Neunundzwanzigstes Kapitel.


Neunundzwanzigstes Kapitel.

Ein heiteres Weihnachtskapitel, das die Erzählung von einer Hochzeit und einigen andern Lustbarkeiten enthält, die zwar in ihrer Weise ebenso löbliche Gebräuche sind wie eine Heirat, aber in diesen entarteten Zeiten nicht mehr so gewissenhaft gefeiert werden.

So rührig wie Bienen, wenn auch nicht so leicht wie Feen, versammelten sich die vier Pickwickier am Morgen des 22. Dezember in dem Jahre des Heils, in dem diese mit der strengsten Gewissenhaftigkeit erzählten Abenteuer unternommen und ausgeführt wurden. Weihnachten stand vor der Tür mit all seiner schlichten Herzlichkeit. Es war die Zeit der Gastfreundschaft, der Erheiterung und der Offenherzigkeit. Das alte Jahr schickte sich gleich einem alten Philosophen an, mitten unter dem Geräusche der Festlichkeiten und Schmausereien freundlich und ruhig zu scheiden. Fröhlich und heiter war die Zeit, und recht fröhlich und heiter waren wenigstens vier von den zahlreichen Herzen, die durch das nahende Fest erfreut wurden.

Und zahlreich sind doch die Herzen, denen die Weihnachtstage eine kurze Zeit des Glücks und der Freude bringen. Wie viele Familien, deren Glieder in dem rastlosen Treiben der Welt weit und breit zerstreut und auseinander gesprengt worden sind, werden jetzt wieder vereint und finden sich in jenem glücklichen Zustande der gegenseitigen Freundschaft und Liebe zusammen: einer Quelle reiner und ungetrübter Freuden. Sie verträgt sich so wenig mit den Sorgen und Mühen der Welt, daß sie der religiöse Glaube der meisten zivilisierten Völker und die einfachen Traditionen der rohesten Wilden unter die höchsten Genüsse eines zukünftigen Lebens rechnen, zu dem die Seligen berufen sind!

Wie manche alte Erinnerungen, wie manche schlummernde Empfindungen des Herzens erweckt die Zeit der Weihnachten!

Wir schreiben diese Worte viele Meilen von dem Ort entfernt, wo wir Jahr für Jahr diesen Tag in einem heitern und fröhlichen Kreise verlebten. Manche von den Herzen, die damals so freudig pochten, haben aufgehört zu schlagen. Manche von den Blicken, die damals so hell strahlten, haben aufgehört zu leuchten. Die Hände, die wir drückten, sind kalt geworden. Die Augen, die wir suchten, haben ihr Licht im Grabe verborgen: und doch taucht das alte Haus, das Zimmer, die munteren Stimmen und die fröhlichen Gesichter, die Scherze, das Gelächter, die geringfügigsten und alltäglichsten Umstände, die sich an jene glücklichen Zusammenkünfte knüpfen, bei jeder Wiederkehr dieser Zeit in unserm Gedächtnisse auf, als hätte die letzte Versammlung erst gestern stattgefunden. Glückliche, glückliche Weihnachten, die uns die Träume unserer Kindheit wiederzubringen, die dem Greise die Freuden seiner Jugend zurückzurufen und den Seefahrer und Wanderer Tausende von Meilen an seinen Herd und seine stille Heimat zu versetzen imstande sind!

Doch wir haben uns in die Vorzüge des Christtags, der auf diese Art einem Landedelmann aus der alten Zeit gleicht, so sehr vertieft, daß wir Herrn Pickwick und seine Freunde an der Kutsche von Muggleton, die sie soeben, in schwere Mäntel, Halstücher und Schals eingehüllt, erreicht hatten, in der Kälte warten lassen.

Die Koffer und Reisetaschen sind untergebracht. Herr Weller und der Kutscher suchen einen riesigen Weihnachtskarpfen in den vorderen Packraum hineinzuzwängen, der für das Ungeheuer viel, viel zu klein ist. Das Tier lag friedlich in einem langen, braunen, mit Stroh bedeckten Korb, der bis zuletzt aufgespart worden war, um auf einem Halbdutzend Fäßchcn voll echter und gerechter Austern ungestört ruhen zu können. Diese Austern waren wie der Weihnachtsfisch Eigentum des Herrn Pickwick, und auf dem Boden des Kutschenkorbes in regelrechter Ordnung aufgestellt. Mit außerordentlicher Aufmerksamkeit verfolgte Herr Pickwick, wie Herr Weller und der Kutscher den Weihnachtskarpfen zuerst mit dem Kopf, dann mit dem Schwanz, dann auf dem Rücken, dann auf dem Bauch, dann von der Seite, und endlich der Länge nach hinabzudrücken suchen – lauter Kunstgriffe, denen das unerbittliche Tier einen hartnäckigen Widerstand entgegensetzt. Schließlich tritt der Kutscher zufälligerweise gerade in die Mitte des Korbes, worauf der Fisch augenblicklich im Packraum verschwindet. Zugleich aber werden Kopf und Schultern des Kutschers selbst unsichtbar. Obendrein empfängt dieser, als der passive Widerstand des Weihnachtsfisches unerwartet aufhört, dabei einen gehörigen Schubs zum außerordentlichen Vergnügen aller Gepäckträger und der andern Zuschauer. Herr Pickwick lächelt in der besten Laune, zieht einen Schilling aus seiner Westentasche, bittet den Kutscher, der sich wieder aus dem Packraum herausarbeitet, ein Glas Grog auf seine Gesundheit zu trinken, worauf der Kutscher auch lächelt, und die Herren Snodgraß, Tupman und Winkle alle zusammen lächeln. Der Kutscher und Herr Weller verschwinden auf fünf Minuten, um Grog zu sich zu nehmen; als sie zurückkehren, riechen sie sehr stark danach. Der Kutscher besteigt den Bock, Herr Weller schwingt sich hinten hinauf; die Pickwickier schlagen ihre Mäntel um die Beine und ihre Halstücher über die Nasen: die Handlanger nehmen den Pferden die Decken ab: der Kutscher ruft ein lustiges »All right!« und sie fahren ab.

Der Wagen ist über das Steinpflaster weggerasselt, und die Insassen sind gehörig durchgerüttelt. Endlich erreicht er das freie Feld: die Räder gleiten über den hartgefrorenen Boden hin. Die Pferde, durch einen kräftigen Peitschenknall in kurzen Galopp gesetzt, sprengen die Straße entlang, als wäre die Last hinter ihnen, die Kutsche, die Passagiere, der Weihnachtsfisch, die Austernfäßchen und der übrige Inhalt des Wagens nur eine Feder für ihre beschwingten Beine. Sie sind eine unbedeutende Anhöhe hinabgefahren und gelangen jetzt auf eine zwei Meilen lange Ebene, die so fest und trocken ist, wie ein Marmorblock. Ein zweiter Peitschenknall, und sie fliegen in vollem Galopp dahin. Sie schütteln die Köpfe und rasseln mit dem Geschirr, als freuten sie sich selbst über die Schnelligkeit, während der Kutscher, Peitsche und Zügel in einer Hand haltend, mit der andern seinen Hut abnimmt. Dann legt er diesen auf die Knie, zieht sein Taschentuch hervor und wischt sich das Gesicht ab, teils, weil es in seiner Gewohnheit liegt, teils, weil er den Passagieren zeigen will, wie furchtlos er ist und wie wenig Mühe es kostet, ein Viergespann zu regieren, wenn man soviel Übung hat wie er. Nachdem er das mit aller Gemächlichkeit ausgeführt hat – denn sonst würde die Wirkung bedeutend abgeschwächt worden sein –, steckt er sein Taschentuch wieder ein, setzt seinen Hut auf, zieht seine Handschuhe an, bringt seine Ellbogen in eine rechtwinklige Lage, knallt wieder mit der Peitsche, und die Pferde laufen noch munterer als vorher.

Einige auf beiden Seiten der Straße zerstreute Häuschen verraten die Nähe irgendeiner Stadt oder eines Dorfes. Die fröhlichen Töne des Posthorns zittern durch die reine kalte Luft und wecken den alten Herrn im Innern des Wagens. Er läßt sorgfältig das Fenster halb nieder, sieht ein wenig hinaus, um das Wetter zu beobachten, zieht das Fenster sorgfältig wieder zu und benachrichtigt seinen Nebenmann, daß man im Augenblick umspannen werde, worauf sich dieser ermuntert und den Entschluß faßt, die Fortsetzung seines Schläfchens solange zu verschieben, bis man wieder abfahren werde. Wieder ertönt das Posthorn in lustigen Weisen und ruft die Familie des Hausbewohners vor die Tür. Weib und Kinder blicken der Kutsche nach, bis sie um die Ecke biegt, und scharen sich dann wieder um das hellauflodernde Feuer und legen für den Vater, der bald nach Hause kommt, neuen Brennstoff auf. Der Vater aber, noch eine volle Meile vom Hause fern, wechselt eben einen freundlichen Blick mit dem Kutscher und wendet sich zurück, um dem dahinrollenden Wagen noch lange nachzusehen.

Nun bläst das Posthorn eine lustige Weise, als der Wagen über das schlechte Pflaster eines Landstädtchens rasselt. Der Kutscher löst die Schnalle, die seine Leine zusammenhält. Denn er will sie im Augenblick, wo er anfährt, über die Pferde werfen. Herr Pickwick taucht aus seinem Mantelkragen empor und sieht sich mit großer Neugierde um, worauf der Kutscher, der das merkt, Herrn Pickwick den Namen des Städtchens mitteilt und ihm sagt, es sei gestern Markt hier gewesen, beides Mitteilungen, die wiederum Herr Pickwick seinen Reisegefährten weitergibt, worauf auch diese aus ihren Mantelkragen auftauchen und sich umsehen. Herr Winkle, der auf dem äußersten Ende des Bockes sitzt, so daß das eine Bein in der Luft schwebt, wird beinahe auf die Straße hinabgeworfen, als der Wagen um die scharfe Ecke an dem Käseladen biegt und in den Marktplatz einlenkt. Aber ehe noch Herr Snodgraß, der ihm zunächst sitzt, sich von seinem Schrecken erholen kann, fahren sie beim Wirtshause vor, wo die frischen Pferde, mit Decken bedeckt, bereits harren. Der Kutscher wirft die Leine ab und schwingt sich dann herunter. Die Passagiere auf dem Bock steigen ebenfalls ab, nur die, die kein großes Zutrauen in ihre Geschicklichkeit, wieder hinaufzusteigen, setzen, bleiben wo sie sind und stoßen ihre Füße gegen die Kutsche, um sie zu wärmen, wobei sie das helle Feuer im Schenkstübchen und die Stechpalmenzweige mit den roten Beeren, die das Fenster verzieren, mit sehnsüchtigen Blicken und roten Nasen betrachten.

Der Kutscher hat im Magazin des Kornhändlers das braune Paket abgegeben, das er aus der kleinen, an Lederriemen ihm über die Schulter hängenden Tasche hervorgezogen hatte. Dann hat er nach den Pferden gesehen, daß sie gut versorgt würden. Den Sattel, der auf dem Kutschdache von London mitgebracht worden, hat er auf das Pflaster geworfen und an der Unterhaltung zwischen dem zweiten Kutscher und dem Hausknecht über den Grauschimmel teilgenommen, der sich am letzten Dienstag den Vorderfuß verstauchte. Er und Herr Weller sitzen bereits hinten und der zweite Kutscher auf seinem Bock.

Der alte Herr im Wagen, der die ganze Zeit über das Fenster zwei volle Zoll offen gehalten, hat es wieder zugezogen. Den Pferden sind die Decken abgenommen und alles ist zur Abfahrt bereit, mit Ausnahme der »zwei dicken Herren«, nach denen der Kutscher ungeduldig fragt. Hierauf rufen Kutscher, zweiter Kutscher, Sam Weller, Herr Winkle, Herr Snodgraß, sämtliche Hausknechte und Müßiggänger, die hier der Zahl nach stärker sind als alle übrigen zusammengenommen, nach den vermißten Herren, so laut sie nur können. Aus dem Hofe läßt sich von fern eine Antwort vernehmen, und Herr Pickwick und Herr Tupman laufen atemlos herbei; denn sie haben jeder ein Glas Ale getrunken, und Herrn Pickwicks Finger sind so steif vor Kälte, daß es volle fünf Minuten dauert, bis er die sechs Pence findet, die er dafür zu bezahlen hat. Der zweite Kutscher ruft ein ermahnendes »Rasch, rasch, meine Herren«, der erste wiederholt es – der alte Herr im Wagen findet es gar nicht in Ordnung, daß man absteigt, wenn man doch weiß, daß man keine Zeit dazu hat – Herr Pickwick klimmt auf der einen, Herr Tupman auf der andern Seite hinauf, Herr Winkle ruft »alles in Ordnung!«, und der Wagen rollt von dannen. Die Halstücher werden hinaufgezogen, die Mäntel hochgeschlagen. Das Pflaster nimmt ein Ende, die Häuser verschwinden. Wieder gleiten sie über die offene Straße hin, und die frische reine Luft bläst ihnen ins Gesicht und erquickt sie bis tief in die Brust.

Also fuhren Herr Pickwick und seine Freunde auf der Eilpost von Muggleton ihres Weges nach Dingley Dell dahin, und um drei Uhr nachmittags standen sie alle frisch und gesund, fröhlich und wohlgemut auf der Schwelle des Blauen Löwen. Sie hatten unterwegs eine ziemliche Menge Ale und Branntwein zu sich genommen, um dem Froste Trotz bieten zu können, der den Erdboden in ziemliche eiserne Fesseln schlägt und Bäume und Hecken mit seinem schönen Netzwerk umspannt. Herr Pickwick ist eifrig mit der Musterung der Austernfäßchen und der Aufsicht über die Ausladung des Weihnachtsfisches beschäftigt, als er sich sachte beim Rockzipfel gezupft fühlt. Als er sich umsieht, entdeckt er, daß das Individuum, das sich ihm auf diese Art bemerkbar machen will, kein anderes ist, als Herrn Wardles Lieblingspage, der den Lesern dieser schlichten Erzählung besser unter der bezeichnenden Benennung »der fette Junge« bekannt ist.

»Aha«, rief Herr Pickwick.

»Aha«, rief der fette Junge.

Und als der Junge das sagte, beäugelte er zuerst den Weihneichtsfisch, dann die Austernfäßchen und lachte voller Vergnügen. Er war fetter als je.

»Nun, du siehst ja recht blühend aus, junger Freund«, sagte Herr Pickwick.

»Ich habe eben vor dem Feuer im Schenkstübchen geschlafen«, antwortete der fette Junge, der sich durch ein Stündchen Schlaf bis zur Farbe eines neuen Kochtopfes erhitzt hatte. »Mein Herr hat mich mit dem Karren herübergeschickt, um Ihr Gepäck abzuholen. Er hätte einige Reitpferde geschickt, aber er dachte. Sie würden bei dem kalten Wetter lieber gehen.«

»Ja, ja«, sagte Herr Pickwick hastig, denn er erinnerte sich, wie er bei einer früheren Gelegenheit beinahe über dasselbe Feld gegangen war. »Ja, wir wollen lieber gehen. – Sam!«

»Sir«, rief Herr Weller.

»Hilf Herrn Wardles Diener das Gepäck in den Karren schaffen und fahre dann mit ihm. Wir wollen gleich vorangehen.«

Nachdem er diese Befehle erteilt und mit dem Kutscher ins reine gekommen, schlugen Herr Pickwick und seine drei Freunde den Fußpfad über die Felder ein und gingen munter ihres Weges, Herrn Weller und den fetten Jungen vorderhand beieinander lassend. Sam sah den fetten Jungen recht verdutzt an, sagte jedoch nichts. Er begann die Sachen eiligst in den Karren zu schaffen, während der fette Junge ruhig dabeistand und es sehr unterhaltend zu finden schien, daß Herr Weller so fleißig war.

»So«, sagte Sam, den letzten Koffer aufladend: »das wäre geschafft.«

»Ja«, versetzte der fette Junge im Tone großer Zufriedenheit, »das wäre geschafft.«

»Na, Sie junger Herkules«, sagte Sam, »Sie könnten sich für Geld sehen lassen, wahrhaftig.«

»Danke Ihnen für das Kompliment«, erwiderte der fette Junge.

»Sie haben wohl nichts im Kopfe, was Ihnen viel Kummer verursachte, nicht wahr?« fragte Sam.

»Nicht daß ich wüßte«, erwiderte der Junge.

»Wie ich Sie so ansah, hätte ich beinahe vermutet, Sie seufzen unter der Last einer unerwiderten Liebe zu einer jungen Dame«, sagte Sam.

Der fette Junge schüttelte den Kopf.

»Freut mich sehr, das zu hören«, versetzte Sam. »Trinken Sie gern?«

»Ich esse lieber«, erwiderte der Junge.

»Nun, das hätte ich voraussehen können«, sagte Sam. »Aber ich meine jetzt, ob Sie einen Tropfen zu sich nehmen würden, um sich zu erwärmen? Aber ich glaube. Sie haben unter Ihrem Speck noch nie gefroren – oder?«

»Mitunter doch«, versetzte der Knabe, »und ich trinke auch ein Schlückchen, wenn es gut ist.«

»Wirklich, tun Sie das?« sagte Sam. »Na, dann kommen Sie.«

Die Wirtsstube des Blauen Löwen war bald erreicht, und der fette Junge goß ein Glas Branntwein hinunter, ohne eine Miene zu verziehen – eine Heldentat, die ihn in Herrn Wellers Meinung außerordentlich hob. Als Herr Weller seinerseits ein ähnliches Geschäft vollbracht hatte, stiegen sie in den Karren.

»Können Sie fahren?« fragte der fette Junge.

»Ich sollt‘ es fast meinen«, erwiderte Sam.

»Dort hinein also«, sagte der fette Junge, ihm die Leine überlassend, indem er auf einen Feldweg deutete. »Immer geradeaus: Sie können nicht fehlen.«

Mit diesen Worten legte sich der fette Junge zärtlich neben den Weihnachtsfisch, und zum Kopfkissen ein Austernfäßchen benützend, fiel er augenblicklich in Schlaf.

»Nun«, sagte Sam, »von allen kaltblütigen Jungen, die meine Augen je gesehen haben, ist dieser junge Herr hier der kaltblütigste. Holla, aufgewacht, du Wassersuchtskandidat.«

Aber da der junge Wassersuchtskandidat kein Zeichen des wiederkehrenden Lebens von sich gab, so setzte sich Herr Weller vorn auf den Karren, schwang die Leine und brachte so die alte Mähre in Gang. Langsam humpelte der Karren Manor-Farm zu.

Mittlerweile hatten Herr Pickwick und seine Freunde ihr Blut in raschere Bewegung gesetzt und schritten munter voran. Der Pfad war hart, das Gras vom Frost gekräuselt, die Luft rein, trocken und kalt, und das rasche Nahen der grauen Dämmerung ließ sie sich im voraus auf die Bequemlichkeiten freuen, die sie bei ihrem gastfreundlichen Wirte erwarteten. Es war einer von jenen Abenden, die selbst ältliche Herren auf einem einsamen Felde verleiten könnte, ihre Mäntel abzuwerfen und zum Privatvergnügen über einander Bock zu springen. Wir glauben fest, hätte Herr Tupman in diesem Augenblicke den Rücken dargeboten, so würde Herr Pickwick dieses Anerbieten mit dem größten Vergnügen angenommen haben.

Herr Tupman schien sich aber nicht freiwillig zu einer solchen Belustigung hergeben zu wollen, und so verfolgten die Freunde ihren Weg unter heiteren Gesprächen weiter. Als sie in einen eingefriedeten Pfad einbogen, den sie zu gehen hatten, drangen Töne von verschiedenen Stimmen an ihr Ohr; und ehe sie Zeit gehabt, nachzuforschen, wem sie wohl angehören mochten, standen sie bereits vor der Gesellschaft, die ihre Ankunft erwartete. Mit lautem »Hurra« begrüßte der alte Wardle die Pickwickier, als diese ihm zu Gesicht kamen.

Wardle sah. womöglich noch munterer aus als je: dann war Bella da und ihr getreuer Trundle; dann Emilie und acht bis zehn junge Damen, die alle zu der kommenden Tageshochzeit gekommen waren. Sie kamen sich ungemein wichtig vor, wie gewöhnlich junge Damen bei solchen Gelegenheiten. Ihr Gelächter und fröhliches Geplauder hallte weit und breit über das Feld.

Bald hatte man sich begrüßt, und nun scherzte Herr Pickwick mit den jungen Damen, die, solange er zusah, nicht über das Geländer steigen wollten, oder im Bewußtsein ihrer hübschen Füße und unvergleichlichen Knöchel fünf Minuten lang darauf stehenblieben und erklärten, sie fürchteten sich zu sehr, um sich nur zu rühren – wir sagen, er scherzte mit ihnen so ungezwungen und vertraulich, als hätte er sie seit seiner Kindheit schon gekannt. Es muß auch bemerkt werden, daß Herr Snodgraß Emilien weit mehr Beistand leistete, als die Schrecken des Geländers (wiewohl es seine volle vier Fuß hoch war und nur ein paar Stufen hatte) unmittelbar zu erfordern schienen. Hingegen stieß eine schwarzäugige junge Dame mit sehr zierlichen Pelzstiefelchen einen markerschütternden Schrei aus, als ihr Herr Winkle hinüberhelfen wollte.

All das war sehr unterhaltsam und vergnüglich. Als nun endlich die Schwierigkeiten des Geländers überwunden waren und man sich wieder auf offenem Felde befand, erzählte der alte Wardle Herrn Pickwick, sie seien sämtlich unten gewesen, um Ausstattung und Einrichtung des Hauses in Augenschein zu nehmen, das das junge Paar nach Weihnachten beziehen sollte. Darüber wurden Bella und Trundle so rot, wie es der fette Junge in der Wirtsstube am Feuer geworden war. Die junge Dame mit den schwarzen Augen und den pelzverbrämten Stiefelchen flüsterte Emilie etwas ins Ohr und warf dann einen schlauen Seitenblick auf Herrn Snodgraß, worauf Emilie erwiderte, »sie sei ein dummes Ding«, aber nichtsdestoweniger ganz rot wurde. Herr Snodgraß aber, der so bescheiden war, wie es alle großen Geister gewöhnlich sind, fühlte das Blut bis in die äußersten Spitzen seiner Ohren steigen und hegte in den tiefsten Tiefen seines Herzens den innigen Wunsch, die vorbesagte junge Dame mit ihren schwarzen Augen und ihrem schlauen Seitenblick und ihren pelzverbrämten Stiefelchen möchte in aller Gemütsruhe dorthin versetzt werden, wo der Pfeffer wächst.

Waren sie aber schon außer dem Hause so vertraulich und glücklich, wie groß waren erst Wärme und Herzlichkeit, womit sie aufgenommen wurden, als sie die Farm erreichten! Sogar das Gesinde grinste vor Vergnügen, als es Herrn Pickwick erblickte; und Emma warf Herrn Tupman einen halb verschämten, halb verwegenen Blick des Wiedererkennens zu; einen Blick, der hingereicht hätte, um die Bildsäule Napoleons, die im Flur stand, zu ermutigen, ihre Arme zu öffnen und die Jungfrau in diese zu schließen.

Die alte Frau saß, wie gewöhnlich, in der vorderen Wohnstube, Aber sie war etwas verdrießlich und folglich ganz besonders taub. Sie ging nie aus und betrachtete es, wie viele andere alte Frauen von gleichem Kaliber, als einen Akt des Hochverrats am Hause, wenn sich jemand die Freiheit nahm, zu tun, was sie nicht mehr konnte. Sie saß also so aufrecht wie möglich in ihrem großen Lehnstuhl und legte möglichst viel Stolz in ihren Bick – und doch spiegelte sich Herzensgüte darin ab.

»Mutter«, sagte Herr Wardle, »Herr Pickwick, Sie werden sich seiner erinnern.«

»Bmühe dich nur nicht meinetwegen!« erwiderte die alte Dame mit großer Würde. »Mach Herrn Pickwick keine Mühe wegen einer alten Frau, wie ich es bin. Niemand bekümmert sich um mich, und das ist auch sehr natürlich.«

Hier schüttelte die alte Frau den Kopf und strich ihr lavendelfarbiges Seidenkleid mit zitternden Händen glatt.

»Wie, Madame?« sagte Herr Pickwick. »Nein, ich kann es nicht zugeben, daß Sie einen alten Freund auf diese Art abspeisen. Ich bin ausdrücklich deshalb heruntergekommen, um mich recht lang mit Ihnen zu unterhalten und eine Partie Whist mit Ihnen zu spielen; ja, und ehe achtundvierzig Stunden durchs Land gehen, wollen wir diesen Knaben und Mädchen zeigen, wie man ein Menuett tanzt.«

Die alte Frau war plötzlich umgestimmt, aber sie wollte es nicht auf einmal zeigen und sagte daher nur: »Ach, ich verstehe ihn nicht.«

»Nicht doch, Mutter, nicht doch«, bemerkte Wardle. »Seien Sie nicht so verdrießlich; es ist ein herzensguter Mann. Denken Sie an Bella. Kommen Sie; Sie müssen dem armen Mädchen Mut zusprechen!«

Die gute alte Frau verstand dies, denn ihre Lippen zitterten, als ihr Sohn also sprach. Aber das Alter hat seine schwachen Seiten, und sie ließ sich noch nicht ganz herumkriegen. Sie strich wieder an dem lavendelfarbigen Kleid hinunter und wandte sich zu Herrn Pickwick mit den Worten:

»Ach, Herr Pickwick, als ich noch ein Mädchen war, waren die jungen Leute ganz anders.«

»Daran ist nicht zu zweifeln, Madame«, versetzte Herr Pickwick, »und deshalb achte ich auch die wenigen Personen so hoch, die noch die Spuren der alten Zeit an sich tragen.«

Und während er also sprach, zog er Bella sanft an sich, drückte ihr einen Kuß auf die Stirn und bat sie, sich auf den kleinen Stuhl zu den Füßen ihrer Großmutter zu setzen. Rief der Ausdruck ihrer Züge, als sie ihr Gesicht dem Antlitz der alten Dame zukehrte, Erinnerungen an alte Zeiten zurück, oder wurde die alte Dame durch Herrn Pickwicks Herzensgüte gerührt, oder war es sonst etwas – kurz, sie wurde ganz weich, legte ihren Kopf auf den Nacken ihrer Enkeltochter und schwemmte ihre üble Laune durch eine Flut stiller Tränen fort.

Die Gesellschaft war an diesem Abend ganz glücklich. Gesetzt und feierlich war die Whistpartie, die Herr Pickwick und die alte Dame miteinander spielten, und lärmend war die Fröhlichkeit am runden Tisch. Lange nachdem sich die Damen zurückgezogen hatten, machte der Glühwein, der mit Rum und Gewürz versetzt war, die Runde aber- und abermal: und gesund war der Schlaf und süß die Träume, die darauf folgten. Es ist eine merkwürdige Tatsache, daß Herrn Snodgraß‘ Träume in beständiger Beziehung zu Emilie Wardle standen, und in Herrn Winkles Traumgesichten eine junge Dame mit schwarzen Augen, einem schlauen Lächeln und einem Paar außerordentlich niedlicher Pelzstiefelchen die Hauptrolle spielte.

Am andern Morgen wurde Herr Pickwick in aller Frühe durch ein Geräusch von Stimmen und Fußtritten ermuntert, die sogar den fetten jungen aus seinem harten Schlafe aufwecken mußten. Er setzte sich aufrecht ins Bett und lauschte. Die weibliche Dienerschaft und die weiblichen Gäste liefen unaufhörlich ab und zu. Unzählige Rufe nach warmem Nasser und oft wiederholte Bitten um Nadel und Faden ließen sich hören; auch eine Menge halblauter Gesuche »o komm doch und hilf mir, es ist eine liebe Not«. Daher kam Herr Pickwick in seiner Unschuld auf den Gedanken, es müsse irgend etwas Furchtbares vorgefallen sein, bis er nach und nach sein volles Bewußtsein erlangte und sich der Hochzeit erinnerte. Da das Fest höchst wichtig war, so kleidete er sich mit besonderer Sorgfalt an und ging zum Frühstück.

Alle Dienstmädchen liefen in nagelneuen Anzügen von fraisefarbenem Musselin mit weißen Schleifen an den Hauben, in einem Zustande von Aufregung und Unruhe im Hause umher, der unmöglich beschrieben werden kann. Die alte Dame hatte ein Brokatkleid an, das seit zwanzig Jahren das Tageslicht nicht mehr gesehen, wenn man jene müßigen Strahlen ausnimmt, die sich durch die Ritzen in die Truhe gestohlen hatten, darinnen es die ganze Zeit über aufbewahrt gewesen war. Herr Trundle zeigte sich in höchster Gala, schien aber trotz seines würdevollen Äußeren etwas verschüchtert. Der lustige alte Hauswirt suchte sehr aufgeräumt und unbefangen auszusehen, was ihm aber nicht ganz gelang. Alle Mädchen waren in Tränen und weißem Musselin gehüllt, mit Ausnahme von zwei oder drei Auserwählten, die die besondere Ehre genossen. Braut und Brautjungfern im oberen Saale unter vier Augen zu sehen. Auch alle Pickwickicr waren auf« festlichste herausgeputzt. Auf dem Grasplätze vor dem Hause machten sämtliche Männer und Kinder, die zum Pachtgut gehörten, und die alle eine weiße Schleife im Knopfloch trugen, mächtigen Lärm mit Singen und Springen. Dazu wurden sie von Herrn Samuel Weller, der sich die Volksgunst bereits im höchsten Grade erworben hatte und so heimisch geworden war, als wäre er auf dem Lande geboren, durch Wort und Tat aufgefordert und angespornt.

Eine Hochzeit ist eine Gelegenheit, bei der jeder seinen Spaß zu haben berechtigt ist, und doch gehört die Sache selbst gerade nicht zu den spaßhaftesten. Wir sprechen indes nur von der Feier und bitten den Leser, uns ja nicht so zu verstehen, als wollten wir damit eine versteckte Satire auf da« eheliche Leben bringen. Mit der Lust und der Freude des Feste« vermischen sich die schmerzlicheren Gefühle, die Heimat verlassen zu müssen, die Tränen über den Abschied des Vaters vom Kinde, das Bewußtsein, von den teueren und liebevollen Freunden der glücklichsten Zeit des menschlichen Lebens zu scheiden und sich mit andern, noch nicht erprobten und wenig bekannten in die Sorgen und Mühen der Welt zu stürzen – natürliche Empfindungen, mit deren Beschreibung wir die Heiterkeit dieses Kapitels nicht stören wollen und die wir noch weniger lächerlich zu machen gesonnen sind.

So wollen wir noch kurz anführen, daß die Trauung von dem alten Pfarrer in der Kirche zu Dingley Dell vollzogen, und daß Herrn Pickwicks Name in das Register eingetragen wurde, das noch in der Sakristei aufbewahrt wird. Daß die junge Dame mit den schwarzen Augen ihren Namen mit unsicherer und zitternder Hand eintrug, und daß die Unterschrift Emiliens, als der andern Brautjungfer, beinahe unleserlich war; daß alles in bewunderungswürdiger Ordnung vor sich ging; daß die jungen Damen im allgemeinen die Sache weit weniger schrecklich fanden, als sie erwartet hatten, und daß sich die Eigentümerin der schwarzen Augen und des schlauen Lächelns, die Herrn Winkle erklärte, sie werde sich ganz gewiß niemals zu einer so fürchterlichen Handlung entschließen können, sich in dieser Beziehung sehr täuschte. Zu alledem können wir noch hinzufügen, daß Herr Pickwick der erste war, der die Braut begrüßte und daß er ihr dabei eine reiche goldene Uhr mit Kette von gleichem Metall umhing; eine Uhr, die außer dem Juwelier noch keines Menschen Auge gesehen. Dann erklangen die alten Kirchenglocken so heiter, wie sie nur konnten; und die gesamte Gesellschaft kehrte zum Frühstück zurück.

»Wo sollen die Fleischpasteten hin, du Schlafmütze?« fragte Herr Weller den fetten Jungen, als er diejenigen Speisen ordnen half, die am vorhergehenden Abend nicht mehr bewältigt werden konnten.

Der fette Junge deutete auf den Platz hin, der für die Pasteten bestimmt war.

»Gut so«, sagte Sam, »stecken Sie nun ein bißchen Weihnachtsgrün hinein. Dort in die andere Platte. So; jetzt nehmen wir uns erst hübsch aus, wie jener Vater sagte, als er seinem jungen Buben den Kopf herunterschlug, um ihm das Schielen zu vertreiben.«

Während Herr Weller diesen Vergleich anstellte, wich er einen oder zwei Schritte zurück, um ihm mehr Nachdruck zu geben, und übersah dann die Vorbereitungen mit der größten Zufriedenheit.

Kaum hatten alle ihre Plätze eingenommen, als Herr Pickwick rief:

»Wardle, ein Glas Wein zu Ehren des frohen Festes!«

»Mit dem größten Vergnügen, Freundchen«, antwortete Wardle. »Joe – der verdammte Junge, er schläft wieder.«

»Nein, Sir, ich schlafe nicht«, rief der fette Junge, aus einer entfernten Ecke herkommend, wo er gleich dem heiligen Schutzpatron der fetten Jungen – dem unsterblichen Horner – eine Weihnachtspastete verschlungen hatte, ohne jedoch dabei den Gleichmut und die Reserve zu beobachten, die sonst diesen jungen Gentleman auszeichneten.

»Fülle Herrn Pickwicks Glas.«

»Ja, Sir.«

Der fette Junge füllte Herrn Pickwicks Glas und zog sich dann hinter den Stuhl seines Herrn zurück, von wo aus er dem Spiel der Messer und Gabeln und der Wanderung der erlesenen Bissen von den Platten in die Mäuler der Gesellschaft mit düsterer Freude zusah.

»Zum Wohl, alter Freund«, sagte Herr Pickwick.

»Prosit, Freundchen«, erwiderte Herr Wardle; und sie taten einander herzlich Bescheid.

»Frau Wardle«, sagte Herr Pickwick, »wir Alten müssen auch ein Gläschen Wein miteinander trinken zu Ehren dieses frohen Ereignisses.«

Die alte Dame war von Glanz und Größe umstrahlt: denn sie saß am oberen Ende des Tisches in ihrem Brokatkleide, und neben ihr hatte sie auf der einen Seite ihre neuvermählte Enkeltochter und auf der andern Herrn Pickwick, durch den die Gruppe erst recht gehoben wurde.

Herr Pickwick hatte nicht sehr laut gesprochen, aber sie verstand ihn gleich und leerte ein volles Glas auf sein Wohlergehen und langes Leben. Dann ließ sie sich in eine weitläufige und ausführliche Erzählung ihrer eigenen Hochzeit ein, knüpfte daran eine Abhandlung über die damalige Mode, Schuhe mit hohen Absätzen zu tragen, und einige Einzelheiten aus dem Leben und den Abenteuern der schönen Lady Tollimglower. Sie lachte selbst über das alles herzlich, und die jungen Damen, die sich wunderten, wodurch um alle Welt die Großmama auf einmal so gesprächig geworden, stimmten mit ein.

Und wenn die jungen Damen lachten, so lachte die alte Dame noch zehnmal herzlicher und sagte, man habe diese Geschichten immer höchst interessant gefunden; eine Äußerung, die wieder neues Gelächter hervorrief, das die alte Dame in die allerbeste Laune versetzte. Dann wurde der Kuchen zerschnitten und machte die Runde um die Tafel, und die jungen Damen legten sich Stücke beiseite, um sie hernach unter das Kopfkissen zu legen, damit sie von ihren künftigen Männern träumen könnten: und das machte viel Spaß und rote Gesichter Auch in England herrscht der Glaube, daß in den »Wih-Nachten«, den geweihten Nächten, die Zukunft bzw. der Zukünftige des jungen Mädchens durch allerlei Hokuspokus beschworen und gesehen werden könnte..

»Herr Miller«, sagte Herr Pickwick zu seinem alten Bekannten, dem Herrn mit den starren Zügen, »ein Glas Wein?«

»Mit großem Vergnügen, Herr Pickwick«, versetzte der Herr mit den starren Zügen feierlich.

»Wollen Sie mich auch mit anschließen?« fragte der wohlwollende alte Geistliche.

»Mich auch«, fiel seine Frau ein.

 

»Mich auch, mich auch«, riefen ein paar arme Verwandte am unteren Ende der Tafel, die aus Herzenslust gegessen und getrunken und über alles gelacht hatten.

Herr Pickwick drückte seine herzliche Freude über jeden neuen Zuruf aus, und seine Augen funkelten vor Lust und Vergnügen.

»Meine Damen und Herren«, begann Herr Pickwick, plötzlich aufstehend –

»Hört, hört! Hört, hört! Hört, hört!« rief Herr Weller im Überschwang seiner Gefühle.

»Ruft die gesamte Dienerschaft herein«, befahl der alte Wardle, um Herrn Weller den öffentlichen Verweis zu ersparen, den dieser sonst ohne allen Zweifel von seinem Herrn erhalten hätte.

»Jedem ein Glas Wein, um den Toast mitzutrinken! Nun, Pickwick?«

Während sich die Gesellschaft still verhielt, die weibliche Dienerschaft flüsterte und die männliche verlegen dastand, fuhr Herr Pickwick fort:

»Meine Damen und Herren – nein, ich will nicht sagen, meine Damen und Herren, meine lieben Freundinnen und Freunde, wenn mir die Damen eine so große Freiheit erlauben wollen – –«

Hier wurde Herr Pickwick durch unermeßlichen Beifall von seiten der Damen unterbrochen; die Herren stimmten mit ein und die Eigentümerin der schwarzen Augen hörte man während des Lärmens ganz deutlich sagen, sie könnte diesen lieben Herrn Pickwick küssen, worauf Herr Winkle galant fragte, ob dafür nicht auch ein Stellvertreter in Betracht käme – eine Frage, die von der jungen Dame mit den schwarzen Augen mit einem »Gehen Sie mir weg« beantwortet, zugleich aber von einem Blicke begleitet wurde, der so deutlich, wie es nur ein Blick konnte, hinzusetzte – »wenn Sie können«.

