sonne lachte wieder auf die erquickte, prangende Flur hernieder. Aber Bimbo und seine Frau waren nicht mehr allein, denn zu ihrem größten Erstaunen lag neben ihnen ein hübsches Kindlein, ein Knabe, genau an der Stelle, wo der Blitz in den Erdboden gefahren war. Es lächelte gar lieblich und freundlich und streckte seine rosigen Ärmchen den beiden hochbeglückten Alten entgegen.

Schnell hob Bimbo das Kindlein vom nassen Erdboden auf und barg es schützend unter seinem Strohmantel;44 dann eilte er mit seiner Frau heim und bereitete dem Kinde ein warmes Lager.

Jetzt war bei den beiden Alten Freude eingekehrt und ihr langjähriger Wunsch erfüllt. Endlich hatten sie ein Kindlein, hatten etwas, für das sie sorgen und an das sie all ihre Liebe verschwenden konnten.

Wie sollte der Name sein?

Darüber war Bimbo nicht im Zweifel.

»Das Kind hat uns Raiden geschenkt«, sagte er zu seiner Frau; »deshalb wollen wir es Raitaro nennen!«

Und so geschah es.

Der Knabe wuchs heran zur Freude seiner Eltern, doch war er ganz anders geartet als die andern Kinder des Dorfes. Er fand kein Vergnügen daran mit den andern Kindern herumzutollen oder an ihren Spielen teilzunehmen. Am liebsten begleitete er seinen Vater auf das Feld oder tummelte sich allein im Walde umher oder lag oft stundenlang auf dem Rücken und verfolgte den Lauf der Winde und den Flug der Vögel. Ein Unwetter versetzte ihn in Entzücken und beim Rollen des Donners brach er in ein lautes Jauchzen aus.

Hatten so die alten Leute ihre Freude an dem Kinde, brachte dieses ihnen auch Segen und hielt jedes Unheil fern. Die Felder gaben reichliche Ernte, keine Dürre und kein übermäßiger Regen vernichtete mehr die Frucht mühevoller Arbeit, und alles gedieh Bimbo zum Besten, so daß er es bald zu einem gewissen Wohlstand brachte.

Achtzehn Jahre waren schließlich dahin gerollt; man feierte den Tag der Auffindung Raitaros durch ein festliches Gelage, mit Sang und fröhlichen Worten. Raitaro aber blieb still und in sich gekehrt und vergeblich war die Mühe seiner Eltern ihn aufzuheitern. Als der Abend nahte und die Dämmerung hereinbrach, erhob sich Raitaro und dankte seinen Eltern für alles Gute, das sie ihm erwiesen hatten. »Meine Zeit ist um«, sagte er zuletzt, »meine Absicht euch zu nützen ist gelungen, auch in Zukunft werde ich über euch wachen. Lebt wohl!«

Während dieser Worte hatte sich eine dunkle Wolke genähert und senkte sich nun langsam auf Raitaro nieder, ihn vollständig einhüllend; dann erhob sie sich wieder und verschwand eilends in unermeßlicher Höhe; der Platz aber, wo Raitaro gestanden hatte, war leer.

Bimbo und seine Frau waren ganz bestürzt und traurig und konnten es gar nicht begreifen, daß sie nun in ihren alten Tagen doch einsam sein sollten; da sie jetzt aber keine Not zu leiden brauchten und sorgenfrei leben konnten, so wurde der Trennungsschmerz gemildert und in stiller Wehmut fügten sie sich in das Unabänderliche. Sie lebten noch viele Jahre und starben endlich beide hochbetagt zur gleichen Stunde. Auf ihr Grab wurde ein Stein gesetzt, auf dem die Geschichte Raitaro’s erzählt und dieser selbst in Gestalt eines fliegenden Drachen abgebildet wurde. Dieser Stein ist noch heute vorhanden, doch hüllt ihn eine vielhundertjährige Moosdecke ein. Wer sich aber Mühe gibt, kann aus den verwitterten Schriftzeichen die Geschichte von Raitaro, dem Donnersohne, entziffern, so wie ich sie hier wiedererzählt habe.

  1. Rai = Donner, taro = Sohn, = Sohn des Donners, Donnersohn.
  2. Sprich: Haksan = Haku = weiß; auch Shiro = weiß. Also »weißer Berg.« Er ist ein seit 1554 erloschener Vulkan und 2720 m hoch. Die Schneehöhe auf diesem Berge ist im Winter enorm, man hat schon bei 800 Meter Höhe eine Schneehöhe von 6 bis 7 Meter gefunden, sodaß eine Besteigung des Berges über einen Kilometer hinauf im Winter undurchführbar war.
  3. Bimbo = arm.
  4. Die Bauern, Schiffer usw. tragen auch heute noch bei Regenwetter einen Mantel aus Stroh, in der Regel Reisstroh, gefertigt, der warm hält und den Regen nicht durchläßt. Ein solcher Mantel hat die Form einer Pellerine und ist ½ bis ¾ Meter lang.

