Herakles am Scheidewege



Herakles am Scheidewege

Herakles selbst begab sich um diese Zeit von Hirten und Herden weg in eine einsame Gegend und überlegte bei sich, welche Lebensbahn er einschlagen sollte. Als er so sinnend dasaß, sah er auf einmal zwei Frauen von hoher Gestalt auf sich zukommen. Die eine zeigte in ihrem ganzen Wesen Anstand und Adel, ihren Leib schmückte Reinlichkeit, ihr Blick war bescheiden, ihre Haltung sittsam, fleckenlos weiß ihr Gewand. Die andere war wohlgenährt und von schwellender Fülle, das Weiß und Rot ihrer Haut durch Schminke über die natürliche Farbe gehoben, ihre Haltung so, daß sie aufrechter schien als von Natur, ihr Auge war weit geöffnet und ihr Anzug so gewählt, daß ihre Reize soviel als möglich durchschimmerten. Sie warf feurige Blicke auf sich selbst, sah dann wieder um sich, ob nicht auch andere sie erblickten; und oft schaute sie nach ihrem eigenen Schatten. Als beide näher kamen, ging die erste ruhig ihren Gang fort, die andere aber, um ihr zuvorzukommen, lief auf den Jüngling zu und redete ihn an: »Herakles! ich sehe, daß du unschlüssig bist, welchen Weg durch das Leben du einschlagen sollst. Willst du nun mich zur Freundin wählen, so werde ich dich die angenehmste und gemächlichste Straße fuhren; keine Lust sollst du ungekostet lassen, jede Unannehmlichkeit sollst du vermeiden. Um Kriege und Geschäfte hast du dich nicht zu bekümmern, darfst nur darauf bedacht sein, mit den köstlichsten Speisen und Getränken dich zu laben, deine Augen, Ohren und übrigen Sinne durch die angenehmsten Empfindungen zu ergötzen, auf einem weichen Lager zu schlafen und den Genuß aller dieser Dinge dir ohne Mühe und Arbeit zu verschaffen. Solltest du jemals um die Mittel dazu verlegen sein, so fürchte nicht, daß ich dir körperliche oder geistige Anstrengungen aufbürden werde; im Gegenteil, du wirst nur die Früchte fremden Fleißes zu genießen und nichts auszuschlagen haben, was dir Gewinn bringen kann. Denn meinen Freunden gebe ich das Recht, alles zu benützen.«

Als Herakles diese lockenden Anerbietungen hörte, sprach er verwundert: »O Weib, wie ist denn aber dein Name?« »Meine Freunde«, antwortete sie »nennen mich die Glückseligkeit; meine Feinde hingegen, die mich herabsetzen wollen, geben mir den Namen der Liederlichkeit

Mittlerweile war auch die andere Frau herzugetreten. »Auch ich«, sagte sie, »komme zu dir, lieber Herakles, denn ich kenne deine Eltern, deine Anlagen und deine Erziehung. Dies alles gibt mir die Hoffnung, du würdest, wenn du meine Bahn einschlagen wolltest, ein Meister in allem Guten und Großen werden. Doch will ich dir keine Genüsse vorspiegeln, will dir die Sache darstellen, wie die Götter sie gewollt haben. Wisse also, daß von allem, was gut und wünschenswert ist, die Götter den Menschen nichts ohne Arbeit und Mühe gewähren. Wünschest du, daß die Götter dir gnädig seien, so mußt du die Götter verehren; willst du, daß deine Freunde dich lieben, so mußt du deinen Freunden nützlich werden; strebst du, von einem Staate geehrt zu werden, so mußt du ihm Dienste leisten; willst du, daß ganz Griechenland dich um deiner Tugend willen bewundere, so mußt du Griechenlands Wohltäter werden; willst du ernten, so mußt du säen; willst du kriegen und siegen, so mußt du die Kriegskunst erlernen; willst du deinen Körper in der Gewalt haben, so mußt du ihn durch Arbeit und Schweiß abhärten.« Hier fiel ihr die Liederlichkeit in die Rede. »Siehst du wohl, lieber Herakles«, sprach sie, »was für einen langen, mühseligen Weg dich dieses Weib zur Zufriedenheit führt? Ich hingegen werde dich auf dem kürzesten und bequemsten Pfade zur Seligkeit leiten.« »Elende«, erwiderte die Tugend, »wie kannst du etwas Gutes besitzen? Oder welches Vergnügen kennst du, die du jeder Lust durch Sättigung zuvorkommst? Du issest, ehe dich hungert, und trinkest, ehe dich dürstet. Um die Eßlust zu reizen, suchst du Köche auf; um mit Lust zu trinken, schaffst du dir kostbare Weine an, und des Sommers gehst du umher und suchest nach Schnee; kein Bett kann dir weich genug sein, deine Freunde lässest du die Nacht durchprassen und den besten Teil des Tages verschlafen: darum hüpfen sie auch sorglos und geputzt durch die Jugend dahin und schleppen sich mühselig und im Schmutze durch das Alter, beschämt über das, was sie getan, und fast erliegend unter der Last dessen, was sie tun müssen. Und du selbst, obwohl unsterblich, bist gleichwohl von den Göttern verstoßen und von guten Menschen verachtet. Was dem Ohre am lieblichsten klingt, dein eigenes Lob, hast du nie gehört; was das Auge mehr als alles erfreut, ein eigenes gutes Werk, hast du nie gesehen. – Ich hingegen habe mit den Göttern, habe mit allen guten Menschen Verkehr. An mir besitzen die Künstler eine willkommene Gehilfin, an mir die Hausväter eine treue Wächterin, an mir hat das Gesinde einen liebreichen Beistand. Ich bin eine redliche Teilnehmerin an den Geschäften des Friedens, eine zuverlässige Mitkämpferin im Kriege, die treueste Genossin der Freundschaft. Speise, Trank und Schlaf schmeckt meinen Freunden besser als den Trägen. Die Jüngeren freuen sich des Beifalls der Alten, die Älteren der Ehre bei den Jungen; mit Vergnügen erinnern sie sich an ihre früheren Handlungen und fühlen sich bei ihrem jetzigen Tun glücklich, durch mich sind sie geliebt von den Göttern, geliebt von den Freunden, geachtet vom Vaterland. Und kommt das Ende, so liegen sie nicht ruhmlos in Vergessenheit begraben, sondern gefeiert von der Nachwelt, blühen sie fort im Angedenken aller Zeiten. Zu solchem Leben, Herakles, entschließe dich: vor dir liegt das seligste Los.«

Herakles bei Admetos



Herakles bei Admetos

Zu der Zeit, als der Held, aus dem Hause des Königs von Öchalia mit Unwillen entwichen, in der Irre umherstreifte, hat sich folgendes begeben. Zu Pherai in Thessalien lebte der edle König Admet mit seiner jungen und schönen Gemahlin Alkestis, die ihren Gatten über alles liebte, von blühenden Kindern umringt, von glücklichen Untertanen geliebt. In früherer Zeit, als Apollo, der die Zyklopen getötet hatte, aus dem Olymp entflohen war und sich gezwungen sah, einem Sterblichen dienstbar zu werden, hatte ihn Admet, der Sohn des Pheres, liebreich aufgenommen; ihm hatte er als Sklave die Rinder geweidet. Seitdem stand der König unter dem wirksamen Schutze des später von seinem Vater Zeus wieder zu Gnaden angenommenen Gottes. Als nun die Lebenszeit Admets verstrichen und vom Schicksal ihm der Tod zuerkannt war, da wirkte sein Freund Apollo, dem dies als einem Gotte bewußt, bei den Schicksalsgöttinnen aus, daß sie ihm gelobten, Admet solle dem Hades, der ihn bedrohte, entfliehen, wenn ein anderer Mensch für ihn sterben und in das Totenreich hinabsteigen wollte. Apollo verließ daher den Olymp und kam nach Pherai zu seinem alten Gastfreunde, ihm und den Seinigen die Botschaft von dem Tode, den das Geschick über ihn beschlossen, zu überbringen, zugleich aber ihm das Mittel anzugeben, wodurch er seinem Schicksal zu entrinnen vermöge. Admet war ein redlicher Mann, aber er liebte das Leben; und auch alle die Seinigen samt seinen Untertanen erschraken, daß dem Hause die Stütze, der Gattin und den Kindern Gatte und Vater, dem Volke ein milder Herrscher geraubt werden sollte. Deswegen ging Admet umher und forschte, wo er einen Freund fände, der für ihn sterben wollte. Aber da war nicht einer, der dazu Lust gehabt hätte, und sosehr sie vorher den Verlust, der ihnen bevorstände, bejammert hatten, so kalt wurde ihr Sinn, als sie hörten, unter welcher Bedingung ihm das Leben erhalten werden könnte. Selbst der greise Vater des Königes, Pheres, und die gleichfalls hochbetagte Mutter, die den Tod jede Stunde vor sich sahen, wollten das wenige Leben, das sie noch zu hoffen hatten, nicht für den Sohn dahingeben. Nur Alkestis, seine blühende, lebensvolle Gattin, die glückliche Mutter hoffnungsvoll heranblühender Kinder, war von so reiner und aufopfernder Liebe zu dem Gemahl beseelt, daß sie sich bereit erklärte, dem Sonnenlichte für ihn zu entsagen. Kaum war diese Erklärung aus ihrem Munde gegangen, als auch schon der schwarze Priester der Toten, Thanatos (der Tod), den Toren des Palastes nahte, sein Opfer ins Schattenreich hinabzuführen. Denn er wußte Tag und Stunde genau, an welchem Admet vom Schicksale bestimmt gewesen war, zu sterben. Als Apollo den Tod herankommen sah, verließ er schnell den Königspalast, um, der Gott des Lebens, von seiner Nähe nicht entheiligt zu werden. Die fromme Alkestis aber, als sie den entscheidenden Tag sich nahen sah, reinigte sich, als Opfer des Todes, in fließendem Wasser, nahm festliches Gewand und Geschmeide aus dem Schranke von Zedernholz, und nachdem sie so sich ganz würdevoll geschmückt, betete sie vor ihrem Hausaltare zur Göttin der Unterwelt. Dann umschlang sie Kinder und Gemahl und trat endlich, von Tag zu Tag mehr abgezehrt, zur bestimmten Stunde von ihren Dienerinnen umringt, an der Seite ihres Gatten und ihrer Kinder, in das Gemach, wo sie den Boten der Unterwelt empfangen wollte. Hier schickte sie sich zum feierlichen Abschiede von den Ihrigen an. »Laß mich zu dir reden, was mein Herz begehrt«, sprach sie zu ihrem Gemahle. »Weil dein Leben mir teurer ist als das meinige, sterbe ich für dich jetzt, wo mir das Sterben noch nicht drohte, wo ich, einen edlen Thessalier zum zweiten Gemahle wählend, im beglückten Fürstenhause hätte wohnen können. Aber ich wollte nicht leben, deiner beraubt, die verwaisten Kinder anschauend. Dein Vater und deine Mutter haben dich verraten, da doch ihnen Sterben rühmlicher gewesen wäre; denn dann wärest du nicht einsam geworden und hättest keine Waisen aufzuziehen gehabt. Doch da es die Götter einmal so gefügt haben, so bitte ich dich nur, meiner Wohltat eingedenk zu sein und den Kleinen, welche du nicht weniger liebest als ich, die ich sie verlassen muß, kein anderes Weib als Mutter zuzuführen, das, von Neid gequält, sie selber plagen könnte.« Unter Tränen schwur ihr der Gemahl, daß, wie sie im Leben die Seine gewesen, so auch im Tode nur sie ihm Gattin heißen solle. Dann übergab ihm Alkestis die wehklagenden Kinder und sank ohnmächtig nieder.