»Meine teuren Freundinnen und Freunde«, nahm Herr Pickwick seine Rede wieder auf, »ich bin im Begriff, die Gesundheit der Braut und des Bräutigams auszubringen – Gott segne sie (Beifall und Tränen). Meinen jungen Freund Trundle halte ich für einen ausgezeichneten, charakterfesten Mann, und seine Frau kenne ich als ein sehr liebenswürdiges und achtungswertes Wesen, wohlgeeignet, das Glück, das sie zwanzig Jahre lang in ihres Vaters Haus um sich her verbreitet hat, in einen andern Wirkungskreis zu übertragen (hier brach der fette Junge in ein lautes Geheul aus und wurde von Herrn Weller am Rockkragen hinausgeführt). Ich wünschte«, fügte Herr Pickwick hinzu, »ich wünschte, ich wäre jung genug, um der Gatte ihrer Schwester zu sein (Beifall), aber da dies nun nicht der Fall ist, so bin ich doch so glücklich, alt genug zu sein, um ihr Vater sein zu können, und so bin ich denn über den Verdacht versteckter Absichten erhaben, wenn ich sage, daß ich sie beide bewundere, achte und liebe (Beifall und Schluchzen). Der Vater der Braut, unser guter Freund, ist ein edler Mann, und ich bin stolz darauf, ihn zu kennen (großes Beifallgeschrei). – Es ist ein liebevoller, vortrefflicher, edeldenkender, herzensguter, gastfreundlicher, freigebiger Mann. (Enthusiastischer Beifall von seiten der armen Verwandten bei allen diesen Lobesworten, besonders bei den beiden letzteren). Daß seiner Tochter all das Glück zuteil werde, das sie nur immer selbst wünschen kann, und daß sie aus dem stillen Genüsse ihres Glückes alle Freuden des Herzens und alle Ruhe der Seele sich holen möge, die sie so wohl verdient, ist, ich bin es überzeugt, unser aller Wunsch. So laßt uns denn auf ihre Gesundheit trinken und ihnen ein langes Leben und alles Heil wünschen!«

Unter stürmischem Beifall schloß Herr Pickwick seine Rede. Die Zungen der Überzähligen wurden unter Herrn Wellers Befehlen in die größte Tätigkeit versetzt. Herr Wardle schlug Herrn Pickwick und Herr Pickwick die alte Dame – Herr Snodgraß Herrn Wardle und Herr Wardle Herrn Snodgraß – einer von den armen Vettern Herrn Tupman und der andere arme Vetter Herrn Winkle zum weiteren Gegenstand eines Trinkspruches vor. Alles war lauter Lust und Freude, bis das geheimnisvolle Verschwinden der beiden armen Vettern unter den Tisch die Gesellschaft daran erinnerte, daß es Zeit sei, vom Frühstück aufzustehen.

An der Mittagstafel traf man wieder zusainmen, nachdem die männlichen Glieder der Gesellschaft auf Wardles Empfehlung fünfundzwanzig Meilen weit spazieren gegangen waren, um die Wirkungen des beim Frühstück genossenen Weines aufzuheben, während die armen Vettern den ganzen Tag im Bett lagen, um dasselbe Glück zu erzielen, aber wegen der Erfolglosigkeit ihrer Bemühungcn liegenbleiben mußten. Herr Weller hielt die Dienerschaft ununterbrochen heiter, und der fette Junge teilte seine Zeit zwischen Essen und Schlafen.

Das Mittagsmahl war ebenso vergnügt und ebenso geräuschvoll wie das Frühstück, aber Tränen kamen nicht vor. Dann trug man den Nachtisch auf und brachte noch verschiedene Gesundheiten aus. Hierauf folgten Tee und Kaffee und endlich der Ball.

Der beste Saal zu Manor-Farm hatte ein freundliches Aussehen, eine hübsche Länge, dunkles Tafelwerk, hohes Kamingesims und eine so geräumige Feuerstätte, daß eine von unseren neuen Patentdroschken samt Rädern und allem hätte hineinfahren können. Am oberen Ende des Gelasses saßen in einer schattigen Laube von Stechpalmen und Immergrün die beiden besten Geiger und die einzige Harfenspielerin von ganz Muggleton. In allen Nischen und auf allen Gesimsen standen alte, massive silberne Leuchter, jeder mit vier Armen, der Boden war mit Teppichen belegt; die Kerzen brannten hell, das Feuer loderte und knisterte im Kamin; heitere Stimmen und frohes Gelächter hallten durch den Saal. Wenn einige von den alten, englischen Landedelfrauen nach ihrem Tode in Feen verwandelt worden wären, so wäre gerade dies der Platz gewesen, an dem sie ihre Tänze gehalten hätten.

Wenn irgend etwas den interessanten Charakter dieser anmutigen Szene noch mehr hervorheben konnte, so war es die merkwürdige Tatsache, daß Herr Pickwick zum ersten Male, soweit das Gedächtnis seiner ältesten Freunde reichte, ohne Gamaschen erschien.

»Gedenken Sie zu tanzen?« fragte Wardle.

»Natürlich«, erwiderte Herr Pickwick. »Sehen Sie nicht, daß ich dazu angekleidet bin?«

Und Herr Pickwick lenkte die Aufmerksamkeit auf seine gesprenkelten seidenen Strümpfe und blank gewichsten Tanzschuhe.

» Sie in seidenen Strümpfen!« rief Herr Tupman in scherzhaftem Ton.

»Und warum nicht, Sir – warum nicht?« sagte Herr Pickwick, sich hitzig gegen ihn umwendend.

»Oh, es ist natürlich kein Grund vorhanden, warum Sie sie nicht tragen sollten«, antwortete Herr Tupman.

»Das will ich meinen, Sir – das will ich meinen«, sagte Herr Pickwick in sehr entschiedenem Tone.

Herr Tupman hatte Lust zum Lachen verspürt, aber er fand jetzt, daß die Sache ernster Natur war; er nahm deshalb auch eine ernste Miene an und sagte, die Strümpfe seien sehr hübsch.

»Ich hoffe es«, bemerkte Herr Pickwick mit einem festen Blick auf seinen Freund, »und ich hoffe, Sir, daß Sie an diesen Strümpfen, als Strümpfen, nichts Außerordentliches finden?«

»Gewiß nicht – oh, gewiß nicht«, erwiderte Herr Tupman.

Er ging weg und Herrn Pickwicks Gesicht nahm seinen gewohnten wohlwollenden Ausdruck wieder an.

»Wir sind, glaube ich, alle bereit«, sagte Herr Pickwick, der mit der alten Dame vorgetreten war, um den Ball zu eröffnen, und in seinem außerordentlichen Eifer bereits vier falsche Tritte getan hatte.

»So beginnen Sie also«, sagte Herr Wardle. »Nun.«

Die zwei Geigen und die Harfe erklangen, und Herr Pickwick begann den Tanz, als er durch ein allgemeines Händeklatschen und den Ruf: »Halt! Halt!« unterbrochen wurde.

»Was gibt’s?« rief Herr Pickwick, der nur durch das Verstummen der Geige und der Harfe zum Stehen gebracht werden konnte. Sonst hätte das keine andere irdische Gewalt erreichen können, und wäre das Haus in Flammen gestanden.

»Wo ist Arabella Allen?« rief ein Dutzend Stimmen.

»Und Winkle?« setzte Herr Tupman hinzu.

»Hier sind wir«, rief der genannte Herr, mit seiner hübschen Gefährtin aus einer Ecke hervortretend: und es würde schwer gehalten haben, zu bestimmen, wer von beiden ein röteres Gesicht hatte, er oder die junge Dame mit den schwarzen Augen.

»Was ist aber das für ein wunderliches Benehmen, Winkle«, sagte Herr Pickwick etwas ärgerlich, »daß Sie nicht schon vorher an Ihrem Platze waren?«

»Gar nicht wunderlich«, sagte Herr Winkle.

»Nun«, versetzte Herr Pickwick mit einem sehr ausdrucksvollen Lächeln, als seine Augen auf Arabella ruhten: »schon gut: ich will es jetzt nicht mehr behaupten, daß es ›wunderlich‹ war.«

Indessen hatte man keine Zeit mehr, weiter über diesen Gegenstand nachzudenken, denn Geigen und Harfe hoben jetzt voll an. Herr Pickwick schwebte dahin, von der Mitte bis zum äußersten Ende des Saals, an den Kamin und wieder zurück an die Türe – Poussette hin und Poussette her – lautes Stampfen auf den Boden – das nächste Paar – ab – die ganze Figur wiederholt – eine zweite Aufforderung, die Tour zu eröffnen.

Das nächste Paar vor, und das nächste Paar vor, und wieder das nächste Paar vor – nein, so was hatte man noch nie erlebt! und endlich, nachdem alle ausgetanzt, und volle vierzehn Paare nach der alten Name abgetreten und die Frau Pfarrerin die Stelle der Großmutter eingenommen, hielt Herr Pickwick noch immer aus, während man seiner Anstrengungen gar nicht mehr bedurfte; und solange die Musik rauschte, tanzte er ununterbrochen fort, seiner Tänzerin die ganze Zeit über mit unbeschreiblicher Freundlichkeit zulächelnd.

Lang eh sich Herr Pickwick müde getanzt hatte, war das neuvermählte Paar vom Schauplatz abgetreten. Unten erwartete die Gesellschaft ein vortreffliches Nachtessen, und lange und viel wurde dabei getafelt. Als Herr Pickwick am andern Morgen spät erwachte, hatte er eine verworrene Erinnerung, ungefähr fünfundvierzig Personen dringend eingeladen zu haben, sobald sie nach London kämen, im »Georg und Geier« mit ihm zu speisen – eine so große Gastfreundlichkeit, die Herr Pickwick für ein fast untrügliches Zeichen ansah, daß er in der vergangenen Nacht seinem Körper mehr zugemutet hatte, als die bloße Bewegung.

»Also diesen Abend wird sich die Familie in der Küche mit Gesellschaftsspielen unterhalten, meine Liebe?« fragte Sam Emma.

»Ja, Herr Weller«, antwortete Emma; »wir halten es immer so am Weihnachtsabend. Der Herr hält auf diesen Brauch.«

»Ihr Herr hält überhaupt auf einen, meine Teuerste«, sagte Herr Weller. »Ich habe noch nie einen so vollendeten Gentleman kennengelernt.«

»Ja, das ist er!« sagte der fette Junge, sich ins Gespräch mischend. »Zieht er nicht herrliche Ferkel auf?«

Und der fette Junge warf Herrn Weller einen beinahe kannibalischen Blick zu, als er an gebratene Knöchelchen und Schweinsbrühe dachte.

»Ah, Sie sind also doch endlich aufgewacht?« fragte Sam.

Der fette Junge nickte bejahend.

»Ich will Ihnen was sagen, junge Riesenschlange«, sagte Herr Weller mit Nachdruck. »Wofern Sie nicht etwas weniger schlafen und sich etwas mehr Bewegung machen, wenn Sie einmal ins männliche Alter kommen, werden Sie sich eine Unbequemlichkeit auf den Hals laden, wie der alte Herr mit der Zopfperücke.«

»Was war’s denn mit diesem?« fragte der fette Junge stotternd.

»Das will ich Ihnen sagen«, erwiderte Herr Weiler; »es war einer von den dicksten Schmerbäuchen, die sich je umgedreht haben – eine Art Mastochse, der fünfundvierzig Jahre lang seine eigenen Füße nicht sah.«

»Himmel!« rief Emma.

»Ja, wirklich, meine Teure«, sagte Herr Weller, »und wenn Sie ihm das genaueste Modell von seinen Beinen auf den Tisch gelegt hätten, er hätte sie nicht erkannt. Er ging immer in sein Geschäftszimmer mit einer sehr schönen goldenen Uhrkette, die anderthalb Fuß lang herabhing, und einer goldenen Uhr in seiner Westentasche, die – ich kann kaum sagen wieviel, aber immer soviel, als irgendeine Uhr wert war – ein großes, schweres, rundes Ding, als Uhr so dick wie er als Mann, mit einem verhältnismäßig breiten Zifferblatt. ›Sie sollten diese Uhr nicht tragen‘, sagten die Freunde des alten Herrn, ›man wird sie Ihnen noch stehlen‘, sagten sie. – ›Wie, das soll ich?‘ sagte er. – ›Ja, das sollen Sie‹, sagten sie. – ›Nun‹, sagte er, ›ich möchte den Dieb sehen, der die Uhr herausbrächt?! denn ich will verdammt sein, wenn ich sie selbst herausbringe. Es ist ein so plumpes Ding, und wenn ich je wissen will, wieviel Uhr es ist, so muß ich in die Bäckerläden gehen‹, sagte er. – Gut, dann lachte er so toll, als wollte er platzen, und ging wieder mit seinem gepuderten Kopf und Zopf aus. So wälzte er sich den Strand hinunter, und die Kette hing weiter herab als je, und die große, runde Uhr drückte beinahe ein Loch durch seine grauen Kirseyhosen. Es war kein Taschendieb in ganz London, der nicht schon an der Kette gerissen hatte, aber die Kette wollte nicht reißen, und die Uhr wollte nicht heraus, so daß sie es bald müde wurden, einen so schweren alten Herrn die Straße entlang zu ziehen. Da ging er denn nach Hause und lachte, daß sein Zopf wie der Perpendikel an einer Holländeruhr hin und her wackelte. Eines Tages wälzte sich der alte Herr wieder einmal spazieren und sah einen Taschendieb, den er auf den ersten Blick erkannte, Arm in Arm mit einem kleinen Jungen, der einen sehr großen Kopf hatte, auf sich zukommen. ›Das gibt einen Spaß‹, sagte der alte Herr bei sich selbst, ›die werden’s wieder probieren, aber sie werden sich brennen.‹ Er fing aus vollem Halse zu lachen an. Da ließ der kleine Junge plötzlich den Arm des Taschendiebes los und rannte mit dem Kopf gegen den Bauch des dicken Herrn und warf ihn zu Boden. ›Mörder‹, rief der alte Herr. – ›Alles in Ordnung, Sir‹, flüsterte ihm der Taschendieb ins Ohr. Und als er wieder auf den Beinen war, waren Uhr und Kette fort. Was aber noch schlimmer war: die Verdauung des alten Herrn ging nachher bis auf den letzten Tag seines Lebens nicht mehr in gehöriger Ordnung vor sich. – So sehen Sie also wohl zu, junger Herr, und nehmen Sie sich in acht, daß Sie nicht zu fett werden.«

Herr Weller schloß diese moralische Erzählung, von der der fette Junge sehr gerührt schien, und alle drei gingen in die große Küche, in der nach unendlich altem Brauch die Familie versammelt war.

Soeben hatte der alte Wardle im Mittelpunkt der Decke mit eigenen Händen einen großen [hier irrt der Übersetzer: Mistel ist richtig] Mispelzweig Jedes Paar, da« unter den aufgehängten Mispelzweig zu stehen kommt, ist nach alter englischer Weihnachtssitte verpflichtet, sich zu küssen. aufgehängt, und dieser

 

Mispelzweig veranlaßte augenblicklich ein allgemeines, höchst vergnügtes Gedränge. Mitten in dem Durcheinander nahm Herr Pickwick mit einer Galanterie, die einem Abkömmling der Lady Tollimglower Ehre gemacht hätte, die alte Dame bei der Hand, führte sie unter den geheimnisvollen Zweig und küßte sie mit Höflichkeit und allem Anstand. Die alte Dame unterwarf sich dieser Artigkeit mit aller Würde, die eine so wichtige und ernste Feier erforderte. Aber die jüngeren Damen, die keine so abergläubische Verehrung für das Herkommen hegten, oder der Meinung waren, der Wert eines Kusses werde bedeutend erhöht, wenn es einige Mühe koste, ihn zu erlangen, kreischten, schlugen um sich, liefen in die Ecken und taten alles mögliche; nur die Küche verließen sie nicht. Erst als einige von den weniger verwegenen Herren anfingen scheu zu werden und zu resignieren, fanden es auf einmal alle zwecklos, weiteren Widerstand zu leisten und unterwarfen sich dem Kusse freiwillig. Herr Winkle küßte die junge Dame mit den schwarzen Augen, Herr Snodgraß küßte Emilie, und Herr Weller, dem es nicht besonders um die Förmlichkeit zu tun war, daß es gerade unter dem Mispelzweig geschehen sollte, küßte Emma und die übrigen Dienstmädchen, wo er sie erhaschte. Was die armen Vettern betrifft, so küßten sie alle ohne Unterschied, nicht einmal den unansehnlicheren Teil der weiblichen Gäste ausgenommen, die in ihrer außerordentlichen Verwirrung gerade unter den Mispelzweig rannten, ohne es selbst zu wissen. Wardle kehrte dem Feuer den Rücken zu und übersah die ganze Szene höchst vergnügt, und der fette Junge ergriff die Gelegenheit, eine besonders schöne Fleischpastete, die für jemand anders sorgfältig zurückgelegt worden war, für sich zu requirieren und auf einmal zu verschlingen.

Der laute Jubel hatte jetzt nachgelassen. Die Gesichter glühten, die Locken waren in Verwirrung, und Herr Pickwick stand unter dem Mispelzweig, nachdem er, wie schon erwähnt, die alte Dame geküßt hatte, und sah mit sehr vergnügtem Gesicht dem Treiben um sich her zu. Da sprang die junge Dame mit den schwarzen Augen nach kurzem Geflüster mit den andern jungen Damen plötzlich auf ihn zu, legte ihren Arm um seinen Nacken und küßte ihn zärtlich auf die linke Wange. Und ehe Herr Pickwick recht wußte, was vorging, war er von der ganzen Gesellschaft umringt und von allen abgeküßt.

Es war ergötzlich, Herrn Pickwick mitten in dem Knäuel zu sehen, wie er bald da- bald dorthin gezerrt und zuerst auf das Kinn und dann auf die Nase und dann auf die Brille geküßt wurde. Alles lachte herzlich darüber. Aber es war ein noch heiterer Anblick, wie Herr Pickwick nachher mit einem seidenen Taschentuch um die Augen gegen die Wand rannte, in die Winkel tappte und mit dem größten Vergnügen auf alle Geheimnisse des Blindekuhspiels einging, bis er endlich einen von den armen Vettern erwischte; und wie er dann der blinden Kuh selbst aus dem Wege gehen mußte, was er mit einer Behendigkeit und Gewandtheit tat, die alle Zuschauer zur Bewunderung hinriß. Die armen Vettern fingen gerade die Personen, von denen sie glaubten, daß sie sich gerne fangen ließen, und als der Eifer abwellte, ließen sie sich selbst fangen. Als man genug Blindekuh gespielt hatte, wurde eine große Drachenschnappe Bei diesem Spiel werden Rosinen aus brennendem Branntwein geholt. aufgeführt, und als Finger genug dabei verbrannt und die Rosinen alle fortgeholt waren, setzte man sich neben dem hochlodernden Feuer zu einem tüchtigen Nachtessen und einer mächtigen Schüssel, die etwas kleiner war, als ein gewöhnlicher Waschkessel, und in der heiße Apfel so einladend und lustig zischten und tanzten, daß es in der Tat unwiderstehlich war.

»Das ist«, sagte Herr Pickwick, rund um sich blickend, »das ist wirklich köstlich.«

»So halten wir’s immer«, versetzte Herr Wardle. »Am Weihnachtsabend sitzen wir alle, wie Sie jetzt sehen, Herr und Diener zusammen, und hier warten wir, bis die Glocke zwölf Uhr schlägt, um den heiligen Christ zu empfangen, und vertreiben uns die Zeit mit Pfänderspielen und alten Geschichten. – Trundle, mein Junge, schüren Sie das Feuer.«

Die hellen Funken flogen zu Myriaden umher, als die Holzscheite aufgestöbert wurden, und die dunkelrote Flamme goß einen glänzenden Schein von sich, der in die entfernteste Ecke der Küche drang und jedes Gesicht mit heiterm Glanz bestrahlte.

»Kommen Sie«, sagte Wardle, »ein Lied – ein Weihnachtslied, ich will Ihnen eins singen in Ermangelung eines bessern.«

»Bravo«, rief Herr Pickwick.

»Füllen Sie die Gläser auf«, rief Wardle; »es wird zwei gute Stunden dauern, bis Sie durch die dunkelrote Farbe des Getränke den Boden der Bowle sehen; füllen Sie alle, und jetzt das Lied.«

Nach diesen Worten begann der muntere alte Herr mit einer schönen, vollen Männerstimme ohne weitere Umstände –

Ein Weihnachtslied.

Der Lenz, so viel er Rosen schickt,
Kann doch mich nicht berücken, –
Wenn heut ein Regen sie erquickt,
Ein Opfer seiner Tücken.
Ein Elfe, kennt er selbst sich nicht,
Den ganz Charakterlosen;
Er lacht dir freundlich ins Gesicht
Und würgt, ein kalter Bösewicht,
Die jüngsten seiner Rosen.

Die Sommersonne mag getrost
Sich einen Schleier weben,
Ich bin darüber nicht erbost;
Wenn sie ein Wolkenmeer umtost.
So kann ich’s überleben.
Der Wahnsinn ruht in ihrem Schoß
Mit seinen Fieberscharen,
Und ist die Liebe gar zu groß,
Hat sie ein kurzes Lebenslos,
Wie mancher schon erfahren.

Die freundliche Septembernacht
Im milden Mondenlichte
Ist’s, was mir mehr Vergnügen macht,
Als Mittagsglanz in seiner Pracht,
Mit seinem Glutgesichte;
Doch seh ich ein erstorben Blatt
Am kalten Boden liegen,
So bin ich schon des Herbstes satt;
So große Reize er auch hat.
Er bringt mir kein Vergnügen.

Jedoch die traute Weihnachtszeit,
Die wollen wir besingen;
Hoch lebe ihre Biederkeit
Mit ihrer Herzensoffenheit!
Laßt alle Gläser klingen!
Begrüßt sie mit der reinsten Lust
Die traute Nacht der Weihe,
Und drückt, der Freude nur bewußt,
Wie eine Braut sie an die Brust,
Und brecht ihr nie die Treue.

Sie hat ein narbiges Gesicht;
Ein sturmerprobter Sieger,
Schämt sie sich aber dessen nicht,
Es teilen dieses Angesicht
D’rum sing‘ ich, daß die Decke dröhnt.
Und daß in alle Weiten
Der Widerhall hinübertönt,
Der Königin der Zeiten.

Dieses Lied wurde mit stürmischem Beifall aufgenommen; denn Freunde und Gesinde hatten gar aufmerksame Ohren. Besonders die armen Vettern waren vor Entzücken ganz außer sich. Das Feuer wurde von neuem geschürt und die Bowle machte wieder die Runde.

»Wie es schneit«, sagte einer von den Männern leise.

»Schneien?« fragte Wardle.

»Eine rauhe kalte Nacht, Sir«, erwiderte der Mann, »und ein Wind geht, der den Schnee in dicken weißen Wolken über die Felder jagt.«

»Was sagt Jem?« fragte die alte Dame, »es ist doch nichts Besonderes vorgefallen?«

»Nein, nein, Mutter«, erwiderte Wardle; er spricht nur von einem Schneegestöber und einem kalten schneidenden Wind. Man hört’s aber auch am Sausen im Kamin.«

»Ach«, sagte die alte Dame, »es ging gerade ein solcher Wind, und es fiel gerade ein solcher Schnee vor langen, langen Jahren, ich erinnere mich noch – es war gerade fünf Jahre vor dem Tod deines armen Vaters. Es war auch ein Weihnachtabend, und ich erinnere mich, daß er uns in derselben Nacht die Geschichte von den Gespenstern erzählte, die den alten Gabriel Grub holten.«

»Die Geschichte von was?« fragte Herr Pickwick.

»Ach nichts – nichts«, erwiderte Wardle. »Von einem alten Totengräber, von dem die guten Leute glauben, die Gespenster haben ihn geholt.

»Glauben?« rief die alte Dame au«. »Ist jemand so verstockt, um es nicht zu glauben? Glauben! Hast du nicht schon von deiner Kindheit an gehört, daß er von den Gespenstern geholt wurde, und weißt du nicht, daß es wirklich geschah?«

»Aber natürlich, Ntutter, es ist wahrhaftig geschehen, wenn Sie es so haben wollen«, sagte Wardle lachend. »Er wurde von den Gespenstern geholt, Pickwick, und damit lassen wir die Sache auf sich beruhen.«

»Nein, nein«, rief Herr Pickwick, »wir lassen die Sache nicht auf sich beruhen: denn ich muß auch wissen, wie und warum und unter welchen Umständen.«

Wardle lächelte, als er sah, daß jedermann begierig war, die Geschichte zu hören: und mit freigebiger Hand einschenkend, trank er Herrn Pickwick auf seine Gesundheit zu und begann wie folgt –

Doch der Himmel vergebe es unserm schriftstellerischen Gewissen – zu welch einem langen Kapitel haben wir uns hinreißen lassen! Wir erklären hiermit feierlich, daß wir unsere Sparsamkeit in bezug auf den Raum, den wir unserm Kapitel gönnen, gänzlich vergessen haben. So wollen wir denn das Gespenst gleich in ein neues Hinüberwerfen, und ich kann Sie versichern, meine Damen und Herrn, es geschieht das nicht aus Vergünstigung gegen die Gespenster, sondern bloß aus Rücksicht auf die Station.

Dreißigstes Kapitel.


Dreißigstes Kapitel.

Die Geschichte von den Gespenstern, die einen Totengräber entführen.

In einer alten Klosterstadt in diesem Bezirke unserer Grafschaft wirkte vor langer, langer Zeit – vor so langer Zeit, daß die Geschichte wahr sein muß, weil unsere Urahnen schon unbedingt daran glaubten – ein gewisser Gabriel Grub als Totengräber auf dem Kirchhof. Daraus, daß ein Mann ein Totengräber und beständig von Sinnbildern der Sterblichkeit umgeben ist, folgt noch keineswegs, daß er ein mürrischer und melancholischer Mann sein muß. Unsere Leichenwärter sind die fröhlichsten Leute von der Welt. Ich hatte einmal die Ehre, mit einem Stummen Der Gehilfe des Totengräbers. auf dem vertrautesten Fuße zu stehen. Der war in seinem Privatleben und außer seinem Beruf ein so spaßhafter und jovialer Junge, als je einer ein lustig Liedchen pfiff, ohne von seinem Gedächtnis verlassen zu werden. Auch leerte er ein gutes, bis an den Rand gefülltes Glas Grog, ohne daß ihm die Puste ausging. Aber trotz alledem war Gabriel Grub ein verdrießlicher, mürrischer, grämlicher Geselle – ein trübsinniger, menschenscheuer Mann, der mit niemandem als mit sich selbst und mit einer alten in Weiden geflochtenen Fläche, die in seiner großen tiefen Westentasche steckte, Umgang hatte. Jedes fröhliche Gesicht, das ihm vorkam, sah er mit einem solch bösartigen und verdrießlichen Blick an, daß man ihm unmöglich begegnen konnte, ohne sich unheimlich berührt zu fühlen.

An einem Weihnachtabend, als es eben zu dämmern begann, schulterte Gabriel seinen Spaten, zündete seine Laterne an und begab sich nach dem alten Kirchhof; denn er mußte bis zum nächsten Morgen ein Grab fertigbringen. Da er sich gar nicht gut aufgelegt fühlte, dachte er, es könnte ihn vielleicht ermuntern, wenn er sich sogleich an die Arbeit machte. Als er die gewohnte Straße entlang ging, sah er das lustige Licht des lodernden Feuers durch die alten Fenster schimmern und hörte das laute Gelächter und den fröhlichen Lärm derer, die darum versammelt waren. Er gewahrte die geräuschvollen Vorbereitungen zur Bewillkommnung des folgenden Tages und roch die vielen herrlichen Düfte, die ihm aus den Küchenfenstern entgegenwallten. All das war dem Herzen Gabriels wie Gift und Galle. Scharen von Kindern sprangen aus den Häusern, trippelten über die Straße hinüber und, ehe sie noch an der gegenüberstehenden Tür anklopfen konnten, wurden sie von einem Halbdutzend kleinen Lockenköpfen empfangen, die sie umringten. Dann sprangen sie die Treppen hinauf, um den Abend mit Weihnachtsspielen zuzubringen. Gabriel aber lächelte darob grimmig, faßte den Handgriff seines Spatens fester an und dachte an Masern, Scharlach, Diphtherie, Keuchhusten und eine Menge anderer Trostquellen.

In dieser glücklichen Gemütsverfassung schritt Gabriel weiter, die freundlichen Grüße der Nachbarn, die dann und wann an ihm vorbeischritten, mit einem kurzen, mürrischen Knurren erwidernd, bis er in das dunkle Gäßchen einbog, das auf den Kirchhof führte.

Nun hatte sich Gabriel nach dem dunklen Gäßchen gesehnt, weil es überhaupt ein düstrer, trauriger Platz war, den die Leute aus der Stadt nur am hellen Mittag, wenn die Sonne schien, besuchten. Er war daher nicht wenig entrüstet, als er mitten in diesem Heiligtum, das seit den Tagen des alten Klosters und der geschorenen Mönche das Sarggäßchen genannt wurde, eine Kinderstimme ein lustiges Weihnachtslied singen hörte. Als er weiterging und der Stimme näherkam, fand er, daß sie einem kleinen Knaben angehörte, der mit schnellen Schritten das Gäßchen hinabeilte, um eine von den kleinen Gesellschaften in der alten Straße zu treffen, und teils zum Privatvergnügen, teils um seine Stimme für das Fest zu üben, aus vollem Halse sang. Gabriel wartete, bis der Knabe herbeikam, drückte ihn dann in eine Ecke und schlug ihm fünf- oder sechsmal die Laterne um den Kopf, nur um ihn dadurch das Modulieren zu lehren, und als der Knabe die Hand an den Kopf hielt und eine ganz andere Weise anstimmte, lachte Gabriel herzlich und trat in den Kirchhof, das Tor hinter sich schließend.

Er legte seinen Rock ab, stellte seine Laterne auf den Boden, stieg in das angefangene Grab und arbeitete wohl eine Stunde lang mit regem Eifer. Aber die Erde war vom Frost gehärtet, und es war nicht so leicht, sie aufzubrechen und hinauszuschaufeln. Obgleich der Mond am Himmel stand, war er kaum erst sichelförmig und warf nur einen matten Schein auf das Grab, das überdies noch im Schatten der Kirche lag. Zu anderer Zeit hätten diese Hindernisse unsern Gabriel Grub sehr verdrossen und mürrisch gemacht, aber es freute ihn so sehr, dem Jungen das Singen vertrieben zu haben, daß er sich über den langsamen Fortgang der Arbeit wenig grämte. Nachdem er sie für diesen Abend vollendet hatte, sah er mit grimmiger Lust in das Grab hinunter und brummte, sein Handwerkszeug zusammenraffend:

Ein hübscher Aufenthalt – ein hübscher Aufenthalt,
Ein wenig Erde naß und kalt;
Am Kopf ein Stein, am Fuß ein Stein,
Ein Schmaus für das Gewürm zu sein!
Ein grasbedecktes Moderbette,
Ein hübscher Ort, an heilger Stätte.

»Hu! ho!« lachte Gabriel Grub, als er sich auf einen niederen Grabstein setzte, auf dem er gewöhnlich ausruhte und seine Weidenflasche hervorzog. »Ein Sarg um Weihnachten – ein Weihnachtssarg. Ho! ho! ho!«

»Ho! ho! ho!« wiederholte eine Stimme dicht neben ihm.

Gabriel hielt, im Begriff, die Weidenflasche an die Lippen zu setzen, erschrocken inne und sah sich rings um. Der Grund des ältesten Grabes um ihn her war nicht stiller und ruhiger als der Kirchhof im blassen Mondlicht. Der kalte Reif funkelte auf den Grabsteinen und blitzte gleich Diamanten auf den Bildhauerarbeiten der alten Kirche. Der harte Schnee kräuselte sich auf dem Boden und breitete sich, eine weiße, glatte Decke, über die dicht verhüllten Grabhügel, daß es den Anschein gewann, als wären es lauter Leichen mit Sterbetüchern umwickelt. Nicht das geringste Geräusch unterbrach die tiefe Stille der feierlichen Szene. Der Schall selbst schien erfroren zu sein, so kalt und ruhig war alles.

»Es war der Widerhall«, sagte Gabriel Grub, die Flasche wieder an seine Lippen setzend.

»Nein, er war es nicht«, antwortete eine tiefe Stimme.

Gabriel sprang auf und blieb vor Bestürzung und Schrecken wie versteinert stehen; denn seine Augen ruhten auf einer Gestalt, die ihm das Blut erstarren machte.

Auf einem aufrechtragenden Grabstein, dicht neben ihm, saß eine seltsame, überirdische Gestalt, und Gabriel fühlte sogleich, daß es kein Wesen von dieser Welt war. Ihre langen, phantastisch aussehenden Beine, die den Boden leicht hätten erreichen können, waren hinaufgezogen und kreuzten sich auf seltsam phantastische Weise. Ihre starken Arme waren nackt und ihre Hände ruhten auf ihren Knien. Auf ihrem kurzen runden Leib trug sie ein eng anschließendes Gewand, das mit kleinen Litzen verziert war, und auf ihrem Rücken hing ein kurzer Mantel; der Kragen war in seltsame Spitzen ausgeschnitten, die dem Gespenst anstatt einer Krause oder eines Halstuchs dienten, und seine Schuhe krümmten sich an den Zehen in lange Hörner. Auf dem Kopfe trug es einen breitkrempigen, zuckerhutförmigen Hut, der mit einer einzigen Feder verziert und mit Reif überzogen war. Das Gespenst sah aus, als säße es schon zwei oder drei Jahrhunderte lang in voller Seelenruhe auf diesem Grabstein. Es war vollkommen still: seine Zunge hing ihm wie zum Spott aus dem Munde heraus. Dabei sah es unsern Gabriel Grub mit einem Grinsen an, wie nur ein Gespenst grinsen kann.

»Es war nicht der Widerhall«, sagte das Gespenst.

Gabriel Grub war wie gelähmt und konnte kein Wort hervorbringen.

»Was habt Ihr hier am Weihnachtabend zu schaffen?« fragte das Gespenst in strengem Ton.

»Ich mußte ein Grab machen, Sir«, stammelte Gabriel Grub.

»Welcher Sterbliche wandelt in einer Nacht, wie diese ist, auf Gräbern und Kirchhöfen?« sagte das Gespenst.

»Gabriel Grub! Gabriel Grub!« schrie ein Chor wilder Stimmen, der den Kirchhof zu füllen schien. Gabriel sah sich erschrocken ringsum, er entdeckte nichts.

»Was habt Ihr in dieser Flasche da?« fragte das Gespenst.

»Wacholder, Sir«, erwiderte der Totengräber, heftiger zitternd als je: denn er hatte ihn von den Schmugglern gekauft und dachte, der Fragesteller könnte vielleicht beim Zollamte der Gespenster angestellt sein.

»Wer wird auch in einer Nacht, wie diese ist, allein und auf einem Kirchhof Wacholder trinken?« fragte das Gespenst.

»Gabriel Grub! Gabriel Grub!« riefen die wilden Stimmen wieder. Das Gespenst warf einen boshaften Blick auf den erschrockenen Totengräber und rief dann, seine Stimme erhebend –

»Und wer ist also unser gesetzliches und rechtmäßiges Eigentum?«

Auf diese Frage antwortete der unsichtbare Chor mit einem Gesang, der von einer großen Menschenmenge herzurühren schien, die zum vollen Spiel der alten Kirchenorgel sang – ein Gesang, der wie auf einem sanften Winde zu den Ohren des Totengräbers getragen wurde und wie das leichte, vorüberschwebcnde Lüftchen hinwegstarb – aber der Refrain war immer der gleiche: »Gabriel Grub! Gabriel Grub!«

Das Gespenst grinste noch unheimlicher als zuvor und sagte:

»Nun, Gabriel, was meinst du dazu?«

Der Totengräber rang nach Atem.

»Was meinst du dazu, Gabriel?« sagte das Gespenst. Dabei zog es die Beine auf den Grabstein hinauf und beschaute die Hörner seiner Schuhe mit einem Wohlgefallen, als hätte es das modernste Paar Stulpenstiefel aus der ganzen Bond-Street.

»’s ist – ’s ist – ganz kurios, Sir«, versetzte der Totengräber halbtot vor Schrecken, »ganz kurios und ganz hübsch: aber ich denke, ich will wieder ans Geschäft gehen und meine Arbeit vollenden, wenn Sie’s erlauben.«

»Arbeit?« sagte das Gespenst, »welche Arbeit?«

»Das Grab, Sir, das Grab«, stammelte der Totengräber.