Hotaru

Hotaru.45

In einer Lotosblüte, die in einem großen Teiche stand, wohnte eine Johanniswürmchen-Familie: Vater, Mutter und Tochter.

Die letztere, »Klein-Hotaru« genannt, war ein gar liebliches Geschöpf. Wenn der Abend mild und schön war, ging sie auf dem großen Lotosblatte spazieren, das für sie ein herrlicher Garten war.

Oft lauschte sie dem Konzert der Frösche, die im gleichen Teiche wohnten. War es dunkel, so zündete sie ihr Laternchen an; dieses strahlte ein so himmlisch schimmerndes Licht aus, daß selbst der Mond sich beschämt verstecken mußte.

Da Klein-Hotaru nun so ein liebes Ding war, konnte es nicht ausbleiben, daß sie bald von Freiern umschwärmt wurde. Tagsüber nahte sich ihr niemand; aber auch des Abends, wenn sie träumend im Dunkeln saß, blieb sie allein, denn dann konnte sie keiner ihrer zahlreichen Freier erblicken. Hatte sie aber ihr Laternchen angezündet, dann gab es ein munteres Treiben; dann summte, brummte und zirpte es; dann flatterte, schwirrte und surrte es; dann kamen sie alle, die die schöne Hotaru zur Frau begehrten. Da waren Falter, Käfer, Bienen, Fliegen, kurz jedes fliegende Insekt war vertreten und zeigte seine Künste, um Gnade vor Hotaru’s Augen zu finden. Diese aber blieb unnahbar; zwar erfreute es sie und sie war stolz, so umschwärmt zu werden; auch machte ihr das Treiben all der Tierlein anfänglich großen Spaß, endlich aber wurde ihr diese fortwährende Zudringlichkeit lästig, hatte sie doch nicht ein einziges Stündchen mehr für sich, in dem sie sich ungestört ihren Träumereien hingeben konnte, und sie beschloß sich all der Freier zu entledigen.

Deshalb sagte sie zu ihnen:

»Ich will gern einen von Euch freien, aber wer mein Gemahl werden will, muß mir ein Licht bringen, das mindestens ebenso leuchtet wie das meine!« Alle hörten diese Entscheidung und machten sich schnell auf den Weg ein solches Licht zu suchen und herbeizuschaffen. Ein jeder wollte der erste sein, um Hotaru sicher zu erringen.

Das gab nun im ersten Augenblick ein fürchterliches Gedränge, umsomehr als Hotaru ihr Laternchen verlöscht hatte. Manchem Falter wurde ein Flügel zerknickt, manches Käferlein fiel in den Teich und wurde von einem Frosche verschluckt, Beinchen und Fühlhörner gingen verloren, kurz, es war ein unbeschreiblicher Wirrwarr, der aber auch schließlich ein Ende nahm wie alle Dinge auf dieser Welt.

Dann zog ein jedes seinem Ziele zu; überall, wo ein Lichtschein zu erblicken war, flogen auch die Freier heran. Der Nachtfalter war der erste, der zum Opfer fiel. Er flog durch ein offenes Fenster in ein Zimmer, wo ein Gelehrter beim Lampenschein über seinen Büchern saß, stieß und verbrannte sich sein Köpfchen an dem heißen Lampenzylinder. Trotz der Schmerzen gab er seine Versuche zur Flamme zu kommen nicht auf und war auch endlich durch ein Luftloch des Brenners gekrochen; aber, o weh! die Flamme versengte seine Flügel und zisch – zisch – der Falter war tot.

So ging es Tausenden der Freier; der eine stürzte in die Glut des Kohlenbeckens, ein anderer in die Flamme einer Kerze, andere flogen sogar den Menschen in die Augen und wurden getötet. Aber immer neue Scharen durchschwirrten die Luft, um ein Lichtlein zu erhaschen und Hotaru heimführen zu können.