Unter den Vorbereitungen zur Bestattung geschah es nun, daß der umherirrende Herakles nach Pherai und vor die Tore des Königspalastes kam. Eingelassen, geriet er in eine Unterredung mit den Dienern des Hauses, und zufällig kam Admet selbst dazu. Dieser nahm seinen Gast, den eigenen Kummer unterdrückend, mit großer Herzlichkeit auf, und als Herakles, durch den Anblick seiner Trauerkleider betroffen, ihn um seinen Verlust befragte, erwiderte er, um den Gast nicht zu betrüben oder gar zu verscheuchen, auf eine so verdeckte Weise, daß Herakles der Meinung war, es sei eine ferne Anverwandte des Admet, die zu Besuche bei dem Könige war, gestorben. Er blieb daher fröhlichen Sinnes, ließ sich von einem Sklaven in das Gastgemach geleiten und hier Wein vorsetzen. Als ihm die Traurigkeit des Dieners auffiel, schalt er diesen um sein übermäßiges Leid. »Was siehst du mich so ernst und feierlich an?« sprach er. »Ein Diener muß gefällig gegen Fremdlinge sein! Was ist’s auch, wenn eine Fremde in eurem Hause gestorben ist; weißt du denn nicht, daß dies das allgemeine Los der Menschen ist? Den Trübseligen ist das Leben eine Qual; geh, bekränze dich, wie du mich siehst, und trinke mit mir! Ich weiß gewiß, ein überwallender Becher wird bald alle Runzeln deiner Stirne vertreiben.« Aber der Diener wandte sich mit Grauen ab. »Uns traf ein Geschick«, sprach er, »dem nicht Lachen und Schmausen ziemt. Fürwahr, der Sohn des Pheres ist nur allzu gastfreundlich, daß er in so tiefer Trauer einen so leichtsinnigen Gast aufgenommen hat.« »Soll ich nicht fröhlich sein«, erwiderte Herakles verdrießlich, »weil eine fremde Frau gestorben ist?« »Eine fremde Frau!« rief der Diener verwundert. »Dir mochte sie fremd sein; uns war sie es nicht!« »So hat mir Admet seinen Unfall nicht recht berichtet«, sagte Herakles stutzend. Aber der Sklave sprach: »Nun sei du immerhin fröhlich; der Gebieter Weh geht ja nur ihre Freunde und Diener an!« Aber Herakles hatte keine Ruhe mehr, bis er die Wahrheit erfahren hatte. »Ist’s möglich«, rief er, »eines so herrlichen Weibes ward er beraubt, und dennoch hat er den Fremdling so gastlich aufgenommen? Trat ich doch mit geheimem Widerwillen zum Tore herein, und nun hab ich hier im Trauerhause das Haupt mit Kränzen geschmückt, gejubelt und getrunken! Aber sage mir, wo liegt das fromme Weib bestattet?« »Wenn du den geraden Weg gehst, der nach Larissa führt«, antwortete der Sklave, »so siehst du das schmucke Totenmal, das ihr schon aufgerichtet ist.« Mit diesen Worten verließ der Diener weinend den Fremdling.

Allein gelassen, brach Herakles in keine Klagen aus, sondern der Held hatte schnell einen Entschluß gefaßt. ›Retten muß ich‹, sprach er zu sich selbst, ›diese Gestorbene, sie wieder einführen in das Haus des Gatten; anders kann ich seine Gunst nicht würdig vergelten. Ich gehe an das Grabmal; dort harre ich des Thanatos, des Totenbeherrschers. Ich finde ihn wohl, wie er kommt, das Opferblut zu trinken, das ihm über dem Denkmal der Verstorbenen gespendet wird. Dann springe ich aus dem Hinterhalte hervor, ergreife ihn schnell, umschlinge ihn mit den Händen, und keine Macht auf Erden soll ihn mir entreißen, ehe er mir seine Beute überläßt.‹ Mit diesem Vorsatze verließ er in aller Stille den Palast des Königs.

Admet war in sein verödetes Haus zurückgekehrt und trauerte mit seinen verlassenen Kindern in schmerzlicher Sehnsucht nach der geopferten Gattin, und kein Trost getreuer Diener vermochte seinen Kummer zu lindern. Da betrat sein Gastfreund Herakles die Schwelle wieder, ein verschleiertes Weib an der Hand führend. »Du hast nicht wohl daran getan, o König, mir den Tod deiner Gattin zu verhehlen; du nahmst mich in dein Haus auf, als ob nur fremdes Leiden dich bekümmerte; so habe ich unwissend groß Unrecht getan und im Unglückshause fröhliches Trankopfer ausgegossen. Doch will ich dich in deinem Ungemache nicht noch weiter betrüben. Höre jedoch, warum ich noch einmal gekommen bin. Diese Jungfrau hier habe ich als Siegeslohn bei einem Kampfspiele empfangen. Nun gehe ich hin, neue Kämpfe zu bestehen. Bis ich diese vollbracht habe, übergebe ich dir die Jungfrau als Dienerin; sorge du für sie als das Eigentum eines Freundes.«

Admet erschrak, als er den Herakles so sprechen hörte. »Nicht, weil ich den Freund verachtet oder verkannt hätte«, erwiderte er, »habe ich dir meiner Gattin Tod verborgen, sondern um mir nicht noch mehr Leiden dadurch zu bereiten, daß ich dich in eines anderen Freundes Haus davonziehen ließe. Dieses Weib aber, Herr, bitte ich dich, einem andern Bewohner von Pherai zuzuführen, nicht mir, der ich soviel gelitten habe. Hast du ja doch genug Gastfreunde in dieser Stadt. Wie könnte ich ohne Tränen diese Jungfrau in meinem Hause erblicken? Den Männeraufenthalt könnte ich ihr nicht zur Wohnung geben, und sollte ich ihr die Gemächer der verstorbenen Gattin einräumen? Das sei ferne! Ich fürchte die üble Nachrede der Pheraier, ich fürchte auch den Tadel der Entschlafenen!« So sprach abwehrend der König; aber ein wunderbares Sehnen zog seine Blicke doch wieder auf die tief verschleierte Gestalt. »Wer du auch seiest, o Weib«, sagte er seufzend, »wisse, daß du an Größe und Gestalt wundersam meiner Alkestis gleichest. Bei den Göttern beschwöre ich dich, Herakles, führe mir diese Frau aus den Augen und quäle den Gequälten nicht noch mehr; denn wenn ich sie erblicke, wähne ich mein verstorbenes Gemahl zu sehen, ein Strom von Tränen bricht aus meinen Augen, und aufs neue versinke ich in Kümmernis.« Herakles unterdrückte sein wahres Gefühl und antwortete betrübt: »O wäre mir von Zeus die Macht verliehen, dir dein heldenmütiges Weib aus dem Schattenreich ans Licht zurückzuführen und dir für deine Güte solche Gunst zu erweisen!« »Ich weiß, du tätest es«, erwiderte Admet; »wann aber kehrte je ein Toter aus dem Schattenreiche zurück?« »Nun«, fuhr Herakles lebhafter fort, »weil dies nicht geschehen kann, so gestatte der Zeit, deinen Kummer zu lindern; den Toten geschieht doch kein Gefallen mit der Trauer. Verbanne auch den Gedanken nicht ganz, daß eine zweite Gattin dir einst noch das Leben erheitern kann. Endlich, mir zuliebe nimm das edle Mädchen, das ich dir hier bringe, in dein Haus auf. Versuch es wenigstens; sobald es dir nicht frommen sollte, soll sie dein Haus wieder verlassen!« Admet sah sich von dem Gaste, den er nicht beleidigen wollte, bedrängt; er befahl, jedoch nur ungerne, daß die Diener das Weib in die innern Gemächer geleiten sollten. Aber Herakles gab dieses nicht zu. »Vertraue«, sprach er, »mein Kleinod keinen Sklavenhänden, o Fürst! Du selbst, wenn es dir gefällt, sollst sie hineinführen!« »Nein«, sprach Admet, »ich berühre sie nicht; ich würde schon so das Wort, das ich der geliebten Toten gegeben habe, zu verletzen glauben. Eingehen möge sie, aber ohne mich!« Doch Herakles ruhte nicht, bis er die Hand der Verschleierten ergriffen hatte. »Nun dann«, sagte Herakles freudig, »so bewahre sie; blicke die Jungfrau auch recht an, ob sie wirklich deinem Ehegemahl gleicht, und ende deinen Gram!«

Damit enthüllte er die Verschleierte und gab dem in Staunen zweifelnden König seine wiederbelebte Gemahlin zu schauen. Während Admet, wie leblos, die Lebende an der Hand hielt und sich mit Furcht und Zittern an ihrem Anblick weidete, erzählte ihm der Halbgott, wie er den Thanatos am Grabeshügel ergriffen und seine Beute ihm abgerungen habe. Da sank der König in die Arme seines Weibes. Aber diese blieb sprachlos und durfte seinen zärtlichen Ausruf nicht erwidern. »Du wirst«, belehrte ihn Herakles, »ihre Stimme nicht wieder vernehmen, als bis die Totenweihe von ihr genommen und der dritte Tag erschienen ist. Doch führe sie getrost hinein in dein Gemach und erfreue dich ihres Besitzes. Er ist dir zuteil geworden, weil du an Fremdlingen so edle Gastfreundschaft geübt hast! Mich aber laß meinem Geschicke nachziehen!« »So zeuch in Frieden, Held!« rief Admet dem Scheidenden nach. »Du hast mich in ein besseres Leben zurückgeführt; glaube mir, daß ich meine Seligkeit dankbar erkenne! Alle Bürger meines Königreichs sollen mir Chortänze aufführen helfen, und Opferduft entsteige den Altären! Dabei wollen wir dein, o du mächtiger Zeussohn, in Dank und Liebe gedenken.«

Herakles der Neugeborne



Viertes Buch

Aus der Heraklessage

Herakles der Neugeborne

Herakles war ein Sohn des Zeus und der Alkmene, Alkmene eine Enkelin des Perseus; der Stiefvater des Herakles hieß Amphitryon, auch er war ein Enkel des Perseus und König von Tiryns, hatte jedoch diese Stadt verlassen, um in Theben zu wohnen. Hera, die Gemahlin des Zeus, haßte ihre Nebenbuhlerin Alkmene und gönnte ihr den Sohn nicht, von dessen Zukunft Zeus den Göttern selbst Großes verkündet hatte. Als daher Alkmene den Herakles geboren, glaubte sie ihn vor der Göttermutter in dem Palaste nicht sicher und setzte ihn an einem Platze aus, der noch in späten Zeiten das Heraklesfeld hieß. Hier wäre das Kind ohne Zweifel verschmachtet, wenn nicht ein wunderbarer Zufall seine Feindin Hera selbst, von Athene begleitet, des Weges geführt hätte. Athene betrachtete die schöne Gestalt des Kindes mit Verwunderung, erbarmte sich sein und bewog die Begleiterin, dem Kleinen ihre göttliche Brust zu reichen. Aber der Knabe sog viel kräftiger an der Brust, als sein Alter erwarten ließ; Hera empfand Schmerzen und warf das Kind unwillig zu Boden. Jetzt hob Athene dasselbe voll Mitleid wieder auf, trug es in die nahe Stadt und brachte es der Königin Alkmene als ein armes Findelkind, das sie aus Barmherzigkeit aufzuziehen bat. So war die leibliche Mutter, aus Angst vor der Stiefmutter, bereit gewesen, die Pflicht der natürlichen Liebe verleugnend, ihr Kind umkommen zu lassen; und die Stiefmutter, die von natürlichem Hasse gegen dasselbe erfüllt ist, muß, ohne es zu wissen, ihren Feind vom Tode erretten. Ja noch mehr: Herakles hatte nur ein paar Züge an Heras Brust getan, aber die wenigen Tropfen Göttermilch waren genügend, ihm Unsterblichkeit einzuflößen.