»Ei, das Grab«, sagte das Gespenst: »wer wird auch Gräber machen und Freude daran finden, wenn alle übrigen Menschenkinder fröhlich sind.«

Und wieder riefen die geheimnisvollen Stimmen: »Gabriel Grub! Gabriel Grub!«

»Ich fürchte, Gabriel, meine Freunde verlangen nach dir«, sagte das Gespenst, seine Zunge noch weiter herausstreckend als je – und es war eine fürchterliche Zunge – »ich fürchte, Gabriel, meine Freunde verlangen nach dir.«

»Bitte um Verzeihung, Sir«, erwiderte der schreckensbleiche Totengräber, »das ist nicht wohl möglich, Sir: sie kennen mich nicht, Sir, und ich glaube nicht, daß mich die Herren je gesehen haben, Sir.«

»Da irrt Ihr Euch sehr«, versetzte das Gespenst: »wir kennen den Mann mit dem sauren Blick und dem finstern Gesicht, der heute abend die Straße heraufkam und seine boshaften Blicke auf die Kinder warf und dabei sein Grabscheit fester an sich drückte. Wir kennen den Mann, der in mißgünstiger Heimtücke den Knaben schlug, weil der Knabe heiter sein konnte und er nicht. Wir kennen ihn, wir kennen ihn.«

Hier schlug das Gespenst ein lautes, gellende« Gelächter an, das der Widerhall zwanzigfach zurückgab, und seine Beine hinaufziehend, stellte es sich auf dem schmalen Rand des Grabsteins auf den Kopf. Oder vielmehr es stellte sich auf die Spitze seiner zuckerhutförmigen Kopfbedeckung und machte dann mit außerordentlicher Gewandtheit einen Purzelbaum, der es gerade vor die Füße des Totengräbers niedersetzte, wo es sich in derjenigen Stellung aufpflanzte, die gewöhnlich die Schneider auf ihrem Arbeitstisch einnehmen.

»Ich – ich – bin untröstlich, daß ich Sie verlassen muß, Sir«, sagte der Totengräber und machte eine Bewegung, sich zu entfernen.

»Uns verlassen?« rief das Gespenst, »Gabriel Grub will uns verlassen. Ho! ho! ho!«

Während das Gespenst also lachte, sah der Totengräber die Fenster der Kirche auf einen Augenblick prachtvoll erleuchtet, als ob das ganze Gebäude in Flammen stände: die Lichter verschwanden, die Orgel ertönte in lieblicher Weise und ganze Trupps von Gespenstern, dem ersten wie aus dem Gesicht herausgeschnitten, wogten in den Kirchhof hinein und begannen über die Grabsteine »Bock zu springen«. Sie hielten keinen Augenblick an, um Atem zu schöpfen, und setzten mit bewunderungswürdiger Gewandtheit einer nach dem andern über die höchsten Steine hinweg. Das erste Gespenst war ein ausgezeichneter Springer: mit ihm konnte sich kein anderes messen. Sogar in seiner furchtbaren Angst bemerkte der Totengräber unwillkürlich, daß es im Gegensatze zu seinen Freunden, die sich damit begnügten, über gewöhnliche Grabsteine hinwegzusetzen, Familiengewölbe samt ihren eisernen Gittern und allem dazu Gehörigen mit einer Leichtigkeit übersprang, als wären es Meilensteine gewesen.

Schließlich erreichte das Spiel eine betäubende Höhe. Die Orgel spielte schneller und schneller, und die Gespenster sprangen höher und höher, indem ste sich wie Kugeln zusammenballten und über den Boden hinrollten und gleich Federbällen über die Grabsteine wegschnellten. Dem Totengräber wirbelte der Kopf von der Schnelligkeit der Bewegungen, die er sah, und seine Beine wankten unter ihm, als die Geister vor seinen Augen vorüberflogen und der Gespensterkönig plötzlich auf ihn zusprang, ihn am Kragen nahm und mit ihm hinabfuhr.

Als Gabriel Grub wieder Zeit gewann, Atem zu schöpfen, den ihm die Schnelligkeit seiner Hinabfahrt für den Augenblick versagt hatte, sah er sich in einer Art großer Höhle, auf allen Seiten von einer Menge häßlicher, grimmig aussehender Gespenster umringt. In ihrer Mitte saß auf einem erhöhten Sitz sein Freund vom Kirchhof, und neben ihm stand völlig gelähmt Gabriel Grub.

»Eine kalte Nacht«, sagte der König der Gespenster, »eine sehr kalte Nacht. Holt uns ein Gläschen Warmen.«

Auf diesen Befehl verschwanden eilig ein halbes Dutzend dienstbare Geister, die beständig lächelten, so daß unser Gabriel vermutete, es möchten Höflinge sein. Sie kehrten sogleich mit einem Becher flüssigen Feuers zurück und reichten ihn dem König.

»Ah«, sagte das Gespenst, dessen Wangen und Kehle ganz durchsichtig waren, als er die Flamme in sich sog, »das wärmt; reicht Herrn Grub auch einen Becher.«

Der unglückliche Totengräber wendete vergebens ein, es sei ganz gegen seine Gewohnheit, bei Nacht etwas Warmes zu sich zu nehmen: eins von den Gespenstern hielt ihn fest, während ihm ein anderes die lodernde Flüssigkeit in die Kehle goß und die ganze Gesellschaft ein schallendes Gelächter anschlug, als er hustete und keuchte und die Tränen abwischte, die nach dem brennenden Trank seinen Augen entströmten.

»Und nun«, sagte der König, das spitzige Ende seines zuckerhutförmigen Huts auf gauklerartige Weise dem Totengräber ins Auge bohrend, so daß dieser die fürchterlichsten Schmerzen empfand – »und nun zeigt dem Mann des Unmuts und der Verdrossenheit einige von den Gemälden unserer großen Galerie.«

Während das Gespenst also sprach, verzog sich allmählich eine dichte Wolke, die den Hintergrund der Höhle in Dunkel gehüllt hatte. In großer Entfernung wurde ein kleines, sparsam ausgestattetes, aber niedliches und reinliches Gemach sichtbar. Eine Schar kleiner Kinder war um ein helles Feuer versammelt, die ihre Mutter am Kleide zerrte und um ihren Stuhl hertanzte. Von Zeit zu Zeit erhob sich die Mutter und zog den Fenstervorhang zurück, als ob sie nach einem erwarteten Etwas ausschaue; auf dem Tische stand bereits ein frugales Abendessen, und am Feuer sah man einen Armstuhl. Man hörte Pochen an der Tür, die Mutter öffnete, und die Kinder umringten sie und schlugen vor Freude in die Hände, als ihr Vater eintrat. Er war naß und müde und schüttelte den Schnee von seinen Kleidern, als sich die Kinder um ihn her drängten und ihm mit geschäftigem Eifer Mantel, Hut, Stock und Handschuhe abnahmen. Als er sich dann vor dem Feuer zum Mahl niedersetzte, kletterten die Kinder auf seine Knie und die Mutter setzte sich neben ihn, und alles schien voll Lust und Freude.

Aber fast unmerklich änderte sich die Szene. Das Zimmer verwandelte sich in ein kleines Schlafgemach, wo das schönste und jüngste Kind in den letzten Zügen lag. Die Rosen seiner Wangen waren verblichen und der Glanz seiner Augen erstorben. Sogar der Totengräber betrachtete es mit einer vorher nie gefühlten noch gekannten Teilnahme, als es verschied. Seine jungen Brüder und Schwestern versammelten sich um sein Bettchen und ergriffen die leblose Hand, die so kalt und schwer war, aber sie schraken vor der Berührung zurück und sahen mit schaudernder Ehrfurcht in das Gesicht des Kindes: denn so ruhig und still es war, und so schön und friedlich es dalag und zu schlummern schien, so sahen sie doch, daß es tot war, und wußten, daß es jetzt als Engel aus einem Himmel voll Pracht und Seligkeit auf sie herniedcrblickte.

Wieder zog sich die leichte Wolke über das Gemälde und wieder änderte sich die Szene. Vater und Mutter waren jetzt alt und hilflos, und die Zahl der ihrigen hatte sich um mehr als die Hälfte vermindert. Aber Zufriedenheit und Heiterkeit lag auf jedem Gesicht und strahlte aus allen Augen, als sie sich um das Feuer scharten und alte Geschichten aus früheren, vergangenen Tagen erzählten und hörten. Langsam und still sank der Vater ins Grab, und bald darauf folgte ihm die, welche an all seinen Sorgen und Mühen teilgehabt, zur Stätte der Ruhe und des Friedens. Die wenigen, die sie überlebten, knieten an ihrem Grabe und benetzten den Rasen, der es bedeckte, mit Tranen, standen dann auf und entfernten sich traurig und niedergeschlagen, aber nicht mit bitterem Jammergeschrei oder verzweiflungsvollem Wehklagen; denn sie wußten, daß sie sich einst wiederfinden würden. Sie gingen wieder an die Geschäfte des Tage« und erlangten die frühere Zufriedenheit und Heiterkeit. Die Wolke lagerte sich auf das Gemälde und entzog es den Blicken des Totengräbers.

»Was sagst du dazu?« fragte das Gespenst, sein breites Gesicht Herrn Gabriel Grub zukehrend.

Gabriel murmelte so etwas wie: »es sei recht hübsch«, und sah ziemlich beschämt drein, als das Gespenst seine feurigen Augen auf ihn heftete.

»Du bist ein jämmerlicher Mensch!« sagte das Gespenst im Ton grenzenloser Verachtung. »Du!« Es schien noch mehr hinzufügen zu wollen, aber der Unwille erstickte seine Stimme. Es hob eins von seinen äußerst geschmeidigen Beinen, schwenkte es über seinem Kopf hin und her, um sich seines Ziels zu versichern und versetzte dann unserm Gabriel einen derben Fußtritt, worauf sogleich sämtliche Gespenster den unglücklichen Totengräber umringten und schonungslos mit den Füßen mißhandelten, indem sie die wandellose, feststehende Gewohnheit der Höflinge auf Erden befolgten, die den treten, den der Herr tritt, und erheben, den der Herr erhebt.

»Zeigt ihm noch einige Bilder«, sagte der König der Gespenster.

Bei diesen Worten verschwand die Wolke wieder, und eine reiche schöne Landschaft entfaltete sich vor dem Auge – man sieht noch heutzutage eine halbe Meile von der alten Klosterstadt entfernt eine ähnliche. Die Sonne leuchtete am reinen blauen Himmelszelt; das Wasser funkelte unter ihren Strahlen, und die Bäume erschienen grüner und die Blumen heiterer unter ihrem belebenden Einfluß. Das Wasser schlug plätschernd ans Ufer, die Bäume rauschten im leichten Winde, der durch ihr Laubwerk säuselte, die Vögel sangen auf den Zweigen und die Lerche trillerte hoch in den Lüften ihr Morgenlied. Ja, es war Morgen, ein schöner, duftender Sommermorgen. Das kleinste Blatt, der dünnste Grashalm atmete Leben, die Ameise eilte an ihr Tagewerk; der Schmetterling flatterte spielend in den wärmenden Strahlen der Sonne; Myriaden von Insekten entfalteten ihre durchsichtigen Flügel und freuten sich ihres kurzen aber glücklichen Daseins, und der Mensch weidete sein Auge an der blühenden Schöpfung, und alles war voll Glanz und Herrlichkeit.

»Du bist ein erbärmlicher Mensch!« sagte der König der Gespenster noch verächtlicher als zuvor.

Und wieder hob der König der Gespenster sein Bein, und wieder sprang er auf die Schultern des Totengräbers, und wieder ahmten die untergebenen Gespenster das Beispiel ihres Oberhauptes nach. Noch vielmal verschwand und erschien die Wolke, und manche Lehre erhielt Gabriel Grub, der mit einer Teilnahme zusah, die nichts zu vermindern imstande war, so sehr ihn auch seine Schultern von den wiederholten Fußtritten der Gespenster schmerzten. Er sah, daß Menschen, die durch saure Arbeit ihr spärliches Brot im Schweiße ihres Angesichts erwarben, heiter und glücklich waren, und daß für die Ungebildetsten das freundliche Gesicht der Natur eine nie versiegende Quelle der Heiterkeit und des Genusses war. Er sah Leute, die in Hülle und Fülle erzogen worden, unter Entbehrungen heiter und über Leiden erhaben blieben. Manch andern von rauherer Art würden die Leiden niedergebeugt haben. Aber sie trugen die Stützen ihres Glücks, ihrer Zufriedenheit und Ruhe in ihrer eigenen Brust. Er sah, daß Weiber, die zartesten und hinfälligsten von allen Geschöpfen Gottes, am häufigsten Kummer, Widerwärtigkeiten und Ungemach überwanden. Er sah, daß der Grund davon in ihnen selbst lag, daraus für sie eine unerschöpfliche Quelle von Liebe und Hingebung floß. Nach alledem sah er, daß Leute, wie er, die den Frohsinn und die Heiterkeit der übrigen bekrittelten, das schlechteste Unkraut auf der schönen Erde waren; und alles Gute der Welt gegen das Böse haltend, gelangte er zu dem Schluß, daß es trotz allem eine sehr ordentliche und achtbare Welt sei. Kaum hatte er sich dieses Urteil gebildet, als die Wolke, die das letzte Bild verhüllt hatte, sich auf seine Sinne lagerte und ihn in Schlummer wiegte. Ein Gespenst nach dem andern zerfloß vor seinen Augen, und als das letzte verschwunden war, sank er in Schlaf.

Der Tag war angebrochen, als Gabriel Grub erwachte und seiner ganzen Länge nach auf dem platten Grabstein auf dem Kirchhof lag, und neben ihm die leere Weidenflasche und Rock, Spaten und Laterne – alles vom nächtlichen Reif überzogen. Der Stein, auf dem er das Gespenst hatte sitzen sehen, stand bolzgerade vor ihm, und nicht weit von ihm war das Grab, an dem er am Abend zuvor gearbeitet. Anfangs zweifelte er an der Wirklichkeit dessen, was er erlebt hatte. Aber der stechende Schmerz in seinen Schultern, wenn er aufzustehen versuchte, brachte ihn zur Überzeugung, daß die Austritte der Gespenster keine Phantasiebilder waren. Er wurde wieder unschlüssig, als er keine Fußtapfen im Schnee bemerkte, in dem die Gespenster mit den Grabsteinen Bockspringen gespielt hatten. Aber schnell erklärte er sich diesen Umstand, als er sich erinnerte, daß es Geister waren, die keine sichtbaren Eindrücke hinterlassen konnten, Gabriel Grub erhob sich also, so gut es ihm seine Rückenschmerzen erlaubten, und den Reif von seinem Rock schüttelnd, zog er sich an und kehrte sein Gesicht der Stadt zu.

Aber er war jetzt ein anderer Mensch und konnte den Gedanken nicht ertragen, an einen Ort zurückzukehren, wo man über seine Reue gespottet und seiner Bekehrung mißtraut hätte. Er schwankte einen Augenblick, dann wandte er sich nach einer andern Seite und verfolgte den nächsten besten Weg, wohin er auch führen mochte, um sein Brot an einem andern Ort zu suchen.

Laterne, Spaten und Weidenflasche wurden am nämlichen Tag auf dem Kirchhof gefunden. Anfangs stellte man allerlei Vermutungen über das Schicksal des Totengräbers an, aber bald setzte sich der Glaube fest, er sei von den Gespenstern entführt worden. Es fehlte nicht an sehr glaubwürdigen Zeugen, die ihn auf dem Rücken eines kastanienbraunen, einäugigen Rosses, mit dem Hinterteil eines Löwen und dem Schwanz eines Bären, deutlich durch die Luft hatten reiten sehen. Endlich wurde das alles steif und fest geglaubt, und der neue Totengräber pflegte den Neugierigen gegen ein geringes Trinkgeld ein recht ansehnliches Stück von dem Wetterhahn der Kirche zu zeigen, das von dem vorbesagtcn Pferde auf seiner Luftfahrt zufälligerweise abgestoßen und ein oder zwei Jahre nachher von ihm auf dem Kirchhof gefunden worden war.

Unglücklicherweise wurde der Glaube an diese Geschichte durch die unerwartete Erscheinung Gabriel Grubs selbst erschüttert. Er war jetzt zehn Jahre älter, ein geplagter, von der Gicht heimgesuchter, aber zufriedener Greis, und erzählte seine Geschichte dem Pfarrer und auch dem Bürgermeister. Im Laufe der Zeit wurde sie zur historischen Tatsache erhoben, als die sie noch bis auf diesen Tag gilt. Die aber, die an die Wetterhahngeschichte geglaubt und also ihren Glauben einmal verschwendet hatten, waren nicht so leicht zu bewegen, ihn zum zweiten Male aufs Spiel zu setzen, und so taten sie denn so weise wie sie konnten. Sie zuckten die Achseln, schüttelten die Köpfe und murmelten so etwas, als ob Gabriel Grub den Wacholderschnaps ganz ausgetrunken hätte, dann auf dem platten Grabsteine eingeschlafen wäre, und erklärten das, was er in der Gespensterhöhle gesehen haben wollte, dadurch, daß sie sagten: er habe die Welt gesehen und sei durch Erfahrung klüger geworden. Aber diese Ansicht, die nie viele Anhänger zählte, verlor sich allmählich, und die Sache mag sich nun verhalten wie sie will, da Gabriel Grub bis ans Ende seiner Tage von der Gicht heimgesucht wurde, so enthält diese Geschichte wenigstens eine Moral, und wenn sie auch nichts Besseres lehrt, so lehrt sie doch soviel: Wenn ein Mann um Weihnachten trübsinnig ist und für sich trinkt, so wird dadurch sein Befinden nicht im geringsten gebessert, das Getränk mag so gut sein, wie es will, oder sogar noch um viele Grade besser als das, was Gabriel Grub in der Gespensterhöhle sah.

Einunddreißigstes Kapitel.


Einunddreißigstes Kapitel.

Wie sich die Pickwickier die Bekanntschaft einiger feiner junger Männer aus einer liberalen Geschäftsbränche zunutze machen; wie sie sich auf dem Eise belustigen, und wie ihr Besuch endete.

»Nun, Sam«, sagte Herr Pickwick, als dieser geschätzte Diener am Morgen des Christtags mit warmem Wasser in sein Schlafzimmer trat, »ist’s noch immer gefroren?«

»Das Wasser im Waschbecken hat eine Eismaske vorgenommen, Sir«, antwortete Sam.

»Strenges Wetter, Sam«, bemerkte Herr Pickwick.

»Prächtiges Wetter, wenn man einen guten Pelz an hat, wie der Eisbär zu sich selbst sagte, als er sich im Schlittschuhlaufen erprobte«, erwiderte Herr Weller.

»Ich werde in einer Viertelstunde unten sein, Sam«, sagte Herr Pickwick, indem er seine Nachtmütze losband.

»Sehr wohl, Sir«, erwiderte Sam. »Es sind ein paar Beinsäger drunten.«

»Ein paar was?« rief Herr Pickwick aus, indem er sich im Bett aufrichtete.

»Ein paar Knochensäger«, sagte Sam.

»Was ist denn das, Knochensäger?« fragte Herr Pickwick, nicht ganz gewiß, ob es ein lebendige« Geschöpf sei, oder etwas zu essen.

»Wie? wissen Sie nicht, was ein Knochensäger ist, Sir?« fragte Herr Weller: »ich dachte, jeder Mensch wüßte, daß ein Knochensäger ein Wundarzt ist.«

»O, ein Wundarzt also?« sagte Herr Pickwick lächelnd,

»Allerdings, Sir«, erwiderte Sam. »Die unten Befindlichen sind jedoch keine regelrecht durchstudierten Knochensäger, sondern nur ein paar Lehrlinge.«

»Mit andern Worten, sie sind Medizin Studierende, vermutlich?« sagte Herr Pickwick.

Sam Weller nickte.

»Das freut mich«, sagte Herr Pickwick und warf seine Nachtmütze kräftig auf die Bettdecke. »Das sind prächtige Kerle, vortreffliche Kerle, mit einem Urteil, das durch Beobachtung und Reflexion gereift ist, mit einem durch Lektüre und Studium verfeinerten Geschmack. Die Nachricht freut mich sehr.«

»Sie rauchen Zigarren beim Küchenfeuer«, sagte Sam.

»Ach«, bemerkte Herr Pickwick, indem er sich die Hände rieb, »sich gütlich tun bei geistigen Getränken – das sehe ich gern.«

»Und einer von ihnen«, fuhr Sam fort, ohne auf seines Herrn Unterbrechung zu achten, »einer von ihnen streckt seine Beine auf den Tisch und trinkt den puren Branntwein, während der andere – der mit der Brille – ein Fäßchen Austern zwischen seinen Beinen hat: er öffnet die Schalen wie mit Dampfkraft, und sobald er den Inhalt geleert hat, zielt er mit demselben nach unserm jungen Wassersüchtling, der fest eingeschlafen in der Kaminecke sitzt.«

»Exzentrizitäten des Genies, Sam« – sagte Herr Pickwick. »Du kannst gehen.«

Sam entfernte sich also, und Herr Pickwick ging nach Verlauf einer Viertelstunde zum Frühstück hinunter.

»Da ist er endlich«, sagte der alte Wardle. »Pickwick, das ist Miß Allens Bruder, Herr Benjamin Allen – Ben nennen wir ihn, und so können Sie ihn auch nennen, wenn Sie wollen. Dieser Herr ist sein spezieller Freund, Herr –«

»Herr Bob Sawyer«, unterbrach ihn Herr Benjamin Allen, worauf Herr Bob Sawyer und Herr Benjamin Allen zusammen lachten.

Herr Pickwick verbeugte sich gegen Bob. Sawyer und Bob Sawyer verbeugte sich gegen Herrn Pickwick; Bob und sein spezieller Freund machten sich hierauf mit großem Eifer über das ihnen vorgesetzte Essen her; und Herr Pickwick hatte Gelegenheit, beide näher zu beobachten.

Herr Benjamin Allen war ein kräftiger, derbgliederiger, untersetzter junger Mann, mit schwarzem, kurzgeschnittenem Haar und blassem, etwas langem Gesicht. Er hatte eine Brille und trug ein weißes Halstuch. Unter seinem einfachen schwarzen Oberrock, der bis ans Kinn zugeknöpft war, erschien die übliche Zahl pfeffer- und salzfarbiger Beine, die in ein paar halbgeputzter Stiefel endigten. Obwohl die Ärmel seines Rockes kurz waren, zeigte sich doch keine Spur von Manschetten. Auch sein Gesicht, das lang genug war, um eine Verkürzung durch Vatermörder zu ertragen, ließ auch nicht die entfernteste Andeutung eines solchen Weißzeugs blicken. Überhaupt schien das ganze Äußere des Jünglings vom Meltau befallen zu sein, während es zugleich ziemlich nach den Wohlgerüchen Kubas duftete.

Herr Bob Sawyer war in einen groben blauen Rock gekleidet, der weder ein Überrock noch ein Oberrock war, vielmehr Natur und Eigenschaften von beiden teilte. Herr Sawyer zeigte jene nachlässige Geziertheit und Renommiersucht junger Herren, die in den Straßen bei Tag rauchen, bei Nacht in ihnen toben und lärmen, die Kellner vertraut beim Vornamen rufen und diverse sonstige Handlungen kurzweiliger Art sich zuschulden kommen lassen. Er trug ein paar gestreifte Beinkleider, eine grobe geschlossene Weste mit zwei Reihen Knöpfen, und beim Ausgehen führte er einen dicken Stock mit einem großen Knopf bei sich. Er vermied Handschuhe und sah im ganzen aus wie ein liederlicher Robinson Crusoe.

Das waren die zwei Ehrenleute, denen Herr Pickwick vorgestellt wurde, als er am Christtagmorgen seinen Sitz am Frühstückstisch einnahm.

»Ein herrlicher Morgen, meine Herren«, sagte Herr Pickwick.

Herr Bob Sawyer nickte beifällig und bat Herrn Benjamin Allen um Senf.

»Kommen Sie weit her diesen Morgen, meine Herren?« fragte Herr Pickwick.

»Vom Blauen Löwen zu Muggleton«, antwortete Herr Allen kurz.

»Sie sollten gestern abend bei uns gewesen sein«, sagte Herr Pickwick.

»Wir sollten, ja«, erwiderte Bob Sawyer; »aber der Branntwein war zu gut, um so schnell von ihm loskommen zu können: nicht wahr, Ben?«

»Gewiß«, sagte Herr Benjamin Allen. »Auch die Zigarren waren nicht übel, und der Schweinebraten ebenfalls – nicht wahr, Bob?«

»Allerdings«, entgegnete Bob.

Und die Busenfreunde erneuerten ihren Angriff auf das Frühstück heftiger als zuvor, als ob die Erinnerung der gestrigen Abendmahlzeit die Eßlust aufs neue gereizt hätte.

»Leg nur tüchtig vor, Bob!« sagte ermunternd Herr Allen zu seinem Gefährten.

»Ja, gern«, erwiderte Bob Sawyer.

Und so tat er es denn, um seinen Freund zufriedenzustellen.

»Es geht nichts übers Sezieren; das macht Appetit«, sagte Herr Bob Sawyer, die Tafelrunde ringsum musternd.

Herrn Pickwick überfiel ein leichter Schauder.

»Beiläufig, Bob«, sagte Herr Allen, »bist du bald zu Ende mit deinem Fuß?«

»Nächstens«, erwiderte Sawyer, ihm während des Sprechens ein halbes Huhn vorlegend.

»Er ist sehr muskulös für einen Kinderfuß.«

»So?« versetzte Herr Allen nachlässig.

»Gewiß«, entgegnete Bob Sawyer mit vollem Munde.

»Ich habe auf einen Arm subkribiert«, sagte Herr Allen. »Wir legen zusammen; die Liste ist bald voll, nur konnten wir noch niemand bekommen, der einen Kopf braucht. Ich wünschte, du nähmest ihn.«

»Nein«, erwiderte Bob Sawyer, »kann solchen Aufwand nicht erschwingen.«

»Pah!« sagte Allen.

»In der Tat nicht«, entgegnete Bob Sawyer; »ein Gehirn wollte ich mir gefallen lassen, aber einen ganzen Kopf könnte ich nicht erstehen.«

»Still, still, meine Herren, bitte«, sagte Herr Pickwick, »ich höre die Damen.«

Während Herr Pickwick sprach, kamen die Damen, galant begleitet von den Herren Snodgraß, Winkle und Tupman, von einem Morgenspaziergang zurück.

»Um Gottes willen, Ben!« sagte Arabella in einem Ton, der mehr Erstaunen als Vergnügen beim Anblick ihres Bruders ausdrückte.

»Komme, dich morgen nach Hause mitzunehmen«, erwiderte Benjamin.

Herr Winkle erblaßte und kehrte sich um.

»Siehst du Bob Sawyer nicht, Arabella?« fragte Herr Benjamin Allen, wie im Tone des Vorwurfs.

Jetzt sah Arabella, daß auch Bob da war, und bot ihm graziös die Hand. Ingrimm erfüllte Herrn Winkles Herz, als Bob Sawyer die dargebotene Hand tüchtig drückte.

»Lieber Ben«, sagte Arabella errötend, »bist – bist du Herrn Winkle vorgestellt worden?«

»Bis jetzt nicht, werde mich aber glücklich schätzen, es zu werden, Arabella«, erwiderte ihr Bruder gravitätisch.

Hierbei verbeugte sich Herr Allen grämlich gegen Herrn Winkle, während Herr Winkle und Herr Bob Sawyer einander mit mißtrauischen Augen ansahen.

Die Ankunft der zwei neuen Gäste und die nun folgende Unterhaltung zwischen Herrn Winkle und der jungen Dame mit den Pelzstiefeln würde aller Wahrscheinlichkeit nach die bisherige Heiterkeit sehr unangenehm gestört haben, hätten nicht der fröhliche Sinn Herrn Pickwicks und der gute Humor des Hausherrn für das allgemeine Beste ihr möglichstes getan. Herr Winkle stieg allmählich in Gunst bei Herrn Benjamin Allen und knüpfte selbst mit Herrn Bob Sawyer eine freundliche Unterhaltung an, der durch Branntwein, Frühstück und Gespräch aufgelebt, allgemach in einen Zustand äußerster Munterkeit überging, Er erzählte mit viel Behagen eine angenehme Anekdote, nämlich die Beseitigung einer Geschwulst am Kopfe eines Patienten. Das Ganze erläuterte er mit seinem Austermesser und einem Stück Brot zur großen Erbauung der versammelten Gesellschaft. Dann ging der ganze Zug in die Kirche, wo Herr Benjamin Allen fest einschlief. Herr Bob Sawyer dagegen lenkte seine Gedanken von weltlichen Gegenständen dadurch ab, daß er auf den Einfall geriet, seinen Namen mit großen Buchstaben von ungefähr vier Zoll Länge in den Kirchstuhl einzuschneiden.

»Nun«, sagte Wardle, nachdem einem kräftigen Lunch mit den angenehmen Begleiterscheinungen von Doppelbier und Kirschgeist hinreichende Gerechtigkeit widerfahren war: »was sagen Sie zu einer Stunde Schlittschuhlaufen? Wir werden Zeit genug haben.«

»Fabelhaft!« sagte Herr Benjamin Allen.

»Vortrefflich!« rief Herr Bob Sawyer.

»Sie laufen natürlich Schlittschuh, Winkle?« fragte Wardle.

»Ja – ja, o ja«, erwiderte Herr Winkle. »Aber ich – ich – bin ein bißchen aus der Übung.«

»O, laufen Sie Schlittschuh, Herr Winkle«, sagte Arabella, »Ich sehe es so gern.«

»Es ist so graziös«, sagte eine andere junge Dame.

Ein dritte junge Dame meinte, es wäre elegant, und eine vierte sagte, daß es »schwanengleich« sei.

»Ich würde es mit Vergnügen tun«, sagte Herr Winkle rot werdend; »aber ich habe keine Schlittschuhe.«

Der Einwand war aber bald beseitigt. Trundle hatte ein Paar, und der fette Junge erklärte, drunten sei noch ein halbes Dutzend, worüber Herr Winkle große Freude bezeigte, obwohl er eine verlegene Miene machte.

Der alte Wardle schlug den Weg nach einer ziemlich ausgedehnten Eisfläche ein. Der fette Junge und Herr Weller schaufelten und kehrten den Schnee weg, der die Nacht über gefallen war. Herr Bob Sawyer schnallte seine Schlittschuhe mit einer Gewandtheit an, die Herrn Winkle völlig wunderbar vorkam. Er beschrieb mit seinem linken Fuß Zirkel und Figuren einer Acht und führte unermüdlich noch viele andere vergnügliche und in Erstaunen setzende Künste auf dem Eise aus, zur ausnehmenden Zufriedenheit des Herrn Pickwick, des Herrn Tupman und der Damen, deren Begeisterung aufs höchste gesteigert wurde, als der alte Wardle und Benjamin Allen, durch vorgenannten Bob Sawyer unterstützt, einige mystische Evolutionen formierten, die sie »Haspeltanz« nannten.

Die ganze Zeit über hatte Herr Winkle, blau vor Kälte an Gesicht und Händen, ein Loch in seine Fußsohlen gebohrt, die Schlittschuhe verkehrt angezogen und die Riemen in einen ganz komplizierten, verdrehten Zustand gebracht, wobei ihm Herr Snodgraß behilflich war, denn er verstand noch weniger als ein Hindu von Schlittschuhen. Endlich aber wurden mit Hilfe des Herrn Weller die unheilvollen Schlittschuhe befestigt, zugeschnallt, und Herr Winkle erhob sich auf seine Füße.

»Nun los, Sir«, sagte Sam ermunternd, »auf! und zeigen Sie, was Sie können.«

»Halt, Sam, halt«, sagte Herr Winkle, heftig zitternd und Sams Arme fassend wie einer der dem Ertrinken nahe ist. »Wie schlüpfrig es ist, Sam!«

»Nichts Ungewöhnliches auf’m Eis, Sir«, erwiderte Herr Weller. »Stehen Sie nur gerade, Sir!«

Diese Bemerkung Herrn Wellers geschah mit Bezug auf eine Demonstration, die Herr Winkle gerade machte: denn er streckte wie ein Gaukler seine Füße in die Luft und schien mit dem Kopf auf dem Eis gehen zu wollen.

»Das – das – sind sehr ungeschickte Schlittschuhe; nicht wahr, Sam?« fragte Herr Winkle wankend.

»Ich glaube eher, es ist ein ungeschickter Herr auf ihnen, Sir«, erwiderte Sam.

»Nun, Winkle, kommen Sie; die Damen sind voller Erwartung«, schrie Herr Pickwick, ohne zu wissen, was vorging.

»Ja, ja«, erwiderte Herr Winkle mit bedenklichem Lächeln. »Ich komme.«

»Frisch drauf los«, sagte Sam, indem er sich loszumachen strebte. »Nun, Sir, auf und davon!«

»Halten Sie mich ein bißchen, Sam«, keuchte Herr Winkle, sich fest an Herrn Weller anklammernd. »Es fällt mir ein, ich habe ein paar Röcke zu Hause, die ich nicht brauche, Sam. Sie sollen sie haben, Sam.«

»Danke bestens, Sir«, erwiderte Herr Weller.

»Sie brauchen nicht an den Hut zu greifen, Sam«, sagte hastig Herr Winkle. »Machen Sie Ihre Hand nicht los. Ich wollte Ihnen diesen Morgen fünf Schillinge zum Christgeschenk geben, Sam. Sie sollen sie diesen Nachmittag erhalten, Sam.«

»Sie sind sehr gütig, Sir«, erwiderte Weller.

»Halten Sie mich nur erst, Sam: wollen Sie?« sagte Herr Winkle. »Hier – so ist’s recht. Ich werde mich bald zurechtfinden, Sam. Nicht zu schnell, Sam, nicht zu schnell.«

Herr Winkle segelte, mit dem halben Leib vorwärts gebeugt, unter Beihilfe des Herrn Weller, auf eine ganz besondere unschwanengleiche Weise ab, als Herr Pickwick vom entgegengesetzten Ufer ganz unschuldig rief –

»Sam!«

»Herr?« sagte Herr Weller.

»Komm her. Ich brauche dich.«

»Lassen Sie mich los, Sir«, sagte Sam. »Hören Sie nicht, wie mein Herr ruft? Lassen Sie mich los, Sir.«

Mit gewaltsamer Anstrengung befreite sich Herr Weller von dem Griff des ringenden Pickwickiers, und als er das tat, brachte er dem unglücklichen Herrn Winkle einen ziemlichen Stoß bei. Mit einer Schnelligkeit, die weder das Resultat von Gewandtheit noch von Übung war, flog der unglückliche Herr in den Mittelpunkt des Haspels, im nämlichen Augenblick, als Herr Bob Sawyer einen Bogen von unvergleichlicher Schönheit beschrieb. Herr Winkle lief gegen ihn an, und mit lautem Krachen schlugen beide schwer hin. Herr Pickwick eilte zur Stelle. Bob Sawyer half sich wieder auf die Beine, aber Herr Winkle war viel zu klug, so etwas in Schlittschuhen zu tun. Er setzte sich, krampfhaft lächelnd, aufs Eis, aber die Angst stand in allen seinen Gesichtszügen.

»Haben Sie sich verletzt?« fragte Herr Benjamin Allen mit großer Besorgtheit.

»Nicht sehr«, sagte Herr Winkle, indem er seinen Rücken tüchtig rieb.

»Ich will Sie zur Ader lassen«, sagte Herr Benjamin mit großer Eilfertigkeit.

»Nein danke«, erwiderte entschlossen Herr Winkle.

»Aber es ist mein Ernst: es wäre besser, Sie ließen es geschehen«, sagte Allen.

»Danke Ihnen«, versetzte Herr Winkle, »ich meine nicht.«

»Was sagen Sie dazu, Herr Pickwick?« fragte Bob Sawyer.

Herr Pickwick war aufgebracht und unwillig. Er winkte Herrn Weller und sagte mit fester stimme:

»Nimm ihm seine Schlittschuhe ab.«

»Nein, ich habe ja eben erst recht angefangen«, entgegnete Herr Winkle.

»Nimm ihm seine Schlittschuhe ab«, wiederholte mit Bestimmtheit Herr Pickwick.

Der Befehl war nicht zu umgehen. Herr Winkle gestattete Sam stillschweigend Folge zu leisten.

»Hilf ihm auf«, sagte Herr Pickwick.

Und von Sam unterstützt stand er auf.

Herr Pickwick ging ein paar Schritte zurück, winkte seinen Freund, filierte ihn mit durchdringendem Blick, und sprach in leisem, aber vernehmlichem und kräftigem Ton die denkwürdigen Worte:

»Sie sind ein Aufschneider, Sir!«

»Was?« entgegnete Herr Winkle auffahrend.

»Ein Aufschneider, Sir. Ich will deutlicher sprechen, wenn Sie es wünschen. Ein Lügner, Sir.«

Mit diesen Worten drehte sich Herr Pickwick auf dem Absatz um und ging zu den andern Freunden.

Während Herr Pickwick sich so seinen Ärger herunterredete, hatten Herr Weller und der fette Junge durch vereinte Anstrengung eine Schleifbahn gemacht und übten sich darauf meisterhaft und glänzend. Sam Weller insbesondere gefiel sich besonders in jenen Schleifen, die man »Pochen an Schuhflickers Tür« nennt. Sie bestehen darin, daß man auf einem Fuß über das Eis hingleitet und ihm gelegentlich mit dem andern einen Doppelschlag gibt, wie ein Zweipenny-Briefträger. Es war eine gute, lange Schleifbahn, und die Bewegung hatte für Herrn Pickwick, der vom Stillstehen tüchtig durchgefroren war, etwas Beneidenswertes.

»Allem Anschein nach eine treffliche Übung, um sich warm zu machen – nicht wahr?« sagte er zu Herrn Wardle, der sich infolge seiner unermüdlichen Anstrengung, die Füße wie ein Paar Kompasse übereinander zu legen und komplizierte Figuren in das Eis zu zeichnen, ganz außer Atem gejagt hatte.

»Ja, das ist es«, erwiderte Wardle. »Schleifen Sie?«

»Ich pflegte wohl in Rinnsteinen zu schleifen, als ich noch ein Knabe war«, antwortete Herr Pickwick

»Versuchen Sie es mal«, sagte Wardle.