Von all dem erfuhr auch Hitaro46 und dachte bei sich, wenn so viele Freier um Hotaru zu erlangen, ihr Leben wagen und es lassen, dann muß sie sehr schön sein. Deshalb machte er sich eines Abends auf den Weg um Hotaru zu sehen. Seine Wohnung war nur acht Lotosblüten entfernt von der Hotarus. Als er Hotaru erblickt hatte, da war er so entzückt, daß er schleunigst heimkehrte und zu Hotarus Eltern den Vermittler schickte, der um ihre Hand anhalten mußte4748 und sie auch zugesagt erhielt, umsomehr, als er die Bedingung Hotarus erfüllen konnte, denn er hatte ja ein ebenso liebliches Lichtlein wie sie selbst und war überdies ein schmucker Bursche. Nachdem so alles in Ordnung war, wurde die Hochzeit mit großer Pracht gefeiert. Sie lebten glücklich und zufrieden bis an ihr Ende und hinterließen eine zahlreiche Nachkommenschaft. Die Bedingung aber, daß ein jeder, der eines dieser Johanniswürmchen freien wollte, ein Lichtlein mitbringen müsse, wurde hoch in Ehren gehalten und galt von nun an als Familiengesetz.

Deshalb sagt man, wenn des Abends die Insekten um das Licht schwirren und sich die Flügel verbrennen: »Das war Hotarus Freier« oder auch: »Johanniswürmchen hat die Freier ausgeschickt.«

  1. Hotaru = Johanniswürmchen.
  2. Hitaro = Hi = Feuer, taro = Sohn = Feuersohn = Leuchtkäfer.
  3. Japanische Sitte erfordert, daß die Brautwerbung durch einen dritten –
  4. Vermittler – erfolgt. Unschicklich wäre es, wollte der Freier es selbst tun.

Der kluge Hase

Der kluge Hase.

Eines schönen Tages schwamm der Fischkönig28 in seinem Reiche wohlgemut umher; es war ein wunderschöner Tag und die Sonne erhellte das Wasser bis nahe auf den Grund. Da erblickte er plötzlich vor sich einen dicken, fetten Wurm, der ihm gar appetitlich erschien und da er gerade einen kleinen Hunger verspürte, so schwamm er auf den Wurm zu, schnappte nach ihm und – ein furchtbarer Schmerz durchzuckte seinen Körper, denn er saß an einer Angel, deren Haken ihm im Maule saß. Er zerrte und zerrte, und nach heftigem Kampfe und unter großen Schmerzen gelang es ihm endlich die Angelschnur zu zerreißen und in sein Schloß zu schwimmen, wo er sich auf sein Lager warf und die Leibärzte rufen ließ. Als diese am Bette des Fischkönigs standen, erzählte er ihnen sein Ungemach, wie er an der Angel festgesessen und wie es ihm endlich gelungen sei, sich durch Zerreißen der Angelschnur zu befreien und sich davor zu bewahren, daß sein königlicher Leib gewöhnlichen Zweibeinern, die man Menschen heiße, zur Speise diene.

»Aber der verdammte Haken,« schloß er seine Erzählung, »der sitzt hier fest im Halse und mir ist es unmöglich ihn zu entfernen, ich leide furchtbare Schmerzen. Wer ihn mir herausbringt, den will ich königlich belohnen.« Da standen nun die Ärzte ratlos am Bette des Fischkönigs und beratschlagten, was zu tun sei.

Der König wurde ärgerlich und ließ in seinem Reiche verkünden, wer ihm den Angelhaken aus dem Halse entferne, den werde er mit königlichen Ehren versehen und reich belohnen.

Da ward eine große Bewegung im Wasser, von allen Seiten eilten die Untertanen herbei, die Großen und Würdenträger bis zu den Kleinsten, vom Walfisch bis zum Stint. Alle, alle kamen, hörten die Botschaft, aber sie schüttelten ihr Haupt, denn niemand wußte Rat, niemand konnte sagen, wie man einen Angelhaken aus dem Schlunde eines Fisches entferne.

Da meldete sich endlich eine Schildkröte, die ganz im Hintergrunde gestanden hatte. Man schob sie nach vorne und da erklärte sie, daß das beste Mittel zwei ganz frische Hasenaugen (Lichter) seien; diese müsse man auf die Stelle auflegen, wo der Haken sitze, dann würde der Haken durch die Hasenaugen herausgezogen. Die Anwesenden stimmten der Schildkröte zu, und auch den Ärzten, die den Rat mit angehört hatten, erschien er gut.