Alkmene hatte indessen ihr Kind auf den ersten Blick erkannt und es freudig in die Wiege gelegt. Aber auch der Göttin blieb nicht verborgen, wer an ihrer Brust gelegen und wie leichtsinnig sie den Augenblick der Rache vorübergelassen habe. Sogleich schickte sie zwei entsetzliche Schlangen aus, die, das Kind zu töten bestimmt, durch die offenen Pforten in Alkmenes Schlafgemach geschlichen kamen und, ehe die Dienerinnen des Gemaches und die schlummernde Mutter selbst es innewurden, sich an der Wiege emporringelten und den Hals des Knaben zu umstricken anfingen. Der Knabe erwachte mit einem Schrei und richtete seinen Kopf auf. Das ungewohnte Halsband war ihm unbequem. Da gab er die erste Probe seiner Götterkraft: er ergriff mit jeder Hand eine Schlange am Genick und erstickte die beiden mit einem einzigen Druck. Die Wärterinnen hatten die Schlangen jetzt wohl bemerkt; aber unbezwingbare Furcht hielt sie ferne. Alkmene war auf den Schrei ihres Kindes erwacht; mit bloßen Füßen sprang sie aus dem Bett und stürzte Hilfe rufend auf die Schlangen zu, die sie schon von den Händen ihres Kindes erwürgt fand. Jetzt traten auch die Fürsten der Thebaner, durch den Hilferuf aufgeschreckt, bewaffnet in das Schlafgemach; der König Amphitryon, der den Stiefsohn als ein Geschenk des Zeus betrachtete und liebhatte, eilte erschrocken herbei, das bloße Schwert in der Hand. Da stand er vor der Wiege, sah und hörte, was geschehen war; Lust, mit Entsetzen gemischt, durchbebte ihn über die unerhörte Kraft des kaum gebornen Sohnes. Er betrachtete die Tat als ein großes Wunderzeichen und rief den Propheten des großen Zeus, den Wahrsager Tiresias, herbei. Dieser weissagte dem Könige, der Königin und allen Anwesenden den Lebenslauf des Knaben: wie viele Ungeheuer auf Erden, wie viele Ungetüme des Meeres er hinwegräumen, wie er mit den Giganten selbst im Kampfe zusammenstoßen und sie besiegen werde und wie ihm am Ende seines mühevollen Erdenlebens das ewige Leben bei den Göttern und Hebe, die ewige Jugend, als himmlische Gemahlin erwarte.

Herakles im Dienste der Omphale



Herakles im Dienste der Omphale

Der Mord des Iphitos, obgleich im Wahnsinne verübt, lag schwer auf Herakles. Er wanderte von einem Priesterkönige zum andern, um sich reinigen zu lassen; erst zum Könige Neleus von Pylos, dann zu Hippokoon, König von Sparta: aber beide weigerten sich dessen; der dritte endlich, Deïphobos, ein König zu Amyklai, übernahm es, ihn zu entsühnen. Nichtsdestoweniger schlugen ihn die Götter zur Strafe der Untat mit einer schweren Krankheit. Der Held, sonst von Kraft und Gesundheit strotzend, konnte das plötzliche Siechtum nicht ertragen. Er wandte sich nach Delphi und hoffte bei dem pythischen Orakel Genesung zu finden. Aber die Priesterin verweigerte ihm, als einem Mörder, ihren Spruch. Da raubte er im Heldenzorn den Dreifuß, trug ihn hinaus aufs Feld und errichtete ein eigenes Orakel. Erbost über diesen kühnen Eingriff in seine Rechte, erschien Apoll und forderte den Halbgott zum Kampfe heraus. Aber Zeus wollte auch diesmal kein Bruderblut fließen sehen; er schlichtete den Kampf, indem er einen Donnerkeil zwischen die Streitenden warf. Jetzt erhielt endlich Herakles einen Orakelspruch, welchem zufolge er von seinem Übel befreit werden sollte, wenn er zu dreijährigem Knechtsdienste verkauft würde, das Handgeld aber als Sühne dem Vater gäbe, dem er den Sohn erschlagen. Herakles, von Krankheit überwältigt, fügte sich in diesen harten Spruch. Er schiffte sich mit einigen Freunden nach Asien ein und wurde dort von einem derselben mit seiner Einwilligung als Sklave verkauft an Omphale, die Tochter des Iardanos, die Königin des damaligen Mäoniens, was später Lydien hieß. Den Kaufpreis brachte der Verkäufer, dem Orakel gemäß, dem Eurytos, und als dieser das Geld zurückwies, übergab er es den Kindern des erschlagenen Iphitos. Jetzt wurde Herakles wieder gesund. Im Vollgefühle der wiedergewonnenen Körperkraft zeigte er sich anfangs auch als Sklave der Omphale noch als Held und fuhr fort, in seinem Berufe als ein Wohltäter der Menschheit zu wirken. Er züchtigte alle Räuber, welche das Gebiet seiner Herrin und der Nachbarn beunruhigten. Die Kerkopen, die in der Gegend von Ephesus hausten und durch Plünderung viel Schaden anrichteten, wurden von ihm teils erschlagen, teils gebunden der Omphale überliefert. Den König Syleus in Aulis, einen Sohn des Poseidon, der die Reisenden auffing und sie zwang, ihm die Weinberge zu hacken, erschlug er mit dem Spaten und grub seine Weinstöcke mit den Wurzeln aus. Den Itonen, die wiederholt ins Land der Omphale einfielen, zerstörte er ihre Stadt von Grund aus und machte sämtliche Einwohner zu Sklaven. In Lydien trieb damals Lityerses, ein unechter Sohn des Midas, sein Wesen. Er war ein reichbegüterter Mann und lud alle Fremden, die bei seinem Sitze vorüberreisten, höflich zu Gaste. Nach dem Mahle zwang er sie, mit ihm in seine Ernte zu gehen, und des Abends schlug er ihnen die Köpfe ab. Auch diesen Tyrannen brachte Herakles um und warf ihn in den Fluß Mäander. Einmal fuhr er auf einem dieser Züge die Insel Doliche an und sah hier einen Leichnam, von den Wellen herangespült, am Gestade liegen. Es war die Leiche des unglücklichen Ikaros, der mit den wachsgefügten Flügeln seines Vaters auf der Flucht aus dem Labyrinthe zu Kreta der Sonne zu nahe gekommen und in das Meer gefallen war. Mitleidig begrub Herakles den Verunglückten und gab der Insel, ihm zu Ehren, den Namen Ikaria. Für diesen Dienst errichtete der Vater des Ikaros, der kunstreiche Dädalos, das wohlgetroffene Bildnis des Herakles zu Pisa. Der Held selbst aber, als er einst dorthin kam, hielt das Bild, von der Dunkelheit der Nacht getäuscht, für belebt. Seine eigene Heldengebärde erschien ihm als das Drohen eines Feindes, er griff zu einem Steine und zerschmetterte so das schöne Denkmal, das seiner Barmherzigkeit vom Freunde gesetzt worden war. In die Zeit seiner Knechtschaft bei Omphale fiel auch die Teilnahme des Helden an der Jagd des Kalydonischen Ebers.

Omphale bewunderte die Tapferkeit ihres Knechts und mochte wohl ahnen, daß ein herrlicher, weltberühmter Held ihr Sklave sei. Nachdem sie erfahren, daß er Herakles, der große Sohn des Zeus sei, gab sie ihm nicht nur in Anerkenntnis seiner Verdienste die Freiheit wieder, sondern sie vermählte sich auch mit ihm. Aber Herakles vergaß hier im üppigen Leben des Morgenlandes der Lehren, die ihm die Tugend am Scheidewege seines Jugendlebens gegeben; er versank in weibische Wollust. Dadurch geriet er bei seiner Gemahlin Omphale selbst in Verachtung; sie kleidete sich in die Löwenhaut des Helden, ihm selbst aber ließ sie weichliche lydische Weiberkleider anlegen und brachte ihn in seiner blinden Liebe so weit, daß er, zu ihren Füßen sitzend, Wolle spann. Der Nacken, dem einst bei Atlas der Himmel eine leichte Last gewesen war, trug jetzt ein goldenes Weiberhalsband; die nervigen Heldenarme umspannten Armbänder, mit Juwelen besetzt; sein Haar quoll ungeschoren unter einer Mitra hervor; langes Frauengewand wallte über die Heldenglieder herab. So saß er, den Wocken vor sich, unter den ionischen Mägden, spann mit seinen knochigen Fingern den dicken Faden ab und fürchtete das Schelten seiner Herrin, wenn er sein Tagewerk nicht vollständig geliefert. War sie aber guter Laune, so mußte der Mann in Weibertracht ihr und ihren Frauen die Taten seiner Heldenjugend erzählen: wie er die Schlangen mit der Knabenhand erdrückt, wie den Riesen Geryones als Jüngling erlegt, wie der Hyder den unsterblichen Kopf abgeschlagen, wie den Höllenhund aus dem Rachen des Hades heraufgezogen. An diesen Taten ergötzten sich dann die Weiber, wie man an Ammenmärchen Freude hat.

Endlich, als seine Dienstjahre bei Omphale vorüber waren, erwachte Herakles aus seiner Verblendung. Mit Abscheu schüttelte er die Weiberkleider ab, und es kostete ihn nur das Wollen eines Augenblicks, so war er wieder der krafterfüllte Zeussohn, voll von Heldenentschlüssen. Der Freiheit zurückgegeben, beschloß er, zuallererst an seinen Feinden Rache zu nehmen.

Herakles im Gigantenkampfe



Herakles im Gigantenkampfe

Der Held fand bald eine Gelegenheit, den Göttern für so große Auszeichnungen einen glänzenden Dank abzustatten. Die Giganten, Riesen mit schrecklichen Gesichtern, langen Haaren und Bärten, geschuppten Drachenschwänzen statt der Füße, Ungeheuer, welche die Gaia oder Erde dem Uranos, dem Himmel, geboren, wurden von ihrer Mutter gegen Zeus, den neuen Weltbeherrscher, aufgewiegelt, weil dieser ihre ältern Söhne, die Titanen, in den Tartaros verstoßen hatte. Sie brachen aus dem Erebos (der Unterwelt) auf dem weiten Gefilde von Phlegra in Thessalien hervor. Aus Furcht vor ihrem Anblick erblaßten die Gestirne, und Phöbos drehte den Sonnenwagen um. »Gehet hin und rächet mich und die alten Götterkinder«, sprach die Mutter Erde. »An Prometheus frißt der Adler, an Tityos zehrt der Geier, Atlas muß den Himmel tragen, die Titanen liegen in Banden. Geht, rächt, rettet sie! Braucht meine eigenen Glieder, die Berge zu Stufen, zu Waffen! Ersteiget die gestirnten Burgen! Du, Typhoeus, reiß dem Gewaltherrscher Zepter und Blitz aus der Hand; Enkelados, du bemächtige dich des Meeres und verjage Poseidon! Rhötos soll dem Sonnengotte die Zügel entreißen, Porphyrion das Orakel zu Delphi erobern!« Die Riesen jubelten bei diesen Worten auf, als hätten sie den Sieg schon errungen, als schleppten sie schon den Poseidon oder den Ares im Triumphe daher und zerrten den Apollo am herrlichen Lockenhaar; der eine nannte schon Aphrodite sein Weib, ein andrer wollte Artemis, ein dritter Athene freien. So zogen sie den thessalischen Bergen zu, um von dort aus den Himmel zu stürmen.

Indessen rief Iris, die Götterbotin, alle Himmlischen zusammen, alle Götter, die in Wasser und Flüssen wohnen; selbst die Manen aus der Unterwelt beschwor sie herauf; Persephone verließ ihr schattiges Reich, und ihr Gemahl, der König der Schweigenden, fuhr mit seinen lichtscheuen Rossen zum strahlenden Olymp empor. Wie in einer belagerten Stadt die Bewohner von allen Seiten zusammenlaufen, ihre Burg zu schirmen, so kamen die vielgestalteten Gottheiten am Vaterherde zusammen. »Versammelte Götter«, redete sie Zeus an, »ihr sehet, wie die Mutter Erde mit einer neuen Brut sich gegen uns verschworen hat. Auf, und sendet ihr so viele Leichen hinunter, als sie uns Söhne heraufschickt!« Als der Göttervater geendet, ertönte die Wetterposaune vom Himmel, und Gaia drunten antwortete mit einem donnernden Erdbeben. Die Natur geriet in Verwirrung wie bei der ersten Schöpfung; denn die Giganten rissen einen Berg nach dem andern aus seinen Wurzeln, schleppten den Ossa, den Pelion, den Öta, den Athos herbei, brachen den Rhodope mit der Hälfte des Hebrosquelles ab, und auf dieser Leiter von Gebirgen zum Göttersitz emporgeklommen, fingen sie an, mit Feuerbränden von Eichen und ungeheuren Felsenstücken den Olymp zu stürmen.

Nun war den Göttern ein Orakelspruch erteilt worden, daß von den Himmlischen keiner der Giganten vernichtet werden könnte und diese nur dann sterben würden, wenn ein Sterblicher mitkämpfte. Gaia hatte dies in Erfahrung gebracht und suchte deswegen nach einem Arzneimittel, das ihre Söhne auch Sterblichen gegenüber unverletzlich mache. Und es war wirklich ein solches Kraut gewachsen; aber Zeus kam ihr zuvor; er verbot der Morgenröte, dem Mond und der Sonne zu scheinen, und während Gaia in der Finsternis herumsuchte, schnitt er die Arzneikräuter eilig selbst ab und ließ seinen Sohn Herakles durch Athene zur Teilnahme am Kampfe auffordere.