»O, machen Sie uns das Vergnügen, Herr Pickwick«, riefen sämtliche Damen.

»Ich würde mich sehr glücklich schätzen, zu Ihrer Erheiterung etwas beizutragen«, erwiderte Herr Pickwick; »aber ich habe es seit dreißig Jahren nicht mehr getan.«

»Ach was, Unsinn!« sagte Wardle, und legte seine Schlittschuhe mit dem Ungestüm weg, das alle seine Handlungen charakterisierte. »Hierher! ich werde Ihnen Gesellschaft leisten; kommen Sie mit.«

Und der aufgeräumte alte Knabe fuhr die Schleifbahn hinunter, mit einer Geschwindigkeit, die der des Herrn Weller sehr nahe kam und es jedenfalls dem fetten Jungen zuvortat.

Herr Pickwick besann sich eine Weile, zog seine Handschuhe aus, warf sie in seinen Hut, nahm zwei oder drei kurze Anläufe, hielt ebensooft wieder an, nahm zuletzt noch einen Anlauf und glitt mitten unter dem Beifallrufen aller Zuschauer langsam und gravitätisch die Bahn hinunter, die Füße ungefähr anderthalb Ellen auseinanderspreizend.

»Halten Sie den Topf im Kochen, Sir«, sagte Sam.

Dann nahm Wardle einen zweiten Anlauf, dann Herr Pickwick, dann Sam, dann Herr Winkle, dann Herr Bob Sawyer, dann der fette Junge, dann Herr Snodgraß, einer dem andern auf der Ferse folgend, und einer dem andern nachjagend, mit einem Eifer, als ob alle ihre künftigen Lebensaussichtcn von dieser Expedition abhingen.

Das Interessanteste dabei war, die Art zu beobachten, wie Herr Pickwick seine Rolle bei dieser Zeremonie spielte – die torturvolle Besorgnis zu bemerken, mit der er auf seinen Hintermann blickte, wenn er in Gefahr stand, überholt zu werden – zu sehen, wie die Kraft, wenn er begonnen, sich allgemach erschöpfte, und wie er sich langsam auf der Bahn umdrehte, mit dem Gesicht gegen den Punkt, von dem er abgestoßen – das heitere Lächeln zu betrachten, das sich über sein Antlitz verbreitete, wenn er am Ende der Bahn war – dann wieder die Geschwindigkeit, mit der er wieder einlenkte, seinem Vorgänger nachrannte, in seinen schwarzen Gamaschen behaglich durch den Schnee trippelte, und wie seine Augen von Frohsinn und Heiterkeit durch seine Brille strahlten. Wenn er umgeworfen wurde (was sich im Durchschnitt jedes dritte Mal zutrug), so war es der entzückendste Anblick, den man sich denken kann: ihm zuzusehen, wie er mit glühendem Gesicht Hut, Handschuhe und Taschentuch aufhob und seine Stelle in der Reihe mit feurigem Enthusiasmus wieder einnahm, den nichts dämpfen konnte.

Der Spaß war auf seinem Gipfel, das Schleifen rasch im Gange, das Gelächter wurde immer lauter, als man plötzlich ein starkes, heftiges Krachen hörte. Das war ein Rennen dem Ufer zu, ein wildes Schreien der Damen und ein Hilferufen Herrn Tupmans. Eine große Eismasse war geborsten, das Wasser wogte darüber her, und Herrn Pickwicks Hut, Handschuhe und Taschentuch schwammen auf der Oberfläche: das war alles, was man von Herrn Pickwick sehen konnte.

Schrecken und Angst malte sich auf jedem Gesicht, die Herren standen verblüfft und die Damen wurden ohnmächtig. Herr Snodgraß und Herr Winkle hielten einander bei der Hand und hefteten ihre starren Blicke auf die Stelle, wo ihr Führer untergegangen war: während Herr Tupman, um schleunige Hilfe zu schaffen und zugleich allen, die ihn holen konnten, die möglichst deutliche Vorstellung von dem Vorfall zu geben, eilig quer über das Feld rann und aus Leibeskräften »Feurio!« schrie.

Im nämlichen Moment, als der alte Wardle und Sam Weller sich dem Eisloche mit vorsichtigen Schritten näherten, und Herr Benjamin Allen eilig mit Herrn Bob Sawyer sich über die Zweckmäßigkeit beriet, der ganzen Gesellschaft zur Ader zu lassen, um sich ein wenig in ihrer Praxis zu üben – im nämlichen Moment tauchten ein Gesicht, Kopf und Schultern aus dem Wasser auf und zeigten Gesichtszüge und Brille des Herrn Pickwick.

»Halten Sie sich einen Augenblick – nur einen einzigen Augenblick«, kreischte Herr Snodgraß.

»Ja, tun Sie es: ich beschwöre Sie – um meinetwillen«, brüllte tief ergriffen Herr Winkle.

Die Beschwörung war freilich unnötig! denn wenn Herr Pickwick es auch abgelehnt hätte, sich um eines andern willen zu halten, so würde er es doch wahrscheinlich um seiner selbst willen getan haben.

»Fühlen Sie Boden, alter Freund?« sagte Wardle.

»Ja gewiß«, erwiderte Herr Pickwick, sich das Wasser von Kopf und Gesicht schüttelnd unö nach Luft schnappend. »Ich fiel auf den Rücken. Ich konnte anfangs nicht festen Fuß fassen.«

Der Schlamm auf Herrn Pickwicks Rock, soweit er sichtbar war, gab Zeugnis von der Richtigkeit seiner Behauptung; und da die Besorgnis der Zuschauer bei der plötzlichen Bemerkung des fetten Jungen, daß das Wasser nirgends über fünf Fuß tief sei, mehr und mehr verschwand, so wurden Kraftanstrengungen gemacht, ihn herauszuziehen. Unter vielen Kotspritzern und Krachen brachte man es endlich so weit, daß Herr Pickwick aus seiner unbehaglichen Stellung glücklich herausgezogen wurde und wieder auf trockenem Land stehen konnte.

»Ach, er wird den Tod haben von dieser Erkältung«, sagte Emilie.

»Lieber, alter Herr!« sagte Arabella. »Lassen Sie mich diesen Schal um Sie wickeln, Herr Pickwick.«

»Ja, das ist das beste, was Sie tun können«, sagte Wardle; »und wenn Sie ihn anhaben, so rennen Sie nach Hause, so schnell, wie Ihre Füße Sie tragen können, und gerade ins Bett hinein.«

Ein Dutzend Schals wurden im Augenblick dargeboten. Nachdem drei oder vier der dicksten ausgewählt worden, wurde Herr Pickwick eingewickelt; von Herrn Weller begleitet, machte er sich auf den Weg – ein sonderbarer Anblick, wie der alte Herr, triefend, ohne Hut, die Arme festgebunden, so bedenklich dahinhumpelte, als ob er sechs gute englische Meilen in der Stunde zu machen gehabt hätte.

Allein Herr Pickwick bekümmerte sich in einem so extremen Falle nicht um den Schein. Fortgezogen von Sam Weller eilte er was er nur konnte, bis Manor Farm erreicht war. Dort war Herr Tupman etwa fünf Minuten früher angekommen und hatte die alte Frau bis zum Herzklopfen erschreckt: denn in ihrer Taubheit hatte sie ihre fixe Lieblingsidee hervorgekramt, es brenne im Kamin – ein Unglück, das sie sich jedesmal in glühenden Farben vorstellte, wenn jemand in ihrer Nähe die geringste Unruhe zeigte.

Herr Pickwick eilte ins Bett zu kommen. Sam Weller machte ein helloderndes Feuer im Zimmer an und trug das Mittagessen auf. Nachher wurde eine Bowle Punsch gebracht und ein großes Trinkgelage zu Ehren seiner glücklichen Rettung veranstaltet. Der alte Wardle wollte nichts vom Aufstehen hören, und so führte Herr Pickwick im Bette den Vorsitz. Eine zweite und dritte Bowle wurde bestellt: und als Herr Pickwick am nächsten Morgen erwachte, war kein Symptom von Rheumatismus an ihm zu spüren, was beweist, wie Herr Bob Sawyer ganz richtig bemerkte, daß in solchen Fällen nichts über den Punsch geht, und daß, wenn je heißer Punsch als Vorbeugungsmittel nicht wirkte, der Grund einzig darin lag, daß der Patient nicht genug davon genommen hatte.

Am nächsten Morgen brach die heitere Gesellschaft auf. In jüngeren Jahren nimmt man’s damit nicht so schwer. Aber um so schmerzlicher sind Trennungen im spätern Leben. Der Tod, die Selbstsucht und Glückswechsel trennen jeden Tag manche glückliche Gruppe und zerstreuen sie weit und breit; und die Knaben und Mädchen kommen nie wieder zurück. Wir wollen damit nicht sagen, daß dies hier der Fall war, wir wollen dem Leser nur zu wissen tun, daß die verschiedenen Mitglieder der Gesellschaft sich in ihre betreffenden Wohnungen zerstreuten; daß Herr Pickwick und seine Freunde ihren Sitz oben in der Muggletonkutsche wieder einnahmen, und daß Arabella Allen unter dem Geleite und Schutze ihres Bruders Benjamin und seines Spezialfreundes, des Herrn Bob Sawyer, sich wieder an ihren Bestimmungsort begab, wo er auch liegen mochte – wir dürfen sagen, daß Herr Winkle ihn wußte; aber wir gestehen, wir wissen es nicht.

Ehe sie schieden, nahmen Herr Bob Sawyer und Herr Benjamin Allen mit einer geheimnisvollen Miene Herrn Pickwick beiseite. Herr Bob Sawyer legte seinen Zeigefinger zwischen zwei Rippen des Herrn Pickwick, wobei er, mit der ihm eigenen Spaßhaftigkeit seine Kenntnis der Anatomie des menschlichen Körpers entwickelnd, fragte –

»Alter Knabe, wo haben Sie Ihren Wohnsitz aufgeschlagen?«

Herr Pickwick erwiderte, daß er gegenwärtig sein Quartier im »Georg und Geier« habe.

»Ich wünschte, Sie kämen und besuchten mich«, sagte Bob Sawyer.

»Nichts würde mir größeres Vergnügen machen«, erwiderte Herr Pickwick.

»Meine Wohnung ist«, sagte Herr Bob Sawyer, eine Karte hervorziehend, »Landstraße, Borough, nahe bei Guys, und deshalb bequem für mich. Wenn Sie an der St. Georgenkirche vorbei sind, dreht sich der Weg ein klein wenig rechter Hand von der Landstraße ab.«

»Ich werde es finden«, sagte Herr Pickwick.

»Kommen Sie von Donnerstag über vierzehn Tage, und bringen Sie die andern Herrschaften mit«, sagte Herr Bob Sawyer; »ich werde selbigen Abend eine kleine medizinische Gesellschaft haben.«

Herr Pickwick erklärte, es würde ihm eine Freude sein, der medizinischen Gesellschaft beizuwohnen. Herr Bob Sawyer versicherte ihm, es würde lustig zugehen und sein Freund Ben sei auch dabei. Man schüttelte sich die Hände und verabschiedete sich.

Hier wird man nun wohl die Frage an uns stellen, ob Herr Winkle während dieser kurzen Unterhaltung mit Arabella Allen flüsterte, und wenn, was er sagte: und ferner, ob Herr Snodgraß im besonderen mit Emilie Wardle korwersierte, und wenn, was er sagte. Darauf bemerken wir, was immer sie zu den Damen gesagt haben mögen, zu Herrn Pickwick oder Herrn Tupman sagten sie achtundzwanzig Meilen weit gar nichts, seufzten sehr oft, verschmähten Ale und Branntwein und sahen nachdenklich darein. Wenn unsere nachdenkenden Leserinnen eine ersprießliche Nutzanwendung aus diesen Tatsachen machen können, so bitten wir sie, es nur immerhin zu tun.

 

Drittes Kapitel


Drittes Kapitel

Eine neue Bekanntschaft. Die Erzählung des wandernden Schauspielers. Eine unangenehme Störung und ein unerfreuliches Zusammentreffen.

Herr Pickwick war in Sorgen wegen des ungewöhnlich langen Ausbleibens seiner zwei Freunde, und ihr geheimnisvolles Benehmen während des ganzen Morgens trug keineswegs dazu bei, sie zu vermindern. Um so größer war seine Freude, als er sie wieder ins Zimmer treten sah; und nun ging es an ein Fragen, was ihn so lang ihrer Gesellschaft beraubt hätte. Herr Snodgraß schickte sich eben zur Beantwortung dieser Fragen an, eine getreue, umständliche Erzählung der Ereignisse des Tages zu beginnen, als er plötzlich innehielt, denn er bemerkte, daß außer Herrn Tupman auch noch ihr Reisegefährte von gestern und ein zweiter Fremder von gleich wunderlichem Äußeren zugegen waren. Der letztere war ein Mann, dessen fahles Gesicht und eingesunkene Augen die Spuren von Kummer trugen, während das straffe schwarze Haar, das ihm wirr über die Stirn herunterhing, die von Natur schon genug ausgeprägten Züge nur noch auffallender machte. Seine stechenden Augen hatten einen fast unnatürlichen Glanz, seine Backenknochen traten stark hervor und sein Unterkiefer war so lang und hager, daß man hätte glauben können, seine Züge wären durch Muskelanstrengung für einen Augenblick zusammengepreßt, wenn nicht der halbgeöffnete Mund und der unbewegliche Ausdruck angezeigt hätten, daß dies das natürliche Aussehen des Mannes sei. Um seinen Hals war eine dichte grüne Binde geschlungen, deren breite Enden über die Brust herunterhingen und sogar noch durch die Knopflöcher seiner alten Weste hervorsahen. Außerdem trug er noch einen langen schwarzen Überrock, weite braune Beinkleider und große, ziemlich schadhafte Stiefeln.

Herrn Winkles Blick fiel zuerst auf diese nicht sehr einladende Erscheinung, als Herr Pickwick mit ausgestreckter Hand auf ihn zuging und ihm den Fremden mit der Meldung: »Ein Freund unseres Freundes hier«, vorstellte.

»Wir haben diesen Morgen in Erfahrung gebracht,« fuhr er fort, »daß unser Freund mit dem hiesigen Theater in Verbindung steht, obgleich er nicht wünscht, daß es allgemein bekannt werde, und gegenwärtiger Herr ist gleichfalls ein Schauspieler. Er war eben im Begriff, uns mit einer kleinen Theateranekdote zu erfreuen, als Sie eintraten.«

»Ein wahres Anekdotenbuch«, sagte der Grünrock von gestern in leisem, vertraulichem Tone, indem er auf Herrn Winkle zuging. »Possierlicher Bursche – bloß ein Spieler stummer Rollen – kein eigentlicher Schauspieler – wunderlicher Mensch – Unglück aller Art; wir kennen ihn nur unter dem Namen: trübsinniger Jemmy.«

Herr Winkle und Herr Snodgraß begrüßten den Herrn, der ihnen als der trübsinnige Jemmy bezeichnet war, höflich, riefen nach Branntwein und Wasser, um es der übrigen Gesellschaft gleich zu tun, und setzten sich an den Tisch.

»Nun, Sir,« begann Herr Pickwick, »wollen Sie uns das Vergnügen machen, in dem, was Sie uns zu erzählen beabsichtigten, fortzufahren?«

Der Trübsinnige nahm eine schmutzige Papierrolle au« seiner Tasche und wandte sich mit einer Grabesstimme, die zu seiner äußeren Erscheinung ganz und gar paßte, an Herrn Snodgraß, der eben sein Notizenbuch zur Hand genommen hatte.

»Sind Sie der Dichter?«

»Ich – ich versuchte mich bisweilen in poetischen Leistungen«, versetzte Herr Snodgraß etwas verblüfft über diese plötzliche Frage.

»Ach, Poesie ist für das Leben, was die Lichter und Musik für die Bühne. Nimmt man dem einen seinen falschen Glanz und der andern ihre Illusionen – bleibt dann in der Wirklichkeit noch etwas, für das man sich abmühen möchte?«

»Sehr wahr, Sir«, versetzte Snodgraß.

»Vor den Lampen des Proszeniums sitzen,« fuhr der Trübsinnige fort, »heißt soviel, als ein großartiges Hofgepränge schauen und die seidenen Gewänder der prachtliebenden Menge bewundern – hinter ihnen sein ist gleichbedeutend mit dem Verfertigen all dieses Prunks, wobei man unbeachtet bleibt und wo niemand sich darum kümmert, ob die armen Unglücklichen schwimmen oder sinken, leben oder Hungers sterben, wie es gerade das Schicksal fügt.«

»Sie haben da wohl recht«, entgegnete Herr Snodgraß, denn das eingesunkene Auge des Trübsinnigen ruhte auf ihm, und er fühlte die Notwendigkeit, etwas zu sagen.

»Weiter, Jemmy,« sagte der spanische Reisende, »nicht alles ins Tragische – kein Lamentieren – frisch – munter!«

»Wollen Sie sich nicht ein Glas einschenken, ehe Sie anfangen, Sir?« fragte Herr Pickwick.

Der Trübsinnige faßte diesen Wink auf, mischte sich ein Glas Grog, schluckte langsam die Hälfte herunter, öffnete dann seine Papierrolle und begann die folgende Geschichte, die sich in den Klubakten mit der Aufschrift ›Erzählung des wandernden Schauspielers‹ findet, halb lesend, halb aus dem Gedächtnis vorzutragen.

Viertes Kapitel


Viertes Kapitel

Die Erzählung des wandernden Schauspielers.

»Es ist nichts Außerordentliches – ja, nicht einmal etwas Ungewöhnliches an dem, was ich jetzt erzählen will«, begann der Trübsinnige. »Mangel und Krankheit sind in manchen Lebenslagen etwas zu Alltägliches, um mehr Aufmerksamkeit zu verdienen, als ihnen bei den gewöhnlichsten Wechselfällen des menschlichen Lebens gezollt wird. Ich habe die folgenden kurzen Notizen gesammelt, weil ich den Mann, von dem ich rede, vor einigen Jahren sehr gut kannte. Ich war Augenzeuge, wie er immer tiefer und tiefer sank, bis er zuletzt jenes Übermaß von Elend erreichte, aus dem er sich nicht wieder erhob.

Der Mann, von dem ich erzähle, war ein Schauspieler, der in den niedrig-komischen Rollen auftrat, und hatte sich, wie so viele seines Berufes, dem Trunke ergeben. In seinen besseren Tagen, als er noch nicht durch Ausschweifungen geschwächt und durch Krankheit heruntergekommen war, hatte er gute Einnahme, die ihm bei einem geordneten Lebenswandel mehrere – freilich nicht viele – Jahre lang geblieben wäre: denn solche Leute sterben entweder frühzeitig oder verlieren durch übermäßige Anstrengung die körperlichen Fähigkeiten bald, von denen allein ihre Existenz abhängt. Seine Leidenschaft beherrschte ihn in dem Grade, daß man ihn in kurzer Zeit für die Rollen, in denen er etwas leisten konnte, unbrauchbar fand. Das Wirtshaus hatte einen Zauber für ihn, dem er nicht widerstehen konnte. Krankheit ohne Pflege und Armut ohne Hoffnung mußten ebenso gewiß sein Los werden, wie der Tod, wenn er bei seinem Laster beharrte; dennoch ließ er nicht davon; und die Folgen lassen sich denken. Er konnte keine Anstellung mehr finden Und war brotlos.

Jeder, der nur einigermaßen mit dem Schauspielerstand bekannt ist, weiß, welche Menge armer Schlucker sich gewöhnlich im Gefolge einer größeren Bühne befindet – keine ordentlich angenommenen Schauspieler, sondern Tänzer, Statisten, Gaukler und so weiter, die für eine bestimmte Pantomime oder Lokalposse, die gerade im Schwunge ist, angenommen und dann wieder entlassen werden, bis wieder irgendein besonderes Stück gegeben wird, bei dem man ihrer Dienste aufs neue bedarf. Dazu mußte unser Schauspieler seine Zuflucht nehmen. Er stellte jeden abend auf irgendeinem kleinen Theater die Stühle auf, und erwarb sich dadurch einige Schillinge wöchentlich, die er seiner alten Leidenschaft opferte. Aber auch diese Erwerbsquelle versiegte bald. Seine Ausschweifungen verschlangen zu viel von seinem Erwerbe, um auch nur für die geringsten Bedürfnisse etwas übrig zu lassen, und er war nahe daran, zu verhungern. Er borgte bisweilen einem alten Bekannten eine Kleinigkeit ab, oder trat auf irgendeinem Winkeltheater der gemeinsten Art auf; aber was er erhielt, wanderte treulich den gleichen Weg.

So hatte er sich länger als ein Jahr umhergetrieben, ohne daß man wußte wie, als ich ihn auf einem der Theater an der Surreyseite Surrey ist eine englische Grafschaft mit der Hauptstadt Guildford. des Flusses, wo ich gerade ein kurzes Engagement hatte, plötzlich wieder zu Gesicht bekam. Er war mir auf einige Zeit aus den Augen gekommen, denn ich hatte das Land durchreist, während er sich in den Winkeln Londons umhertrieb. Da klopfte er mir eines Abends auf die Schulter, als ich eben im Begriffe war, das Schauspielhaus zu verlassen. Nie werde ich den erschreckenden Anblick vergessen, der sich meinen Augen darbot, als ich mich umwandte. Er war in die Tracht seines Handwerks gekleidet, und stand in der ganzen Abgeschmacktheit eines Hanswurstanzuges vor mir. Die Gespenster im Totentanze, die fürchterlichsten Gestalten, die je der Pinsel des geschicktesten Malers auf die Leinwand zauberte, waren nicht halb so entsetzlich anzusehen. Sein aufgedunsener Leib und seine hageren Beine, deren Mißgestalt durch die Narrenkleidung erst recht hervorgehoben wurde – die gläsernen Augen, die gegen das hochaufgetragene Weiß, womit sein Gesicht beschmiert war, fürchterlich abstachen; der grotesk aufgeputzte, krampfhaft zitternde Kopf und die langen, mit Kreide bemalten, fleischlosen Hände – alles gab ihm ein gräßliches, unnatürliches Aussehen, von dem man sich kaum eine Vorstellung machen kann, und an das ich mich bis auf diesen Tag nur mit Schaudern erinnere. Seine Stimme war hohl und zitternd, als er mich beiseite nahm und mir in gebrochenen Worten ein Langes und Breites von Krankheit und Entbehrungen vorschwatzte, wobei er, wie gewöhnlich, mit der dringenden Bitte schloß, ihm eine Kleinigkeit vorzustrecken. Ich drückte ihm ein paar Schillinge in die Hand, und als ich mich umdrehte, hörte ich das schallende Gelächter, das durch sein Auftreten auf den Brettern hervorgerufen wurde.

Einige Tage darauf legte mir eines Abends ein Knabe einen schmutzigen Papierfetzen in die Hand, worauf mit Bleistift einige Worte gekritzelt waren, aus denen hervorging, daß der Mann gefährlich krank sei und mich ersuche, ihm nach der Vorstellung da und da – ich habe den Namen der Straße vergessen – nicht weit vom Schauspielhause, zu besuchen. Ich versprach zu kommen, sobald ich könnte, und kaum war der Vorhang gefallen, da trat ich meinen traurigen Weg an.

Es war spät, denn ich hatte im letzten Stück gespielt, und da es ein Benefiz gewesen, so hatte die Vorstellung ungewöhnlich lange gedauert. Es war eine finstere, traurige Nacht: ein naßkalter Wind trieb den Regen heftig gegen Fenster und Haustüren. Das Wasser hatte sich in den schmalen, wenig besuchten Gäßchen zu Sümpfen angesammelt, und da die Heftigkeit des Windes, die wenigen Lampen, die hin und wieder angebracht waren, ausgelöscht hatte, so war der Weg nicht nur sehr mühsam, sondern auch höchst unsicher. Doch hatte ich glücklicherweise den rechten Weg eingeschlagen und fand endlich nicht ohne Schwierigkeit das bezeichnete Haus – einen Kohlenschuppen mit einem Stockwerk darüber, in dessen Hinterzimmer der Mann lag, dem mein Besuch galt.

Ein kläglich aussehendes Weib, die Frau des Unglücklichen, empfing mich auf der Treppe, führte mich mit den Worten, er sei eben in eine Art Schlummer gefallen, leise ins Krankenzimmer und stellte mir einen Stuhl vor das Bett. Der Kranke hatte das Gesicht gegen die Wand gekehrt, und da er meinen Eintritt nicht gewahr wurde, so blieb mir Muße, das Zimmer zu betrachten, in dem ich mich befand.

Er lag in einem alten Bettgestelle, das den Tag über zurückgeschlagen werden konnte. Die zerlumpten Überreste eines buntscheckigen Vorhanges umschlossen den oberen Teil des Bettes, um den Wind abzuhalten, der das unbehagliche Gemach frei durchstrich, indem er durch die zahlreichen Spalten der Tür eindrang und die Lappen fortwährend hin und her bewegte. In einem rostigen, freistehenden Becken glimmte ein mattes Kohlenfeuer, und vor demselben stand ein alter, dreieckiger, schmutziger Tisch mit Arzneifläschchen, einem zerbrochenen Glas und einigen andern Gerätschaften. In einem Bette auf dem Boden schlief ein kleines Kind, und neben ihm auf dem Stuhle saß die Frau. Auf zwei Regalen an der Wand standen einige Schüsseln, Teller und Tassen, und unter ihnen hingen ein Paar Bühnenschuhe und zwei Rapiere. Außer einigen Bündeln alter Lumpen, die unordentlich in den Winkeln lagen, war sonst nichts im Zimmer zu erblicken.

Ich hatte Zeit gehabt, diese Einrichtung zu mustern und die schweren Atemzüge und fieberischen Zuckungen des Kranken zu beobachten, ehe er meiner gewahr wurde. Bei den unaufhörlichen Versuchen, seinen Kopf in eine gute Lage zu bringen, streckte er seine Hand aus dem Bett und bekam die meinige zu fassen. Er schrak empor und starrte mir ins Gesicht.

»Herr Hutley, John«, sagte sein Weib: »Herr Hutley, nach dem du diesen Abend geschickt hast, wie du weißt.«

»Ach!« rief der Kranke, mit seiner Hand über die Stirne fahrend: »Hutley – Hutley – laß mich sehen.« Er schien seine Gedanken auf einige Sekunden sammeln zu wollen, dann faßte er mich heftig beim Handgelenke und sagte: »Verlaß mich nicht – verlaß mich nicht, alter Freund. Sie will mich ermorden, ich weiß, sie will mich umbringen.«

»Ist er schon lange so?« fragte ich mit einem Blicke auf sein weinendes Weib.

»Seit gestern abend«, antwortete sie. »John, John, kennst du mich nicht?«

»Laß sie nicht her«, sagte der Mann mit einem Schauder, als sie sich über ihn hinbeugte. »Jage sie fort: ich kann sie nicht neben mir ertragen.« Er starrte sie wild und mit einem Blicke tödlicher Angst an, und flüsterte mir dann ins Ohr: »Ich schlug sie – ja, ich schlug sie gestern und schon manches Mal. Ich gab sie dem Hungertode preis und das Kind auch; und nun ich schwach und hilflos bin, will sie mich dafür ermorden: ich weiß es. Hättest du ihr Jammergeschrei gehört, wie ich, du wüßtest es auch. Halte sie fern.« Er ließ meine Hand los und sank erschöpft aufs Kissen.

Ich wußte nur zu wohl, was all das zu bedeuten hatte. Hätte ich einen Augenblick im Zweifel sein können, so würde mich ein Blick in das blasse Gesicht und auf die abgezehrte Gestalt des Weibes hinlänglich von der Sachlage unterrichtet haben. »Gehen Sie lieber beiseite«, sagte ich zu dem armen Geschöpf. »Sie können doch nichts für ihn tun. Vielleicht wird er ruhiger werden, wenn er Sie nicht mehr sieht.« Sie ging ihrem Manne aus dem Gesicht. Er öffnete nach wenigen Sekunden seine Augen und sah sich ängstlich um.

›Ist sie fort?‹ fragte er hastig.

›Ja, ja‹, antwortete ich: ›sie wird dir nichts zu Leide tun.‹

›Ich will dir was sagen, Jem,‹ versetzte der Kranke mit leiser Stimme, ›sie tut mir etwas zu Leide. Es liegt in ihren Augen etwas, was eine so fürchterliche Angst in mir hervorbringt und was mich wahnsinnig macht. Die ganze Nacht über waren ihre großen, starren Blicke und ihr bleiches Gesicht dicht vor mir: wohin ich mich wandte, wandten auch sie sich, und sooft ich aus dem Schlafe auffuhr, stand sie neben meinem Bette und stierte mich an.‹ Er zog mich näher zu sich, als er in einem tiefen, zitternden Tone flüsterte –* ›Jem, sie muß ein böser Geist sein – ein Teufel! Hu! ich weiß es, sie ist’s. Wäre sie ein Weib, so müßte sie schon lange tot sein. Ein Weib kann nicht ertragen, was sie ertragen hat.‹

Ich schauderte bei dem Gedanken an die lange Reihe von Grausamkeiten und Mißhandlungen, die vorangegangen sein mußten, um bei einem solchen Menschen einen solchen Eindruck hervorzubringen. Ich wußte nichts zu erwidern: denn wer konnte dem Verworfenen, den ich vor mir hatte, Hoffnung oder Trost geben?

Ich saß über zwei Stunden bei ihm, während er, vor Schmerzen und Ungeduld ächzend, unaufhörlich seine Arme hin und her warf, und sich immer wieder von einer Seite auf die andere umwandte. Endlich verfiel er in eine Art von bewußtlosem Halbschlummer, in dein der Geist unruhig von Bild zu Bild, von Ort zu Ort wandert, ohne die leitende Hand der Vernunft und ohne die Fähigkeit, sich von einem unbeschreiblichen Gefühle vorhandenen Leidens loszumachen. Da ich aus seinen Delirien entnahm, daß dies bei ihm der Fall, und alle Wahrscheinlichkeit vorhanden war, das Fieber werde sich vorderhand nicht mehr steigern, so entfernte ich mich, indem ich dem bedauernswürdigen Weibe versprach, am nächsten Abende meinen Besuch zu wiederholen und nötigenfalls die Nacht über bei dem Kranken zu wachen.

Ich hielt mein Versprechen. Die letzten vierundzwanzig Stunden hatten aber eine furchtbare Veränderung hervorgebracht. Die Augen, obgleich tief eingefallen und schwer, leuchteten von einem entsetzlichen Glänze. Die Lippen waren vertrocknet und an manchen Stellen aufgesprungen; die trockene harte Haut fühlte sich glühend heiß an, und in dem Gesichte des Kranken lag ein beinahe gespenstischer Ausdruck wilder Angst, der die Verheerungen der Krankheit noch stärker hervorhob. Das Fieber hatte seinen höchsten Grad erreicht.

Ich setzte mich wie gestern abend an sein Bett, und hier vernahm ich stundenlang Töne, die das fühlloseste Herz hätten tief ergreifen müssen – die furchtbaren Phantasien eines Sterbenden. Wie ich vom Arzte vernommen, war keine Hoffnung mehr vorhanden. Ich saß an seinem Sterbebette. Ich sah die abgezehrten Glieder, die noch kurz zuvor zur Belustigung eines rohen Haufens verrenkt worden waren, sich unter den Martern der Fieberglut krümmen – ich hörte das schrille Gelächter des Harlekins, gemischt mit dem leisen Röcheln des Sterbenden.

Es ist ergreifend, den Geist zu den gewöhnlichen Beschäftigungen in den Tagen der Gesundheit zurückkehren zu sehen, während der Körper schwach und hilflos daliegt: aber wenn diese Beschäftigungen von der Art sind, daß sie Zuständen, die eine ernste und feierliche Stimmung in uns hervorrufen, geradezu entgegengesetzt sind, so geht dieser Eindruck noch unendlich tiefer.

Die Bühne und die Schenke waren die Hauptschauplätze, auf denen sich die Phantasie des irren Elenden erging. Es war Abend, bildete er sich ein. Er mußte auftreten: es war spät, und er durfte keinen Augenblick mehr säumen. Warum hielten sie ihn zurück und ließen ihn nicht gehen? – Seine Einnahme stand auf dem Spiel – er mußte gehen. Nein! sie wollten ihn nicht fortlassen. Er barg sein Gesicht in seine glühenden Hände und beklagte seine Schwäche und die Grausamkeit seiner Feinde. Eine kurze Pause, und er keuchte einige elende Reimereien hervor, die letzten, die er auswendig gelernt hatte. Er richtete sich im Bette auf, streckte seine welken Arme in die Höhe, und wand sich in seltsamen Krümmungen hin und her: er spielte – er war auf der Bühne. Ein minutenlanges Stillschweigen, und er murmelte den Schlußreim eines Trinkliedes. Endlich hatte er die Schenke wieder erreicht: wie heiß war es in dem Zimmer. Er war krank gewesen, sehr krank, aber jetzt fühlte er sich wieder wohl und glücklich. Füllet sein Glas auf! Wer schlug es ihm vom Munde weg? Es war derselbe Feind, der ihn vorhin verfolgt hatte. Er fiel auf sein Kissen zurück und jammerte laut. Eine kurze Pause der Vergessenheit, und er wanderte durch ein ermüdendes Labyrinth niedriger, gewölbter Zimmer – so niedrig bisweilen, daß er auf allen Vieren fortkriechen mußte; es war eng und dunkel, und mit jeder Wendung des Weges stieß ihm ein neues Hindernis auf. Er sah Insekten, häßliches Gewürm, die ihn anstierten und den ganzen Raum anfüllten – fürchterlich schimmernd durch die dichte Finsternis. Wände und Decke wimmelten von Ungeziefer – das Gewölbe dehnte sich ins Ungeheure – fürchterliche Gestalten schwebten auf und nieder, und unter ihnen bekannte Gesichter, gräßlich verzerrt: sie brannten ihn mit glühenden Eisen und umschnürten seinen Kopf mit Stricken, bis das Blut heraus spritzte. Er kämpfte fürchterlich um sein Leben.

Nach einem solchen Anfalle, während dem ich ihn mit großer Mühe im Bett festhielt, sank er in eine Art von Schlummer. Vom langen Wachen und von der Anstrengung überwältigt, waren mir für einige Minuten die Augen zugefallen, als ich von einem heftigen Schlag auf meine Schulter erwachte. Er hatte sich aufgerichtet und saß im Bett. – Eine fürchterliche Veränderung war auf seinem Gesicht vorgegangen, aber das Bewußtsein war zurückgekehrt, denn er kannte mich augenscheinlich. Das Kind, das durch seine irren Reden lange Zeit eingeschüchtert gewesen, stand von seinem Bettchen auf und lief weinend zu seinem Vater. Die Mutter nahm es eilends auf den Arm, damit er ihm in der Raserei kein Leid zufüge: aber durch die Veränderung seiner Züge erschreckt, blieb sie regungslos stehen. Er krallte sich krampfhaft in meine Schulter ein und machte einen verzweifelten Versuch zu sprechen, während er sich mit der andern Hand vor die Brust schlug. Es war vergeblich. Er streckte die Hände nach den Seinigen aus und machte einen zweiten gewaltsamen Versuch. Noch ein Röcheln in der Kehle – ein Blitzen im Auge – ein kurzer unterdrückter Seufzer – und der Unglückliche sank aufs Kissen zurück. Er war – tot!«

 

Es würde uns das größte Vergnügen machen, Herrn Pickwicks Ansicht über die vorhergehende Erzählung mitzuteilen, und wir wären zweifelsohne in der Lage, es tun zu können, hätte nicht ein ganz unglücklicher Zufall sein Veto dareingesprochen.

Herr Pickwick hatte das Glas niedergesetzt, das er während des letzten Abschnitts der Erzählung in der Hand gehalten, und war eben im Begriffe, zu sprechen – wirklich hatte er, um uns auf Herrn Snodgraß‘ Gedenkbuch zu berufen, bereits den Mund geöffnet – als der Kellner eintrat und »Einige Herren« anmeldete.

Es läßt sich denken, daß Herr Pickwick gerade auf dem Punkte stand, etwelche Bemerkungen, die – wenn auch nicht die Themse – doch die Welt erleuchtet haben würden, zum Besten zu geben, als er auf diese Art unterbrochen wurde; denn er starrte dem Kellner ins Gesicht und ließ dann seine Augen die Runde in der Gesellschaft machen, als wünsche er nähere Aufklärung über die Gemeldeten.

»O!« sagte Herr Winkle aufstehend, »einige Freunde von mir – führen Sie dieselben herein. Sehr angenehme Herrschaften,« fügte Herr Winkle hinzu, nachdem sich der Kellner entfernt hatte – »Offiziere vom siebenundneunzigsten Regiment, deren Bekanntschaft ich heute morgen auf eine etwas seltsame Weise gemacht habe. Sie werden mit ihnen zufrieden sein.«

Herrn Pickwicks Gleichmut war rasch wieder hergestellt. Der Kellner kehrte zurück und führte drei Herren ins Zimmer.

»Leutnant Tappleton«, sagte Herr Winkle! »Leutnant Tappleton, Herr Pickwick – Doktor Payne, Herr Pickwick – Herr Snodgraß, den Sie bereits gesehen haben: mein Freund, Herr Tupman, Doktor Payne – Doktor Slammer, Herr Pickwick – Herr Tupman, Doktor Slam–«

Hier verstummte Herr Winkle plötzlich; denn auf dem Gesichte Herrn Tupmans und des Doktors war eine seltsame Erregung sichtbar.

»Ich habe diesen Herrn schon einmal getroffen«, sagte der Doktor mit starker Betonung.