Aber wo die Hasenaugen hernehmen? Der König entschied: »Wer ein Hilfsmittel vorschlägt, hat auch für ein solches zu sorgen; geh also Schildkröte und besorge mir die Hasenaugen oder du darfst dich in meinem Reiche nicht mehr blicken lassen!«

»Gut!« sagte die Schildkröte, »ich werde Euch einen Hasen herbeischaffen, die Augen müßt ihr Ärzte selbst ihm nehmen und mir gestatten mich zu entfernen, da ich kein Blut sehen und riechen kann!«

Des waren alle zufrieden und die Schildkröte machte sich auf den Weg und freute sich schon auf die großen Ehren und Geschenke, die ihr zuteil werden würden, wenn es ihr gelinge den Hasen in des Königs Schloß zu bringen. Sie kletterte also aus dem Wasser und wanderte einem Hügel zu, auf dem, wie sie wußte, ein Hase sich niedergelassen hatte. Sie hatte Glück; denn als sie mühsam den Hügel erklettert hatte, sah sie den Hasen gerade beim Frühstück sitzen; er hatte einen prachtvollen Krautkopf vor sich, an dem er knabberte. Als der Hase das Geräusch der sich nähernden Schildkröte hörte, ließ er erschreckt den Krautkopf fallen und richtete sich auf seinen Hinterbeinen empor, um zu sehen, wer da komme. Da er aber sah, daß es nur die Schildkröte war, beruhigte er sich und begrüßte sie. »Was verschafft mir denn die Ehre Eueres Besuches, verehrte Frau Schildkröte?« fragte er.

»Nichts Besonderes, Herr Lampe!« antwortete die Schildkröte, vom Klettern noch ganz atemlos. »Man hat im Reiche des Fischkönigs die wunderschöne Aussicht gerühmt, die man von hier haben soll, und so bin ich abgesandt, festzustellen, ob dies wirklich so ist. Ihr gestattet doch, daß ich mich ein wenig umschaue!«

»Bitte, bitte!« erwiderte der Hase.

Die Schildkröte schaute hierauf nach vorn, schaute nach hinten, schaute nach rechts und schaute nach links, machte auch einige Schritte bald nach dieser, bald nach jener Seite und tat, als ob sie alles sorgfältig betrachtete, dann meinte sie: »So etwas besonders Schönes kann ich nicht sehen, da hat man diese Gegend mehr gerühmt als sie wert ist!«

»Ja, Frau Schildkröte,« entgegnete der Hase, »auf dieser Seite des Hügels gibt es nichts Besonderes zu sehen, da müßt Ihr Euch schon auf die andre Seite bemühen! Kommt, ich will Euch führen!«

»Was gibt es denn auf der andern Seite des Hügels?«

»Viel, viel Besseres als hier! Hier gibt es nur Wiesen und Weiden, aber auf der andern Seite prachtvolle Kraut- und Rübenfelder, so saftig, so delikat, eine wahre Wonne!« rief der Hase.

Die Schildkröte lachte und meinte: »Ihr seht die Sache mit dem Magen anstatt mit den Augen. Doch bleibt nur, ich habe keine Lust, Kraut- und Rübenfelder zu sehen, da lob ich mir doch das Land des Fischkönigs, da gibt es alles Gute und Schöne, prachtvolle, kühle Wälder, herrliche Wiesen, Täler, Höhen und Felder, auf denen die Krautköpfe viel größer und saftiger sind als hier auf der trockenen Erde. Und dann die Bequemlichkeit, keine Mühe und Anstrengung. Hier mußte ich um zu Euch zu gelangen, mühsam klettern, so daß ich fast den Atem verlor, während mich das Wasser überall hinträgt, wohin ich will. Und dann die Ruhe und Sicherheit dort unten, da gibt es keine Menschen und keine Jäger! Nein, wißt Ihr Herr Hase, Eure ganze schöne Gegend und die ganze Erde kann mir gestohlen werden, ich lobe mir mein Reich und will mich nur schnell wieder auf den Heimweg machen!«

»Hm, Hm!« machte der Hase und dachte ein Weilchen nach. »Hört mal, Frau Schildkröte, Ihr habt mir Eure Gegend so schön geschildert, daß ich wirklich Lust bekomme, sie einmal zu sehen; aber leider geht es nicht, denn in dem verflixten Wasser kann unsereiner ja gar nicht leben. Könntet Ihr mir nicht einen Krautkopf von da unten gelegentlich mal schicken oder mitbringen?«

»Das geht leider nicht!« entgegnete die listige Schildkröte, die bemerkte, daß der Hase Lust hatte in das Reich des Fischkönigs mitzukommen. »Unsere Krautköpfe sind so groß, daß ich auch nicht einen tragen kann. Aber, kommt doch mit mir. Das Wasser wird Euch keinerlei Umstände machen, ob Ihr in der Luft oder im Wasser lebt, ist alles gleich, das ist alles nur Gewohnheit!«

»Das mag gut und schön sein, aber ich kann nicht schwimmen!« sagte betrübt der Hase.