Auf dem Olymp war inzwischen der Streit schon entbrannt. Ares hatte seinen Kriegswagen mit den wiehernden Rossen mitten in die dichteste Schar der heranstürzenden Feinde gelenkt. Sein goldner Schild brannte heller als Feuer, schimmernd flatterte die Mähne seines Helmes. Im Kampfgetümmel durchbohrte er den Giganten Peloros, dessen Füße zwei lebendige Schlangen waren. Dann fuhr er über die sich krümmenden Glieder des Gefallenen zermalmend mit seinem Wagen hin; aber erst bei des sterblichen Herakles Anblick, der eben die letzte Stufe des Olymps erstiegen hatte, hauchte das Ungeheuer seine drei Seelen aus. Herakles sah sich auf dem Schlachtfelde um und erkor sich ein Ziel seines Bogens; sein Pfeilschuß streckte den Alkyoneus nieder, der alsbald in die Tiefe stürzte, aber sobald er seinen Heimatboden berührt hatte, mit erneuter Lebenskraft sich wieder erhob. Auf den Rat der Athene stieg auch Herakles hinab und schleppte ihn über die Grenze seines Geburtslandes hinaus; und sowie der Riese auf fremder Erde angekommen war, entfuhr ihm der Atem.

Jetzt ging der Gigant Porphyrion in drohender Stellung auf Herakles und Hera zugleich los, um einzeln mit ihnen zu kämpfen. Aber Zeus flößte ihm schnell ein Verlangen ein, das himmlische Antlitz der Göttin zu schauen, und während er an Heras umhüllendem Schleier zerrte, traf ihn Zeus mit dem Donner, und Herakles tötete ihn vollends mit einem Pfeile. Bald rannte aus der Schlachtreihe der Giganten Ephialtes mit funkelnden Riesenaugen hervor. »Das sind helle Zielscheiben für unsere Pfeile!« sprach lachend Herakles zu dem neben ihm kämpfenden Phöbos Apollo, und nun schoß ihm der Gott das linke und der Halbgott das rechte Auge aus dem Kopf. Den Eurytos schlug Dionysos (Bakchos) mit seinem Thyrsosstabe nieder; ein Hagel glühender Eisenschlacken aus des Hephaistos Hand warf den Klytios zu Boden; auf den fliehenden Enkelados schleuderte Pallas Athene die Insel Sizilien; der Riese Polybotes, von Poseidon über das Meer verfolgt, flüchtete sich nach Kos, aber der Meergott riß ein Stück dieser Insel ab und bedeckte ihn damit. Hermes, den Helm des Pluton auf dem Kopfe, erschlug den Hippolytos, zwei andere trafen der Parzen eherne Keulen. Die übrigen schmetterte Zeus mit seinem Donner nieder, und Herakles erschoß sie mit seinen Pfeilen.

Für diese Tat wurde dem Halbgott hohe Gunst von den Himmlischen zuteil. Zeus nannte diejenigen unter den Göttern, welche den Kampf mit ausfechten geholfen, Olympier, um durch diesen Ehrennamen die Tapferen von den Feigen zu unterscheiden. Dieser Benennung würdigte er nun auch zwei Söhne sterblicher Weiber, den Dionysos und den Herakles.

Herakles, Iole und Deïanira. Sein Ende



Herakles, Iole und Deïanira.
Sein Ende

Die letzte Fehde, die Herakles bestand, war sein Feldzug gegen Eurytos, den König von Öchalia, gegen welchen er einen alten Groll hegte, weil derselbe ihm seine Tochter Iole verweigert hatte. Er versammelte ein großes Heer von Griechen und zog nach Euböa, den Eurytos und seine Söhne in ihrer Stadt Öchalia zu belagern. Der Sieg folgte ihm: die hohe Burg wurde in den Staub geworfen, der König mit seinen drei Söhnen erschlagen, die Stadt vertilgt. Iole, noch immer jung und schön, wurde die Gefangene des Herakles.

Derweil hatte Deïanira in Sorgen zu Hause auf Nachricht von ihrem Gatten geharrt. Endlich jauchzte im Palaste Freudengeschrei empor. Ein Bote kam herangesprengt: »Dein Gemahl, o Fürstin, lebt« so meldete er der ängstlich auf seine Botschaft Horchenden »naht in Siegesruhm und führt jetzt eben die Erstlinge des Kampfes den heimatlichen Göttern zu. Sein Diener Lichas, den er hinter mir her gesendet hat, verkündet auf offener Wiese dem Volke den Sieg. Seine eigene Ankunft verzögert sich nur dadurch, daß er auf Euböas Vorgebirge Kenaion dem Zeus das schuldige Dankopfer darzubringen sich anschickt.« Bald erschien der Abgeordnete des Helden, Lichas, und in seinem Geleite die Gefangenen. »Heil dir, Gemahlin meines Herrn«, sprach er zu Deïanira; »die Himmlischen lieben den Frevel nicht: Herakles‘ gerechte Sache ist gesegnet worden; die üppigen Prahler mit ihrem verruchten Munde sind alle in den Hades hinabgeeilt, die Stadt ist in Knechtschaft. Doch der Gefangenen, die wir hier bringen, sollst du schonen, läßt dein Gemahl dir sagen, vor allem der unglücklichen Jungfrau, die sich hier vor deine Füße wirft.« Deïanira heftete einen Blick voll tiefen Mitleids auf das schöne, jugendliche Mädchen, das von Gestalt und Auge lieblich glänzte, erhob sie vom Boden und sprach: »Ja, ihr Lieben, herbes Mitgefühl hat mich gefaßt, sooft ich Unglückselige heimatlos durch fremde Landschaft herumgeschleppt und Freigeborne Sklavenlos dulden sah. Zeus, Überwinder, mögest du nie deinen Arm so gegen mein Haus erheben! Aber wer bist du, jammervolles Mägdlein? Du scheinst unvermählt und von hohem Stamme! Sage mir, Lichas, wer sind die Eltern dieser Jungfrau?« »Wie weiß ich das? Weswegen fragst du dies?« antwortete der Abgesandte mit verstelltem Sinne, und seine Miene verriet ein Geheimnis. »Sie ist«, fuhr er nach einigem Zögern fort, »gewiß aus keinem der niedrigsten Häuser Öchalias.« Da das arme Mädchen selbst nur seufzte und schwieg, so forschte Deïanira auch nicht weiter, sondern befahl, sie in das Haus zu führen und dort auf das schonendste zu behandeln. Während Lichas diesem Befehl Folge leistete, trat der zuerst angekommene Bote seiner Gebieterin näher, und sobald er sich unbelauscht wußte, flüsterte er ihr die Worte zu: »Traue dem Abgesandten deines Gemahls nicht, Deïanira. Er verbirgt dir die Wahrheit. Aus seinem eigenen Munde habe ich mitten auf dem Marktplatz von Trachis in vieler Zeugen Gegenwart gehört, daß dein Gatte Herakles ganz allein um dieser Jungfrau willen die hohe Burg Öchalias niedergeworfen hat. Es ist Iole, die Tochter des Eurytos, die du aufgenommen hast, von deren Liebe Herakles entbrannt war, ehe er dich kennengelernt hat. Nicht als deine Sklavin, sondern als deine Nebenbuhlerin, als Nebenweib ist sie in dein Haus gekommen!« Ober diese Mitteilung brach Deïanira in laute Wehklagen aus. Doch faßte sie sich bald wieder und rief den Diener ihres Gatten, Lichas, selbst herbei. Dieser schwur anfangs beim höchsten Zeus, daß er ihr die Wahrheit gesagt habe und ihm unbewußt sei, wer die Eltern der Jungfrau wären. Lange beharrte er bei dieser Lüge. Deïanira aber beschwor ihn, des höchsten Zeus nicht länger zu spotten. »Wäre es auch möglich, daß ich meinem Gatten seiner Untreue wegen abhold würde«, sagte sie zu ihm weinend, »so bin ich nicht so unedler Gesinnung, daß ich dieser Jungfrau zürne, die mir nie einen Schimpf angetan hat. Nur mit Mitleiden schaue ich sie an; denn ihr hat die Schönheit all ihr Lebensglück zertrümmert, ja ihr ganzes Geburtsland in Knechtschaft gestürzt!« Als Lichas sie so menschlich reden hörte, gestand er alles. Hierauf entließ ihn Deïanira ohne Vorwurf und befahl ihm, nur solange zu warten, bis sie für die reiche Schar von Gefangenen, die der Gemahl ihr zugesendet und zur Verfügung gestellt hatte, diesem eine Gegengabe gerüstet hätte.

Fern vom Feuer, unberührt vom Strahle des Lichtes hatte Deïanira, der Vorschrift des tückischen Zentauren gemäß, die Salbe, die sie vom giftigen Blute seiner Pfeilwunde gesammelt, am verborgenen Orte bewahrt. An dieses Zaubermittel, das sie, unerfahren in den Ränken, welche Rache spinnt, für ganz unschädlich hielt und das ihr nur das Herz und die Treue des Gatten wiedergewinnen sollte, dachte nun die bedrängte Fürstin zum ersten Male wieder, seit sie es sorgsam verhüllt im Schranke geborgen. Jetzt galt es zu handeln. Sie schlich sich daher in das Gemach und färbte mit einer Flocke von weißem Lämmervliese, welche sie mit der Salbe getränkt hatte, im verborgenen ein köstliches Unterkleid, das für Herakles bestimmt war. Sorgfältig hütete sie während dieser Arbeit Flocke und Gewand vor dem Sonnenstrahl und schloß das blutrot gefärbte Kleid, schön zusammengefaltet, in ein Kästchen ein. Als dies geschehen war, warf sie die Wolle, die zu nichts mehr dienlich, auf die Erde, ging und überreichte dem herbeigerufenen Lichas das für ihren Gatten bestimmte Geschenk. »Bring meinem Gemahl«, sprach sie, »dieses schöngewobene Leibgewand, meiner eigenen Hände Werk. Kein andrer soll es tragen als er selbst; auch soll er das Kleid nicht dem Feuerherde oder dem Sonnenglanze aussetzen, bevor er es, am feierlichen Opfertage damit geschmückt, den Göttern gezeigt hat; denn dieses Gelübde habe ich getan, wenn ich ihn je siegreich zurückkehren sehen würde. Daß du ihm wirklich meine Botschaft bringest, soll er an diesem Siegelringe erkennen, den ich dir für ihn anvertraue.« Lichas versprach alles auszurichten, wie die Herrin befohlen; er verweilte keinen Augenblick länger im Palast, sondern eilte mit der Gabe nach Euböa, um den opfernden Herrn nicht länger ohne Kunde von der Heimat zu lassen. Einige Tage vergingen, und der älteste Sohn des Herakles und der Deïanira, Hyllos, war seinem Vater entgegengeeilt, um ihm die Ungeduld der harrenden Mutter zu schildern und ihn zu beschleunigter Heimkehr zu bewegen. Inzwischen hatte Deïanira zufällig das Gemach wieder betreten, wo das Zaubergewand von ihr gefärbt worden war. Sie fand die Wollenflocke, wie sie dieselbe unachtsam hingeworfen, auf dem Boden liegen, dem Sonnenstrahl ausgesetzt und von ihm durchwärmt. Ihr Anblick aber entsetzte sie; denn die Wolle war wie zu Staub oder Sägspänen zusammengeschwunden, und aus dem Überbleibseln zischte ein blasenvoller, giftiger Schaum auf. Eine dunkle Ahnung ergriff die jammervolle Frau, daß sie Unglückseliges begangen habe, und in entsetzlicher Unruhe durchirrte sie seit diesem Augenblicke den Palast.