»Wirklich?« versetzte Herr Winkle.

»Und – und, diese Person auch, wenn ich mich nicht irre«, sagte der Doktor, einen prüfenden Blick auf den grüngekleideten Fremden werfend. »Ich glaube, ich ließ an diese Person gestern abend eine dringende Einladung ergehen, die sie ablehnen zu müssen vermeinte.«

Bei diesen Worten warf der Doktor einen stolzen, verächtlichen Blick auf den Fremden und flüsterte seinem Freund Leutnant Tappleton etwas in die Ohren.

»Wie – ist es Ihr Ernst?« sagte dieser, als er das Geflüster vernommen hatte.

»Mein vollkommener Ernst«, versetzte Doktor Slammer.

»Sie müssen ihm auf der Stelle einen Fußtritt geben«, murmelte der Eigentümer des Feldstuhles mit großer Wichtigkeit.

»Seien Sie ruhig, Payne«, vermittelte der Leutnant. »Erlauben Sie mir gütigst die Frage, mein Herr«, sagte er, sich an Herrn Pickwick wendend, der sich durch dieses höchst unhöfliche Zwischenspiel sehr beleidigt fühlte – »wollen Sie mir gütigst die Frage erlauben, mein Herr, ob diese Person zu Ihrer Gesellschaft gehört?«

»Nein, mein Herr«, erwiderte Herr Pickwick. »Er ist unser Gast.«

»Er ist einm Mitglied Ihres Klubs – oder irre ich mich?« fragte der Leutnant.

»Nein, gewiß nicht«, antwortete Herr Pickwick,

»Und trägt er nie Ihre Klubknöpfe?« fragte der Leutnant weiter.

»Nein – nie!« versetzte der erstaunte Herr Pickwick.

Leutnant Tappleton wandte sich an Doktor Slammer mit einem kaum bemerkbaren Achselzucken, als wollte er damit andeuten, daß ihm seines Freundes Gedächtnis zweifelhaft vorkäme. Der Doktor sah zornig, aber verwirrt aus, und Herr Payne starrte wild in das strahlende Gesicht des staunenden Pickwick.

»Mein Herr«, begann der Doktor, sich plötzlich an Herrn Tupman wendend, in einem Tone, der diesen Gentleman ebensosehr erschreckte, als hätte ihn plötzlich eine Natter in die Ferse gestochen – »Sie waren gestern abend auf dem Ball?«

Herr Tupman antwortete mit einem schwachen »Ja«; fortwährend auf Herrn Pickwick blickend.

»Diese Person war Ihr Begleiter?« fragte der Doktor weiter, auf den Fremden deutend, der keine Miene verzog.

Herr Tupman gab es zu.

»Nun, mein Herr,« sagte der Doktor zu dem Fremden, »ich frage Sie noch einmal in Gegenwart dieser Herren, ob Sie mir Ihre Karte geben und als Mann von Ehre behandelt sein, oder ob Sie mich in die Notwendigkeit versetzen wollen. Sie auf der Stelle persönlich zu züchtigen?«

»Halten Sie inne, mein Herr«, sagte Herr Pickwick; »ich kann wirklich nicht dulden, daß die Sache weiter getrieben wird, ehe Sie mir irgendeine Auskunft geben. Tupman, erzählen Sie den Vorfall!«

Also feierlich aufgefordert, berichtete Herr Tupman die Sache mit wenigen Worten. Das Entlehnen des Rockes berührte er nur leicht: einen großen Nachdruck legte er darauf, daß es »nach dem Mittagessen« stattgefunden hätte, deutete flüchtig auf eine kleine Reue über sein eigenes Betragen hin und überließ es dem Fremden, sich zu rechtfertigen, so gut er konnte.

Dieser war eben im Begriffe, es zu tun, als ihn der Leutnant Tappleton, der ihn bisher mit Aufmerksamkeit betrachtet hatte, mit großer Geringschätzung fragte:

»Habe ich Sie nicht auf dem Theater gesehen, mein Herr?«

»O ja«, erwiderte der Fremde unbefangen.

»Er ist ein wandernder Schauspieler«, sagte der Leutnant verächtlich, indem er sich an Doktor Slammer wandte. »Er tritt in dem Stücke auf, das morgen die Offiziere des zweiundfünfzigsten Regiments in Rochester aufführen lassen. Sie können in der Sache nicht weiter gehen, Slammer – unmöglich!«

»Nein, unmöglich!« sagte Payne pathetisch.

»Ich bedaure, Sie in diese Unannehmlichkeit versetzt zu haben« sagte Leutnant Tappleton, sich an Herrn Pickwick wendend. »Erlauben Sie mir übrigens, Ihnen zu bemerken, daß der sicherste Weg, in Zukunft dergleichen Auftritte zu vermeiden, größere Vorsicht in der Wahl Ihrer Gesellschaft sein wird. Guten Abend, mein Herr!« – und rasch verließ der Leutnant das Zimmer.

»Und mir erlauben Sie, Ihnen zu bemerken, mein Herr,« versetzte der reizbare Doktor Payne, »daß ich, wenn ich Tappleton oder Slammer gewesen wäre, Sie und die sämtlichen Mitglieder dieser Gesellschaft geohrfeigt hätte. Ja, das hätte ich. Mein Name ist Payne, mein Herr – Doktor Payne vom dreiundvierzigsten Regiment. Guten Abend, mein Herr.«

Die vier letzten Worte sprach er in einem lauten, nachdrücklichen Tone und schritt sodann mit stolzer Würde aus dem Zimmer. Ihm folgte Doktor Slammer schweigend, und nur einen Blick voll Verachtung auf die Gesellschaft werfend.

Zorn und Wut hatte während der eben erwähnten Herausforderung Herrn Pickwicks edle Brust beinahe bis zum Zerspringen seiner Weste geschwellt. Er stand regungslos, mit stieren Blicken da, und erst das Knarren der Tür brachte ihn wieder zu sich selbst. Mit wutentbrannten Blicken und funkelnden Augen sprang er auf. Seine Hand hatte die Türklinke gefaßt, und im nächsten Augenblicke würde er den Doktor Payne vom dreiundvierzigsten Regiment an der Kehle gepackt haben, hätte nicht Herr Snodgraß seinen verehrten Lehrer am Rockschoße ergriffen und zurückgezogen.

»Haltet ihn«, rief Herr Snodgraß. »Winkle, Tupman – er darf sein kostbares Leben nicht um einer solchen Angelegenheit willen aufs Spiel setzen.«

»Lassen Sie mich los«, sagte Herr Pickwick.

»Haltet ihn fest«, schrie Herr Snodgraß; und durch die vereinten Kräfte der ganzen Gesellschaft ward Herr Pickwick in einen Armstuhl gedrängt.

»Ihn ruhig lassen«, sagte der grüngekleidete Fremde – »Branntwein und Wasser – feuriger alter Herr – einen Schluck – einmal kosten – ah! – Kapitalstoff!«

Nachdem der Fremde den Inhalt eines vollen, von dem Trübsinnigen gemischten Glases gekostet, führte er es an Pickwicks Lippen, und im nächsten Augenblicke war der Rest vollends verschwunden.

Es trat eine kurze Pause ein; das Getränk hatte indessen seine Wirkung getan, und das freundliche Gesicht Herrn Pickwicks nahm schnell den gewohnten Ausdruck wieder an.

»Diese Menschen verdienen nicht, daß Sie Notiz von ihnen nehmen, Sir«, sagte der Trübsinnige.

»Sie haben recht, Sir,« versetzte Herr Pickwick, »sie verdienen es nicht. Ich schäme mich, daß ich mich soweit vergessen konnte. Ziehen Sie Ihren Stuhl zu mir an den Tisch, Sir.«

Der Trübsinnige tat es: der Kreis versammelte sich wieder um den Tisch, und die frühere Eintracht fand sich wieder ein. In Herrn Winkles Brust schien indes noch ein heimlicher Unmut zurückzubleiben, der vielleicht von der zeitweisen Entwendung seines Rocks veranlaßt wurde – doch ist es kaum denkbar, daß ein so geringfügiger Umstand auch nur ein vorübergehendes Gefühl des Mißbehagens in der Seele eines Pickwickiers hervorgerufen haben sollte. Davon abgesehen, war übrigens die Heiterkeit wieder völlig hergestellt, und der Abend endete auf dieselbe trauliche Weise, wie er begonnen hatte.

Fünftes Kapitel.


Fünftes Kapitel.

Die Musterung. – Neue Freunde. – Eine Einladung aufs Land.

Viele Schriftsteller haben eine ebenso törichte, wie unredliche Abneigung gegen die Angabe der Quellen, aus denen sie manche schätzbaren Nachrichten schöpfen. Wir kennen dieses Gefühl nicht. Unser einziges Bestreben geht dahin, unsern Pflichten als Herausgeber auf eine ehrenhafte Weise nachzukommen, und wie groß auch unter andern Umständen unser Ehrgeiz gewesen wäre, auf das Verdienst der Erfindung dieser Begebenheiten Anspruch zu machen, so verbietet uns doch die Liebe zur Wahrheit, mehr zu beanspruchen, als das Verdienst einer zweckmäßigen Zusammenstellung und unparteiischen Erzählung derselben. Die Pickwickpapiere sind unsere Quellenwerke, und wir sind mit der Wasserlieferungsgesellschaft zu vergleichen. Die Arbeiten anderer haben uns mit einem außerordentlichen Vorrat von Stoffen versehen, und wir geben sie der Welt, die nach der Bekanntschaft mit den Pickwickiern dürstet, in einem hellen und lieblichen Strome auf diesen Blättern.

In diesem Sinne handelnd und entschlossen, unsere Verbindlichkeiten gegenüber den Quellen zu erfüllen, aus denen wir schöpfen, sagen wir frei heraus, daß wir den Inhalt dieses und des folgenden Kapitels dem Memoirenbuche des Herrn Snodgraß verdanken – einen Inhalt, den wir jetzt, nachdem wir unser Gewissen entlastet, unsern Lesern ohne weiteren Kommentar vorlegen wollen:

Die ganze Bevölkerung von Rochester und den umliegenden Ortschaften stand am folgenden Morgen, sobald der Tag graute, in einem Zustande der höchsten Unruhe und Aufregung auf. Es sollte an diesem Tage eine große Musterung stattfinden. Das Falkenauge des Obergenerals sollte die Manöver von einem halben Dutzend Regimenter inspizieren: man hatte Festungswerke errichtet, die Zitadelle sollte angegriffen, genommen und eine Mine gesprengt werden.

Herr Pickwick war, wie unsere Leser aus dem kurzen Auszuge, den wir aus seiner Beschreibung von Chatam gegeben, gesehen haben, ein enthusiastischer Bewunderer des Heeres. Nichts konnte ihm einen höheren Genuß gewähren – nichts konnte mit den besonderen Gefühlen eines jeden seiner Gefährten so sehr übereinstimmen – wie ein solcher Anblick. Bald waren sie auf den Beinen und wanderten dem Schauplatz der Handlung zu, nach dem bereits von allen Seiten her eine ungeheure Menschenmenge strömte.

Alles deutete darauf hin, daß etwas höchst Wichtiges und Bedeutungsvolles vor sich gehen sollte. Es waren Wachen ausgestellt, um den Raum für die Truppen freizuhalten; besonders beorderte Leute trugen Sorge, den Damen Plätze auf den Batterien zu verschaffen; Sergeanten rannten mit Pergamentbänden hin und her, und Oberst Bulder galoppierte in vollständiger Uniform von einer Stelle zur andern, indem er seine Reiterkünste in den kühnsten Schwenkungen zur Schau trug und sich ohne einen besonderen Grund heiser und blau schrie. Offiziere flogen auf und nieder, sprachen mit dem Oberst, erteilten ihren Sergeanten Befehle und verschwanden zuletzt in den Reihen; sogar die Gemeinen sahen hinter ihren blanken Gewehrläufen so wichtig und geheimnisvoll aus, daß man über die hohe Bedeutung der Feierlichkeit keinen Augenblick im Zweifel sein konnte.

Herr Pickwick und seine drei Gefährten stellten sich in die vordersten Reihen und harrten geduldig der Dinge, die da kommen sollten. Das Gedränge nahm mit jedem Augenblick zu, und die Anstrengungen, die sie machen mußten, um sich auf ihren Plätzen zu behaupten, beschäftigten in den zwei folgenden Stunden ihre Aufmerksamkeit hinlänglich. Bald drängte plötzlich alles von hinten nach vorn, wodurch Herr Pickwick einige Ellen weit vorwärtsgestoßen wurde und dabei eine Hast und Geschmeidigkeit zur Schau stellte, die mit dem Ernst, den man an ihm gewohnt war, in grellem Widerspruch stand: bald ertönte ein gebieterisches »Zurück!« und das Ende eines Flintenkolbens fiel entweder auf Herrn Pickwicks Zehe nieder, um ihm den Wink verständlicher zu machen, oder stemmte sich gegen seine Brust, um dem Befehle augenblickliche Folge zu geben. Spaßvögel machten sich wohl auch das Vergnügen, mit der ganzen Fülle ihrer Kraft gegen Herrn Snodgraß anzudrängen und ihn dann wegen seines Drückens zur Rechenschaft zu ziehen, und wenn Herr Winkle seine höchste Entrüstung über eine solche Ungebühr aussprach, schlug ihm irgendein Schalk von hinten den Hut über die Augen und ersuchte ihn, seinen Kopf in die Tasche zu stecken. Diese und andere handgreifliche Witze, verbunden mit der unerklärlichen Abwesenheit Herrn Tupmans (der plötzlich verschwunden war), machten ihre Lage im ganzen weit eher unbehaglich, als angenehm und unterhaltsam.

Endlich lief ein Gemurmel durch die Menge, wie es gewöhnlich das Eintreten des Erwarteten bezeichnete. Aller Augen richteten sich nach dem Ausfallstor. Wenige Augenblicke gespannter Erwartung, und Fahnen flatterten lustig in der Luft: Waffen glänzten in der Sonne, und Abteilung um Abteilung rückte in die Ebene vor. Die Truppen machten halt und stellten sich in Reihe und Glied; das Kommandowort lief durch die Reihen: es ertönte ein allgemeines Flintengeklirre, als präsentiert wurde, und der Obergeneral, begleitet von Oberst Bulder und einer Menge anderer Offiziere, galoppierte die Front auf und nieder. Die Trompeten schmetterten, die Pferde bäumten sich und wedelten mit den Schweifen. Hunde heulten, die Menge schrie, die Truppen sammelten sich, und so weit das Auge reichte, sah man auf beiden Seiten nur eine endlose Reihe von roten Röcken und weißen Beinkleidern, starr und regungslos.

Herr Pickwick hatte soviel Mühe, in dem wogenden Gedränge seine Stellung zu behaupten und, wie durch ein Wunder, den Hufen der Pferde zu entgehen, daß er unmöglich Zeit fand, zu beobachten, was unter seinen Augen vorging, bis die Aufmarschentfaltungen soweit gediehen waren, wie wir soeben angegeben haben. Als er aber endlich fest auf den Beinen stand, kannte seine Freude und sein Entzücken keine Grenzen.

»Kann es etwas Schöneres, etwas Anziehenderes geben?« fragte er Herrn Winkle.

»Nein«, erwiderte der Angeredete, dem schon seit einer viertel Stunde ein kleiner Mann auf den Zehen stand.

»In der Tat ein großartiger, ein herrlicher Anblick,« sagte Herr Snodgraß, in dessen Brust plötzlich das Feuer der Dichtkunst entbrannte, »die tapferen Verteidiger des Vaterlandes in ihrer glänzenden Rüstung vor den friedlichen Bürgern zu sehen, mit ihren glühenden Gesichtern – nicht von kriegerischer Wildheit, sondern von gesitteter Artigkeit – mit ihren flammenden Augen – nicht von dem rohen Feuer der Raubgier oder der Rachsucht, sondern von dem sanften Lichte der Humanität und Intelligenz,«

Herr Pickwick ging völlig auf den Geist dieser Lobrede ein, konnte ihr jedoch nicht buchstäblich beipflichten: denn das sanfte Licht der Intelligenz brannte doch ziemlich schwach in den Augen der Krieger, als der Ruf ertönte: »Augen geradeaus!« Die Zuschauer hatten einige Tausend Sehorgane vor sich, die ohne allen Ausdruck geradeaus starrten.

»Wir befinden uns jetzt in einer herrlichen Stellung«, sagte Herr Pickwick, sich nach allen Seiten umschauend. Das Gedränge hatte sich aus ihrer Nähe verloren und sie waren beinahe allein.

»Herrlich«, wiederholten Herr Snodgraß und Herr Winkle.

»Was machen sie jetzt?« fragte Herr Pickwick, seine Brille aufsetzend.

»Ich – ich – glaube fast,« sagte Herr Winkle, die Farbe verändernd, »ich glaube fast, sie wollen schießen.«

»Unsinn«, versetzte Herr Pickwick hastig.

»Ich – ich – glaube wirklich, sie tun’s«, sagte Herr Snodgraß etwas unruhig.

»Unmöglich«, erwiderte Herr Pickwick.

Aber kaum hatte er das Wort ausgesprochen, da legte das ganze Halbdutzend Regimenter die Flinten an, als hätten sie alle ein und dasselbe Ziel – nämlich die Pickwickier, und gaben die fürchterlichste Salve, die je die Erde erschütterte oder einen alten Herrn aus dem Gleichgewicht brachte.

In dieser schreckensvollen Lage, auf der einen Seite dem Verderblichen Feuer blanker Musketen ausgesetzt zu sein, und auf der andern von den Truppen gedrängt, die ihnen auf den Leib rückten, zeigte Herr Pickwick die ganze Kaltblütigkeit und Geistesgegenwart, die von einem großen Geiste unzertrennlich sind. Er nahm Herrn Winkle am Arm, und sich zwischen ihn und Herrn Snodgraß stellend, bat er sie ernstlich, sich daran zu erinnern, daß, außer der Möglichkeit, durch den Lärm ihres Gehörs beraubt zu werden, vom Schießen unmittelbar nichts zu befürchten sei.

»Aber – aber – gesetzt den Fall, einer von den Soldaten würde sich zufälligerweise vergreifen und scharf laden?« bemerkte Winkle, ob dieser Besorgnis, die plötzlich seinen Geist bedrängte, erbleichend. »Ich habe ein Zischen gehört – ein starkes Zischen – hart an meinen Ohren.«

»Wir täten vielleicht besser, uns auf den Boden zu legen – meinen Sie nicht auch?« fragte Herr Snodgraß.

»Nein, nein – es ist vorüber«, antwortete Herr Pickwick. Seine Lippen bebten und seine Wangen erbleichten, aber kein Wort der Furcht oder Bestürzung entschlüpfte der Zunge des unsterblichen Mannes.

Herr Pickwick hatte recht: das Schießen hörte auf, aber kaum hatte er Zeit, sich wegen der Richtigkeit seiner Atmung Glück zu wünschen, als eine rasche Bewegung in den Reihen der Krieger sichtbar wurde. Der heisere Ruf des Kommandos lief die Front hinab, und ehe einer unserer Helden irgendeine Mutmaßung über das neue Manöver aufstellen konnte, rückte das ganze Halbdutzend Regimenter mit gefälltem Bajonett im Sturmschritt auf die Stelle zu, die Herr Pickwick und seine Freunde einnahmen.

Der Mensch ist sterblich, und es gibt einen gewissen Punkt, den der menschliche Mut nicht zu überschreiten vermag. Herr Pickwick starrte einen Augenblick die andrängenden Massen mit seiner Brille an, drehte ihnen dann hübsch den Rücken und – wir wollen nicht sagen – floh, einmal, weil dies ein unedler Ausdruck ist, und dann, weil Herrn Pickwicks Gesicht gar nicht mit dieser Art von Rückzug übereinstimmte, – sondern ging von dannen, jedenfalls aber so schnell, wie ihn seine Beine tragen konnten: ja, er beeilte sich so sehr, daß er das Fürchterliche seiner Lage in seinem ganzen Umfange nicht eher einsah, als bis es zu spät war.

Die Truppen, die Herrn Pickwick vor wenigen Sekunden durch ihren Anmarsch in Bewegung gejagt hatten, rückten vorwärts, um den verstellten Angriff der Belagerer der Zitadelle zurückzutreiben, und die Folge davon war, daß Herr Pickwick und seine beiden Begleiter sich plötzlich zwischen zwei Linien von unabsehbarer Ausdehnung eingeschlossen sahen: die eine rückte im Sturmschritt vorwärts, und die andere erwartete die Angreifenden schlagfertig.

»Halloh!« schrien die Offiziere der ersteren.

»Aus dem Wege!« riefen die Offiziere der letzteren.

»Wohin sollen wir?« kreischten die bestürzten Pickwickier.

»Halloh! Halloh! Halloh!« war die ganze Antwort.

Es war ein Augenblick grausenvoller Verwirrung; die Erde bebte unter den Fußtritten der Truppen; ein dumpfes Gelächter ließ sich vernehmen – das Halbdutzend Regimenter war noch einhalbtausend Ellen entfernt, und die Sohlen von Herrn Pickwicks Stiefeln schwebten in den Lüften.

Die beiden Herren, Snodgraß und Winkle, hatten jeder mit bewunderungswürdiger Gewandtheit einen unwillkürlichen Purzelbaum geschlagen. Da war das erste, was Winkle sah, während er auf der Erde saß und den Lebenssaft, der aus seiner Nase stürzte, mit einem gelben seidenen Taschentuch verstopfte, sein ehrwürdiger Lehrer, der in einiger Entfernung seinem Hute nachlief. Dieser rollte nämlich in lustigen Sätzen vor ihm her.

Es gibt wenige Augenblicke in eines Menschen Leben, wo er so viel spaßhaftes Mißgeschick hat und so wenig Mitleid erfährt, als wenn er seinem Hute nachläuft. Es gehört keine geringe Kaltblütigkeit und ein besonderer Grad von Geistesgegenwart dazu, einen fortrollenden Hut wieder einzufangen. Man darf nicht zu sehr eilen, oder man überrennt ihn; man darf nicht zu langsam sein, oder man verliert ihn. Das Beste ist, auf den Gegenstand seiner Verfolgung genau acht zu geben, behutsam und vorsichtig zu sein, die Gelegenheit hübsch abzuwarten, ihm allmählich vorzukommen, dann plötzlich die Hand auszustrecken, ihn bei der Krempe zu ergreifen und fest auf den Kopf zu drücken, wobei man immer freundlich lächelt, als betrachte man den Vorfall ebensowohl von der scherzhaften Seite wie jeder andere.

Der Wind war schwach, und Herrn Pickwicks Hut rollte spielend vor ihm. Der Wind wehte stärker und Herr Pickwick wehte auch stärker, während der Hut sich so lustig überkugelte, wie ein Meerschwein in der Springflut, und er wäre wohl außer Herrn Pickwicks Bereich gerollt, hätte ihn nicht in dem Augenblicke, als der Unglückliche im Begriffe war, ihn seinem Schicksal zu überlassen, eine höhere Hand aufgehalten.

Herr Pickwick war völlig erschöpft und wie gesagt im Begriff, die Jagd aufzugeben, als der Hut mit einiger Heftigkeit an das Rad eines Wagens getrieben wurde, der neben einem halben Dutzend anderer Fuhrwerke stand, und zwar an der Stelle, auf die Herr Pickwick zusteuerte. Seinen Vorteil wahrnehmend, sprang unser Held rasch vor, versicherte sich seines Eigentums, pflanzte es auf seinen Kopf und hielt an, um Atem zu schöpfen. Er hatte noch keine halbe Minute dagestanden, als er sich laut beim Namen rufen hörte. Er erkannte mit einem Male die Stimme des Herrn Tupman, und als er aufblickte, sah er etwas, das ihn mit Verwunderung und Freude erfüllte.

In einer offenen Kutsche, deren Pferde ausgespannt waren, um mehr Platz auf dem engen Raum zu gewinnen, saß ein stattlicher alter Herr in einem blauen Rock mit weißen Knöpfen, Sonduroybeinkleidern* und Stulpenstiefeln, zwei junge Damen mit Schleier und Federhut, ein junger Herr, der in eine der beiden jungen Damen mit Schleier und Federhut verliebt zu sein schien, eine Dame von zweifelhaftem Alter, wahrscheinlich die Tante der Vorerwähnten, und Herr Tupman, so behaglich und ungeniert, als ob er von jeher zu der Familie gehört hätte. Hinten auf der Kutsche war ein Korb von ansehnlicher Größe aufgepackt – einer jener Körbe, die in einem phantasievollen Geiste Gedanken hervorrufen, mit der Vorstellung von kaltem Geflügel, Zungen und Weinflaschen zusammenhängend – und auf dem Bock saß ein fetter, rotbackiger Junge in einem Zustand von Schlaftrunkenheit, den kein aufmerksamer Beobachter einen Augenblick betrachten konnte, ohne ihn für eine Person anzusehen, die dazu angestellt war, den Inhalt des vorerwähnten Korbes zur geeigneten Zeit zutage zu fördern.

Herr Pickwick hatte auf diese anziehenden Dinge einen hastigen Blick geworfen, als er wieder von seinem treuen Schüler gegrüßt wurde.

»Pickwick – Pickwick,« sagte Herr Tupman, »geschwinde – kommen Sie herauf.«

»Kommen Sie, mein Herr, ich bitte, kommen Sie«, sagte der stattliche Herr. »Joe! – der verdammte Junge; jetzt schläft er wieder – Joe, laß den Tritt nieder.«

Der fette Junge schob sich langsam vom Bock herunter, ließ den Tritt nieder und hielt das Kutschentürchen offen. In diesem Augenblick kamen Herr Snodgraß und Herr Winkle nach.

»Platz für uns alle«, sagte der stattliche Herr. »Zwei innen und einer außen, Joe, mach Platz auf dem Bock für einen von diesen Herren. Nun, mein Herr, kommen Sie herauf«, und der stattliche Mann streckte seinen Arm aus und hob zuerst Herrn Pickwick und dann Herrn Snodgraß in den Wagen. Herr Winkle stieg auf den Bock, der Junge saß auf derselben Längsstange auf und schlief alsbald wieder ein.

»Ja, ja, meine Herren,« sagte der stattliche Mann, »es freut mich unendlich, Sie zu sehen. Kenne Sie sehr wohl, meine Herren, ob Sie sich gleich vielleicht meiner nicht erinnern. Ich brachte letzten Winter mehrere Abende in Ihrem Klub zu – stieß an diesem Morgen auf meinen Freund Tupman und war sehr erfreut, ihn zu sehen. Ja, ja, mein Herr, und wie geht es Ihnen? Sie sehen vorzüglich aus – wahrhaftig!«

Herr Pickwick dankte für das Kompliment und schüttelte dem stattlichen Herrn mit den Stulpenstiefeln herzlich die Hand.

»Ja, ja, und wie geht es Ihnen, mein Herr?« fragte der stattliche Herr, sich mit väterlicher Teilnahme an Herrn Snodgraß wendend. »Vortrefflich? – Nun, das ist schön – das ist schön. Und wie geht es Ihnen, mein Herr? (Zu Herrn Winkle.) Gut? Es freut mich zu hören, daß Sie sagen gut: es freut mich sehr, das muß ich sagen. Meine Töchter, meine Herren – meine Mädchen, und dies ist meine Schwester, Fräulein Rachel Wardle. Sie ist immer noch Fräulein, wie gern sie auch eine Frau sein möchte – was meinen Sie, mein Herr? – hihi!«

Und der stattliche Herr stieß Herrn Pickwick mit seinem Ellenbogen in die Rippen und lachte herzlich.

»Ach, Bruder!« sagte Fräulein Wardle mit einem bittenden Lächeln.

»Freilich, freilich«, erwiderte der stattliche Herr; »niemand kann’s in Abrede stellen. Meine Herren, ich bitte um Verzeihung; das ist mein Freund, Herr Trundle. Und nun Sie sich gegenseitig kennen, wollen wir es uns bequem machen und sehen, was da draußen alles vorgeht; weiter sage ich nichts.« Der Stattliche setzte seine Brille auf, Herr Pickwick nahm sein Fernglas, und jeder stand aufrecht im Wagen und sah über die Schultern seines Vordermannes den Bewegungen der Truppen zu.

Es wurden erstaunliche Dinge ausgeführt. Man sah eine Reihe Soldaten über den Köpfen einer andern wegfeuern und davonrenncn, worauf sie Karrees bildeten und die Offiziere in die Mitte nahmen. Dann kletterte man an Strickleitern auf der einen Seite der Schanze hinab und auf der andern wieder hinauf, riß Barrikaden von Schanzkörben nieder und benahm sich überhaupt so tapfer wie nur möglich. Dann wurden die ungeheuren Kanonen mit Instrumenten, die wie riesige Scheuerlappen aussahen, geladen. Die Vorbereitungen, bis sie losgeschossen wurden, und endlich das Abbrennen selbst war mit einem so entsetzlichen Lärm verbunden, daß die Lüfte vom Angstgeschrei der Damen widerhallten. Die jungen Fräuleins Wardle waren so erschrocken, daß Herr Trundle genötigt war, eine derselben zu halten, während Herr Snodgraß die andere stützte, und Herrn Wardles Schwester wurde von so furchtbaren Krämpfen befallen, daß es Herr Tupman für unumgänglich notwendig fand, seinen Arm um ihren Leib zu legen, um sie nur aufrechtzuerhalten. Alles war in der größten Aufregung, bis auf den fetten Jungen, der so sanft schlief, als wäre der Kanonendonner sein Wiegenlied.

»Joe, Joe!« rief der Stattliche, als die Zitadelle genommen war, und Belagerer und Belagerte sich’s bequem machten, um ihre Mahlzeit zu halten. »Der verdammte Junge schläft schon wieder. Haben Sie die Güte, mein Herr, ihn in die Waden zu zwicken, sonst ist er nicht zu wecken. So – ich danke Ihnen, Sir. Den Korb ausgepackt, Joe!«

Der fette Junge, der wirklich durch den Wink aufgewacht war, den ihm Herr Winkle gab, indem er einen Teil seiner Wade zwischen Daumen und Zeigefinger preßte, rutschte vom Bock hinunter und begann den Korb auszupacken, wobei er einen größeren Eifer entwickelte, als man von seiner gewöhnlichen Trägheit erwartet hätte.

»Jetzt müssen wir etwas zusammenrücken«, sagte der Stattliche.

Eine Menge Witze über die weiten Ärmel der Damen, die jetzt augenscheinlich Not leiden mußten, wurden gemacht; und die scherzhaften Vorschläge, die Damen sollten den Herren auf den Schoß sitzen, trieben den Frauenzimmern einmal über das andere das Blut in die Wangen. Dann endlich war die ganze Gesellschaft in dem Wägelchen bequem untergebracht, und der stattliche Herr empfing den Inhalt des Korbes aus den Händen des fetten Jungen, der zu diesem Zwecke hinten auf den Wagen gestiegen war.

»Jetzt, Joe, Messer und Gabeln!«

Die Messer und Gabeln wurden gebracht, und die Damen und Herren im Wagen und Herr Winkle außen auf dem Bock mit diesen nützlichen Werkzeugen versehen.

»Teller, Joe, Teller!«

Die Teller wurden auf gleiche Weise verteilt.

»Jetzt, Joe, das Geflügel. Der verdammte Junge, da schläft er schon wieder. Joe, Joe!« (Einige Winke mit einem Stock auf den Kopf, und der fette Junge erwachte langsam aus seiner Schlaftrunkenheit.) »Geschwind, gib die Speisen her!«

Es lag etwas in dem Klange der letzten Worte, was den Speckjungen lebendig machte. Er hüpfte auf, und die schweren Augen, die zwischen den dicken Pausbacken hindurchblinzelten, starrten mit fürchterlicher Gier auf die Speisen, die er aus dem Korbe nahm.

»Nun, rasch!« rief Herr Wardle; denn der fette Junge warf äußerst verliebte Blicke auf einen Kapaunen, von dem er sich fast unmöglich trennen zu können schien. Er seufzte tief, und mit einem glühenden Blick auf den wohlgemästeten Gegenstand seiner Sehnsucht übergab er ihn endlich mit widerstrebender Hand seinem Herrn.

»So ist’s recht – sieh genau nach. Jetzt die Zunge – die Taubenpastete. Reiche mir auch den Braten und den Schinken – vergiß die Hummer nicht – nimm den Salat aus dem Tuche – gib mir das Zubehör.«

Das waren die eiligen Befehle, die über Herrn Wardles Lippen sprudelten, während er die genannten Dinge in Empfang nahm und jedem eine Menge Teller in die Hand gab oder auf die Knie setzte.

»Nun, ist das nicht köstlich?« fragte der heitere Mann, als das Werk der Zerstörung begonnen hatte.

»Köstlich!« sagte Herr Winkle, der ein Huhn auf dem Bocke zerlegte.

»Belieben Sie ein Glas Wein?«

»Wenn ich bitten darf.«

»Ich will Ihnen lieber eine Flasche hinausgehen – nicht wahr?«

»Sie sind sehr gütig.«

»Joe!«

»Ja, Herr!« – Er schlief nicht, weil er soeben ein Kalbfleischpastetchen weggeschnappt hatte.

»Eine Flasche Wein dem Herrn auf dem Bock. Zum Wohl, mein Herr!«

»Danke.«

Herr Winkle füllte sein Glas und stellte die Flasche neben sich auf den Bock.

»Darf ich mir die Ehre geben, mein Herr?« sagte Herr Trundle zu Herrn Winkle.

»Mit größtem Vergnügen«, antwortete Herr Winkle.

Und die beiden Herren stießen miteinander an, und die ganze Gesellschaft nahm daran teil.

»Wie die liebe Emilie mit dem fremden Herrn flirtet!« flüsterte Fräulein Wardle, die Tante, mit echtem Altjungfernneid ihrem Bruder zu.

»Wüßte nicht«, sagte der lustige alte Herr; »finde es ganz natürlich; wahrhaftig – nichts Außerordentliches. Herr Pickwick, belieben Sie etwas Wein?«

Herr Pickwick, der inzwischen tief in den Bauch einer Taubenpastete eingedrungen war, sagte bereitwilligst »Ja«.

»Liebe Emilie,« sagte die Jungfer Tante mit Gouvernantenmiene, »sprich doch nicht so laut.«

»Ach Gott, Tante!«

»Die Tante und der kleine alte Herr wollen, glaube ich, allein das Recht haben, zu reden«, flüsterte Fräulein Isabelle Wardle ihrer Schwester Emilie zu.

Die jungen Damen lachten herzlich, und die Alte wollte liebenswürdig aussehen, was ihr aber nicht gelang.

»Die jungen Mädchen sind zu lebhaft«, sagte Tante Wardle zu Herrn Tupman mit der Miene des Mitleidens, als ob Lebhaftigkeit Zollware und ohne höhere Erlaubnis sündhaft und verbrecherisch wäre.

»Sie sind lustig«, versetzte Herr Tupman auf eine Weise, die ihrer Erwartung nicht ganz entsprach. »Es ist zum Entzücken.«

»Hm!« erwiderte die jungfräuliche Tante etwas verstimmt.

»Darf ich mir die Freiheit nehmen?« sagte Herr Tupman im einschmeichelndsten Tone, indem er mit der linken Hand Rachels reizendes Händchen ergriff und mit der rechten die Flasche emporhiclt, »darf ich mir die Freiheit nehmen?«

»Ach, mein Herr!«

Tupmans Augen funkelten vor Vergnügen, und Rachel drückte die Besorgnis aus, man möchte noch mehr Kanonen losschießen, in welchem Falle sie natürlich wieder auf seinen Beistand rechnen würde.

»Wie gefallen Ihnen meine Nichten?« flüsterte die zärtliche Tante Herrn Tupman zu.

»Vortrefflich, wenn ihre Tante nicht da wäre«, versetzte der gewandte Pickwickier, einen zärtlichen Blick auf die Fragerin heftend.

»Sie Spötter –, aber wirklich, wenn ihre Gesichtsfarbe ein wenig* besser wäre, glauben Sie nicht, sie würden nicht übel aussehen? – bei Licht, meine ich.«

»Ja, ich glaube es«, erwiderte Herr Tupman mit gleichgültiger Miene.

»O, Sie Schalk – ich weiß, was Sie sagen wollen.«

»Was?« fragte Herr Tupman, dem es nicht in den Sinn gekommen war, überhaupt etwas sagen zu wollen.

»Sie wollten sagen, daß Isabelle etwas hinkt – ich weiß es – die Männer beobachten gar scharf. Ja, ja, es ist so; ich kann es nicht leugnen, und gewiß, wenn es etwas gibt, was ein Mädchen entstellt, so ist es Hinken. Ich sage ihr oft, in wenigen Jahren werde sie dadurch fürchterlich verunstaltet werden. Ja, ja, Sie sind ein Spötter!«

Herr Tupman hatte nichts dagegen, so wohlfeil zum Rufe eines scharfen Beobachters zu kommen. Er nahm eine schlaue Miene an und lächelte geheimnisvoll.

»Welch ein sarkastisches Lächeln!« sagte Rachel im Tone der Bewunderung. »Ich versichere Sie, ich fürchte mich vor Ihnen.«

»Sie fürchten sich vor mir

»O, Sie können mir nichts verhehlen; ich weiß, was dieses Lächeln auf sich hat – sehr gut weiß ich’s.«

»Was?« fragte Herr Tupman, der selbst nicht den mindesten Begriff davon hatte.