»Das macht nichts!« rief die Schildkröte, die kaum noch ihre Aufregung und Freude unterdrücken konnte, »wenn Ihr mit mir geht, will ich Euch gerne aus reiner Freundschaft helfen und in unser Reich bringen. Ihr steigt, wenn wir am Wasser angekommen sind, auf meinen Rücken, steckt Eure Pfoten vorne unter mein Schild und haltet Euch so fest an. Ich führe Euch dann sicher hinunter und, wenn es Euch nicht gefällt, ebenso sicher wieder zurück!«

Der Hase traute der Geschichte doch nicht so recht, er hatte eine furchtbare Angst vor dem Wasser, aber die Schildkröte stellte ihm die Reise ganz ungefährlich dar und gab ihm schließlich sogar ihr Ehrenwort, daß ihm das Wasser nicht das geringste tun werde.

Da war der Hase überwunden und er beschloß die Reise zu wagen. Als nun beide am Rande des Wassers angekommen waren, stieg er auf den Rücken der Schildkröte und hielt sich mit seinen Vorderpfoten am Schilde der Kröte fest, die langsam ins Wasser ging. Dem Hasen wurde es doch ungemütlich, als er das kalte Wasser fühlte und als es ihm sogar über den Kopf ging, da schloß er ängstlich die Augen. Dann öffnete er sie wieder und sah nun, daß das Wasser ihm wirklich keine Beschwerde machte. Er war ganz entzückt von den Wundern unter dem Wasser, von denen er bisher keine Ahnung hatte, er sah blühende Täler mit saftigen Wiesen, grünende Felder, schimmernde Berge, bewachsen mit Rosen und anderen Blumen, die er nicht kannte.

Und dann das Leben im Wasser! Tausende von Fischen umschwärmten ihn und jubelten ihm zu. Da kamen auf einmal lange, schmale, zierliche Fische angeschwommen, denen alle andern ehrerbietig Platz machten. »Was sind das für Tiere?« fragte der Hase. »Das sind Diener des Königs!« antwortete die Schildkröte.

Als diese Fische nahe waren, machten sie dem Hasen ihr Kompliment, beglückwünschten ihn, daß er den Mut zu solcher Reise gehabt habe und erzählten ihm, daß der König von seinem Besuche gehört habe und seinen Mut bewundre. Der König wolle einen so mutigen Hasen sehen und lade ihn in sein Schloß ein.

Der Hase war ganz stolz auf solche Ehre und nahm die Einladung an. Die Fische kehrten um und schwammen voran, während die Schildkröte mit dem Hasen folgte.

Im Schlosse des Königs angelangt, stieg der Hase von seinem Sitze und wurde in das Krankenzimmer geführt, während die Schildkröte sich einstweilen aus dem Staube machte.

Im Krankenzimmer waren nur die Ärzte um den König versammelt, die den Hasen freundlich einluden auf einem prachtvollen Muschelsessel Platz zu nehmen. Dann besprachen sich die Ärzte leise, wie man wohl am leichtesten dem Hasen die Augen nehmen könne. Der Hase hatte aber gute Ohren und so hörte er mit Entsetzen dieses leise Gespräch und obwohl ihm die Haare klitschnaß am Leibe klebten, standen sie ihm doch sogleich vor Angst zu Berge. Er verwünschte seine Neugier und überlegte, wie er sich am besten aus dieser Schlinge ziehen könne, die ihm die Schildkröte gelegt hatte. Endlich kam ihm ein Gedanke. »Hört, Ihr Herren!« rief er, »ich hörte, daß Ihr von meinen Augen sprachet. Was ist es damit, was wollt Ihr mit meinen Augen?«

Die Ärzte erklärten ihm in höflicher Weise die ganze Angelegenheit und baten, daß er, um das Leben des Königs zu retten, seine Augen freiwillig hergeben solle!

»Das ist aber dumm,« sagte der Hase, der tat, als ob er nachdenke und seine Ohren hin und her bewegte, »ja, ja das ist dumm von der Schildkröte, daß sie mir das nicht gleich gesagt hat, dann wäre Eurem König jetzt schon geholfen. Ihr müßt nämlich wissen, Ihr hohen und gelehrten Herren, daß wir Hasen vier Augen haben, nämlich zwei natürliche und zwei aus Bergkristall gefertigte. Diese letzteren tragen wir, um die natürlichen Augen zu schonen, so bei staubigem oder Regenwetter, bei Sturm und Ungewitter. Da mir nun Eure Schildkröte nicht sagte, weshalb ich herkommen sollte, so steckte ich meine künstlichen Augen ein, weil ich glaubte, daß die natürlichen Augen, mit denen ich auf dem Lande sehe, hier im Wasser mir wenig nützen würden oder sogar beschädigt werden könnten. Diese natürlichen Augen habe ich daheim verborgen und es wird mir eine große Freude sein, sie Eurem König zu seiner Heilung anzubieten. Es bleibt nichts weiter übrig,« fügte er scheinheilig hinzu, »als daß Ihr die Schildkröte wieder ans Land schickt und meine Augen holen lasset!« »Ja, wird denn die Schildkröte die Augen auch finden?« warf einer der Ärzte ein.