Endlich kam Hyllos zurück, aber ohne den Vater. »O Mutter«, rief er ihr mit Abscheu zu, »ich wollte, du hättest nie gelebt, oder du wärest nie meine Mutter gewesen, oder die Götter hätten dir eine andere Sinnesart gegeben!« So unruhig die Fürstin schon vorher war, so erschrak sie doch noch mehr bei diesen Worten ihres Sohnes. »Kind«, erwiderte sie ihm, »was ist denn so Gehässiges an mir?« »Ich komme vom Vorgebirge Kenaion, Mutter«, entgegnete ihr der Sohn mit lautem Schluchzen, »du bist es, die mir den Vater dahingewürgt!« Deïanira wurde totenbleich, doch raffte sie sich zusammen und sprach: »Von wem weißt du solches, mein Sohn, wer darf mich so entsetzlicher Untat zeihen?« »Kein fremder Mund hat mich belehrt«, fuhr der Jüngling fort, »mit eigenen Augen habe ich mich von dem Jammerlose des Vaters überzeugt. Ich traf ihn auf dem Vorgebirge Kenaion, wo er eben dem Überwinder Zeus auf vielen Dankaltären zugleich Brandopfer schlachten wollte. Da erschien der Herold Lichas, sein Diener, mit deiner Gabe, deinem verfluchten, mörderischen Gewande. Deinem Auftrage folgend, legte der Vater das Unterkleid sogleich an, und damit geschmückt begann er die Opferung zwölf stattlicher Stiere. Anfangs betete der Unglückselige, deines schönen Schmuckes froh, voll Heiterkeit. Plötzlich aber, als die Opferglut schon gen Himmel flammte, durchbrach ein heftiger Schweiß seine Haut, das Gewand schien, wie vom Schmied angelötet, an seinen Seiten zu kleben, und ein Zucken fuhr durch sein ganzes Gebein. Als fräße eine Natter an seinem Leibe, schrie der Gequälte brüllend nach Lichas, dem unschuldigen Überbringer deines giftigen Gewandes; dieser kam und wiederholte unbefangen deinen Auftrag; der Vater aber ergriff ihn am Fuße und warf ihn an die Felsen des Meeres, daß er zerschmettert in der aufspritzenden Flut untersank. Das ganze Volk jammerte bei dieser Tat des Wahnsinnes auf, und niemand wagte sich dem rasenden Helden zu nähern. Dieser wälzte sich bald auf dem Boden, bald sprang er heulend wieder empor, daß rings Fels und Waldgebirge widerhallten. Er verfluchte dich und euren Ehebund, der ihm zur Todesqual geworden. Endlich kehrte er sich zu mir und rief. »Söhnlein, wenn du Mitleid mit deinem Vater empfindest, so schiffe mit mir ohne Zögerung fort, daß ich nicht im fremden Lande sterbe!« Auf dieses Verlangen legten wir den Armen in das Schiff, und unter Zuckungen brüllend ist er hier angelangt, und bald wirst du ihn lebendig oder tot vor dir sehen. Das alles ist dein Werk, Mutter. Den allerbesten Helden hast du jämmerlich dahingemordet!«

Deïanira, ohne sich auf diese schreckliche Rede zu rechtfertigen, verließ ihren Sohn Hyllos in schweigender Verzweiflung. Das Hausgesinde, dem sie ihr Geheimnis, den Gatten sich durch des Nessos Zaubersalbe treu zu erhalten, früher anvertraut hatte, belehrte den Knaben, daß sein Jähzorn der Mutter unrecht getan. Er eilte der Unglücklichen nach, aber er kam zu spät. Sie lag im Schlafgemach tot auf dem Lager ihres Gatten ausgestreckt, die Brust mit einem zweischneidigen Schwerte durchbohrt. Der Sohn umarmte jammernd die Leiche und streckte sich dann zu ihrer Seite hin, seine Unbedachtsamkeit beseufzend. Die Ankunft des Vaters im Palaste störte ihn aus dieser kläglichen Ruhe auf. »Sohn«, rief dieser, »Sohn, wo bist du? Zieh doch das Schwert gegen deinen Vater, durchhaue mir den Nacken und heile so die Wut, in welche deine gottlose Mutter mich versetzt hat! Zage nicht, sei mitleidig mit mir, mit einem Helden, der wie ein Mägdlein in Tränen schluchzen muß!« Dann wandte er sich verzweiflungsvoll an die Umstehenden, streckte seine Arme aus und rief. »Kennet ihr diese Glieder, denen das Mark entsaugt ist, noch? Es sind dieselben, die den Schrecken der Hirten, den Nemeischen Löwen, gebändigt, die den Drachen von Lerna erwürgt, die den Erymanthischen Eber erlegen halfen, die den Kerberos aus der Hölle heraufgetragen! Kein Speer, kein wildes Tier des Waldes, kein Gigantenheer hat mich überwältigt; die Hand eines Weibes hat mich vertilgt! Darum, Sohn, töte mich und strafe deine Mutter!«

Aber als Herakles aus dem Munde seines Sohnes Hyllos unter heiligen Beteuerungen erfuhr, daß seine Mutter die unfreiwillige Ursache seines Unglücks gewesen und ihre Unbedachtsamkeit mit dem Selbstmorde gebüßt habe, wandte sich sein Sinn vom Zorn zur Wehmut. Er verlobte seinen Sohn Hyllos mit der gefangenen Jungfrau Iole, die ihm selbst so lieb gewesen war, und da ein Orakel von Delphi gekommen, daß er auf dem Berge Öta, der zum Gebiete von Trachis gehörte, sein Leben beschließen müsse, so ließ er sich, seinen Qualen zum Trotz, auf den Gipfel dieses Berges tragen. Hier ward auf seinen Befehl ein Scheiterhaufen errichtet, auf welchem der kranke Held seinen Platz nahm. Und nun befahl er den Seinigen, den Holzstoß von unten anzuzünden. Aber niemand wollte ihm den traurigen Liebesdienst erweisen. Endlich entschloß sich auf die eindringliche Bitte des von Schmerzen bis zur Verzweiflung gequälten Helden sein Freund Philoktet, ihm den Willen zu tun. Zum Danke für diese Bereitwilligkeit reichte Herakles ihm seine unüberwindlichen Pfeile nebst dem siegreichen Bogen. Sobald der Scheiterhaufen angezündet war, schlugen Blitze vom Himmel darein und beschleunigten die Flammen. Da senkte sich eine Wolke herab auf den Holzstoß und trug den Unsterblichen unter Donnerschlägen zum Olymp empor. Als nun, da der Scheiterhaufen schnell zur Asche verbrannt war, Iolaos und die andern Freunde der Brandstätte sich näherten, die Überbleibsel des Helden zusammenzulesen, fanden sie kein einziges Gebein mehr. Sie konnten auch nicht länger zweifeln, daß Herakles, dem alten Götterspruche zufolge, aus dem Kreise der Menschen in den der Himmlischen versetzt worden sei, brachten ihm ein Totenopfer als einem Heros und weihten ihn so zu einer allmählich von ganz Griechenland verehrten Gottheit ein. Im Himmel empfing den vergötterten Herakles seine Freundin Athene und führte ihn in den Kreis der Unsterblichen. Hera selbst versöhnte sich mit ihm, nachdem er sein sterbliches Geschick vollendet. Sie gab ihm ihre Tochter Hebe, die Göttin der ewigen Jugend, zur Gemahlin, und diese gebar ihm droben im Olymp unsterbliche Kinder.

Dolon und Rhesos



Dolon und Rhesos

Als Odysseus die unwillkommene Botschaft aus dem Zelte des Peliden mitbrachte, verstummten Agamemnon und die Fürsten. Kein Schlaf legte sich die ganze Nacht über auf die Augenlider der Atriden; in banger Angst erhoben sich beide noch lang vor Tagesanbruch und teilten sich in ihr Geschäft. Menelaos ging, die Helden Mann für Mann in den Zelten zu bearbeiten; Agamemnon aber wandelte nach der Lagerhütte Nestors. Er fand den Greis noch im weichen Bette ruhend; Rüstung, Schild, Helm, Gurt und zwei Lanzen lagen an der Seite des Lagers. Der Greis, aus dem Schlaf erweckt, stützte sich auf den Ellbogen und rief dem Atriden zu: »Wer bist du, der in finsterer Nacht, wo andere Sterbliche schlummern, so einsam durch die Schiffe wandelt, als suchtest du einen Freund oder ein verlaufenes Maultier? So rede doch, du Schweigender, was suchst du?« »Erkenne mich, Nestor«, sprach jener leise, »ich bin Agamemnon, den Zeus in so unergründliches Leid versenkt hat; kein Schlaf kommt in meine Augen; mein Herz klopft; meine Glieder zittern aus Angst um die Danaer. Laß uns zu den Hütern hinabgehen, ob sie nicht schlummern. Weiß doch keiner von uns, ob die Feinde nicht noch in der Nacht einen Angriff machen werden!« Nestor zog eilig seinen wollenen Leibrock an, warf den Purpurmantel um, ergriff die Lanze und durchwandelte mit dem Könige die Schiffsgassen. Zuerst weckten sie Odysseus, der auf ihren Ruf sogleich den Schild um die Schultern warf und ihnen folgte; dann nahte sich Nestor dem Zelt und der Lagerstatt des Tydiden, berührte ihm den Fuß mit der Ferse und weckte ihn scheltend. »Unmüßiger Greis«, antwortete der Held im halben Schlafe, »du kannst doch nimmer von der Arbeit ruhen! Gäbe es nicht Jüngere genug, die das Heer bei Nacht durchwandern und die Helden aus dem Schlafe wecken könnten? Aber du bist unbändig, Alter!« »Du hast wohlziemend geredet«, erwiderte ihm Nestor, »habe ich doch selbst Völker genug, dazu treffliche Söhne, die dies Amt verrichten könnten. Aber die Bedrängnis der Achiver ist viel zu groß, als daß ich nicht selbst tun sollte, was das Herz mir gebietet. Auf der Schwertspitze steht bei ihnen Untergang und Leben; deswegen erhebe dich und hilf du selbst uns den Ajax und Meges, den Sohn des Phyleus, wecken!« Diomedes warf sogleich sein Löwenfell um die Schultern und holte die verlangten Helden. Nun musterten sie zusammen die Schar der Hüter, aber keinen fanden sie schlafend: alle saßen munter und wach in ihren Rüstungen da.

Allmählich waren jetzt alle Fürsten vom Schlaf aufgeweckt worden, und bald saß die Ratsversammlung vollständig beisammen. Nestor aber begann das Gespräch: »Wie wär es, ihr Freunde«, sagte er, »wenn jetzt ein Mann die Kühnheit hätte, hinzugehen zu den Trojanern, ob er nicht etwa einen der Äußersten erhaschen könnte oder ihren Rat erlauschen und erfahren, ob sie hier auf dem Schlachtfelde zu bleiben gedenken oder mit dem Siege sich in ihre Stadt zurückzuziehen? Edle Gaben sollten den kühnen Mann belohnen, der solches wagte!« Als Nestor ausgeredet, stand Diomedes auf und erbot sich zu dem Wagnisse, falls ein Begleiter sich zu ihm gesellen wollte. Da fanden sich viele bereit: die Ajax beide, Meriones, Antilochos, Menelaos und Odysseus; und Diomedes sprach: »Wenn ihr mir anheimstellet, den Genossen selbst zu wählen, wie sollte ich des Odysseus vergessen, der in jeder Gefahr ein so entschlossenes Herz zeigt und den Pallas Athene liebt! Wenn er mich begleitet, glaube ich, wir würden aus einem Flammenofen zurückkehren; denn er weiß Rat wie keiner.« »Schilt und rühme mich nicht zu sehr«, antwortete Odysseus, »du redest beides vor kundigen Männern! Aber gehen wir; denn die Sterne sind schon weit vorgerückt, und wir haben nur noch ein Dritteil von der Nacht übrig.«

Darauf hüllten sich beide in furchtbare Rüstung und machten sich unkenntlich; Diomedes ließ Schwert und Schild bei den Schiffen und entlehnte das zweischneidige Schwert des Helden Thrasymedes sowie dessen Sturmhaube und Stierhaut, ohne Federbusch und Roßschweif. Dem Odysseus gab Meriones Bogen, Köcher und Schwert und einen Helm von Leder und Filz mit Schweinshauern. So verließen sie das griechische Lager und wandelten in der Nacht dahin. Da hörten sie einen Reiher von der rechten Seite schreiend vorüberflattern, wurden des Glückszeichens froh, das ihnen Pallas Athene sendete, und flehten zu ihr um Begünstigung ihres Unternehmens. So gingen sie durch Waffen, Blut und Leichen im Dunkel dahin, an Mut zween wilden Löwen gleich.