»Sie denken«, sagte die liebenswürdige Tante, ihre Stimme dämpfend – »Sie denken, Isabellens Hinken ist noch nicht so schlimm wie Emiliens Dreistigkeit. Ja, ja, sie ist sehr vorlaut! Sie können sich denken, was mir das zuweilen für Sorgen macht – ich härme mich oft stundenlang deswegen ab. – Mein lieber Bruder ist so gut, so ohne allen Argwohn, daß er es gar nicht sieht. O, wenn er es gewahr würde, es müßte ihm sicher das Herz brechen. Ich wollte, ich könnte glauben, es sei nur ein angenommenes Wesen – und hoffe auch, daß es wirklich der Fall ist« – hier stieß die zärtliche Verwandte einen tiefen Seufzer aus und schüttelte hoffnungslos den Kopf.

»Die Tante spricht von uns«, flüsterte Fräulein Emilie Wardle ihrer Schwester zu – »ich wette darauf – sie sieht so bösartig aus.«

»Glaubst du?« fragte Isabella. – »Hm! Tante, liebe Tante!«

»Was, meine Liebe?«

»Ich fürchte, Sie erkälten sich, Tante. Binden Sie doch ein seidenes Tuch um ihren Kopf – nehmen Sie sich mehr in acht – bedenken Sie Ihr Alter!«

So wohlverdient diese Revanche auch sein mochte, so war sie doch so rachsüchtig, wie sie nur immer hätte sein können. Es ist nicht wohl, zu erraten, auf welche Weise sich die Entrüstung der Tante wieder Luft gemacht haben würde, hätte nicht Herr Wardle unabsichtlich der Aufmerksamkeit der Gesellschaft eine andere Richtung gegeben, indem er laut nach Joe rief.

»Der verdammte Junge,« sagte er, »jetzt schläft er schon wieder.«

»Ein außerordentlicher Bursche,« bemerkte Herr Pickwick, »ist er immer so schläfrig?«

»Schläfrig!« sagte der alte Herr. »Er schläft den ganzen Tag. Er schläft beim Gehen ein, und schnarcht, wenn er bei Tisch serviert.«

»Sehr seltsam«, bemerkte Herr Pickwick.

»Ja, in der Tat, seltsam«, versetzte der alte Herr. »Ich bin stolz auf den Jungen – ich würde ihn unter keiner Bedingung von mir lassen – wahrhaftig, er ist eine Naturmerkwürdigkeit! He, Joe – Joe – räume diese Sachen ab, und öffne eine neue Flasche – hörst du?«

Der fette Junge erwachte, öffnete die Augen, schluckte das ungeheure Stück Taubenfleisch hinunter, das er eben unter den Zähnen hatte, als ihn der Schlaf überfallen, und gehorchte langsam dem Befehle seines Herrn, schmachtende Blicke auf die Überbleibsel des Mahles werfend, als er das Geschirr abräumte und in den Korb legte. Die neue Flasche erschien und wurde alsbald geleert; der Korb kam wieder auf seinen alten Platz – der fette Junge stieg auf den Bock – die Brillen und die Ferngläser wurden wieder hervorgenommen, und die Bewegungen des Heeres begannen aufs neue. Das Geschütz brüllte, die Damen kreischten – eine Mine wurde gesprengt; alles jauchzte, und als die Mine aufgeflogen war, folgten die Soldaten und unsere Gesellschaft ihrem Beispiele und brachen ebenfalls auf.

»Nun, ich denke –« sagte der alte Herr, als er am Schlüsse der Unterhaltung, die die Zwischenakte des militärischen Schauspiels ausfüllte, Herrn Pickwick die Hand drückte – »ich denke, wir werden Sie alle morgen wiedersehen.«

»Ganz gewiß«, erwiderte Herr Pickwick.

»Sie haben doch meine Adresse?«

»Manor Farm in Dinglen Dell«, sagte Herr Pickwick, sein Taschenbuch zu Rate ziehend.

»Ganz recht,« versetzte der alte Herr, »und ich denke. Sie unter einer Woche nicht fortzulassen. Sie sollen alles sehen, was sehenswert ist. Wenn es Ihnen um das Landleben zu tun ist, so kommen Sie nur zu mir, dort finden Sie es in Hülle und Fülle. Joe – der verdammte Junge, jetzt schläft er wieder – Joe, hilf Tom einspannen.«

Die Pferde wurden eingespannt – der Kutscher bestieg seinen Bock – der fette Junge rutschte an dessen Seite – man verabschiedete sich gegenseitig – und der Wagen rollte von dannen. Als die Pickwickier sich umwandten, um einen letzten Blick auf die Scheidenden zu werfen, fielen die Strahlen der untergehenden Sonne eben auf deren Gesichter und beleuchteten die Gestalt des fetten Jungen. Sein Kopf war auf die Brust gesunken, und er schlief in aller Ruhe.

 

Dreiundzwanzigstes Kapitel.


Dreiundzwanzigstes Kapitel.

Herr Pickwick reist nach Ipswich und besteht mit einer Dame von mittlerem Alter mit gelben Haarwickeln ein romantisches Abenteuer.

»Ist dies das Gepäck deines Herrn, Sammy?« fragte Herr Weiler senior seinen lieben Sohn, als er mit einer Reisetasche und einem kleinen Mantelsack in den Hof des Gasthauses zum Ochsen zu Whitechapel trat.

»Wie schlau Ihr doch zu raten wißt!« erwiderte Herr Weller der jüngere, seine Bürde im Hofe ablegend und sich daraufsetzend. »Der Herr wird den Augenblick selbst hier sein.«

»Er kommt vermutlich in einer Droschke?« fragte der Vater.

»Jawohl, er hat für acht Pence sich das Vergnügen gekauft, zwei Meilen lang ein bißchen geschunden zu werden«, antwortete der Sohn. »Wie steht’s heute morgen mit der Frau Stiefmutter?«

»Wunderlich, Sammy, wunderlich«, erwiderte der ältere Herr Weller mit ernstem Tone; »sie ist neuerdings unter die Pietisten gegangen, Sammy, und ich kann dich versichern, daß sie nun gewaltig fromm ist. Es ist ein zu gutes Geschöpf für mich, Sammy – ich fühle es, ich verdiene sie nicht.«

»Das ist viel Selbstverleugnung von Euch«, bemerkte Herr Samuel.

»Wahrhaftig«, versetzte sein Vater mit einem Seufzer. »Sie hält’s jetzt mit einer neuen Erfindung – erwachsene Leute wiedergeboren werden zu lassen – die neue Geburt, glaube ich, nennen sie es. Ich wäre nur begierig, das System in Anwendung bringen zu sehen, Sammy, und möchte Zeuge sein, wie deine Stiefmutter wiedergeboren wird, da ich sie dann doch zu einer Amme bringen müßte. – Was glaubst du, was die Weiber vor einigen Tagen gemacht haben?« fuhr Herr Weller nach einer kurzen Pause fort, und legte dabei seinen Zeigefinger ein halbes dutzendmal bedeutungsvoll an die Nase; »was meinst du, was sie vor ein paar Tagen gemacht haben?«

»Weiß nicht«, erwiderte Sam.

»Gehen hin und geben einem Kerl, den sie ihren Hirten nennen, ein großes Teetrinken. Ich stand eben am Bilderladen auf unserm Platz und besah die Bilder, als ich unter andern auch einen kleinen Zettel sah, worauf zu lesen stand, die Karte koste eine halbe Krone. ›Man wende sich an das Komitee, Sekretär: Madame Weller.‹ Und wie ich heimkam, da hielt das Komitee seine Sitzung in unserer hinteren Stube – vierzehn Weiber: ich wollte, du hättest sie gehört, Sammy. Sie stimmten über Beschlüsse ab, votierten Beiträge und machten allerhand solches Zeug. Na, schön, da mich deine Stiefmutter plagte, hinzugehen, und ich selbst auch wunderliche Dinge zu sehen hoffte, wenn ich ihr folgte, so unterschrieb ich mich auch für eine Karte. Freitag abends sechs Uhr putzte ich mich ordentlich heraus und mache mich mit der Alten auf den Weg. Da treten wir in eine muffige Diele, wo Teeschalen da waren für dreißig Personen, und ein ganzer Schwarm von Weibern, die anfingen, miteinander zu flüstern und mich anzugaffen, als wenn sie noch nie einen stattlichen Achtundfünfziger gesehen hätten. Bald drang lautes Gepolter die Treppe herab, und ein langbeiniger Kerl mit roter Nase und weißer Halsbinde stürmt herein und singt: ›der Hirte kommt zu seiner treuen Herde‹: ihm folgt ein fetter Schwarzkittel mit einem breiten, blassen Gesicht, der in einem fort den Mund zum Lächeln verzieht, wie ein Affe. Ein solcher Kerl kommt also, Sammy: ›den Friedenskuß‹, sagt der Hirte, und dann küßt er alle die Weiber ringsherum, und als er damit fertig ist, fängt der mit der roten Nase an. Ich dachte eben daran, ob ich’s nicht auch so machen sollte, besonders da eine sehr hübsche Frau neben mir saß, als eben der Tee und deine Mutter, die ihn gebraut hatte, die Treppe herabkam. Und nun ging’s los. Was das für ein herrlicher lauter Gesang war, Sammy, während der Tee bereitet wurde: was für ein Beten und Essen und Trinken! Ich wollte, du hättest den Hirten in den Schinken und die Semmelkuchen einhauen sehen! So sah ich noch niemand essen und trinken. Der Rotnasige war schon keiner, den du gern auf deinen gedeckten Tisch losgelassen hättest: aber gegen den Hirten war er nichts. Gut; nachdem der Tee vorüber war, stimmten sie einen andern Lobgesang an, und danach begann der Hirte zu predigen, und es war gar nicht übel, wenn man bedenkt, wie schwer ihm die Semmeln im Magen liegen mußten. Auf einmal bricht er los und schreit: ›wo ist der Sünder, wo ist der erbärmliche Sünder?‹ und alle Weiber sehen auf mich und fangen an zu schluchzen, als lägen sie im Sterben. Das Ding kam mir etwas seltsam vor, aber ich sagte nichts. Plötzlich bricht er wieder los, sieht mich scharf an und sagt: ›wo ist der Sünder, wo ist der erbärmliche Sünder?‹ und alle Weiber schluchzen wieder, noch zehnmal lauter als vorher. Darauf werde ich ein bißchen wild. Ich trete etwas vor und sage, ›mein Freund‹, sage ich, ›gilt diese Bemerkung mir?‹ – Statt mich um Verzeihung zu bitten, wie es ein Gentleman getan hätte, treibt er es noch massiver als vorher, und nennt mich ›ein Gefäß‹, Sammy, ›ein Gefäß des Zorns‹ – und dergleichen mehr. Mein Blut war natürlich etwas aufgeregt. Ich gab ihm zwei oder drei für sich selber und dann noch zwei oder drei, die er dem Kerl mit der roten Nase einhändigen konnte, und ging fort. Ich wollte, du hättest gehört, Sammy, wie die Weiber schrien, als sie den Hirten unter den Tisch hervorzogen. – Holla, das ist ja dein Herr leibhaftig.«

Während Herr Weller so sprach, stieg Herr Pickwick aus einer Droschke und trat in den Hof.

»Ein schöner Morgen, Sir«, sagte Herr Weller senior.

»In der Tat sehr schön« – erwiderte Herr Pickwick.

»In der Tat sehr schön«, wiederholte ein rothaariger Mann mit einer naseweisen Nase und einer blauen Brille, der sich zu gleicher Zeit mit Herrn Pickwick aus der Droschke geschoben hatte. »Reisen nach Ipswich, Sir?«

»Ja«, antwortete Herr Pickwick.

»Außerordentlicher Zufall. Ich auch.«

Herr Pickwick verbeugte sich.

»Haben Ihren Sitz oben?« fragte der Rothaarige.

Herr Pickwick verbeugte sich wieder.

»Seltsam, seltsam – ich sitze auch oben«, sagte der Rothaarige. – »Wir fahren also positiv miteinander.«

Und der Rothaarige, der eine sehr wichtig aussehende, spitznasige, geheimnisvoll tuende Person war, und den Vögeln die Gewohnheit abgesehen zu haben schien, jedesmal, wenn er etwas vorbrachte, den Kopf in die Höhe zu werfen – lächelte, als hätte er eine der wichtigsten Entdeckungen gemacht, auf die jemals der menschliche Geist gekommen war.

»Ich freue mich sehr auf Ihre Gesellschaft, Sir«, sagte Herr Pickwick.

»Ach«, erwiderte der neue Ankömmling, »es ist angenehm für uns beide – oder nicht? Gesellschaft, sehen Sie – Gesellschaft ist – ist – ist ein ganz anderes Ding, als Einsamkeit – nicht wahr?«

»Das wird niemand leugnen«, sagte Herr Weller, sich mit einem freundlichen Lächeln in die Unterhaltung mischend. »Ich nenne so etwas eine Binsenwahrheit, wie der Mann meinte, der Hundefleisch verkaufte, als ihm die Magd sagte, er wäre kein Gentleman.«

»Ah«, bemerkte der Rothaarige, Herrn Weller mit einem vornehmen Blick von Kopf bis zu Fuß betrachtend. »Ein Freund von Ihnen, Sir?«

»Nicht direkt ein Freund«, erwiderte Herr Pickwick halblaut: »er ist mein Diener. Aber ich erlaube ihm manche Freiheiten, da ich ihn, unter uns gesagt, für einen originellen Kopf halte, auf den ich mir etwas zugute tue.«

»Tja«, sagte der Rothaarige, »sehen Sie, das ist Geschmacksache. Ich bin kein Freund von Originalität; ich kann sie nicht leiden; sehe die Notwendigkeit davon nicht ein. – Ihr Name, Sir?«

»Hier ist meine Karte, Sir«, erwiderte Herr Pickwick, durch die schnell aufgeworfene Frage und die sonderbaren Manieren höchlich ergötzt.

»Ah«, sagte der Rothaarige, die Karte in seine Brieftasche legend, »Pickwick; sehr schön. Es ist mir lieb, wenn ich den Namen eines Menschen weiß; man erspart sich manche Verlegenheit. Hier ist meine Karte, Sir. Magnus, Sie werden bemerken, Sir, Magnus heiße ich. Ein hübscher Name, nicht wahr?«

»In der Tat ein sehr hübscher Name«, versetzte Herr Pickwick, und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.

»Ich halte ihn auch dafür«, erwiderte Herr Magnus. »Sie werden bemerken, es steht auch ein schöner Taufname davor. Erlauben Sie, mein Herr, wenn Sie die Karte ein wenig schief halten, auf diese Art, so fällt das Licht auf den Hauptstrich. Hier – Peter Magnus – klingt gut, glaube ich, Sir?«

»Sehr«, bestätigte Herr Pickwick.

»Seltsam mit diesen Anfangsbuchstaben, Sir«, sagte Herr Magnus. »Sie werden bemerken – P. M. – post meridian Post meridian (aus lateinisch » post meridiem«) heißt »vom Nachmittage«, »nachmittäglich«; daher das nachfolgende Wortspiel.. In der Eile unterzeichne ich mich oft in Briefen an genaue Bekannte ›Nachmittag‹. Nein, wie das dann meine Freunde amüsiert, Herr Pickwick.«

»Es läßt sich denken, daß ihnen das viel Spaß macht«, versetzte Herr Pickwick, Herrn Magnus Freunde um die Leichtigkeit beneidend, womit sie zu unterhalten waren.

»Nun, meine Herren«, rief der Hausknecht, »es ist angespannt. Wenn es Ihnen recht ist –«

»Ist all‘ mein Gepäck drin?« fragte Herr Magnus.

»Alles in Ordnung, Sir.«

»Ist der rote Reisesack drin?«

»Alles in Ordnung, Sir.«

»Und der gestreifte Sack?«

»Vorn im Kutschenkorb, Sir.«

»Und das Löschpapierpaket?«

»Unter dem Sitz, Sir.«

»Und das lederne Hutfutteral?«

»Alles drin, Sir!«

»Nun, wollen Sie einsteigen?« fragte Herr Pickwick.

»Sie entschuldigen«, antwortete Magnus, auf dem Rade, auf das er bereits getreten war, stehenbleibend; »in diesem Zustande der Ungewißheit kann ich nicht einsteigen. Ich sehe es diesem Menschen an, daß das lederne Hutfutteral nicht darin ist.«

Die feierlichen Verwahrungen des Hausknechts waren gänzlich fruchtlos, und das lederne Hutfutteral mußte aus dem tiefsten Grunde des Kutschenkorbs herausgerissen werden, um Herrn Magnus zu überzeugen, daß es gut aufgehoben wäre. Nachdem er sich über diesen Punkt beruhigt hatte, fühlte er eine innere Ahnung, erstens sein roter Reisesack sei verlegt, und zweitens sein gestreifter Sack sei gestohlen, und endlich, das Löschpapierpaket sei aufgegangen. Als ihm alles vor Augen geführt worden war und er sich durch persönliche Inspektion mit seinem Sinn von der Haltlosigkeit aller seiner Befürchtungen überzeugt hatte, ließ er sich bereden, ganz auf die Droschke zu klettern; und da nun jeder Stein von seinem Herzen gewälzt war, fühlte er sich behaglich und glücklich.

»Sie sind etwas ängstlich – nicht wahr, Sir?« fragte Herr Weller senior, den Fremden von der Seite ansehend, al« er seinen Platz bestieg.

»Ja, ich bin um diese Kleinigkeiten etwas besorgt«, sagte der Fremde; »aber jetzt ist alles in Ordnung – alles ganz in Ordnung.«

»Nun, das ist ein großes Glück«, sagte Herr Weller. »Sammy, hilf deinem Herrn auf den Bock! Das andere Bein, Sir – das da: geben Sie mir Ihre Hand, Sir: so – jetzt, auf. Sie waren leichter, als Sie noch ein Kind waren, Sir.«

»Das ist nicht zu bestreiten, Herr Weller«, sagte der atemlose Herr Pickwick in guter Laune, als er den Kutschersitz erklommen hatte.

»Schwinge dich vorn hinauf, Sammy«, sagte Herr Weller. »Nun, William, laß laufen. Nehmen Sie sich in acht vor dem Torweg, meine Herren. ›Kopf ab‹, wie jener Pastetenbäcker sagte. – So ist’s recht, William. Laß jetzt los.«

Und die Kutsche fuhr Whitechapel hinan, zur Bewunderung der ganzen Einwohnerschaft dieses ziemlich stark bevölkerten Viertels.

»Das ist keine hübsche Nachbarschaft, Sir«, bemerkte Sam, an den Hut greifend, wie er es immer machte, wenn er eine Unterhaltung mit seinem Herrn anknüpfte.

»Wahrhaftig, nein, Sam«, erwiderte Herr Pickwick, die vollgepfropfte Straße übersehend, durch die sie fuhren.

»Es ist doch äußerst merkwürdig, Sir«, sagte Sam, daß Armut und Austern immer beisammen zu sein scheinen.«

»Ich verstehe dich nicht, Sam«, versetzte Herr Pickwick.

»Ich meine damit, Sir«, erwiderte Sam, »daß, je ärmer ein Ort, desto stärker die Nachfrage nach Austern ist. Sehen Sie hier, Sir, allemal das sechste Haus ist ein Austernladen – die Straßen sind ganz voll davon. Es kommt mir, meiner Seele, vor, daß, wer recht arm ist, aus dem Hause läuft und aus lauter Verzweiflung Austern frißt.«

»Das ist ganz gewiß«, sagte Herr Weller senior, »und ebenso ist es auch mit dem Lachs.«

»Das sind zwei höchst merkwürdige Tatsachen, die mir vorher nie aufgefallen sind«, sagte Herr Pickwick. »Auf der ersten Station, wo wir anhalten, will ich sie notieren.«

Inzwischen hatten sie den Schlagbaum zu Mile End erreicht. Ein tiefes Schweigen herrschte nun während der ersten zwei bis drei Meilen, als sich Herr Weller senior plötzlich an Herrn Pickwick wandte, und folgendermaßen begann:

»So ein Baumwächter, Sir, führt doch ein wunderliches Leben.«

»Ein was?« fragte Herr Pickwick.

»Ein Baumwächter.«

»Was verstehst du unter einem Baumwächter?« fragte Herr Peter Magnus.

»Der Alte meint einen Schlagbaumwächter, meine Herren«, kommentierte Herr Weller junior.

»Ah, ich verstehe«, sagte Herr Pickwick. »Ja, ein sehr sonderbares Leben. Sehr unbequem.«

»Es sind aber auch lauter Leute, die irgendeinmal in ihrem Leben Schiffbruch gelitten haben«, bemerkte Herr Weiler senior.

»So so«, rief Herr Pickwick.

»Ja. Und die Folge davon ist, daß sie sich von der Welt zurückziehen und bei den Schlagbäumen ihr Heil finden, teils in der Absicht, um allein zu sein, teils um sich an den Menschen zu rächen, indem sie ihnen Zoll abnehmen.«

»Das habe ich freilich noch nicht gewußt«, sagte Herr Pickwick.

»Tatsache, Sir«, versetzte Herr Weller. »Wenn es Herren der Gesellschaft wären, so würde man sie Menschenverächter nennen, so aber sind es bloß Baumwächter.«

Durch solche Unterhaltung, die den unschätzbaren Reiz hatte, das Nützliche mit dem Angenehmen zu vereinen, verkürzte Herr Weller während des größten Teils des Tages die Langeweile der Reise. An Stoff zum Gespräch fehlte es nie, denn selbst in dem Fall, daß in Herrn Wellers Redseligkeit eine Pause eintrat, wurde sie durch Herrn Magnus mehr als hinreichend ergänzt, der ein außerordentliches Verlangen zeigte, sich mit allen Verhältnissen seiner Reisegefährten bekanntzumachen, und sich auf jeder Station mit lauter Stimme ängstlich nach der Sicherheit der beiden Säcke, des ledernen Hutfutterals und des Löschpapierpakets erkundigte.

In der Hauptstraße von Ipswich, linker Hand, nicht weit von dem freien Platz, der vor dem Rathause liegt, steht ein Gasthof, der weit und breit unter dem Namen »Das große weiße Roß« bekannt ist, und durch ein steinernes, wütendes Tier mit fliegender Mähne und fliegendem Schweif über der Haupttür, das eine entfernte Ähnlichkeit mit einem wahnsinnigen Karrengaul hat, noch mehr in die Augen fallt. Das große weiße Roß ist in der Nachbarschaft wegen derselben Eigenschaft berühmt, wie ein Preisochse oder eine in der Grafschaftsgeschichte aufgezeichnete Rübe, oder ein ungeheures Schwein – nämlich wegen seiner riesenhaften Größe. Nirgends trifft man wieder solche Labyrinthe von Gängen ohne Fußteppiche, solche Reihen dumpfiger, finsterer Zimmer, soviel Speise- oder Schlafhöhlen unter einem Dache, wie zwischen den vier Wänden des großen, weißen Rosses zu Ipswich.

Vor diesem ungeheuren Gasthof war es, wo die Londoner Postkutsche jeden Abend zur selben Stunde hielt, und eben diese Londoner Postkutsche war es, von der gerade an dem Abend, da dieses Kapitel unserer Geschichte spielt, Herr Pickwick, Sam Weller und Herr Peter Magnus hinabstiegen.

»Steigen Sie hier ab, Sir?« fragte Herr Peter Magnus, als der gestreifte Sack und der rote Sack und das lederne Hutfutteral und das Löschpapierpaket sämtlich im Hausgange untergebracht waren. »Steigen Sie hier ab, Sir?«

»Ja«, entgegnete Herr Pickwick.

»Wie seltsam!« rief Herr Magnus. »Ein außerordentlicheres Zusammentreffen kann ich mir nicht vorstellen. Ich steige auch hier ab. Ich hoffe, wir speisen zusammen?«

»Mit Vergnügen«, erwiderte Herr Pickwick. »Ich weiß übrigens nicht gewiß, ob ich hier nicht einige Freunde treffe. – Ist ein Herr Tupman hier abgestiegen, Kellner?«

Ein korpulenter Mann mit einer Serviette von vierzehn Tagen unter dem Arm und mit gleich alten Strümpfen an den Beinen unterbrach auf Herrn Pickwicks Frage seine Beschäftigung, die Straße hinunterzusehen. Nachdem er das Äußere des Fragestellers vom Deckel seines Hutes bis zum untersten Knopfe seiner Gamaschen eine Minute lang gemustert hatte, sagte er mit Nachdruck:

»Nein!«

»Auch kein Herr namens Snodgraß?« fragte Herr Pickwick.

»Nein!«

»Oder Winkle?«

»Nein!«

»So sind meine Freunde heute noch nicht gekommen«, bemerkte Herr Pickwick. »Wir werden also allein speisen. – Geben Sie uns ein eigenes Zimmer, Kellner.«

Auf diese Aufforderung hin ließ sich der korpulente Mann herab, dem Hausknecht zu befehlen, das Gepäck der Herren hineinzutragen, und führte sie sodann durch einen langen, finsteren Gang in ein großes schlechtes Zimmer mit einem rußigen Kamin, auf dem sich ein kleines Feuerchen jämmerlich abmühte, behagliche Wärme aufzubringen, obgleich ihm vor der deprimierenden Umgebung fast die Puste ausging. Nach einer Stunde wurde den Reisenden ein Stück Fisch und Beefsteak vorgesetzt, und als der Tisch abgeräumt war, zogen die Herren Pickwick und Peter Magnus ihre Stühle ans Feuer, wo sie auf ihre Bestellung zum Besten des Gastgebers eine Flasche von dem möglichst schlechtesten Portwein zu dem möglichst höchsten Preis erhielten, und zu ihrem eigenen Besten Branntwein und Wasser tranken.

Herr Peter Magnus hatte von Natur einen sehr großen Hang, sich mitzuteilen. Der Grog brachte eine so wunderbare Wirkung hervor, daß er die verborgensten Geheimnisse seiner Brust offenbarte. Nachdem er viel von sich, seiner Familie, seinen Verbindungen, seinen Freunden, seinen Erholungen, seinen Geschäften und seinen Brüdern (gesprächige Leute haben immer viel von ihren Brüdern zu reden) erzählt hatte, nahm er Herrn Pickwick mehrere Minuten lang durch seine gefärbten Brillengläser in blauen Augenschein, und fragte dann mit bescheidener Miene.

»Und warum denken Sie wohl – warum denken Sie wohl, Herr, Pickwick – daß ich hierher gereist bin?«

»Auf mein Wort«, erwiderte Herr Pickwick, »ich kann unmöglich raten. Geschäfte halber vielleicht?«

»Zum Teil getroffen, Sir«, versetzte Herr Peter Magnus; »zum Teil aber auch fehlgeschossen. Raten Sie noch einmal, Herr Pickwick.«

»Da muß ich mich Ihnen auf Gnade und Ungnade ergeben, ob Sie’s mir sagen wollen oder nicht, wie Sie es für gut halten: denn erraten kann ich es nicht, und wenn ich die ganze Nacht darüber nachdächte.«

»Nun denn, hihihi!« sagte Herr Peter Magnus mit verschämtem Kichern, »was würden Sie denken, Herr Pickwick, wenn ich hierhergekommen wäre, um einen Heiratsantrag zu machen? hihihi.«

»Was ich denken würde? Je nun, daß Sie höchstwahrscheinlich damit Erfolg haben werden«, erwiderte Herr Pickwick mit dem freundlichsten Lächeln.

»Ach«, sagte Herr Magnus, »denken Sie das wirklich, Herr Pickwick? Meinen Sie das?«

»Sicher«, antwortete Herr Pickwick.

»Nicht doch, Sie scherzen.«

»Nein, gewiß nicht.«

»Nun denn«, sagte Herr Magnus; »um Ihnen ein kleines Geheimnis zu entdecken – ich glaube es auch. Auch will ich’s Ihnen verraten, Herr Pickwick, obwohl ich von Natur fürchterlich eifersüchtig bin – die Dame ist hier im Hause.«

Damit nahm Herr Magnus seine Brille ab, um zu blinzeln, und setzte sie dann wieder auf.

»Das war es also, warum Sie vor dem Essen so oft aus dem Zimmer liefen?« fragte Herr Pickwick neckisch.

»Pst – ja, Sie haben recht; das war’s. Doch war ich nicht blind verliebt genug, um mich ihr zu zeigen.«

»Nicht?«

»Nein; Sie wissen, das geht nicht, wenn man eben erst von der Reise kommt; will warten bis morgen, Sir – dann habe ich noch einmal so gute Aussichten. In diesem Reisesack, Herr Pickwick, befindet sich ein Anzug, und in diesem Futteral ein Hut, wovon ich mir einen außerordentlichen Eindruck verspreche.«

»Wirklich?« fragte Herr Pickwick.

»Ja; Sie müssen bemerkt haben, wie ich heute so besorgt darum war. Ich glaube, daß ein solcher Anzug und ein solcher Hut nirgends sonst für Geld zu haben ist, Herr Pickwick.«

Herr Pickwick wünschte dem beglückten Eigentümer der unwiderstehlichen Kleidungsstücke zu ihrer Erwerbung Glück, und Herr Peter Magnus versank auf einige Augenblicke in tiefes Nachsinnen.

»Es ist ein hübsches Geschöpf«, sagte Herr Magnus.

»Wirklich?« fragte Herr Pickwick.

»Sehr hübsch«, erwiderte Herr Magnus, »sehr hübsch. Sie wohnt ungefähr 20 Meilen von hier, Herr Pickwick. Ich erfuhr, daß sie heute abend und morgen noch den ganzen Vormittag hier bleiben wird, und nun bin ich hergereist, um diese günstige Gelegenheit zu benutzen. Meiner Ansicht nach ist ein Gasthof ein sehr geeigneter Platz, um einem ledigen Frauenzimmer einen Antrag zu machen. Auf der Reise wird ihr die Verlassenheit ihrer Lage fühlbarer, als wenn sie zu Hause ist. Was halten Sie davon, Herr Pickwick?«

»Ich halte das für sehr gut möglich«, versetzte der Angeredete.

»Verzeihung, Herr Pickwick«, sagte Herr Peter Magnus, »aber ich bin von Natur etwas neugierig; was mag Sie hierhergeführt haben?«

»Ein weit weniger angenehmes Geschäft«, erwiderte Herr Pickwick, dem bei der Erinnerung das Blut in die Wangen stieg – »ich bin hierhergekommen, Sir, um die Verräterei und Falschheit einer Person zu entlarven, in deren Ehre und Treue ich unbegrenztes Vertrauen gesetzt habe.«

»Ach, um Gottes willen«, sagte Herr Peter Magnus, »das ist sehr unangenehm. Es ist vermutlich eine Dame? Nicht wahr? Ach, schlau, Herr Pickwick, schlau. Doch, Herr Pickwick, ich möchte Ihren Gefühlen um alles in der Welt nicht zu nahe treten. Schmerzlich so was, Sir, sehr schmerzlich. Scheuen Sie sich nicht, Herr Pickwick, wenn Sie Ihren Gefühlen Luft zu machen wünschen. Ich weiß, was es heißt, in der Liebe getäuscht zu werden, Sir; ich selbst habe schon drei- oder viermal solche Erfahrung gemacht.«

»Ich bin Ihnen für Ihre Teilnahme an dem, was Sie für den Grund meines Ärgers halten, sehr verbunden«, sagte Herr Pickwick, seine Uhr aufziehend und auf den Tisch legend, »aber –«

»Nein – nein«, fiel Herr Peter Magnus ein: «kein Wort mehr. – Es tut Ihnen weh, ich seh‘ es. Wieviel Uhr haben wir, Herr Pickwick?«

»Zwölf Uhr durch.«

»Himmel, dann ist es aber höchste Zeit, schlafen zu gehen. Ich darf nicht länger aufbleiben, da ich sonst morgen blaß aussehen würde, Herr Pickwick.«

Und erschreckt von dem bloßen Gedanken an ein solches Unglück, klingelte Herr Peter Magnus dem Stubenmädchen. Nachdem der gestreifte Reisesack, der rote Reisesack, das lederne Hutfutteral und das Löschpapierpaket in sein Schlafzimmer gebracht worden waren, zog er sich mit einem lackierten Leuchter nach dem einen Ende des Hauses zurück, während Herr Pickwick und ein anderer lackierter Leuchter durch eine Unzahl verschlungener Gänge nach dem andern geführt wurde.

»Das ist Ihr Zimmer, Sir«, bemerkte das Stubenmädchen.

»Gut«, erwiderte Herr Pickwick, sich rings umsehend.

Es war ein ziemlich geräumiges, mit zwei Betten versehenes Gemach, in dem ein Feuer brannte – jedenfalls ein weit wohnlicherer Aufenthalt, als Herr Pickwick vermöge seiner kurzen Erfahrung von den Bequemlichkeiten des großen weißen Rosses erwartet hatte.

»Im andern Bette schläft natürlich niemand?« fragte Herr Pickwick.

»Nein, Sir.«

»Schön. Sagen Sie meinem Diener, ich brauche ihn nicht mehr, aber morgen möchte er mir um halb neun Uhr warmes Wasser heraufbringen.«

»Ja, Sir.«

Und Herrn Pickwick eine gute Nacht wünschend, zog sich das Stubenmädchen zurück und ließ ihn allein.

Herr Pickwick setzte sich vor das Feuer, und eine Reihe von Bildern zog an seinem Geiste vorüber. Zuerst dachte er an seine Freunde, und grübelte darüber nach, wann sie etwa kommen würden; dann kehrten seine Gedanken bei Frau Martha Bardell ein, und von dieser Dame wanderten sie vermöge einer natürlichen Ideenfolge in die düstere Schreibstube von Dodson und Fogg. Von Dodson und Fogg flogen sie in einem rechten Winkel unmittelbar in den Mittelpunkt der Geschichte von dem seltsamen Klienten; und dann kehrten sie in das große weiße Roß zu Ipswich zurück, wo sie sein Bewußtsein noch klar genug fanden, um ihn gewahren zu lassen, daß er eben im Begriff sei, einzuschlafen. Er erhob sich also von seinem Stuhl und begann sich auszukleiden, als er sich erinnerte, daß er seine Uhr unten auf dem Tische habe liegen lassen. Diese Uhr aber stand bei Herrn Pickwick in besonderer Gunst, da er sie eine größere Anzahl von Jahren, als wir uns hier anzugeben berufen fühlen, unter dem Schatten seiner Weste mit sich herumgetragen hatte. Noch nie hatte Herr Pickwick auch nur an die Möglichkeit gedacht, einzuschlafen, ohne sie unter seinem Kopfkissen oder in seiner Uhrtasche über seinem Kopfe ticken zu hören. Aber es war schon spät, und da er zu dieser Stunde der Nacht die Glocke nicht mehr ziehen wollte, so schlüpfte er in seinen Rock, den er soeben abgelegt hatte, nahm den lackierten Leuchter und ging still die Treppe hinunter.

Je mehr Treppen aber Herr Pickwick hinunterging, desto mehr schien er wieder hinaufsteigen zu müssen, und so ging es fort und fort; wenn Herr Pickwick in einen schmalen Gang gekommen war und sich bereits Glück zu wünschen anfing, den Hausflur erreicht zu haben, so zeigte sich eine neue Treppe vor seinen erstaunten Blicken. Endlich kam er in einen mit Steinplatten belegten Vorsaal, den er, soviel er sich erinnerte, beim Eintritt in das Haus gesehen hatte. Er durchsuchte Gang für Gang, öffnete Zimmer für Zimmer, und endlich, als er bereits im Begriff stand, in der Verzweiflung seine Nachforschungen aufzugeben, fand er die Tür des Zimmers, in dem er den Abend zugebracht hatte, und sah sein vemißtes Eigentum auf dem Tische liegen. Er ergriff die Uhr im Triumph und begab sich sofort auf den Rückweg nach seinem Schlafzimmer. War aber seine Herreise mit Schwierigkeiten und Gefahren verbunden gewesen, so war sein Rückzug noch unendlich schwieriger.

In jeder Richtung verzweigten sich Reihen von Türen, vor denen Stiefel von jeglicher Gestalt, Fasson und Größe standen. Ein Dutzendmal faßte er behutsam den Griff einer Schlafzimmertür an, die die seinige zu sein schien, als eine barsche Stimme im Innern ertönte, »zum Teufel, wer ist da?« oder »was wollt Ihr hier?« worauf er sich mit einer wahrhaft bewundernswürdigen Schnelligkeit auf den Zehen davonmachte. Er war bereits am Rande der Verzweiflung, als endlich eine offene Tür seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Er blickte hinein – endlich die rechte.

Dort standen zwei Betten, deren Lage ihm noch vollkommen erinnerlich war, und auf dem Kamin brannte noch das Feuer. Seine Kerze, die schon, als er sie empfangen, nicht zu den längsten gehörte, war in dem Luftzuge, dem er auf seiner Wanderung durch die langen Gänge ausgesetzt gewesen, herabgebrannt, und fiel, als er eben die Tür hinter sich schloß, in die Röhre des Leuchters hinunter. »Hat nichts zu bedeuten«, meinte Herr Pickwick: »ich kann mich ebensogut beim Schein des Feuers auskleiden.«

Die Betten standen, das eine rechts, das andere links von der Tür, und waren von der Wand durch einen Gang getrennt, der breit genug war, daß man von ihm aus ins Bett steigen konnte. Nachdem er die Vorhänge seines Bettes auf der Außenseite sorgfältig zugezogen hatte, setzte sich Herr Pickwick auf den Strohsessel, der am Ende des besagten Ganges neben dem Bett stand, und entledigte sich langsam seiner Schuhe und Gamaschen. Dann legte er seinen Rock, seine Weste und seine Halsbinde ab, setzte bedächtig seine mit einer Troddel versehene Nachtmütze auf und befestigte sie auf seinem Kopf, indem er die Bänder, die an diesem Teile seines Bettanzugs nie fehlten, unter dem Kinn zusammenknüpfte. In diesem Augenblick dachte er an die närrische Verlegenheit, in der er

 

sich eben befunden hatte, lehnte sich in den Strohsessel zurück, und lachte so herzlich über sich selbst, daß es für einen jeden Mann von wohlbestelltem Gemüt höchst ergötzlich gewesen wäre, das Lächeln zu beobachten, das seine liebenswürdigen Züge unter der Nachtmütze verklärte.