»Man muß sie fragen!« sagte ein anderer und so wurde die Schildkröte wieder gerufen. Diese kam fröhlich herbei, denn sie glaubte nun sei alles zu Ende und ihr Glück sei gemacht. Aber wie erschrak sie, als sie den Hasen ganz munter, mit seinen Augen im Kopfe auf dem Muschelsessel sitzen sah. Sie wußte nicht, was sie denken sollte und war höchst erstaunt, daß sie Scheltworte zu hören bekam, anstatt Worte des Dankes. Man machte ihr Vorwürfe, daß sie einem so liebenswürdigen Herrn nicht gleich gesagt habe, was man von ihm wolle, sie habe dadurch die Heilung des Königs verzögert.

»Das ist gut!« dachte die Schildkröte, »aber das kommt davon her, wenn man Großen einen Dienst erweisen will. Wie man es auch macht, richtig ist es nie!« Die Schildkröte wurde nun gefragt, ob sie sich getraue, die Augen des Hasen zu finden und herzubringen, wenn der Hase ihr den Ort genau beschreibe, wo er sie verborgen habe.

Aber die Schildkröte erklärte, daß sie es wohl übernehmen wolle, die Augen zu finden; sie aber herzubringen, das sei für sie zu riskant, denn sie verstehe es nicht, mit so empfindlichen Dingen, als die Augen sind, umzugehen. Am besten sei es wohl, wenn der Hase sie selbst hole, hin und her wolle sie den Hasen gern tragen. Das war es, was der Hase gern wollte, er tat aber so, als ob das für ihn zuviel verlangt sei, auch der König wurde ärgerlich und sagte:

»Ist es nicht genug, daß der Hase uns seine Augen anbietet? Sollen wir einem so liebenswürdigen Herrn zumuten, auch noch selbst den Weg zu machen, bloß weil Ihr Schildkröte zu lässig waret? Nein! machet Euch sofort auf den Weg und seht zu, wie Ihr die Augen herbringt. Eure Sache ist es, den Fehler, den ihr begangen, wieder gut zu machen!«

Der Hase, der Angst hatte, daß man ihn wirklich da behalten würde, nahm sich zusammen und entgegnete:

»Verzeiht, edler König! Aber ich glaube Frau Schildkröte hat Recht. Wenn sie die Augen auch findet, fürchte ich doch, daß sie damit nicht richtig umgeht und sie verletzt, so daß sie für Euch ohne Nutzen sind. Erlaubt also, daß ich die Schildkröte begleite und die Augen selbst überreiche. Dieser kleine Weg ist keine Mühe, und selbst, wenn es Mühe wäre, für Euch, edler König, um Euch zu helfen ist mir keine Mühe zu groß!«

Alle waren erstaunt über solch großen Edelmut, sie schämten sich aber auch zugleich, daß man den Hasen habe betrügen wollen, ihn, der so großmütig war, den Weg nochmals zu machen, nur um dem König einen Dienst erweisen zu können. Nach langem Hin- und Herreden wurde der Schildkröte denn schließlich befohlen, den Hasen ans Land zu bringen und ihn ungefährdet mit den Augen wieder zum König zu führen.

Die Schildkröte nahm also den Hasen, nachdem sich dieser höflichst verabschiedet hatte, wieder auf den Rücken und trug ihn ans Land. Dort angekommen, schüttelte der Hase das Wasser aus seinem Fell und sprach zur Schildkröte:

»Du listiges Vieh, beinahe hättest du mich überlistet, aber meine List war besser als die deine und Eure Dummheit größer als die meine. Wenn du Hasenaugen brauchst, suche sie dir nur. Ich brauche die meinen vorläufig noch für mich. Lebt also wohl und grüßet Euren König recht schön von mir!«

Sprach’s, sprang auf und eilte den Hügel hinan, die verdutzte Schildkröte sprachlos zurücklassend.

Seit dieser Zeit geht der Hase einer jeden Schildkröte vorsichtig aus dem Wege und die Schildkröte lebt seitdem bald im Wasser, bald auf dem Lande, denn im Wasser fürchtet sie den Fischkönig und auf dem Lande hofft sie noch immer ein Paar Hasenaugen zu finden.

