Maorigashima

Maorigashima war einst eine blühende Insel, deren Bewohner glücklich und zufrieden leben konnten, da alles, was man zum Leben braucht, die Insel hervorbrachte. Auch gab es dort einen vorzüglichen Ton, aus dem die Leute prachtvolle Töpfe und Schalen bereiteten, die hochbezahlt wurden. Aus diesem Grunde herrschte auf der Insel Wohlstand und Reichtum, arme Leute gab es dort überhaupt nicht.

Die Insel lag im Süden von Japan, nahe bei dem heutigen Formosa, ihr Herrscher war Pairuno, ein gottesfürchtiger und gerechter Fürst, der mit großer Betrübnis sah, wie der Reichtum und das Wohlleben die Sitten seiner Untertanen verdarb, wie diese immer mehr sich der Völlerei und dem Nichtstun ergaben und die Lehren der Götter verachteten.

Alle Mahnungen und das gute Beispiel eines gottgefälligen, redlichen Lebens des Herrschers vermochten nicht, die Bewohner von Maorigashima wieder auf den Pfad eines ehrsamen Lebenswandels zurückzubringen; im Gegenteil, die Laster nahmen überhand, selbst die Beamten, die sich bisher noch immer in Schranken gehalten hatten, ergaben sich schließlich dem lasterhaften Leben und vernachlässigten ihre Pflichten. Als Pairuno sah, daß alle seine guten Lehren nichts helfen wollten und daß ihm die Macht fehlte, gewaltsam eine Besserung der Zustände herbeizuführen, weil ja die Beamten selbst ein zügelloses Leben führten und nicht mehr gehorchten, wandte er sich an die Götter und bat diese um Hilfe und Rettung.

Eines Tages war er wieder im Tempel in inbrünstigem Gebete versunken, da hörte er eine Stimme, die ihm zuraunte:

»Das Maß der Sünden Maorigashima’s ist voll und die Götter haben beschlossen, die Insel mit allen Bewohnern zu vernichten. Du allein bist ausersehen am Leben zu bleiben, um der Nachwelt den Untergang der Insel zu verkünden, auf daß andre sich daran ein Beispiel nehmen. Halte darum ein Schiff bereit, um, wenn die Stunde naht, dich dem Strafgerichte zu entziehen, das die Götter über Maorigashima und seine Bewohner verhängt haben. Weil du gerecht bist und die Götter ehrst, sollst du die Stunde des Gerichts wissen. Wenn das Antlitz der Tempelwächter, die als Bildsäulen am Eingang des Tempels stehen, rot sein werden, dann schiffe dich ein und säume nicht; solange die Antlitze ihre weiße Farbe behalten, hat es keine Gefahr!«

Pairuno dankte den Göttern für die Offenbarung und bat diese seinen Untertanen bekannt geben zu dürfen, auf daß sich bekehren könne, wer es wolle. Die Götter bewilligten die Bitte und gaben Pairuno die Zusicherung, daß ein Jeder, der sich freiwillig mit ihm einschiffe, verschont und gerettet sein werde. Hocherfreut ging der Herrscher in seinen Palast zurück. Er ließ alle Beamten rufen und verkündete ihnen, was ihm die Götter offenbart hatten; auch gab er Befehl, dies dem ganzen Volke bekannt zu geben.

Aber die Beamten und das Volk verlachten die Warnung und spotteten über ihren Fürsten, ja einer der Beamten schlich sich eines Nachts heimlich zum Tempel und beschmierte die Gesichter der Bildsäulen mit rotem Ton.

Als Pairuno dies am Morgen sah, glaubte er die Stunde des Strafgerichts gekommen und schiffte sich schnell mit den Seinen ein. Er forderte das Volk auf sich zu retten und bat zu ihm aufs Schiff zu kommen. Doch alle verlachten ihn und der Spötter, der in der Nacht die Gesichter der Bildsäulen beschmiert hatte, gestand seine Tat hohnlachend ein, indem er erklärte, daß nicht die Götter, sondern er die Rotfärbung vorgenommen habe.

Aber Pairuno entgegnete ernst:

»Die Götter haben mir nicht gesagt, daß sie selbst das Weiß der Angesichter der Tempelwächter in Rot verwandeln werden, sondern sie haben mir nur gesagt, wenn das Antlitz rot sein werde, dann sei die Stunde gekommen! Rot sind jetzt die Angesichter und an den Worten der Götter soll man nicht drehen und deuteln. Wenn du Spötter den Göttern vorgegriffen hast, umso schlimmer für dich!«

Damit gab Pairuno den Befehl vom Lande abzustoßen und in angemessener Entfernung zu verharren. Kaum war das geschehen, da verfinsterte sich die Luft, ein Brausen ertönte aus der Tiefe des Meeres, dessen Wellen sich hoch auftürmten, und die Insel sank mit allem, was darauf war, auf den Meeresgrund. Dann wurde es wieder licht, das Meer lag ruhig wie immer, ein azurblauer Himmel lächelte, aber von der blühenden Insel war nichts mehr zu sehen. Pairuno fuhr nach dem Festlande und gab Kunde vom Ende Maorigashima’s und seiner Bewohner.

Noch heute, wenn bei ruhigem Wetter und mondklaren Nächten Fischer über die Stätte fahren, da die Insel einst gestanden, können sie tief unten die Straßen und Häuser erkennen; manchmal geschieht es auch, daß die Netze das eine oder andere Stück der früher auf Maorigashima angefertigten kostbaren Töpferwaren, eine Vase, eine Schale oder irgend einen Topf enthalten. Solche Gegenstände sind sehr begehrt und werden hoch bezahlt, deshalb wird ein jeder Fischer glücklich gepriesen, der ein solches Stück findet. Viele hat es schon verlockt, nach solchen Gegenständen zu suchen, doch nur, wer reinen Herzens ist und den nicht die Sucht nach Reichtum treibt, den lassen die Götter einiges finden; alle übrigen aber müssen mit leeren Händen und oftmals auch mit zerrissenen Netzen heimkehren.

  1. Sprich: Maurigaschima. Diese Sage erinnert an die »Vineta« Sage.