Während diese Auskundschaftung im griechischen Lager verabredet wurde, hatte in der Versammlung seiner Trojaner Hektor denselben Vorschlag gemacht und aus der griechischen Beute, die er hoffte, einen Wagen und zwei der edelsten Rosse dem Manne versprochen, der es über sich nehmen würde, den Zustand des griechischen Lagers zu erforschen. Nun befand sich unter dem trojanischen Volke der Sohn des Eumedes, eines edlen Herolds, namens Dolon, ein an Geld und Erz wohlbegüterter Mann von unansehnlicher Gestalt, aber ein gar hurtiger Läufer, neben fünf Schwestern der einzige Sohn. Diesen reizte die Kühnheit seines Herzens, daß er gegen das Versprechen, den Wagen und die Rosse des Achill zu erhalten, es über sich nahm, das feindliche Kriegsheer zu durchwandern, bis er an Agamemnons Feldherrnschiff käme, um dort den Fürstenrat der Danaer zu belauschen. Er hängte eilend seinen Bogen um die Schulter, hüllte sich in ein graues, zottiges Wolfsfell, setzte einen Otterhelm auf das Haupt, faßte den Wurfspieß und ging mit Begier seinen Weg. Dieser aber führte ihn ganz nahe an den auf gleichem Gange begriffenen Griechenhelden vorüber. Odysseus merkte den Tritt des Herannahenden und flüsterte seinem Gesellen zu: »Diomedes, dort kommt ein Mann aus dem trojanischen Lager herangewandelt; entweder es ist ein Kundschafter, oder er will die Leichname auf dem Schlachtfelde berauben; lassen wir ihn ein wenig vorübergehen, dann wollen wir ihm nachjagen und ihn entweder erhaschen oder nach den Schiffen treiben.« Nun schmiegten sich beide abseits von dem Wege unter die Toten, und Dolon lief sorglos vorüber. Als er einen Bogenschuß entfernt war, hörte er das Geräusch der Helden und stand stille, denn er vermutete, daß Hektor ihn durch befreundete Boten zurückrufen lasse; bald aber waren die Helden nur noch einen Speerwurf entfernt, und jetzt erkannte er sie als Feinde. Nun regte er seine schnellen Knie und flog dahin wie ein Hund, der einen Hasen verfolgt. »Steh oder ich werfe meine Lanze nach dir«, donnerte Diomedes und entsandte seinen Speer, jedoch mit Vorsatz fehlend, so daß das Erz über die Schulter des Laufenden hin in den Boden fuhr. Dolon stand, starr und bleich vor Schrecken; sein Kinn bebte, und die Zähne klapperten ihm. »Fahet mich lebendig«, rief er unter Tränen, als die herankeuchenden Helden ihn mit beiden Händen festhielten, »ich bin reich und will euch als Lösegeld Eisenerz und Gold geben, soviel ihr nur wollet!« »Sei getrost«, sprach Odysseus zu ihm, »und mach dir keine Todesgedanken, aber sag uns die Wahrheit, was dich diesen Weg führte.« Als Dolon zitternd und bebend alles gestanden, sprach Odysseus lächelnd: »Fürwahr, du hast keinen schlechten Geschmack, Bursche, daß deine Seele nach dem Gespann des Peliden gelüstet! Jetzt aber sage mir auf der Stelle: wo verließest du den Hektor, wo stehen seine Rosse, wo ist das Kriegsgeräte? wo sind die andern Trojaner? wo die Bundesgenossen?« Dolon antwortete: »Hektor berät sich mit den Fürsten am Grabmale des Ilos; das Kriegsheer ist ohne besondere Wachen um Feuer gelagert, die fern herbeigerufenen Bundesgenossen aber, die für keine Weiber und Kinder zu sorgen haben, schlafen getrennt von dem Heere und unbewacht. Wenn ihr in das trojanische Lager wandeln wollet, so stoßet ihr zuerst auf die eben angekommenen Thrakier, die um ihren Fürsten Rhesos, den Sohn des Eïoneus, hingestreckt ruhen. Seine blendend weißen Rosse sind die schönsten, größesten und schnellfüßigsten, die ich je gesehen habe; sein Wagen ist mit Silber und Gold köstlich geschmückt; er selbst trägt eine wundervolle goldne Rüstung wie ein Unsterblicher und nicht wie ein Mensch. Nun wißt ihr alles, führet mich nun nach den Schiffen oder laßt mich gebunden hier und überzeuget euch, daß ich die Wahrheit gesagt habe.« Aber Diomedes schaute den Gefangenen finster an und sprach: »Ich merke wohl, Betrüger, du sinnest auf Flucht; aber meine Hand wird dafür sorgen, daß du den Argivern nicht mehr verderblich sein kannst!« Zitternd erhob Dolon seine Rechte, das Kinn des Helden flehentlich zu berühren, als schon das Schwert des Tydiden ihm durch den Nacken fuhr, daß das Haupt des Redenden in den Staub hinrollte. Hierauf nahmen ihm die Helden den Otterhelm vom Scheitel, zogen dem Rumpfe das Wolfsfell ab, lösten den Bogen, nahmen den Speer des Getöteten zur Hand und legten die ganze Rüstung zum Merkmale für den Heimweg auf einige Rohrbüschel; dann gingen sie vorwärts und stießen endlich auf die harmlos schlafenden Thrakier. Bei jedem stand ein Doppelgespann von stampfenden Rossen; die Rüstungen lagen in schöner Ordnung und in dreifachen Reihen blinkend auf dem Boden. In der Mitte schlief Rhesos, und seine Rosse standen am hintersten Wagenringe, mit Riemen angebunden. »Hier sind unsre Leute«, sprach Odysseus ins Ohr des Tydiden; »jetzt gilt es Tätigkeit, löse du die Rosse ab, oder besser, töte du die Männer und laß mir die Rosse.« Diomedes antwortete ihm nicht, sondern wie ein Löwe unter Ziegen oder Schafe fährt, hieb er wild um sich her, daß sich ein Röcheln unter seinem Schwert erhub und der Boden rot von Blute ward. Bald hatte er zwölf Thrakier gemordet; der kluge Odysseus aber zog jeden Getöteten, am Fuß ihn ergreifend, zurück, um den Rossen eine Bahn zu machen. Nun hieb Diomedes auch den dreizehnten nieder: und dies war der König Rhesos, der eben in einem schweren Traume stöhnte, den ihm die Götter gesendet hatten. Inzwischen hatte Odysseus die Rosse vom Wagen abgelöst, mit Riemen verbunden und, indem er sich seines Bogens anstatt der Geißel bediente, sie aus dem Haufen hinweggetrieben. Dann gab er seinem Genossen ein Zeichen durch leises Pfeifen: dieser besann sich, ob er den köstlichen Wagen an der Deichsel wegziehen oder auf den Schultern hinaustragen sollte; da nahte ihm warnend Pallas, die Göttin, und trieb ihn zur Flucht. Eilend bestieg Diomedes das eine Roß, Odysseus trieb, nebenher laufend, beide mit dem Bogen an, und nun flogen sie dem Schiffslager wieder zu.

Der Schutzgott der Trojaner, Apollo, hatte bemerkt, wie sich Athene zu Diomedes gesellte. Dies verdroß ihn; er machte sich ins Getümmel des trojanischen Heeres und weckte den tapfern Freund des Rhesos, den Thrakier Hippokoon, aus dem Schlaf. Als dieser die Stelle, wo die Rosse des Fürsten gestanden, leer und ermordete Männer am Boden zuckend fand, rief er laut wehklagend den Namen seines Freundes. Die Trojaner stürzten im Aufruhr heran und starrten vor Schrecken, als sie die entsetzliche Tat sahen.

Unterdessen hatten die beiden Griechenhelden den Ort wieder erreicht, wo sie den Dolon getötet hatten; Diomedes sprang vom Rosse, schwang sich aber wieder hinauf, nachdem er die Rüstung den Händen des Freundes überreicht; Odysseus bestieg das andere Tier, und bald waren sie mit den rasch dahinfliegenden Pferden bei den Schiffen angekommen. Nestor hörte zuerst das Stampfen der Hufe und machte die Fürsten der Griechen aufmerksam; aber ehe er sich recht besinnen konnte, ob er geirrt oder Wirkliches vernommen, waren die Helden mit den Rossen da, schwangen sich vom Pferde, reichten den Freunden die Hände ringsumher zum Gruße und erzählten unter dem Jubel des Heeres den glücklichen Erfolg ihres Unternehmens. Dann trieb Odysseus die Rosse durch den Graben, und die andere Achiver folgten ihm jauchzend zur Lagerhütte des Tydiden. Dort wurden die Pferde zu den andern Rossen des Fürsten an die mit Weizen wohlgefüllte Krippe gebunden. Die blutige Rüstung Dolons aber legte Odysseus hinten im Schiffe nieder, bis sie bei einem Dankfest Athenes prangen könnte. Nun spülten sich beide Helden mit der Meerflut Schweiß und Blut von den Gliedern, setzten sich zum warmen Bad in Wannen, salbten sich mit Öl und genossen das Frühmahl beim vollen Kruge; und Pallas Athene ward mit dem Trankopfer nicht vergessen.

Europa



Europa

Im Lande Tyrus und Sidon erwuchs die Jungfrau Europa, die Tochter des Königs Agenor, in der tiefen Abgeschiedenheit des väterlichen Palastes. Zu dieser ward nachmitternächtlicherweile, wo untrügliche Träume die Sterblichen besuchen, ein seltsames Traumbild vom Himmel gesendet. Es kam ihr vor, als erschienen zwei Weltteile in Frauengestalt, Asien und der gegenüberliegende, und stritten um ihren Besitz. Die eine der Frauen hatte die Gestalt einer Fremden; die andere – und dies war Asien – glich an Aussehen und Gebärde einer Einheimischen. Diese wehrte sich mit zärtlichem Eifer für ihr Kind Europa, sprechend, daß sie es sei, welche die geliebte Tochter geboren und gesäugt hätte. Das fremde Weib aber umfaßte sie wie einen Raub mit gewaltigen Armen und zog sie mit sich fort, ohne daß Europa im Innern zu widerstreben vermochte. »Komm nur mit mir, Liebchen«, sprach die Fremde, »ich trage dich als Beute dem Ägiserschütterer Zeus entgegen; so ist dir’s vom Geschicke beschieden.« Mit klopfendem Herzen erwachte Europa und richtete sich vom Lager auf, denn das Nachtgesicht war hell wie ein Anblick des Tages gewesen. Lange Zeit saß sie unbeweglich aufrecht im Bette, vor sich hinstarrend, und vor ihren weit aufgetanen Augensternen standen noch die beiden Weiber. Erst spät öffneten sich ihre Lippen zum bangen Selbstgespräche: »Welcher Himmlische«, sprach sie, »hat mir diese Bilder zugeschickt? Was für wunderbare Träume haben mich aufgeschreckt, die ich im Vaterhause süß und sicher schlummerte? Wer war doch die Fremde, die ich im Traume gesehen? Welch eine wunderbare Sehnsucht nach ihr regt sich in meinem Herzen? Und wie ist sie selbst mir so liebreich entgegengekommen, und auch als sie mich gewaltsam entführte, mit welchem Mutterblicke hat sie mich angelächelt! Mögen die seligen Götter mir den Traum zum besten kehren!«

Der Morgen war herangekommen; der helle Tagesschein vermischte den nächtlichen Schimmer des Traumes aus der Seele der Jungfrau, und Europa erhub sich zu den Beschäftigungen und Freuden ihres jungfräulichen Lebens. Bald sammelten sich um sie ihre Altergenossinnen und Gespielinnen, Töchter der ersten Häuser, welche sie zu Chortänzen, Opfern und Lustgesängen zu begleiten pflegten. Auch jetzt kamen sie, ihre Herrin zu einem Gange nach den blumenreichen Wiesen des Meeres einzuladen, wo sich die Mädchen der Gegend scharenweise zu versammeln und am üppigen Wuchse der Blumen und am rauschenden Halle des Meeres zu erfreuen pflegten. Alle Mädchen führten einen Korb zum Blumensammeln in den Händen. Europa selbst trug einen goldenen Korb, geschmückt mit glänzenden Bildern aus der Göttersage; er war ein Werk des Hephaistos, ein uraltes Göttergeschenk des Erderschütterers Poseidon, das dieser der Libya geschenkt hatte, als er um sie warb. Aus ihrem Besitze war es von Hand zu Hand als Erbstück in das Haus des Agenor gekommen. Mit diesem Brautschmuck angetan, eilte die holdselige Europa an der Spitze ihrer Gespielinnen den Meereswiesen zu, die voll der buntesten Blumen standen. Jubelnd zerstreute sich die Schar der Mädchen da- und dorthin, jede suchte sich eine Blume auf, die nach ihrem Sinne war. Die eine pflückte die glänzende Narzisse, die andere wandte sich der Balsam ausströmenden Hyazinthe zu, eine dritte erwählte sich das sanfter duftende Veilchen, andern gefiel der gewürzige Quendel, wieder andere brachen den gelben, lockenden Krokus. So flogen die Gespielinnen hin und her; Europa aber hatte bald ihr Ziel gefunden, sie stand, wie unter den Grazien die schaumgeborne Liebesgöttin, alle ihre Genossinnen überragend, und hielt hoch in der Hand einen vollen Strauß von glühenden Rosen.