  1. Gemeint ist der Karpfen, der in Japan als Sinnbild der Kraft und Stärke gilt, weil er gegen den Strom schwimmt und selbst Wasserfälle und Stromschnellen überwindet.

Maorigashima

Maorigashima

Maorigashima war einst eine blühende Insel, deren Bewohner glücklich und zufrieden leben konnten, da alles, was man zum Leben braucht, die Insel hervorbrachte. Auch gab es dort einen vorzüglichen Ton, aus dem die Leute prachtvolle Töpfe und Schalen bereiteten, die hochbezahlt wurden. Aus diesem Grunde herrschte auf der Insel Wohlstand und Reichtum, arme Leute gab es dort überhaupt nicht.

Die Insel lag im Süden von Japan, nahe bei dem heutigen Formosa, ihr Herrscher war Pairuno, ein gottesfürchtiger und gerechter Fürst, der mit großer Betrübnis sah, wie der Reichtum und das Wohlleben die Sitten seiner Untertanen verdarb, wie diese immer mehr sich der Völlerei und dem Nichtstun ergaben und die Lehren der Götter verachteten.

Alle Mahnungen und das gute Beispiel eines gottgefälligen, redlichen Lebens des Herrschers vermochten nicht, die Bewohner von Maorigashima wieder auf den Pfad eines ehrsamen Lebenswandels zurückzubringen; im Gegenteil, die Laster nahmen überhand, selbst die Beamten, die sich bisher noch immer in Schranken gehalten hatten, ergaben sich schließlich dem lasterhaften Leben und vernachlässigten ihre Pflichten. Als Pairuno sah, daß alle seine guten Lehren nichts helfen wollten und daß ihm die Macht fehlte, gewaltsam eine Besserung der Zustände herbeizuführen, weil ja die Beamten selbst ein zügelloses Leben führten und nicht mehr gehorchten, wandte er sich an die Götter und bat diese um Hilfe und Rettung.

Eines Tages war er wieder im Tempel in inbrünstigem Gebete versunken, da hörte er eine Stimme, die ihm zuraunte:

»Das Maß der Sünden Maorigashima’s ist voll und die Götter haben beschlossen, die Insel mit allen Bewohnern zu vernichten. Du allein bist ausersehen am Leben zu bleiben, um der Nachwelt den Untergang der Insel zu verkünden, auf daß andre sich daran ein Beispiel nehmen. Halte darum ein Schiff bereit, um, wenn die Stunde naht, dich dem Strafgerichte zu entziehen, das die Götter über Maorigashima und seine Bewohner verhängt haben. Weil du gerecht bist und die Götter ehrst, sollst du die Stunde des Gerichts wissen. Wenn das Antlitz der Tempelwächter, die als Bildsäulen am Eingang des Tempels stehen, rot sein werden, dann schiffe dich ein und säume nicht; solange die Antlitze ihre weiße Farbe behalten, hat es keine Gefahr!«

Pairuno dankte den Göttern für die Offenbarung und bat diese seinen Untertanen bekannt geben zu dürfen, auf daß sich bekehren könne, wer es wolle. Die Götter bewilligten die Bitte und gaben Pairuno die Zusicherung, daß ein Jeder, der sich freiwillig mit ihm einschiffe, verschont und gerettet sein werde. Hocherfreut ging der Herrscher in seinen Palast zurück. Er ließ alle Beamten rufen und verkündete ihnen, was ihm die Götter offenbart hatten; auch gab er Befehl, dies dem ganzen Volke bekannt zu geben.

Aber die Beamten und das Volk verlachten die Warnung und spotteten über ihren Fürsten, ja einer der Beamten schlich sich eines Nachts heimlich zum Tempel und beschmierte die Gesichter der Bildsäulen mit rotem Ton.

Als Pairuno dies am Morgen sah, glaubte er die Stunde des Strafgerichts gekommen und schiffte sich schnell mit den Seinen ein. Er forderte das Volk auf sich zu retten und bat zu ihm aufs Schiff zu kommen. Doch alle verlachten ihn und der Spötter, der in der Nacht die Gesichter der Bildsäulen beschmiert hatte, gestand seine Tat hohnlachend ein, indem er erklärte, daß nicht die Götter, sondern er die Rotfärbung vorgenommen habe.