»Kann man sich auch etwas Possierlicheres träumen«, sagte Herr Pickwick zu sich selbst, und lachte dabei so herzlich, daß beinahe die Bänder seiner Nachtmütze krachten – »kann man sich auch etwas Possierlicheres träumen, als sich in diesem Gebäude zu verlieren, und auf den Treppen umherzuirren? Drollig, drollig, sehr drollig.«

Hier lachte Herr Pickwick wieder, und zwar herzlicher als je, und stand im Begriff, in der möglich besten Laune das Geschäft des Auskleidens fortzusetzen, als er plötzlich durch eine höchst unerwartete Unterbrechung gestört wurde. Es trat nämlich jemand mit einem Licht ins Zimmer, verschloß die Tür hinter sich, und stellte das Licht auf das Nachttischchen.

Das Lächeln, das auf Herrn Pickwicks Zügen spielte, ward augenscheinlich in einen Blick grenzenlosesten Erstaunens verwandelt. Die Person, wer sie auch immer sein mochte, war so plötzlich und mit so wenig Geräusch eingetreten, daß Herr Pickwick keine Zeit gehabt hatte, zu rufen, oder sich ihrem Eintritt zu widersetzen. Wer konnte es sein? Ein Räuber? Irgendein Spitzbube, der ihn vielleicht, mit der schönen Uhr in der Hand, die Treppe heraufkommen sah? Was war zu tun?

Der einzige Weg, um den geheimnisvollen Besuch mit so wenig Gefahr für sich selbst als möglich zu beobachten, war der, ins Bett zu schlüpfen und hinter den Vorhängen der entgegengesetzten Seite hinauszuspähen. Hierzu nahm Herr Pickwick also seine Zuflucht. Er hielt die Vorhänge vorsichtig mit der Hand zusammen, so daß man nichts als sein Gesicht und seine Nachtmütze sehen konnte, setzte seine Brille auf, nahm sein Herz in beide Hände und lugte hinaus.

Herr Pickwick fiel vor Schrecken beinahe in Ohnmacht. Denn vor dem Toilettenspiegel stand eine Dame von mittlerem Alter mit gelben Haarwickeln, die eifrig damit beschäftigt war, dasjenige zu bürsten, was die Damen ihren »Wilhelm« nennen. Wie nun auch die arglose Dame von mittlerem Alter in das Zimmer gekommen sein mochte, soviel war gewiß, daß sie die Nacht über hier zu bleiben gesonnen war, denn sie hatte ein Nachtlicht mit einem Lichtschirm mitgebracht, das sie mit lobenswerter Vorsicht gegen Feuersgefahr in ein Waschbecken auf den Boden gestellt hatte, wo es, gleich einem riesenhaften Leuchtturm in einem ungemein kleinen See, fortglimmte.

»Gott im Himmel«, dachte Herr Pickwick, »was für ein furchtbares Ereignis.«

»Hem!« machte die Dame, und Herrn Pickwicks Kopf fuhr mit der Schnelligkeit eines Taschenspielers zurück.

»So etwas Fürchterliches ist mir noch nie begegnet« – dachte der arme Pickwick, indem kalte Schweißtropfen durch seine Nachtmütze drangen. »Noch nie. Das ist ja schauderhaft.«

Er konnte unmöglich dem dringenden Verlangen widerstehen, zu beobachten, was nun weiter vor sich gehen sollte. Herrn Pickwicks Kopf zeigte sich also wieder zwischen den Vorhängen. Der Anblick, der sich ihm darbot, war noch entsetzlicher als vorher. Die Dame von mittlerem Alter hatte ihr übriges Haar zurechtgebürstet, sorgfältig in eine musselinene, mit schmalen, gefalteten Spitzen besetzte Schlafhaube verhüllt, und sah gedankenvoll ins Feuer.

»Die Sache fängt an, bedenklich zu werden«, überlegte Herr Pickwick bei sich selbst. »So kann es nicht fortgehen. Die Unbefangenheit dieser Dame ist mir ein klarer Beweis, daß ich ins falsche Zimmer geraten sein muß. Wenn ich sie anrufe, so bringt sie das ganze Haus in Aufruhr, und wenn ich ruhig bleibe, so können die Folgen noch fürchterlicher sein.«

Es ist durchaus nicht nötig, zu bemerken, daß Herr Pickwick einer von den bescheidensten und zartfühlendsten Sterblichen war. Der bloße Gedanke, seine Nachtmütze einer Dame zu zeigen, erfüllte ihn mit Schauder, aber er hatte die verdammten Bänder in einen Knoten zusammengezogen, den er um alle Welt nicht aufzulösen vermochte. Und doch mußte er sich entdecken. Es stand ihm nur noch ein Ausweg zu Gebote. Er zog sich hinter die Vorhänge zurück, und gab die Laute von sich –

»Ha – Hm!«

Daß die Dame bei diesen unerwarteten Tönen außerordentlich erschrak, war offenbar, denn sie stolperte gegen den Lichtschirm, und daß sie sich überredete, es müsse nur Einbildung gewesen sein, war ebenfalls klar, denn als Herr Pickwick, den die voraussichtliche Ohnmacht der Dame beinahe versteinert hatte, wieder hinauszuspähen wagte, blickte sie wie zuvor nachdenklich ins Feuer.

»Ein recht resolutes Frauenzimmer das«, dachte Herr Pickwick und hustete wieder: »ha – hm.«

Die letzteren Töne, die denen so sehr glichen, wodurch der wilde Riese Blunderbore, nach der Erzählung des Märchens, gewöhnlich seine Ansicht ausdrückte, daß es Zeit sei, den Tisch zu decken, waren zu deutlich, um noch einmal als Wirkungen der Einbildungskraft zu gelten.

»Gott sei mir gnädig!« rief die Dame von mittlerem Alter; »was ist das?«

»Es ist – es ist – nur ein Herr, Madame«, sagte Herr Pickwick hinter den Vorhängen.

»Ein Herr!« rief die Dame, mit einem furchtbaren Entsetzensschrei.

»Jetzt ist’s aus«, dachte Herr Pickwick.

»Eine fremde Mannsperson!« schrie die Dame.

Noch einen Augenblick, und das Haus kam in Aufruhr. Ihre Kleider rauschten, als sie der Tür zueilte.

»Madame«, – rief Herr Pickwick, seinen Kopf hervorstreckend, in der äußersten Verzweiflung. »Madame.«

Obgleich Herr Pickwick keinen bestimmten Zweck dabei hatte, als er den Kopf hinausstreckte, so brachte er dadurch doch augenblicklich eine gute Wirkung hervor. Wie wir bereits gemeldet haben, war die Dame nahe an der Tür. Sie mußte sie passieren, um die Treppe zu erreichen, und würde sie zweifelsohne bereits erreicht haben, hätte sie nicht die plötzliche Erscheinung von Herrn Pickwicks Nachtmütze in die entfernteste Ecke des Zimmers zurückgetrieben, von wo aus sie wilde Blicke auf Herrn Pickwick schoß, die von Herrn Pickwick seinerseits erwidert wurden.

»Elender!« – sagte die Dame, die Hand vor die Augen haltend, »was suchen Sie hier?«

»Nichts, Madame – durchaus nichts, Madame«, antwortete Herr Pickwick ernsthaft.

»Nichts?« rief die Dame, die Augen aufschlagend.

»Nichts, Madame, auf meine Ehre«, versicherte Herr Pickwick, mit so nachdrücklichem Kopfschütteln, daß die Troddel seiner Nachtmütze hin und her tanzte. »Ich sinke vor Scham, eine Dame in meiner Nachtmütze anzureden (hier riß die Dame ihre Schlafmütze hastig herunter) beinahe in die Erde, aber ich kann den Knoten nicht lösen, Madame (hier zog Herr Pickwick, zum Beweis für seine Behauptung, mit furchtbarer Gewalt an den Bändern). Es ist mir jetzt klar, Madame, daß ich in das falsche Zimmer geraten bin. Ich war noch nicht fünf Minuten hier, als Sie plötzlich eintraten.«

»Wenn diese unwahrscheinliche Geschichte wirklich wahr sein soll« – sagte die Dame unter heftigem Schluchzen, »so werden Sie sich augenblicklich entfernen.«

»Mit dem größten Vergnügen, Madame« – erwiderte Herr Pickwick.

»Augenblicklich, Sir«, wiederholte die Dame.

»Gewiß, Madame«, fiel Herr Pickwick eiligst ein. »Gewiß, Madame. Ich – ich – bin untröstlich, Madame«, sagte Herr Pickwick, indem er sich unten am Bettgestell zeigte, »die unschuldige Ursache dieser Unruhe und Aufregung gewesen zu sein: ganz untröstlich, Madame!«

Die Dame deutete auf die Tür.

In diesem Augenblick zeigte sich trotz der ungemein mißlichen Umstände eine vorzügliche Eigenschaft von Herrn Pickwicks Charakter. Obgleich er nach Art der alten Nachtwächter seinen Hut hastig über die Nachtmütze gedrückt hatte: obgleich er seine Schuhe und Gamaschen in der Hand und seinen Rock und seine Weste auf den Armen trug, so konnte doch nichts seine angeborene Höflichkeit zurückdrängen.

»Ich bin über die Maßen untröstlich, Madame«, sagte Herr Pickwick mit einer sehr tiefen Verbeugung.

»Wenn Sie das sind, so werden Sie das Zimmer sogleich verlassen«, erwiderte die Dame.

»Unverzüglich, Madame: augenblicklich, Madame«, sagte Herr Pickwick, die Tür öffnend, wobei seine Schuhe mit großem Gepolter zu Boden fielen.

»Ich hoffe, Madame –« begann Herr Pickwick wieder, seine Schuhe aufnehmend und sich mit einer wiederholten Verbeugung nach der Dame umwendend, »ich hoffe, Madame, mein unbescholtener Charakter und die große Achtung, die ich Ihrem Geschlecht zolle, werden ein gutes Wörtchen zur Entschuldigung für mich –«

Doch ehe Herr Pickwick seinen Satz vollenden konnte, hatte ihn die Dame bereits in den Gang gedrängt, und die Tür hinter ihm verschlossen und verriegelt.

So viele Gründe Herr Pickwick auch haben mochte, sich Glück zu wünschen, daß es bei der ungeheuren Gefahr, die ihm gedroht hatte, so gnädig abgegangen war, war doch seine gegenwärtige Lage durchaus nicht beneidenswert. Er war allein, in einem offenen Gang, in einem fremden Hause, nur halb angekleidet, mitten in der Nacht. In der undurchdringlichen Finsternis konnte er unmöglich den Weg nach einem Zimmer finden, das er mit dem Licht nicht entdeckt hatte, und wenn er bei seinen fruchtlosen Versuchen das geringste Geräusch machte, so lief er Gefahr, von irgendeinem wachsamen Reisenden erschossen zu werden. Es blieb ihm daher nichts übrig, als zu bleiben, wo er war, bis der Tag anbrach. Er tappte noch einige Schritte vorwärts und stolperte dabei zu seinem unendlichen Schrecken über mehrere Paar Stiefel, dann drückte er sich in eine kleine Nische in der Wand, um den Morgen mit soviel philosophischer Ruhe wie möglich zu erwarten.

Er war aber nicht dazu bestimmt, diese neue Geduldsprobe voll durchmachen zu müssen: denn er war noch nicht lange in seinem Schlupfwinkel versteckt, als sich zu seinem unaussprechlichen Schrecken am Ende des Ganges ein Mann mit einem Lichte zeigte. Aber plötzlich verwandelte sich sein Schrecken in Freude, als er die Gestalt seines treuen Dieners erkannte. Es war in der Tat Samuel Weller, der eben im Begriff war, sich zur Ruhe zu begeben. Er hatte sich solange mit dem Hausknecht unterhalten, der die Briefpost erwartete.

»Sam«, sagte Herr Pickwick, plötzlich vor ihn hintretend, »wo ist mein Schlafzimmer?«

Herr Weller starrte seinen Herrn mit größtem Erstaunen an, und erst nachdem dieser die Frage dreimal wiederholt hatte, wandte er sich um und führte ihn nach dem lange gesuchten Zimmer.

»Sam«, sagte Herr Pickwick, als er zu Bett ging, »ich habe heute nacht einen der außerordentlichsten Mißgriffe getan, die man je erlebt hat.«

»Sehr glaublich, Sir«, erwiderte Herr Weller trocken,

»Aber ich bin entschlossen, Sam«, fuhr Herr Pickwick fort, »mich, wenn wir auch noch ein halbes Jahr in diesem Hause bleiben sollten, nie wieder allein in dieses Labyrinth zu wagen.«

»Das ist der klügste Entschluß, den Sie fassen können, Sir«, versetzte Herr Weller. »Sie sollten jemand haben, der nach Ihnen sieht, wenn Ihr Verstand auf die Wanderschaft geht.«

»Was meinst du damit, Sam?« fragte Herr Pickwick, indem er sich im Bett aufrichtete und die Hand hervorstreckte, als wolle er noch mehr sagen, dann aber hielt er plötzlich inne, legte sich auf die Seite und wünschte seinem Diener gute Nacht.

»Gute Nacht, Sir«, antwortete Herr Weller, ging zur Tür hinaus – blieb stehen – schüttelte den Kopf – ging weiter – stand still – putzte das Licht – schüttelte den Kopf wieder – und trat endlich langsam in sein Schlafzimmer, offenbar in das tiefste Nachdenken versunken.

Vierundzwanzigstes Kapitel.


Vierundzwanzigstes Kapitel.

In dem Herr Samuel Weller alle seine Kräfte aufbietet, mit Herrn Trotter eine alte Rechnung auszugleichen.

In einem kleinen Gemach, in der Nähe der Ställe, saß am Morgen, der auf Herrn Pickwicks Abenteuer mit der Dame von mittlerem Alter und den gelben Haarwickeln folgte, Herr Weller senior, mit den Vorbereitungen zu seiner Reise nach London beschäftigt. Seine Stellung war ganz dazu geeignet, sein Porträt zu zeichnen, weshalb wir es dem Leser vorführen wollen.

Es ist wohl möglich, daß Herrn Wellers Profil in einer früheren Periode seines Lebens kühne und scharfe Umrisse darbot. Aber unter dem Einfluß des »guten Lebens« und einer außerordentlichen Neigung zur Indolenz hatte er seine Dimensionen vergrößert, und seine kühnen fleischigen Formen waren so weit über die ihnen von Natur angewiesenen Grenzen getreten, daß es sehr schwer hielt, etwas mehr als die äußerste Spitze einer hochroten Nase zu entdecken, wenn man sein Gesicht nicht ganz en face betrachtete. Sein Kinn hatte aus derselben Ursache jene würdevolle und imposante Form angenommen, die man gewöhnlich durch Vorsehung des bedeutungsvollen »doppel« zu bezeichnen pflegt, und seine Gesichtsfarbe war aus jenen eigentümlichen Mischungen des Kolorits zusammengesetzt, die man nur bei Herren seines Gewerbes und bei halbgarem Rostbeef findet. Um seinen Nacken schlang sich ein karmoisinrotes Halstuch, wie man es auf Reisen zu tragen pflegt, und ging in so unmerklichen Stufen in das Kinn über, daß man kaum die Falten des einen von denen des andern unterscheiden konnte. Über den Enden des Tuches trug er eine lange Weste von rotgestreiftem Zeuge, und darüber wieder einen grünen Rock mit breitem Saum und großen Metallknöpfen, von denen die beiden, die in der Taille saßen, so weit von einander abstanden, daß man sie unmöglich zu gleicher Zeit sehen konnte. Sein kurzes, glattes, schwarzes Haar lugte kaum unter der breiten Krempe eines niederen braunen Hutes hervor. Seine Beine steckten in kurzen Hosen und farbigen Stulpenstiefeln: und von seiner geräumigen Westentasche hing eine kupferne Uhrkette, die ein einziges Petschaft und einen Schlüssel von gleichem Material endigte, nachlässig herunter.

Wir haben gesagt, Herr Weller sei mit den Vorbereitungen zu seiner Reise nach London beschäftigt gewesen; er nahm nämlich zur Stärkung ein entsprechende« Frühstück zu sich. Auf dem Tische vor ihm stand eine Flasche Ale Ein Bier, das ohne Hopfen bereitet wird., ein kaltes Stück Ochsenfleisch, ein mächtiger Laib Brot, und jedem dieser Gegenstände schenkte er mit der strengsten Unparteilichkeit abwechslungsweise seine Gunst. Er hatte soeben ein mächtiges Stück von dem letzteren abgeschnitten, als Fußtritte nahten; er hob den Kopf und sah seinen Sohn, der eben in das Zimmer trat.

»’n Morgen, Sammy«, sagte der Vater.

Der Sohn näherte sich dem Bierkruge, winkte seinem Vater zu, und verhalf sich, als Erwiderung des Grußes, zu einem kräftigen Schlucke.

»Du hast einen guten Zug, Sammy«, bemerkte Herr Weller der ältere, in den Krug hineinsehend, den sein Erstgeborener bis zur Hälfte geleert hatte. »Du hättest ja eine ungewöhnlich noble Auster Weil die Auster in ihrem Saft schwimmt, nimmt Vater Weiler diesen Vergleich auf. abgegeben, Sammy, wenn du auf dieser Lebensstufe geboren worden wärest.«

»Ja, ich darf sagen, ich hätte mir da auch etwas Ordentliches gegönnt«, erwiderte Sam , sich mit respektablem Eifer über das kalte Ochsenfleisch hermachend.

»Es schmerzt mich tief, Sammy«, sagte der ältere Herr Weller, schüttelte als Vorbereitung zum Trinken das Bier und beschrieb mit dem Krug kleine Kreise. »Es schmerzt mich sehr, Sammy, aus deinem Munde zu hören, daß du dich von dem maulbeerfarbenen Kerl für’n Narren halten ließest. Vor drei Tagen dachte ich noch, Sammy, die Namen Weller und Narr könnten niemals miteinander in Berührung kommen.«

»Doch natürlich den Fall ausgenommen, wo es sich um gewisse Witwen handelt«, fiel Sammy ein.

»Witwen, Sammy«, erwiderte Herr Weller, die Farbe etwas verändernd, »Witwen sind Ausnahmen von jeder Regel. Ich habe mal davon gehört, wieviel durchschnittliche Jungfern von einer Witwe aufgewogen werden, wenn es sich darum handelt, einen hinters Licht zu führen; ich glaube fünfundzwanzig, doch weiß ich nicht gewiß, ob es nicht mehr sind.«

»Nun, das ist doch ziemlich viel«, sagte Sam.

»Übrigens«, fuhr Herr Weller fort, ohne die Unterbrechung zu beachten, »ist das etwas ganz anderes. Du weißt Sammy, wie jener Advokat sagte, als er den Herrn verteidigte, der seine Frau mit dem Schüreisen schlug, wenn er lustig wurde. ›Und am Ende, Mylord‹, sagte er, ›ist es nichts weiter, als eine liebenswürdige Schwachheit.‹ Und das sage ich in bezug auf meine Neigung zu Witwen, Sammy, und so wirst auch du sagen, wenn du so alt bist, wie ich.«

»Ich weiß«, versetzte Sam, »ich hätte sollen gescheiter sein.«

»Sollen gescheiter sein?« wiederholte Herr Weller mit der Faust auf den Tisch schlagend. »Sollen gescheiter sein? Ja, ich kenne einen jungen Burschen, der nicht den vierten Teil von deiner Erziehung genossen hat – der noch keine sechs Monate auf den Marktplätzen kampierte – der hätte sich nicht so anführen lassen. Nein, Sammy, dem wäre das nicht passiert, Sammy.«

In der Gemütserregung, die durch diese peinlichen Gedanken hervorgerufen wurde, zog Herr Weller die Glocke und befahl einen zweiten Krug Ale.

»Aber das Schwatzen nützt jetzt nichts mehr«, sagte Sam; »es ist vorbei und die Sache läßt sich nicht mehr ändern. Das ist mein Trost, wie sie in der Türkei sagen, wenn sie dem Unrechten den Kopf abgeschlagen haben. Jetzt ist die Reihe an mir, Vater, und wenn ich diesen Trotter hier unter die Klauen bekomme, so soll er seine Lebtage daran denken.«

»Das hoffe ich von dir, Sammy, das hoffe ich von dir«, antwortete Herr Weller. »Auf dein Wohl, Sammy! und mögest du bald die Schmach abwaschen, mit der du unsern Familiennamen befleckt hast.«

Zu Ehren dieses Toastes nahm Herr Weller wenigstens zwei Drittel von dem Inhalte des neu hingestellten Kruges zu sich, und händigte ihn seinem Sohne ein, daß dieser über den Rest verfüge.

»Und nun Sammy«, sagte Herr Weiler, die große doppelgehäusige silberne Uhr, die am Ende der kupfernen Kette hing, zu Rate ziehend. »Nun ist’s Zeit, daß ich auf die Post gehe, um mich dort einschreiben zu lassen und zuzusehen, wie die Kutsche geladen wird; denn Postkutschen, Sammy, sind wie Kanonen, die mit großer Sorgfalt geladen werden müssen, ehe sie losgehen.«

Diesen seinem Gewerbe entlehnten Scherz des Vaters begleitete Herr Weller junior mit dem Lächeln kindlicher Liebe. Sein verehrter Erzeuger fuhr mit feierlichem Tone fort. –

»Mein Sohn Samuel, ich verlasse dich jetzt, und niemand weiß, wann ich dich wiedersehe. Deine Stiefmutter ist mir dann vielleicht zuviel geworden, und tausend Dinge können sich ereignet haben, bis du wieder etwas von dem berühmten Herrn Weller von Bell Savage hörst. Der Familienname hängt nun größtenteils von dir ab, Samuel, und ich hoffe, du wirst ihm keine Schande machen. In allen geringeren Stücken der Erziehung kann ich mich, das weiß ich, so gut auf dich verlassen, wie auf mich selbst. Ich habe dir also nur noch einen Rat zu geben. Wenn du in die Fünfzig kommst und Neigung fühlst, dich mit irgendeiner Person zu verheiraten – gleichviel, wer es sei – so schließe dich in dein Kämmerlein ein, wenn du eins hast, und vergifte dich unverzüglich. Hängen ist etwas Gemeines, also daran darfst du nicht denken. Vergifte dich, mein Sohn Samuel, vergifte dich, und du wirst nachher froh darüber sein.«

Bei diesen liebevollen Ermahnungen sah Herr Weller seinem Sohne ernst ins Gesicht. Dann machte er eine imposante Verbeugung, indem er den rechten Fuß vorrückte und mit dem Absatz einen Halbkreis beschrieb. Schließlich verschwand er aus Sams Augen.

In der ernsten Stimmung, die diese Worte hervorgerufen, verließ Herr Samuel Weller das große weiße Roß und richtete seine Schritte gegen die St.-Klemens-Kirche, wo er versuchte, seine Schwermut zu vergessen. Er schlenderte um die altertümliche Umgebung dieses Gebäudes herum. Nach einiger Zeit sah er sich auf einem abgelegenen Platze – in einer Art Hof von ehrwürdigem Ansehen – der, wie er bemerkte, keinen andern Ausgang hatte, als die Öffnung, durch die er eingetreten war. Er war eben daran, wieder umzukehren, als er durch eine plötzliche Erscheinung gleichsam an die Erde gebannt wurde, wie der Leser sogleich hören wird. In seine Gedanken vertieft, hatte Herr Samuel Weller von Zeit zu Zeit an den roten Backsteinhäusern hinaufgesehen, und dabei manchem rotwangigem Dienstmädchen zugenickt, das einen Vorhang aufzog oder ein Fenster in einem Schlafzimmer öffnete. Da ging das grüne Gartentor am Ende des Hofes auf, und ein Mann, der eintrat, schloß es wieder sorgfältig hinter sich ab, worauf er mit schnellen Schritten der Stelle zuging, wo Herr Weller stand.

Als Einzeltatsache, ohne alle Nebenumstände betrachtet, lag nicht gerade etwas Außerordentliches in dieser Erscheinung; denn in vielen Teilen der Welt kommen Männer aus Gärten, schließen grüne Tore hinter sich ab und gehen rasch ihres Weges weiter, ohne die Augen der Welt in besonderem Grade auf sich zu ziehen. Es ist also klar, daß an der Person, oder in den Manieren dieses Mannes, oder in beiden etwas liegen mußte, was Herrn Wellers Aufmerksamkeit besonders anzog. Ob das der Fall war oder nicht, müssen wir der Beurteilung des Lesers überlassen, wenn wir das Benehmen des fraglichen Individuums geschildert haben werden.

Als der Mann das grüne Tor hinter sich abgeschlossen hatte, ging er, wie wir schon zweimal bemerkt haben, mit schnellen Schritten im Hofe vorwärts. Aber kaum hatte er Herrn Weller zu Gesicht bekommen, als er anhielt und stillstand, als ob er im Augenblicke unschlüssig geworden wäre, was er tun sollte. Da das grüne Tor hinter ihm abgeschlossen war, und der Hof keinen andern Ausgang hatte, als den in der Front, so gelangte er natürlich bald zu dem Entschluß, er müsse an Herrn Samuel Weller vorbei, um hinauszukommen. Er nahm also seinen schnellen Schritt wieder auf und starrte gerade vor sich hin, während er weiterging. Das Außerordentlichste an dem Mann war aber, daß er sein Gesicht in die fürchterlichsten und entsetzlichsten Fratzen verzerrte, die man jemals gesehen hat. Noch nie ward ein Gebilde der Natur durch plastische Verstellung in einem Augenblicke so kunstreich maskiert, wie das Gesicht dieses Menschen durch seine Mimik.

»Nun« – sagte Herr Weller zu sich selbst, als der Mann näher kam. »Ich hätte darauf schwören mögen, er sei’s.«

Der Mann kam herbei, und sein Gesicht war noch furchtbarer entstellt, als je.

»Ich könnte einen Eid darauf ablegen, es ist sein schwarzes Haar und sein maulbeerfarbener Anzug«, sagte Herr Weller: »nur habe ich bis jetzt noch nie ein solches Gesicht gesehen.«

Während Herr Weller das sagte, nahmen die Züge des Mannes einen dämonischen, scheußlichen Ausdruck an. Er mußte jedoch ganz nahe an Sam vorüber, und der forschende Blick dieses Herrn erkannte trotz dieser furchtbaren Gesichtsverzerrungen doch etwas, was Herrn Hiob Trotters kleinen Äuglein glich, deutlich genug, um vor einer Verwechselung sicher zu sein.

»Holla, guter Freund«, schrie Sam überlaut.

Der Fremde stand still.

»Holla«, widerholte Sam in noch rauherem Tone.

Der Mann mit dem fürchterlichen Gesicht sah mit der größten Überraschung den Hof hinauf und den Hof hinunter und an den Fenstern der Häuser empor – überall hin, nur nicht auf Sam Weller – und tat dann einen Schritt weiter, als er durch einen dritten Ruf wieder zum Stehen gebracht wurde.

»Holla, mein guter Freund«, – schrie Sam zum drittenmal.

Jetzt gab’s kein Ausweichen mehr; der Fremde mußte endlich Sam Wellern gerade ins Gesicht sehen.

»Es hilft doch nichts – Hiob Trotter«, sagte Sam. »Lassen Sie diese Alfanzereien. Sie sind nicht so außerordentlich schön, daß Sie die paar natürlichen Züge in Ihrem Gesicht wegzuwerfen brauchen. Bringen Sie Ihre Augen nur wieder in gewöhnliche Lage, oder ich schlage sie Ihnen aus dem Kopf heraus. Hören Sie?«

Da Herr Weller durchaus geneigt schien, seine Worte zur Tat werden zu lassen, so gestattete Herr Trotter seinem Gesicht, allmählich seinen ursprünglichen Ausdruck wieder anzunehmen, und rief mit freudigem Erstaunen:

»Was seh‘ ich? Herr Walker!«

»Ach was!« versetzte Sam, »es macht Ihnen Freude, mich zu sehen, – nicht wahr?«

»Freude!« rief Hiob Trotter – »o, Herr Walker, hätten Sie nur gewußt, wie ich mich nach diesem Wiedersehen sehnte. Es ist zu viel, Herr Walker; ich kann es nicht ertragen, nein, ich kann nicht.«

Und mit diesen Worten brach Herr Trotter in einen Strom von Tränen aus, umschlang Herrn Weller mit den Armen und drückte ihn, im Übermaß der Freude, fest ans Herz.

»Gehen Sie«, rief Sam, über dieses Benehmen höchlich entrüstet und vergeblich bemüht, sich der Umarmung seines enthusiastischen Freundes zu entziehen. – »Gehen Sie weg, sag‘ ich Ihnen. Was heulen Sie denn so über mich hinein, Sie Handfeuerspritze?«

»Weil es mir so viel Freude macht. Sie zu sehen«, versetzte Hiob Trotter, Herrn Weller allmählich loslassend, nachdem die ersten Symptome von dessen Kampfbegierde verschwunden waren. »Oh, Herr Walker, das ist zu viel.«

»Zu viel?« wiederholte Sam, »Ich glaube auch, es ist zu viel.«

»Nun, was haben Sie mir denn zu sagen, he?«

Herr Trotter gab keine Antwort, denn sein kleines rosafarbenes Taschentuch hatte vollauf zu tun.

»Was haben Sie mir denn zu sagen, ehe ich Ihnen den Kopf einschlage?« wiederholte Weller in drohendem Tone.

»Wie?« rief Herr Trotter, mit einem Blicke tugendhaften Erstaunens.

»Was haben Sie mir zu sagen?«

»Ich, Herr Walker?«

»Nennen Sie mich nicht Walker. Mein Name ist Weller, Sie wissen das gut genug. Was haben Sie mir zu sagen?«

»Ach Gott, Herr Walker – Weller, meine ich – eine Menge Dinge, wenn Sie mich dahin begleiten wollen, wo wir ungestört miteinander sprechen können. Wenn Sie wüßten, wie sehr mich nach Ihnen verlangt hat, Herr Weller –«

»Mag freilich gewaltig gewesen sein«, bemerkte Sam trocken.

»Außerordentlich, außerordentlich, lieber Herr«, erwiderte Herr Trotter, ohne eine Miene zu verziehen. »Aber geben Sie mir die Hand, Herr Weller.«

Sam betrachtete seinen Kameraden einige Sekunden lang und erfüllte dann, wie durch plötzliche Eingebung dazu getrieben, sein Verlangen.

»Was macht –« fragte Hiob Trotter, als sie miteinander weitergingen – »was macht Ihr lieber, guter Herr? Oh, das ist ein würdiger Mann, Herr Weller. Ich hoffe, er hat sich in jener fürchterlichen Nacht doch keine Erkältung zugezogen?«

Es lag ein vorübergehender Ausdruck tief versteckter Bosheit in Hiob Trotters Auge, als er dies sagte, und ein Schauer durchrieselte Herrn Wellers geballte Faust, der ihm ein heftiges Verlangen einflößte, Herrn Trotters Rippen eine nähere Erklärung darüber abzufordern. Aber Sam bezwang sich und antwortete, seinem Herrn gehe es recht gut.

»O, wie mich das freut«, versetzte Herr Trotter. »Ist er hier?«

»Ist Ihr Herr hier?« fragte Sam dagegen.

»Oh ja, er ist hier, und es schmerzt mich, Herr Weller, Ihnen sagen zu müssen, daß er’s ärger treibt, als je.«

»Wirklich?« sagte Sam.

»Ja: ’s ist zum Erbarmen – schrecklich!«

»In einer Mädchenschule?« fragte Sam.

»Nein, in keiner Mädchenschule,« erwiderte Hiob Trotter, mit demselben boshaften Blick, den Sam vorhin bemerkt hatte – »in keiner Mädchenschule.«

»In dem Hause mit dem grünen Tor?« fragte Sam weiter, seinen Kameraden genau ins Auge fassend.

»Nein – nein – oh, dort nicht«, versetzte Hiob mit einer Eile, die man durchaus nicht an ihm gewohnt war.

»Was taten denn Sie dort?« fragte Sam, ihn scharf ansehend. – »Gingen Sie vielleicht bloß zufälligerweise durch das Tor?«

»Nun, Herr Weller,« erwiderte Hiob, »ich trage keine Bedenken, Ihnen meine kleinen Geheimnisse mitzuteilen, denn Sie wissen, was für eine Neigung wir gleich beim ersten Zusammentreffen für einander faßten. Sie erinnern sich, wie angenehm jener Morgen war?«

»Oh ja,« antwortete Sam ungeduldig; »ich erinnere mich. Nun?«

»Nun,« fuhr Hiob in dem leisen abgemessenen Tone eines Menschen fort, der jemandem ein wichtiges Geheimnis mitteilt, »in jenem Hause mit dem Tore, Herr Weller, ist eine zahlreiche Dienerschaft.«

»Das sieht man ihm an«, fiel Sam ein.

»Nun, und unter dieser Dienerschaft«, sprach Herr Trotter weiter, »befindet sich eine Köchin, die sich eine Kleinigkeit erspart hat, Herr Weller, und die, wenn sie sich häuslich niederlassen kann, einen kleinen Kramladen anzulegen gesonnen ist.«

»So?«

»Ja, Herr Weller. Nun, Freundchen, ich traf sie in einer Kapelle, die ich gewöhnlich besuche – ein sehr hübsches Kapellchen in dieser Stadt, Herr Weller, wo man aus Nummer vier der Sammlung geistlicher Lieder singt, die ich gewöhnlich in einem kleinen Buche bei mir trage. Sie haben es vielleicht in meiner Hand gesehen – und ich wurde mit ihr bekannt, Herr Weller, und daraus entspann sich ein näheres Verhältnis zwischen uns, und ich darf Ihnen sagen, Herr Weller, daß ich Aussicht habe, in dem Laden der Krämer zu werden.«

»Ei, und Sie werden ein sehr liebenswürdiger Krämer werden«, versetzte Sam, einen Seitenblick tiefgewurzelten Widerwillens auf Hiob werfend.

»Der große Vorteil ist der, Herr Weller,« fuhr Hiob fort, während sich seine Augen mit Tränen füllten, »daß ich dann meinen gegenwärtigen, schimpflichen Dienst bei dem gottlosen Mann verlassen und mich einem besseren und tugendhafteren Leben weihen kann – einem Leben, das meiner Erziehung mehr entspricht, Herr Weller.«

»Sie müssen sehr gut erzogen worden sein«, bemerkte Sam.

»O gewiß, Herr Weller, gewiß«, erwiderte Hiob.

Und bei der Erinnerung an die Unschuld seiner jugendlichen Tage zog Herr Trotter das rosafarbene Taschentuch hervor, und weinte reichliche Tränen.

»Sie müssen ein ungemein gutes Kind gewesen sein, als Sie noch in die Schule gingen«, bemerkte Sam.

»Das war ich, Sir«, erwiderte Hiob mit einem schweren Seufzer, »ich war der Abgott der Schule.«

»Ach, das wundert mich nicht«, meinte Sam, »Was muß das für Ihre glückliche Mutter eine Freude gewesen sein!«

Bei diesen Worten drückte Herr Hiob Trotter einen Zipfel des rosafarbenen Taschentuchs in den Winkel eines jeden seiner beiden Augen und fing bitterlich zu weinen an.

»Was ist’s doch eigentlich mit diesem Menschen?« sagte Sam unwillig. »Die Wasserwerke von Chelsea sind nichts gegen Sie: was zerfließen Sie schon wieder in Tränen – macht’s etwa das Bewußtsein Ihrer Schurkerei?«

»Ich kann meine Gefühle nicht unterdrücken, Herr Weller«, antwortete Hiob nach einer kurzen Pause. »Wer hatte sich auch träumen lassen, daß mein Herr das Gespräch argwöhnte, das ich mit dem Ihrigen hatte, und daß er mich in einer Postkutsche wegbringen lassen würde, nachdem er zuvor die sanfte junge Dame und die Vorsteherin der Schule zu der Aussage überredet hatte, sie wüßten nichts von ihm. Ach, es schaudert mich, Herr Weller, wenn ich daran denke, daß er die Arme nur verließ, um einer besseren Spekulation nachzugehen.«

»Also so verhielt sich die Sache – wirklich?« fragte Herr Weller.

»Sie dürfen mir aufs Wort glauben«, erwiderte Hiob.

»Gut«, sagte Sam, als sie jetzt am Gasthofe angekommen waren; »ich möchte gern ein wenig mit Ihnen plaudern, Hiob. Wenn Sie sonst nicht versagt sind, würde es mich freuen, Sie so gegen acht Uhr im großen weißen Rosse zu sehen.«

»Ich werde mich mit Vergnügen einfinden«, sagte Hiob.

»Sie werden wohl daran tun«, erwiderte Sam mit einem vielsagenden Blick, »oder ich suche Sie sonst vielleicht hinter dem grünen Tore auf, und dann wäre es möglich, daß ich Sie ausstäche.«

»Ich werde mich gewiß einstellen,« bemerkte Herr Trotter, drückte Herrn Weller mit dem größten Eifer die Hand und entfernte sich.

»Nimm dich in acht, Hiob Trotter«, sagte Sam, ihm nachsehend; »nimm dich in acht, oder du dürftest diesmal den Kürzeren ziehen; denn gewiß, ich lasse mich nicht zum zweitenmal hinters Licht führen.«

Nachdem Herr Weller diesen Monolog gehalten und Hiob so lange mit seinen Blicken verfolgt hatte, bis dieser verschwunden war, machte er sich auf den Weg nach seines Herrn Schlafzimmer.