Als sie genug Blumen gesammelt, lagerten sich die Jungfrauen, ihre Fürstin in der Mitte, harmlos auf dem Rasen und fingen an, Kränze zu flechten, die sie, den Nymphen der Wiese zum Dank, an grünenden Bäumen aufhängen wollten. Aber nicht lange sollten sie ihren Sinn an den Blumen ergötzen, denn in das sorglose Jugendleben Europas griff unversehens das Schicksal ein, das ihr der Traum der verschwundenen Nacht geweissagt hatte. Zeus, der Kronide, war von den Geschossen der Liebesgöttin, die allein auch den unbezwungenen Göttervater zu besiegen vermochten, getroffen und von der Schönheit der jungen Europa ergriffen worden. Weil er aber den Zorn der eifersüchtigen Hera fürchtete, auch nicht hoffen durfte, den unschuldigen Sinn der Jungfrau zu betören, so sann der verschlagene Gott auf eine neue List. Er verwandelte seine Gestalt und wurde ein Stier. Aber welch ein Stier! Nicht, wie er auf gemeiner Wiese geht oder unters Joch gebeugt den schwerbeladenen Wagen zieht; nein, groß, herrlich von Gestalt, mit schwellenden Muskeln am Halse und vollen Wampen am Bug; seine Hörner waren zierlich und klein, wie von Händen gedrechselt, und durchsichtiger als reine Juwelen; goldgelb war die Farbe seines Leibes, nur mitten auf der Stirne schimmerte ein silberweißes Mal, dem gekrümmten Horne des wachsenden Mondes ähnlich; bläulichte, von Verlangen funkelnde Augen rollten ihm im Kopfe.

Ehe Zeus diese Verwandlung mit sich vornahm, rief er zu sich auf den Olymp den Hermes und sprach, ohne ihm etwas von seinen Absichten zu enthüllen: »Spute dich, lieber Sohn, getreuer Vollbringer meiner Befehle! Siehst du dort unten das Land, das links zu uns emporblickt? Es ist Phönizien; dieses betritt und treibe mir das Vieh des Königes Agenor, das du auf den Bergtriften weidend finden wirst, gegen das Meeresufer hinab.« In wenigen Augenblicken war der geflügelte Gott, dem Winke seines Vaters gehorsam, auf der sidonischen Bergweide angekommen und trieb die Herde des Königes, unter die sich auch, ohne daß Hermes es geahnt hätte, der verwandelte Zeus als Stier gemischt hatte, vom Berge herab nach dem angewiesenen Strande, eben auf jene Wiesen, wo die Tochter Agenors, von lyrischen Jungfrauen umringt, sorglos mit Blumen tändelte. Die übrige Herde nun zerstreute sich über die Wiesen ferne von den Mädchen; nur der schöne Stier, in welchem der Gott verborgen war, näherte sich dem Rasenhügel, auf welchem Europa mit ihren Gespielinnen saß. Schmuck wandelte er im üppigen Grase einher, über seiner Stirne schwebte kein Drohen, sein funkelndes Auge flößte keine Furcht ein, sein ganzes Aussehen war voll Sanftmut. Europa und ihre Jungfrauen bewunderten die edle Gestalt des Tieres und seine friedlichen Gebärden, ja sie bekamen Lust, ihn recht in der Nähe zu besehen und ihm den schimmernden Rücken zu streicheln. Der Stier schien dies zu merken, denn er kam immer näher und stellte sich endlich dicht vor Europa hin. Diese sprang auf und wich anfangs einige Schritte zurück; als aber das Tier sogar zahm stehenblieb, faßte sie sich ein Herz, näherte sich wieder und hielt ihm ihren Blumenstrauß vor das schäumende Maul, aus dem sie ein ambrosisches Atem anwehte. Der Stier leckte schmeichelnd die dargebotenen Blumen und die zarte Jungfrauenhand, die ihm den Schaum abwischte und ihn liebreich zu streicheln begann. Immer reizender kam der herrliche Stier der Jungfrau vor, ja sie wagte es und drückte einen Kuß auf seine glänzende Stirne. Da ließ das Tier ein freudiges Brüllen hören, nicht wie andere gemeine Stiere brüllen, sondern es tönte wie der Klang einer lydischen Flöte, die ein Bergtal durchhallt. Dann kauerte es sich zu den Füßen der schönen Fürstin nieder, blickte sie sehnsüchtig an, wandte ihr den Nacken zu und zeigte ihr den breiten Rücken. Da sprach Europa zu ihren Freundinnen, den Jungfrauen: »Kommt doch auch näher, liebe Gespielinnen, daß wir uns auf den Rücken dieses schönen Stieres setzen und unsere Lust haben; ich glaube, er könnte unserer viere aufnehmen und beherbergen. Er ist so zahm und sanftmütig anzuschauen, so holdselig; er gleicht gar nicht anderen Stieren; wahrhaftig, er hat Verstand wie ein Mensch, und es fehlt ihm gar nichts als die Rede!« Mit diesen Worten nahm sie ihren Gespielinnen die Kränze, einen nach dem andern, aus den Händen und behängte damit die gesenkten Hörner des Stieres, dann schwang sie sich lächelnd auf seinen Rücken, während ihre Freundinnen zaudernd und unschlüssig zusahen.

Der Stier aber, als er die geraubt, die er gewollt hatte, sprang vom Boden auf. Anfangs ging er ganz sachte mit der Jungfrau davon, doch so, daß ihre Genossinnen nicht gleichen Schritt mit seinem Gange halten konnten. Als er die Wiesen im Rücken und den kahlen Strand vor sich hatte, verdoppelte er seinen Lauf und glich nun nicht mehr einem trabenden Stiere, sondern einem fliegenden Roß. Und ehe sich Europa besinnen konnte, war er mit einem Satz ins Meer gesprungen und schwamm mit seiner Beute dahin. Die Jungfrau hielt mit der Rechten eins seiner Hörner umklammert, mit der Linken stützte sie sich auf den Rücken; in ihre Gewänder blies der Wind wie ein Segel; ängstlich blickte sie nach dem verlassenen Lande zurück und rief umsonst den Gespielinnen; das Wasser umwallte den segelnden Stier, und seine hüpfenden Wellen scheuend, zog sie furchtsam die Fersen hinauf Aber das Tier schwamm dahin wie ein Schiff; bald war das Ufer verschwunden, die Sonne untergegangen, und im Helldunkel der Nacht sah die unglückliche Jungfrau nichts um sich her als Wogen und Gestirne. So ging es fort, auch als der Morgen kam; den ganzen Tag schwamm sie auf dem Tiere durch die unendliche Flut dahin; doch wußte dieses so geschickt die Wellen zu durchschneiden, daß kein Tropfen seine geliebte Beute benetzte. Endlich gegen Abend erreichten sie ein fernes Ufer. Der Stier schwang sich ans Land, ließ die Jungfrau unter einem gewölbten Baume sanft vom Rücken gleiten und verschwand vor ihren Blicken. An seine Stelle trat ein herrlicher, göttergleicher Mann, der ihr erklärte, daß er der Beherrscher der Insel Kreta sei und sie schützen werde, wenn er durch ihren Besitz beglückt würde. Europa in ihrer trostlosen Verlassenheit reichte ihm ihre Hand als Zeichen der Einwilligung; und Zeus hatte das Ziel seiner Wünsche erreicht.

Aus langer Betäubung erwachte Europa, als schon die Morgensonne am Himmel stand. Sie fand sich einsam, sah mit verirrten Blicken um sich her, als wollte sie die Heimat suchen. »Vater, Vater!« rief sie mit durchdringendem Wehelaut, besann sich eine Weile und rief wieder: »Ich verworfene Tochter, wie darf ich den Vaternamen nur aussprechen? Welcher Wahnsinn hat mich die Kindesliebe vergessen lassen!« Dann sah sie wieder, wie sich besinnend, umher und fragte sich selbst: »Woher, wohin bin ich gekommen? – Zu leicht ist ein Tod für die Schuld der Jungfrau! Aber wache ich denn auch und beweine einen wirklichen Schimpf? Nein, ich bin gewiß unschuldig an allem, und es neckt meinen Geist nur ein nichtiges Traumbild, das der Morgenschlaf wieder entführen wird! Wie wäre es auch möglich, daß ich mich hätte entschließen können, lieber auf dem Rücken eines Untieres durch unendliche Fluten zu schwimmen, als in holder Sicherheit frische Blumen zu pflücken!« – So sprach sie und fuhr mit der flachen Hand über die Augenlider, als wollte sie den verhaßten Traum verwischen. Als sie aber um sich blickte, blieben die fremden Gegenstände unverrückt vor ihren Augen; unbekannte Bäume und Felsen umgaben sie, und eine unheimliche Meeresflut schäumte, an starren Klippen sich brechend, empor am niegeschauten Gestade. »Ach, wer mir jetzt den Stier auslieferte«, rief sie verzweifelnd, »wie wollte ich ihn zerfleischen; nicht ruhen wollte ich, bis ich die Hörner des Ungeheuers zerbrochen, das mir jüngst noch so liebenswürdig erschien! Eitler Wunsch! Nachdem ich schamlos die Heimat verlassen, was bleibt mir übrig als zu sterben? Wenn mich nicht alle Götter verlassen haben, so sendet mir, ihr Himmlischen, einen Löwen, einen Tiger! Vielleicht reizt sie die Fülle meiner Schönheit, und ich muß nicht warten, bis der entsetzliche Hunger an diesen blühenden Wangen zehrt!« Aber kein wildes Tier erschien; lächelnd und friedlich lag die fremde Gegend vor ihr, und vom unumwölkten Himmel leuchtete die Sonne. Wie von Furien bestürmt, sprang die verlassene Jungfrau auf »Elende Europa«, rief sie, »hörst du nicht die Stimme deines abwesenden Vaters, der dich verflucht, wenn du deinem schimpflichen Leben nicht ein Ende machst! Zeigt er dir nicht jene Esche, an welche du dich mit deinem Gürtel aufhängen kannst? Deutet er nicht hin auf jenes spitze Felsgestein, von welchem herab dich ein Sprung in den Sturm der Meeresflut begraben wird? Oder willst du lieber einem Barbarenfürsten als Nebenweib dienen und als Sklavin von Tag zu Tag die zugeteilte Wolle abspannen, du, eines hohen Königes Tochter?« So quälte sich das unglückliche verlassene Mädchen mit Todesgedanken und fühlte doch nicht den Mut in sich, zu sterben. Da vernahm sie plötzlich ein heimliches spottendes Flüstern hinter sich, glaubte sich belauscht und blickte erschrocken rückwärts. In überirdischem Glanze sah sie da die Göttin Aphrodite vor sich stehen, ihren kleinen Sohn, den Liebesgott, mit gesenktem Bogen zur Seite. Noch schwebte ein Lächeln auf den Lippen der Göttin, dann sprach sie: »Laß deinen Zorn und Hader, schönes Mädchen! Der verhaßte Stier wird kommen und dir die Hörner zum Zerreißen darreichen; ich bin es, die dir im väterlichen Hause jenen Traum gesendet. Tröste dich, Europa! Zeus ist es, der dich geraubt hat; du bist die irdische Gattin des unbesiegten Gottes; unsterblich wird dein Name werden, denn der fremde Weltteil, der dich aufgenommen hat, heißt hinfort Europa!«