Aber Pairuno entgegnete ernst:

»Die Götter haben mir nicht gesagt, daß sie selbst das Weiß der Angesichter der Tempelwächter in Rot verwandeln werden, sondern sie haben mir nur gesagt, wenn das Antlitz rot sein werde, dann sei die Stunde gekommen! Rot sind jetzt die Angesichter und an den Worten der Götter soll man nicht drehen und deuteln. Wenn du Spötter den Göttern vorgegriffen hast, umso schlimmer für dich!«

Damit gab Pairuno den Befehl vom Lande abzustoßen und in angemessener Entfernung zu verharren. Kaum war das geschehen, da verfinsterte sich die Luft, ein Brausen ertönte aus der Tiefe des Meeres, dessen Wellen sich hoch auftürmten, und die Insel sank mit allem, was darauf war, auf den Meeresgrund. Dann wurde es wieder licht, das Meer lag ruhig wie immer, ein azurblauer Himmel lächelte, aber von der blühenden Insel war nichts mehr zu sehen. Pairuno fuhr nach dem Festlande und gab Kunde vom Ende Maorigashima’s und seiner Bewohner.

Noch heute, wenn bei ruhigem Wetter und mondklaren Nächten Fischer über die Stätte fahren, da die Insel einst gestanden, können sie tief unten die Straßen und Häuser erkennen; manchmal geschieht es auch, daß die Netze das eine oder andere Stück der früher auf Maorigashima angefertigten kostbaren Töpferwaren, eine Vase, eine Schale oder irgend einen Topf enthalten. Solche Gegenstände sind sehr begehrt und werden hoch bezahlt, deshalb wird ein jeder Fischer glücklich gepriesen, der ein solches Stück findet. Viele hat es schon verlockt, nach solchen Gegenständen zu suchen, doch nur, wer reinen Herzens ist und den nicht die Sucht nach Reichtum treibt, den lassen die Götter einiges finden; alle übrigen aber müssen mit leeren Händen und oftmals auch mit zerrissenen Netzen heimkehren.

  1. Sprich: Maurigaschima. Diese Sage erinnert an die »Vineta« Sage.

Zur Einführung

Zur Einführung.

Nicht mit Unrecht wird Japan als das »wunderbare Sonnenland« bezeichnet; denn neben seinen wirklich wunderbaren Naturreizen bieten Kunst und Literatur, ganz besonders die des Altertums, eine schier unerschöpfliche Fundgrube nicht nur für den wissenschaftlichen Forscher sondern auch für den Schöngeist und für den Freund eines reinen Volkstums. Gar reich, und nicht hinter der deutschen zurückstehend, ist die japanische Märchenwelt, aus der ich hier eine Auswahl zusammengestellt und für die deutsche Jugend bearbeitet habe.

Es ist dies meines Wissens das erste Werk, das aus dem reichen Märchenschatze Japans der deutschen Jugend eine sorgfältig zusammengestellte Auswahl bietet; mag auch das eine oder andere hier und dort einmal irgendwo veröffentlicht und dadurch bekannt sein, so ist dies doch meistens zerstreut in Zeitungen, Zeitschriften oder wissenschaftlichen Werken in wörtlicher Übersetzung erfolgt und nur für Erwachsene geeignet.

Keine jener Veröffentlichungen ist von mir benutzt worden oder hat mir als Vorlage gedient, sondern lediglich die japanischen Ausgaben und mündliche Erzählungen der Japaner; deshalb enthält das Vorliegende auch viele Fabeln und dergl., die nur im Munde des Volkes leben, von denen sich also in der Literatur selbst keine Spuren finden.

Da dieses Buch der deutschen Jugend gewidmet ist, mußten bei der Auswahl und Bearbeitung größte Sorgfalt aufgewendet und manche Stellen verändert, fortgelassen oder durch andere ersetzt werden, um das ganze dem Verständnis der Jugend anzupassen, dies umsomehr, als die Originale oft eine derart freie Sprache führen, daß man sie, unserem deutschen Moralempfinden entsprechend, nicht jedermann in die Hand geben kann.

Durch Beifügung erläuternder Anmerkungen, historischer Daten usw. dürfte dieses Buch einen über den Rahmen einfacher Märchenlektüre hinausgehenden Wert gewinnen.

Besonderer Dank sei an dieser Stelle den Herren Dr. Miyauchi, Ohno, Nakamura, Hajime Iwane und K. Nakamatsu für ihre liebenswürdige Beihilfe zu diesem Werke; auch dem Herrn T. Tokikuni, der die farbigen Bilder zeichnete, während die übrigen älteren und neueren japanischen Werken entnommen sind.

Möge daher diese Gabe, die ich der Jugend in meiner deutschen Heimat von hier aus dem fernen Osten, aus dem Lande der aufgehenden Sonne biete, gern angenommen werden und Beifall finden.

Tokyo.
Karl Alberti.