Eurystheus vor Alkmene



Eurystheus vor Alkmene

Das Heer der Sieger war in Athen eingezogen, und mit Iolaos, der jetzt wieder in seiner vorigen Greisengestalt erschien, stand der gedemütigte Verfolger des Heldengeschlechtes, Hände und Füße mit Fesseln gebunden, vor der Mutter des Herakles. »Kommst du endlich, Verhaßter!« rief ihm die Greisin zu, als sie ihn vor ihren Augen stehen sah. »Hat dich nach so langer Zeit die Strafgerechtigkeit der Götter ergriffen? Senke dein Angesicht nicht so zur Erde, sondern blicke deinen Gegnern Aug ins Auge. Du bist also der, der meinen Sohn so viele Jahre hindurch mit Arbeit und Schmach überhäuft, ihn ausgesandt hat, giftige Schlangen und grimmige Löwen zu erwürgen, damit er im verderblichen Kampf erliege, ihn hinuntergejagt in das finstere Reich des Hades, damit er dort der Unterwelt verfiele? Und nun treibst du mich, seine Mutter, und diese Schar seiner Kinder, soviel an dir ist, aus ganz Griechenland fort und wolltest sie von den beschirmenden Altären der Götter hinwegreißen? Aber du bist auf Männer und eine freie Stadt gestoßen, die dich nicht gefürchtet haben. Jetzt ist’s an dir zu sterben, und du darfst dich glücklich preisen, wenn du nur sterben mußt. Denn da du mannigfachen Frevel verübt hast, so hättest du auch verdient, durch mancherlei Qual einen vielfachen Tod zu leiden!« Eurystheus wollte dem Weibe gegenüber keine Furcht zeigen; er raffte sich zusammen und sprach mit erzwungener Kaltblütigkeit: »Du sollst kein Wort aus meinem Munde hören, das einem Flehen gliche; ich weigere mich nicht, zu sterben. Nur so viel sei mir vergönnt zu meiner Rechtfertigung zu sagen, daß nicht ich es gewesen bin, der freiwillig dem Herakles als Widersacher entgegengetreten. Hera, die Göttin, war es, die mir auftrug, diesen Kampf zu bestehen. Alles, was ich getan habe, ist in ihrem Auftrage geschehen. Da ich mir nun aber einmal wider Willen den mächtigen Mann und Halbgott zum Feinde gemacht, wie hätte ich nicht darauf bedacht sein sollen, alles aufzubieten, was mich vor seinem Zorne sicherstellen konnte? Wie hätte ich nicht nach seinem Tode sein Geschlecht verfolgen sollen, aus welchem lauter Feinde und Rächer ihres Vaters mir entgegenwuchsen? Tue nun mit mir, was du willst; ich verlange nicht nach dem Tode; aber es schmerzt mich auch nicht, wenn ich das Leben verlassen soll.« So sprach Eurystheus und schien mit Ruhe sein Schicksal zu erwarten. Hyllos selbst sprach für seinen Gefangenen, und die Bürger Athens riefen auch die milde Sitte ihrer Stadt an, die den überwundenen Verbrecher zu begnadigen pflegte. Aber Alkmene blieb unerbittlich; sie gedachte aller Leiden, die ihr unsterblicher Sohn auf Erden zu dulden hatte, solange er ein Knecht des grausamen Königs war; ihr schwebte der Tod der geliebten Enkelin vor Augen, die sie hierher begleitet hatte und freiwillig in den Tod gegangen war, um dem mit übergewaltiger Heeresmacht drohenden Eurystheus den Sieg zu entreißen; sie malte sich mit grausen Farben aus, welch Schicksal ihr selbst und allen ihren Enkeln zuteil geworden wäre, wenn Eurystheus als Sieger und nicht als Gefangener jetzt vor ihr stände: »Nein, er soll sterben«, rief sie, »kein Sterblicher soll diesen Verbrecher mir entreißen!« Da kehrte sich Eurystheus zu den Athenern und sprach: »Euch, ihr Männer, die ihr gütig für mich gebeten habt, soll mein Tod keinen Unsegen bringen. Wenn ihr mich eines ehrlichen Begräbnisses würdiget und mich bestattet, wo das Verhängnis mich ereilt hat, am Tempel der pallenischen Athene, so werde ich als ein heilbringender Gast die Grenze eures Landes bewachen, daß kein Heer sie jemals überschreiten soll. Denn wisset, daß die Nachkommen dieser Jünglinge und Kinder, die ihr hier beschützet, euch einst mit Heeresmacht überfallen und euch die Wohltat schlecht lohnen werden, die ihr ihren Vätern erzeigt habt. Alsdann werde ich, der geschworne Feind des Herakleischen Geschlechtes, euer Retter sein.« Mit diesen Worten ging er unerschrocken zum Tode und starb besser, als er gelebt hatte.

Gespräche beim Sauhirten



Gespräche beim Sauhirten

In der Hütte des Sauhirten zu Ithaka saß Odysseus mit Eumaios und den andern Hirten am Abende dieses Tages vergnüglich bei der Nachtkost, und um ihn zu versuchen, wie lang er ihm wohl Herberge gönnen werde, sprach er nach dem Essen zu seinem Wirt: »Morgen, mein Freund, will ich an meinem Bettelstab in die Stadt gehen, um euch nicht länger beschwerlich zu fallen. Da rate mir denn und gib mir einen Begleiter mit, der mir den Weg zeige, denn ich will in der Götter Namen die Stadt durchirren und sehen, wo ich ein wenig Wein und Brot erhalte. Auch möchte ich gern in den Palast des Königs Odysseus gehen und dort seiner Gemahlin Penelope sagen, was ich von ihm weiß. Am Ende würde ich auch den Freiern gegen Unterkunft und Speise meine Dienste anbieten; verstehe ich mich doch trefflich aufs Holzspalten, Feueranmachen, Bratspießwenden, Speisevorlegen und Weinverteilen und auf andere derlei Geschäfte, wie sie Vornehme von den Geringern zu fordern pflegen.« Aber der Sauhirt runzelte die Stirn und erwiderte: »Gast, was kommt dir für ein Gedanke in den Sinn, willst du dich ganz ins Verderben stürzen? Meinst du, die trotzigen Freier werden nach deinen Diensten lüstern sein? Die haben ganz andere Diener, als du einer wärst! Jünglinge in den zierlichsten Kleidern, mit blühendem Antlitze, das Haupt von Salben duftend, stehen ihnen zu Gebot und bedienen die prächtigen Tische, welche stets mit Fleisch, Brot und Wein belastet sind. Bleib du bei uns, wo deine Gesellschaft weder mir noch den Meinigen beschwerlich ist, und warte auf den guten Sohn des Odysseus, der dich mit aller Notdurft wohl versorgen wird!«

Odysseus nahm das Anerbieten dankbar an und bat darauf den Hirten, ihm auch zu erzählen, wie es den Eltern seines Herrn gehe, ob sie noch leben oder schon in den Hades hinabgestiegen seien. »Laërtes, der Vater, lebt noch«, antwortete ihm Eumaios, »aber er beweint untröstlich den entfernten Sohn und die Gattin, die der Gram um den Verlorenen getötet hat. Auch ich muß diese gute Frau beweinen; ist doch sie es, die mich mit ihrer Tochter Ktimene fast wie einen Sohn aufgezogen hat. Als später die Tochter nach Same vermählt wurde, stattete mich die Mutter reichlich aus und schickte mich hierher aufs Land. Jetzt muß ich freilich vieles entbehren und nähre mich, so gut ich kann, von meinem Amte hier. Penelope, die jetzige Königin, kann nichts für mich tun; sie ist von den Freiern umgeben und bewacht, und ein ehrlicher Diener kann gar nicht bis zu ihr durchdringen.« »Guter Sauhirt«, fragte Odysseus weiter, »woher stammest du denn, und wie bist du in den Dienst dieses Hauses gekommen?« Der Hirt schenkte seinem Gaste den Becher wieder voll und erwiderte: »Trink, mein guter Alter, und laß dich die lange Geschichte nicht verdrießen; hier zwingt uns ja niemand, früh zu Bette zu gehen, und wir können die ganze Nacht durchschwatzen. Dort über Ortygia hin liegt eine nicht sonderlich bevölkerte, aber fruchtbare und gesunde Insel mit Namen Syria, mit zwei Städten. Über beide herrschte als mächtiger Fürst mein Vater Ktesios, der Sohn des Ormenos. Als ich noch ein kleiner Knabe war, landeten dort trügerische Seefahrer aus Phönizien, die allerlei niedliche Waren auf ihrem Schiffe zum Verkauf mitbrachten und lang an unsrer Küste blieben. Nun hatten wir damals ein phönizisches Weib, schön und schlank von Gestalt, die mein Vater als Sklavin erstanden hatte und die wegen ihrer kunstreichen Arbeiten sehr beliebt war, in unserer Wohnung. Diese wurde mit einem der phönizischen Krämer ihrer Landsleute vertraut und hängte ihr Herz an ihn. Der Schiffer versprach ihr, sie mit sich als seine Gattin in seine und ihre Heimat nach Sidon zu führen, und die treulose Sklavin gelobte ihm dagegen, aus meines Vaters Hause nicht nur die Hände voll Gold als Fährlohn mitzubringen, sondern auch noch etwas Besseres: ›Ich erziehe nämlich‹, sagte sie, ›den kleinen Sohn des Fürsten; er ist schon recht gescheit für sein Alter und läuft so mit, wenn ich Gänge außer dem Hause zu machen habe. Diesen schaffe ich euch auf das Schiff, und ihr werdet keinen kleinen Gewinn von ihm machen.‹

So sprach das falsche Weib und ging nach dem Palaste zurück, als wenn nichts geschehen wäre; denn die Kaufleute verweilten noch ein ganzes Jahr auf der Insel. Als sie sich endlich mit dem schwerbeladenen Schiffe zur Heimfahrt rüsteten, erschien ein listiger Mann mit einem goldenen Halsbande im Palaste meines Vaters und bot es zum Verkauf an. Mutter und Mägde umstanden ihn im Saal, faßten es eine um die andere mit der Hand, musterten es mit den Augen und feilschten um den Preis. Währenddessen gab der Mann – denn es war ein Bote der Phönizier – dem Weib einen heimlichen Wink. Kaum hatte er das Haus verlassen, so nahm diese mich an der Hand und entführte mich aus dem Palast. Im Vorsaale fand sie Tische und Becher für Gäste des Vaters aus der Ratsversammlung gerüstet. Da sah ich, wie sie schnell drei goldene Gefäße hinwegnahm und im Wurf ihres Gewandes verbarg; in meiner Einfalt besann ich mich nicht darüber, sondern folgte ihr. Die Sonne war eben am Untergehen, als wir im Hafen anlegten und mit der übrigen Mannschaft das Schiff bestiegen.

Wir fuhren mit günstigem Winde ab und mochten etwa sechs Tage lang gesteuert sein, als das verräterische Weib, vom Pfeile der Artemis, wie man sagt, getroffen, plötzlich im Schiffsraume tot zu Boden fiel, wie ein Seehuhn, das der Jäger geschossen. Man warf sie über Bord, den Fischen zur Beute, und ich kleines Kind blieb allein, ohne einen Menschen, der sich meiner angenommen hätte, auf dem Schiffe. Die Phönizier aber landeten endlich in Ithaka, wo mich der alte Laërtes von den Kaufleuten erhandelte. Auf diese Weise habe ich zuerst unsre Insel mit Augen gesehen.«

»Nun«, sprach Odysseus, »du darfst doch nicht ganz unzufrieden mit deinem Schicksale sein, denn Zeus hat dir zu dem Bösen doch auch Gutes beschert und einem freundlichen Mann in die Hand gegeben, der es dir an nichts fehlen ließ und auf dessen Gute du noch immer in Gemächlichkeit lebst. Ich Armer dagegen irre in beständiger Verbannung umher.«

Unter solchen Gesprächen war ihnen die Nacht fast ganz dahingeschwunden, und sie schliefen nur noch weniges, bis die anbrechende Morgenröte sie weckte.