»Es ist alles im Zug, Sir«, sagte Sam.

»Was ist im Zug, Sam?« fragte Herr Pickwick.

»Ich habe sie ausfindig gemacht, Sir«, antwortete Sam.

»Ausfindig gemacht? Wen?«

»Den sauberen Spitzbuben und den melancholischen Kerl mit dem schwarzen Haar.«

»Unmöglich, Sam!« rief Herr Pickwick heftig aus. »Wo sind sie, Sam – wo sind sie?«

»Pst – pst«, erwiderte Herr Weller und setzte Herrn Pickwick, während er ihm beim Ankleiden half, den Operationsplan auseinander, den er entworfen hatte.

»Aber wann soll dieses geschehen, Sam?« fragte Herr Pickwick.

»Alles zu rechter Zeit, Sir«, erwiderte Sam.

Ob es übrigens zu rechter Zeit geschah oder nicht, werden wir später sehen.

 

Fünfundzwanzigstes Kapitel.


Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Worin Herr Peter Magnus eifersüchtig wird und die Dame von mittlerem Alter einen Verdacht schöpft, der die Pickwickier dem Arme der Gerechtigkeit überliefert.

Als Herr Pickwick in das Zimmer trat, worin er mit Herrn Peter Magnus den vorhergehenden Abend verbracht, hatte sich dieser bereits mit dem größten Teil des Inhalts der beiden Reisesäcke, des ledernen Hutfutterals und des Löschpapierpakets so vorteilhaft wie möglich herausgeputzt, und ging im Zustande der höchsten Aufregung und Gemütsbewegung im Zimmer auf und nieder.

»Guten Morgen, Sir«, begann Herr Peter Magnus. »Was sagen Sie zu mir?«

»Das muß einen großen Effekt machen – in der Tat«, erwiderte Herr Pickwick, den Anzug des Herrn Magnus mit gutmütigem Lächeln betrachtend.

»Ja, ich glaube es selbst«, sagte Herr Magnus. »Herr Pickwick, ich habe meine Visitenkarte hinaufgeschickt.«

»Was Sie da sagen!« entgegnete Herr Pickwick.

»Ja: und sie ließ mir durch den Kellner sagen, sie erwarte mich um elf Uhr – um elf Uhr, Sir: es fehlt nur noch eine Viertelstunde.«

»Eine kurze Zeit«, bemerkte Herr Pickwick.

»Ja, sie ist ziemlich kurz«, erwiderte Herr Magnus, »etwas zu kurz, um sich wohl dabei zu fühlen – meinen Sie nicht, Herr Pickwick?«

»Selbstvertrauen tut in solchen Fällen sehr viel«, bemerkte Herr Pickwick.

»Ich glaube das auch, Sir«, sagte Herr Peter Magnus. »Ich habe übrigens großes Selbstvertrauen, Sir. Und in der Tat, Herr Pickwick, ich sehe nicht ein, warum ein Mann in einem Fall, wie diesem, sich fürchten sollte. Es ist ja nichts, dessen man sich zu schämen braucht. Es ist eine Sache gegenseitiger Übereinkunft, weiter nichts. Der Gatte auf der eine Seite, die Gattin auf der andern. Das ist meine Ansicht von der Sache, Herr Pickwick.«

»Sie ist sehr philosophisch«, versetzte Herr Pickwick. »Aber das Frühstück wartet, Herr Magnus: kommen Sie.«

Sie setzten sich zum Frühstück, aber trotz der Prahlerei des Herrn Peter Magnus konnte man nicht verkennen, daß sein Nervensystem in hohem Grade angegriffen war, wovon Mangel an Appetit, eine Neigung, das Teegeschirr umzustoßen, ein vergebliches Bemühen, lustig zu sein und ein unwiderstehlicher Hang, alle Augenblicke auf die Uhr zu sehen, die hauptsächlichsten Symptome waren.

»Hihihi«, kicherte Herr Magnus mit erkünstelter Heiterkeit, indem er vor innerer Bewegung keuchte. »Es sind nur noch zwei Minuten, Herr Pickwick. Sehe ich blaß aus, Sir?«

»Nicht sehr«, erwiderte Herr Pickwick.

Es trat eine kurze Pause ein.

»Verzeihung, Herr Pickwick, waren Sie je in Ihrem Leben in einer solchen Lage?«

»Sie meinen in der Lage eines Freiers?« fragte Herr Pickwick.

»Ja.«

»Noch nie«, erwiderte Herr Pickwick mit großem Nachdruck. »Noch nie.«

»Sie wissen also nicht, wie man sich dabei zu benehmen hat?« fragte Herr Magnus.

»Nun, ich habe auch schon meine Gedanken darüber gehabt«, antwortete Herr Pickwick; »aber da ich sie noch nie auf dem Prüfstein der Erfahrung erprobt habe, möchte ich Ihnen nicht raten, Ihr Benehmen danach einzurichten.«

»Ich wäre Ihnen aber für jede Andeutung sehr verbunden, Sir«, sagte Herr Magnus, mit einem Blick auf die Uhr, deren Zeiger bereits auf fünf Minuten nach elf wies.

»Wohlan, Sir«, begann Herr Pickwick, mit dem feierlichen Tone, womit der große Mann, wenn er wollte, seinen Bemerkungen einen ungemeinen Nachdruck verleihen konnte –, »ich würde zuerst der Schönheit und den vortrefflichen Eigenschaften der Dame meine Huldigung zollen und dann auf meine eigene Unwürdigkeit übergehen.«

»Ganz gut«, bemerkte Magnus.

»Verstehen Sie mich recht – Unwürdigkeit nur ihr gegenüber«, fuhr Herr Pickwick fort: »denn um zu zeigen, daß ich nicht im allgemeinen unwürdig sei, würde ich kurz mein früheres Leben und meine gegenwärtige Stellung schildern. Daraus würde ich nach dem Gesetze der Analogie folgern, daß ich für jede andere Person ein höchst wünschenswerter Gegenstand sein müßte: dann würde ich mich über die Glut meiner Liebe und die Tiefe meines Gefühls verbreiten und mich vielleicht auch versucht finden, ihre Hand zu fassen.«

»Ja, ich begreife«, bemerkte Herr Magnus; »das wäre ein höchst wichtiger Punkt.«

»Dann, Sir, würde ich«, fuhr Herr Pickwick fort, indem er immer wärmer wurde, je glühender die Farben waren, in denen sich ihm der Gegenstand darstellte – »dann würde ich ihr die offene und einfache Frage vorlegen: ›Wollen Sie mich?‹ und ich glaube zu der Annahme berechtigt zu sein, daß sie daraufhin ihr Gesicht abwenden würde.«

»Glauben Sie, das sicher annehmen zu dürfen?« fragte Herr Magnus: »denn täte sie das nicht zu rechter Zeit, so käme ich in Verlegenheit.«

»Ich glaube, daß sie es tun wird«, meinte Herr Pickwick. »Dann, Sir, würde ich ihre Hand drücken, und ich glaube – ich glaube, Herr Magnus – wenn ich das einmal getan hätte, würde ich, vorausgesetzt, sie hätte sich das gefallen lassen, sachte das Taschentuch, das sie in diesem Augenblicke, wie mich meine geringe Kenntnis der menschlichen Natur vermuten läßt, vor die Augen halten dürfte, wegziehen und ihr mit aller Achtung einen Kuß rauben. Ich glaube, ich würde sie küssen, Herr Magnus. Was aber diesen speziellen Punkt betrifft, so bin ich entschieden der Meinung, die Dame würde mir sodann, wenn sie mich überhaupt wollte, ein verschämtes ›Ja‘ in die Ohren flüstern.«

Herr Magnus schauderte zusammen, blickte in Herrn Pickwicks geistvolles Gesicht, schüttelte ihm nach einer kurzen Pause (der Zeiger wies auf zehn Minuten nach elf) mit Wärme die Hand, und rannte wie ein Verzweifelter aus dem Zimmer.

Herr Pickwick war einige Schritte gegangen, und der große Zeiger der Uhr war, auch wie Pickwick weitergehend, auf Halb angelangt, als sich plötzlich die Tür öffnete. Er wandte sich um und wollte eben Herrn Peter Magnus begrüßen, erblickte aber statt seiner das fröhliche Antlitz des Herrn Tupman, das heitere Gesicht des Herrn Winkle und die geistvollen Züge des Herrn Snodgraß.

Während sie Herr Pickwick bewillkommte, trippelte Herr Peter Magnus ins Zimmer.

»Meine Freunde – der Herr, von dem ich sprach, Herr Magnus«, sagte Herr Pickwick.

»Ihr Diener, meine Herren«, sprach Herr Magnus, offenbar in großer Aufregung: »Herr Pickwick, erlauben Sie mir, einen Augenblick mit Ihnen zu sprechen.«

Bei diesen Worten steckte Herr Magnus seinen Zeigefinger in Herrn Pickwicks Knopfloch und sagte, ihn in eine Fenstervertiefung ziehend:

»Wünschen Sie mir Glück, Herr Pickwick, ich befolgte ihren Rat buchstäblich.«

»Und es lief alles gut ab, nicht wahr?« fragte Herr Pickwick.

»Ganz gut, Sir – hätte nicht besser gehen können«, erwiderte Herr Magnus, »sie ist mein.«

»Ich wünsche Ihnen von Herzen Glück«, versetzte Herr Pickwick, seinem neuen Freunde mit Wärme die Hand schüttelnd.

»Sie müssen sie sehen, Sir«, sagte Herr Magnus; »kommen Sie bitte. – Sie entschuldigen einen Augenblick, meine Herren.«

Und Herr Magnus zog Herrn Pickwick aus dem Zimmer und ging eilends mit ihm fort. Er blieb an der nächsten Türe im Gang stehen und pochte leise an.

»Herein!« rief eine weibliche Stimme.

Und sie gingen hinein.

»Fräulein Witherfield«, sagte Herr Magnus, »erlauben Sie mir, Ihnen meinen vertrauten Freund, Herrn Pickwick, vorzustellen. – Herr Pickwick, ich wünschte, daß Sie Fräulein Witherfield kennenlernten.«

Die Dame stand am oberen Ende des Zimmers; Herr Pickwick verbeugte sich, nahm die Brille aus seiner Westentasche und setzte sie auf. Diese Handlung war nicht sobald vorüber, als er mit einem Ausbruch der Überraschung einige Schritte zurückwich, und die Dame mit einem halbunterdrückten Schrei die Hände vors Gesicht hielt und auf einen Stuhl sank, worüber Herr Peter Magnus fassungslos wurde und mit dem Ausdruck der höchsten Bestürzung bald die eine, bald die andere Person anstarrte.

Solch Benehmen war doch wahrhaft unbegreiflich. Aber die Sache war die: Herr Pickwick hatte nicht sobald seine Brille aufgesetzt, als er in der künftigen Frau Magnus die Dame erkannte, in deren Zimmer er in der vorhergehenden Nacht auf eine so unverantwortliche Weise eingedrungen war; und die Brille saß nicht sobald auf Herrn Pickwicks Nase, als die Dame plötzlich das Gesicht erkannte, das sie mit allen Schrecknissen einer Nachtmütze umgeben gesehen hatte.

Die Dame schrie, und Herr Pickwick starrte sie an.

»Herr Pickwick«, rief Herr Magnus ganz bestürzt, »was soll das heißen, Sir? – Was soll das heißen?« fügte er in einem noch lauteren, drohenden Tone hinzu.

»Sir«, sagte Herr Pickwick, über die Art und Weise etwas unwillig, womit ihn Herr Peter Magnus so plötzlich angefahren hatte. »Ich muß die Beantwortung dieser Frage ablehnen.«

»Sie lehnen sie ab, Sir?« fragte Magnus.

»Ja, das tue ich, Sir«, erwiderte Herr Pickwick. »Ich werde nichts sagen, was die Dame kompromittieren oder unangenehme Erinnerungen in ihrer Brust erwecken könnte, ohne ihre Erlaubnis und Zustimmung.«

»Fräulein Witherfield«, sagte Herr Peter Magnus, »kennen Sie diese Person?«

»Ob ich sie kenne?« erwiderte die Dame von mittlerem Alter zögernd.

»Ja, ob Sie ihn kennen, Madame; ich fragte, ob Sie ihn kennen?« fragte Herr Magnus wild.

»Ich habe ihn schon gesehen«, versetzte die Dame von mittlerem Alter.

»Wo?« rief Herr Magnus, »wo?«

»Das würde ich um alles in der Welt nicht offenbaren«, erwiderte die Dame von mittlerem Alter, von ihrem Sitze aufstehend und ihr Gesicht abwendend.

»Ich verstehe Sie, Madame«, sagte Herr Pickwick. »Ich achte Ihr Zartgefühl; auch durch mich soll es nicht offenbar werden, verlassen Sie sich darauf.«

»Auf mein Wort, Madame«, bemerkte Herr Magnus, »in Anbetracht des Verhältnisses, in dem ich zu Ihnen stehe, behandeln Sie diese Sache ziemlich gleichgültig – ziemlich gleichgültig, Madame.«

»Grausamer Herr Magnus«, entgegnete die Dame von mittlerem Alter, und vergoß reichliche Tränen.

»Richten Sie Ihre Vorwürfe an mich, Sir«, fiel Herr Pickwick ein; »ich allein bin zu tadeln, wenn irgend jemand zu tadeln ist.«

»Ah, Sie allein sind zu tadeln, Sir?« sagte Herr Magnus. »Ich – ich – durchschaue das, Sir. Sie bereuen jetzt Ihren Entschluß – nicht wahr?«

»Meinen Entschluß?« bemerkte Herr Pickwick.

»Ihren Entschluß, Sir. Starren Sie mich nur nicht so an, Sir«, sagte Herr Magnus: »ich erinnere mich noch recht wohl Ihrer Worte von gestern abend. Sie kamen hierher, Sir, die Treulosigkeit und Falschheit einer Person zu entlarven, auf deren Ehre und Treue Sie alles gebaut hatten – nicht wahr?«

Hier verzog Herr Peter Magnus sein Gesicht in spöttisches Lächeln, und seine grüne Brille abnehmend – die er wahrscheinlich bei seinem Anfall von Eifersucht für überflüssig hielt – rollte er seine kleinen Äuglein auf eine wirklich schauderhafte Weise.

»Nicht wahr?« fragte Herr Magnus und wiederholte sein Lächeln mit größerem Effekt. »Doch, Sie sollen mir antworten, Sir.«

»Antworten? auf was?« fragte Herr Pickwick.

»Schon gut, Sir«, versetzte Herr Magnus, im Zimmer auf und ab schreitend – »schon gut.«

Es muß etwas Umfassendes in dem Ausdruck »schon gut!« liegen, denn wir erinnern uns nicht, irgendeinen Wortwechsel auf der Straße, im Theater, im Wirtshaus oder sonstwo erlebt zu haben, wo dies nicht die stehende Erwiderung auf alle herausfordernden Fragen gewesen wäre, »Und Sie nennen sich einen Gentleman, Sir?« – »Schon gut, Sir!« – »Habe ich mir eine Äußerung gegen dieses junge Frauenzimmer erlaubt, Sir?« – »Schon gut, Sir!« – »Soll ich Ihnen den Kopf gegen die Wand stoßen, Sir?« – »Schon gut, Sir!« – Es muß auch in diesem allgemein angenommenen Ausdruck »schon gut« ein versteckter Spott liegen, der in dem Busen dessen, an den er gerichtet ist, größeren Unwillen erwecken muß, als die beredtesten Schimpfwörter hervorrufen können.

Wir behaupten damit keineswegs, daß die Anwendung dieser lakonischen Redeweise in Herrn Pickwicks Seele genau den Unwillen erregte, den er in einer gewöhnlichen Brust hervorgerufen haben würde. Wir erinnern nur daran, daß Herr Pickwick die Tür öffnete und hastig rief:

»Tupman, kommen Sie herein!«

Herr Tupman erschien augenblicklich mit dem Blicke des höchsten Erstaunens.

»Tupman«, sagte Herr Pickwick, »ein Geheimnis von etwas zarter Natur, das diese Dame berührt, ist die Ursache eines Streites, der sich zwischen diesem Herrn und mir erhoben hat. Ich versichere ihm in Ihrer Gegenwart, daß dies Geheimnis aber ganz und gar nichts mit seinen Angelegenheiten zu tun hat. Zugleich bitte ich Sie dringend, ihm klarzumachen, daß er bei Fortsetzung des Streites und bei weiterem Zweifel an meine Wahrhaftigkeit mich aufs höchste beleidigt.«

Während Herr Pickwick das sagte, sah er Herrn Peter Magnus mit einem Blick an, der mehr sagte als ganze Bände.

Herrn Pickwicks offenes, ehrenhaftes Benehmen, verbunden mit jener Kraft und Energie der Sprache, die ihn so sehr auszeichnete, würden einen vernünftigen Menschen beruhigt haben, aber unglücklicherweise war gerade in diesem Augenblick der Geist des Herrn Peter Magnus in einer Verfassung, auf die sich das Eigenschaftswort »vernünftig« nicht recht anwenden ließ. Anstatt also Herrn Pickwicks Erklärung aufzunehmen, wie er sie hätte aufnehmen sollen, fuhr er fort, sich in eine glühende, verzehrende Leidenschaft zu versetzen, und von dem, was er seinen Gefühlen schuldig sei, und andern dergleichen Dingen zu sprechen, wobei er seiner Deklamation dadurch Nachdruck gab, daß er in schnellen Schritten auf und nieder ging, sich durch die Haare fuhr und gelegentlich Herrn Pickwicks menschenfreundlichem Gesicht die Faust unter die Nase hielt.

Herr Pickwick hatte im Bewußtsein seiner Unschuld und Redlichkeit und in dem aufregenden Gefühle, die Dame von mittlerem Alter unglücklicherweise in eine so unangenehme Lage versetzt zu haben, nicht die ruhige Fassung, die man an ihm gewohnt war. Die Folge davon war, daß die Worte hitzig und die Stimmen heftiger wurden, und Herr Magnus endlich Herrn Pickwick bemerkte, »er werde von ihm hören«, worauf Herr Pickwick mit lobenswerter Höflichkeit erwiderte: »je früher er von ihm hören würde, desto lieber wäre es ihm.« Voll Schrecken stürzte die Dame von mittlerem Alter aus dem Zimmer, und Herr Tupman zog Herrn Pickwick mit sich fort, Herrn Peter Magnus sich und seinen Gedanken überlassend.

Hätte die Dame von mittlerem Alter viel mit der großen Welt zu tun gehabt, oder überhaupt die Art und Weise derer gekannt, die Gesetze machen und Gebräuche feststellen, so würde sie gewußt haben, daß solche stürmische Auftritte zu den harmlosesten Dingen von der Welt gehören. Aber da sie die größte Zeit über auf dem Lande gelebt und noch nie Parlamentsverhandlungen gelesen hatte, so war sie in diesen besonderen Verfeinerungen des zivilisierten Lebens wenig bewandert. Als sie ihr Zimmer erreicht und sich eingeschlossen hatte, drangen sich beim Nachdenken über die Szene, von der sie soeben Zeuge gewesen, ihrer Phantasie die fürchterlichsten Bilder von Blutvergießen und Mord auf, unter denen ein Bildnis des Herrn Peter Magnus in Lebensgröße, von vier Mann nach Hause getragen und mit einem ganzen Faß voll Kugeln in seiner linken Seite geschmückt, eines der allerkleinsten war. Je mehr die Dame von mittlerem Alter nachdachte, desto mehr erschrak sie, und endlich beschloß sie, sich in das Haus des ersten Beamten der Stadt zu begeben und ihn zu ersuchen, die Personen des Herrn Pickwick und des Herrn Tupman unverzüglich in Sicherheit zu bringen.

Zu diesem Entschluß wurde die Dame von mittlerem Alter durch verschiedene Betrachtungen bestimmt, von denen der unwiderlegliche Beweis, den sie dadurch von ihrer Ergebenheit gegen Herrn Peter Magnus lieferte, und ihre Besorgnis für sein Leben, die hauptsächlichsten waren. Sie war mit seinem eifersüchtigen Temperament zu wohl bekannt, um auch nur die leiseste Anspielung auf den eigentlichen Grund ihrer Aufregung beim Anblicke des Herrn Pickwick zu wagen, und setzte so viel Vertrauen auf ihren Einfluß und ihre Überredungsgabe, daß sie sich mit der Hoffnung schmeichelte, seine stürmische Eifersucht beruhigen zu können, wenn Herr Pickwick entfernt wäre und kein neuer Streit entstehen könnte. Von diesem Gedanken erfüllt, hüllte sich die Dame von mittlerem Alter in Haube und Schal und begab sich geraden Weges nach der Wohnung des Bürgermeisters.

Nun war George Nupkins, Esquire, der besagte erste Beamte, eine so bedeutende Person, wie der schnellste Läufer am einundzwanzigsten Juni, der nach Angabe des Kalenders der längste Tag im ganzen Jahr ist und also die größte Zeit zum Suchen gestattet, nur eine zwischen Sonnenauf- und -niedergang finden könnte. Gerade an diesem Morgen war Herr Nupkins in einem Zustande besonderer Aufregung, denn es hatte eine Revolution in der Stadt gegeben. Sämtliche Schüler der größten Schule hatten sich verschworen, einem Obsthändler, der ihnen ein Dorn im Auge war, die Fenster einzuwerfen, den Büttel ausgespottet und den Polizeimeister, einen ältlichen Mann in Stulpenstiefeln, der beordert war, den Aufruhr zu unterdrücken, und der wenigstens schon ein halbes Jahrhundert lang den Frieden der Stadt in seiner Obhut gehabt hatte – mit Kot beworfen. Und Herr Nupkins saß in seinem Sorgenstuhle, runzelte majestätisch die Stirne und kochte vor Wut, als eine Dame gemeldet wurde, die ihn in einer besonderen und dringenden Privatangelegenheit zu sprechen wünsche. Herr Nupkins nahm einen ruhig-furchtbaren Blick an und befahl, die Dame hereinzuführen, ein Befehl, dem wie allen Verordnungen von Kaisern, Königen und andern großen Mächten der Erde Folge geleistet wurde, und Fräulein Witherfield ward also im Zustande reizender Aufregung hereingeführt.

»Muzzle!« rief der Beamte.

Muzzle war ein Diener von untersetzter Statur, mit einem langen Leib und kurzen Beinen.

»Zu Befehl, Euer Gnaden!«

»Bring einen Stuhl und verlaß das Zimmer!«

»Zu Befehl, Euer Gnaden!«

»Nun, Madame, wollen Sie mir Ihre Angelegenheit mitteilen?« sagte der Beamte.

»Sie ist sehr schmerzlicher Art, Sir«, bemerkte Fräulein Witherfield.

»Wohl möglich, Madame«, versetzte der Beamte. »Beruhigen Sie sich, Madame.«

Herr Nupkins nahm einen wohlwollenden Blick an.

»Und dann sagen Sie mir, Madame, was für eine gesetzliche Angelegenheit Sie zu mir führt.« Hier triumphierte der Beamte über den Menschen, und sein Blick wurde wieder streng.

»Es ist sehr betrübend für mich, Ihnen diese Mitteilung machen zu müssen«, sagte Fräulein Witherfield, »aber ich fürchte, es soll hier einen Zweikampf geben.«

»Hier, Madame?« rief der Beamte. »Wo, Madame?«

»In Ipswich.«

»In Ipswich, Madame? – Einen Zweikampf in Ipswich?« sagte der Beamte, bei dem bloßen Gedanken daran ganz außer sich vor Schrecken. »Unmöglich, Madame, so etwas kann in dieser Stadt nicht beabsichtigt werden, davon bin ich überzeugt. – Beim Himmel, Madame, wissen Sie nichts von der Tätigkeit unserer städtischen Polizei? Haben Sie nie davon gehört, Madame, daß ich am 4. Mai dieses Jahres, nur von sechzig Sicherheitspolizisten begleitet, in einen Wettkampfkreis eindrang, und auf die Gefahr hin, der wilden Leidenschaft eines wütenden Pöbels zum Opfer zu fallen, einen Boxkampf zwischen Dumpling von Middlesex und Bantam von Suffolk verhinderte? – Ein Duell in Ipswich, Madame! Ich glaube es nicht – ich glaube es nicht«, fuhr der Beamte, mit sich selbst redend, fort, »daß zwei Menschen die Kühnheit haben sollten, einen solchen Friedensbruch in dieser Stadt zu beabsichtigen.«

»Meine Angabe ist leider nur zu richtig«, sagte die Dame von mittlerem Alter. »Ich war beim Streit gegenwärtig.«

»Es ist ein ganz außerordentlicher Fall«, bemerkte der erstaunte Beamte. »Muzzle!«

»Zu Befehl, Euer Gnaden!«

»Rufe sogleich Herrn Jinks – augenblicklich.«

»Zu Befehl, Euer Gnaden!«

Muzzle entfernte sich, und ein blasser, spitznasiger, halbverhungerter, schäbig gekleideter Schreiber von mittlerem Alter trat ins Zimmer.

»Herr Jinks«, rief der Beamte – »Herr Jinks!«

»Sir«, erwiderte Herr Jinks.

»Diese Dame, Herr Jinks, spricht von einem Duell, das in dieser Stadt beabsichtigt sein soll.«

Herr Jinks, der nicht bestimmt wußte, wie er sich benehmen sollte, lächelte mit der Miene des Untergebenen.

»Was lachen Sie darüber, Herr Jinks?« fragte der Beamte.

Herr Jinks nahm augenblicklich eine ernste Miene an.

»Herr Jinks«, sagte der Beamte, »Sie sind ein Narr.«

Herr Jinks blickte demütig zu dem großen Manne empor und nagte an seiner Feder.

»Sie können etwas Komisches in dieser Angabe finden, Sir, aber ich muß Ihnen sagen, Herr Jinks, daß Sie sehr wenig Grund haben, darüber zu lachen,« sagte der Beamte.

Der halbverhungerte Jinks seufzte, als wäre er sich vollkommen bewußt, daß er sehr wenig Grund habe, zu lachen: und nachdem er den Befehl erhalten hatte, die Aussage der Dame zu Protokoll zu nehmen, setzte er sich und schrieb sie nieder.

»Dieser Pickwick ist also die Hauptveranlassung, wie ich höre?« fragte der Beamte, als das Protokoll geschlossen war.

»Ja«, erwiderte die Dame von mittlerem Alter.

»Und der andere Aufrührer – wie ist sein Name, Herr Jinks?«

»Tupman, Sir.«

»Tupman ist der zweite?«

»Ja, Sir.«

»Die andere Hauptperson, sagen Sie, ist verschwunden, Madame?«

»Ja«, erwiderte Fräulein Witherfield mit einem kurzen Hüsteln.

»Ganz gut«, sagte der Beamte. »Das sind zwei Gurgelabschneider von London, die hierher gekommen sind, um Seiner Majestät Untertanen zu töten, weil sie denken, in dieser Entfernung von der Hauptstadt sei der Arm des Gesetzes schwach und gichtbrüchig. Ich will ein Erempel an ihnen statuieren. Setzen Sie die Verhaftbefehle auf, Herr Jinks. – Muzzle!«

»Zu Befehl, Euer Gnaden.«

»Ist Grummer unten?«

»Ja, Euer Gnaden.«

»Schick‘ ihn herauf.«

Der gehorsame Muzzle ging und kehrte bald mit dem Herrn in den Stulpenstiefeln zurück, der sich hauptsächlich durch eine Kupfernase, eine heisere Stimme, einen schnupftabakfarbenen Überrock und einen unsteten Blick auszeichnete.

»Grummer!« rief der Beamte.

»Euer Gnaden?«

»Ist die Stadt jetzt ruhig?«

»Ziemlich, Euer Gnaden«, erwiderte Grummer. »Die Gemüter sind etwas beruhigt, weil die Knaben zum Kricketspiel sind.«

»Nur energische Maßregeln dringen in diesen Zeiten durch, Grummer«, sagte der Beamte in entschiedenem Ton. »Wenn das Ansehen der königlichen Beamten für nichts geachtet wird, so müssen wir die Aufruhrakte verlesen lassen. Wenn die Zivilbehörde die Fenster nicht schützen kann, so muß die militärische Macht die Zivilbehörde und die Fenster schützen. Ich glaube, das ist ein Grundsatz der Verfassung, Herr Jinks?«

»Gewiß, Sir«, versetzte Jinks.

»Ganz recht«, sagte der Beamte, die Verhaftbefehle unterzeichnend. »Grummer, Sie werden mir heute Nachmittag diese Personen vorführen. Sie finden sie im großen weißen Roß. Sie erinnern sich des Falls Dumpling von Middlesex und Bantam von Suffolk, Grummer?«

Herr Grummer deutete durch Kopfnicken an, daß er ihn nicht vergessen werde – was auch wirklich nicht leicht geschehen konnte, da er täglich daran erinnert wurde.

»Dies ist noch verfassungswidriger«, sagte der Beamte: »dies ist ein noch größerer Friedensbruch, ein noch größerer Eingriff in Seiner Majestät Vorrechte. Ich glaube, das Duell ist eines der unbestrittensten Vorrechte Seiner Majestät, Herr Jinks?«

»In der Magna Carta ausdrücklich stipuliert, Sir«, antwortete Herr Jinks.«

»Einer von den glänzendsten Juwelen in der britischen Krone, von Seiner Majestät durch die politische Union den Baronen aus den Händen gewunden, glaube ich, Herr Jinks?« sagte der Beamte.

»So ist es«, versetzte Herr Jinks.

»Ganz recht«, bemerkte der Beamte, sich stolz aufrichtend: »es soll in diesem Landesteile von Seiner Majestät Besitzungen nichtverletzt werden. Grummer, verschaffen Sie sich Beistand und vollziehen Sie diese Verhaftbefehle so bald wie möglich. – Muzzle!«

»Hier, Euer Gnaden.«

»Begleiten Sie diese Dame.«

Fräulein Witherfield zog sich zurück, mit hoher Bewunderung über die Gelehrsamkeit und den Scharfsinn des Beamten erfüllt. Herr Nupkins zog sich zum Essen zurück. Herr Jinks zog sich in sich selbst zurück, und das war, mit Ausnahme des Ruhebettes in seinem kleinen Stübchen, das bei Tag von der Familie seiner Hauswirtin bewohnt wurde, der einzige Rückzug, der ihm gestattet war. Schließlich zog sich auch Herr Grummer zurück, um durch Vollziehung des ihm gewordenen Auftrags die Schmach abzuwaschen, die ihm und dem andern Repräsentanten Seiner Majestät – dem Büttel – im Laufe des Vormittags angetan war.

Während diese bestimmten und entschlossenen Vorbereitungen zur Erhaltung des Friedens Seiner Majestät getroffen wurden, hatten sich Herr Pickwick und seine Freunde, die großen Ereignisse, die im Werden waren, nicht von ferne ahnend, ruhig zur Tafel gesetzt und waren alle sehr gesprächig und in bester Unterhaltung begriffen. Herr Pickwick erzählte eben zum großen Ergötzen seiner Freunde, besonders des Herrn Tupman, sein nächtliches Abenteuer, als sich die Tür öffnete und ein etwas abschreckendes Gesicht in das Zimmer spähte. Die Augen dieses Gesichts ruhten einige Sekunden forschend auf Herrn Pickwick und waren allem Anschein nach mit dem Ergebnis ihrer Untersuchung zufrieden; denn der Leib, zu dem das abschreckende Gesicht gehörte, schob sich langsam ins Zimmer und zeigte die Gestalt einet ältlichen Person in Stulpenstiefeln: kurz, um den Leser nicht länger in Unwissenheit zu lassen, die Augen waren die unsteten Augen des Herrn Grummer, und der Leib war das Eigentum des gleichen Herrn.

Herrn Grummers Verfahren war seinem Berufe angemessen, aber eigentümlich. Seine erste Handlung war Verriegelung der Tür. Seine zweite sorgfältige Abtrocknung seines Kopfes und Gesichts mit einem baumwollenen Taschentuch, seine dritte die, daß er seinen Hut mit dem baumwollenen Taschentuche darin auf einen Stuhl stellte, und die vierte, daß er einen kurzen, mit einer messingenen Krone versehenen Stab mit gravitätischer und geisterhafter Miene gegen Herrn Pickwick schwang.

Herr Snodgraß war der erste, der das Schweigen der Überraschung brach. Er sah Herrn Grummer einige Minuten lang fest an und deutete ihm dann mit Nachdruck:

»Das ist ein Privatzimmer, Sir – ein Privatzimmer.«

Herr Grummer schüttelte den Kopf und erwiderte:

»Es gibt kein Privatzimmer vor Seiner Majestät, wenn einmal die Hausschwelle überschritten ist. Das ist Gesetz. Viele Leute behaupten, eines Engländers Haus sei seine Burg. Das ist aber Larifari.«

Die Pickwickier starrten einander mit verwunderten Augen an.

»Wer ist Herr Tupman«, fragte Herr Grummer. Herrn Pickwick hatte er nämlich vermöge seiner Auffassungsgabe sogleich erkannt.

»Ich heiße Tupman«, sagte der Betreffende.

»Und ich heiße Gesetz«, erwiderte Herr Grummer

»Wie?« fragte Herr Tupman.

»Gesetz«, wiederholte Herr Grummer, »Gesetz, Zivil- und Exekutivgewalt, das sind meine Titel; und hier ist meine Vollmacht, lautend auf Tupman und Pickwick – wegen Friedensbruch gegen unsern regierenden Herrn, den König – auf diesen besondern Fall ausgestellt – und alles regulär. – Ich verhafte Euch, Pickwick; Tupman – die Besagten.«

»Was wollen Sie mit dieser Unverschämtheit?« fragte Herr Tupman aufspringend. »Verlassen Sie das Zimmer – verlassen Sie das Zimmer.«

»Holla«, rief Herr Grummer, sich eiligst an die Tür machend und sie einen oder zwei Zoll öffnend: »Dubbley!«

»Gut«, antwortete eine Baßstimme aus dem Gang.

»Kommt herein, Dubbley«, rief Herr Grummer.

Auf dieses Kommandowort schob sich ein sechs Fuß hoher und verhältnismäßig dicker Mann mit einem schmutzigen, roten Gesicht durch die halbgeöffnete Tür ins Zimmer, wobei er besagtem Gesicht den Vortritt ließ und die übrigen Körperteile nachzog.

»Sind die andern Gerichtsdiener draußen, Dubbley?« fragte Herr Grummer.

Herr Dubbley, der seine Worte sparte, nickte bejahend.

»So ruft die Abteilung herein, Dubbley«, sagte Herr Grummer.

Herr Dubbley tat, wie ihm befohlen, und ein halbes Dutzend Männer, jeder mit kurzem Stabe und messingener Krone, stellten sich im Zimmer auf. Herr Grummer steckte seinen Stab in die Tasche und sah auf Herrn Dubbley. Herr Dubbley steckte seinen Stab in die Tasche und sah auf seine Abteilung! und die Abteilung steckte ihre Stäbe in die Tasche und sah auf die Herren Tupman und Pickwick.

Herr Pickwick und seine Schüler erhoben sich wie ein Mann.

»Was soll dieses stürmische Eindringen in ein Privatzimmer?« fragte Herr Pickwick.

»Wer wagt es, mich zu verhaften?« rief Herr Tupman.

»Was habt ihr hier zu suchen, ihr Schufte?« sagte Herr Snodgraß.

Herr Winkle sagte nichts, sondern heftete nur seine Augen auf Grummer und schleuderte ihm einen Blick zu, der, hätte dieser nur einiges Gefühl gehabt, seinen Hirnschädel durchbrochen und auf der andern Seite wieder herausgekommen wäre. Aber so äußerte er durchaus keine sichtbare Wirkung.

Als die Exekutivgewalt bemerkte, daß Herr Pickwick und seine Freunde geneigt waren, sich dem Ansehen des Gesetzes zu widersetzen, stülpte sie sehr bedeutungsvoll ihre Rockärmel hinauf, als ob es in ihrem Berufe läge und sich gleichsam von selbst verstände, daß sie die Herren vorerst zu Boden schlagen und dann mitnehmen müßte. Diese Demonstration verfehlte ihre Wirkung auf Herrn Pickwick nicht.

Er besprach sich einige Minuten lang leise mit Herrn Tupman, erklärte sich dann bereit, nach des Bürgermeisters Wohnung mitzugehen, und bat nur noch die Anwesenden, davon Kenntnis zu nehmen, daß es sein fester Entschluß sei, im Augenblicke, wo er wieder in Freiheit sein würde, diese ungeheure Verletzung seiner Vorrechte als Engländer zu ahnden. Darüber schlugen die Eindringlinge ein lautes Gelächter an – den einzigen Herrn Grummer ausgenommen, der zu bedenken schien, daß der geringste Eingriff in das göttliche Recht der Obrigkeit eine Art Gotteslästerung sei, die man nicht dulden könne.

Als aber Herr Pickwick sich bereit erklärt hatte, sich den Gesetzen seines Landes zu fügen, und die Kellner, Hausknechte, Stubenmädchen und Postjungen, die von der angedrohten Widersetzlichkeit einen ergötzlichen Aufstand erwartet hatten, enttäuscht und mißmutig auseinandergingen, erhob sich eine Schwierigkeit, die man nicht vorhergesehen hatte.

Trotz seiner Verehrung der bestehenden Behörden weigerte sich Herr Pickwick bestimmt, sich gleich einem gemeinen Verbrecher, von den Dienern der Gerechtigkeit umringt und bewacht, über die öffentliche Straße führen zu lassen. Ebenso bestimmt weigerte sich Herr Grummer bei der noch immer herrschenden Erregung der Gemüter (denn es war ein halber Feiertag und die Schuljugend noch nicht nach Hause zurückgekehrt) auf der andern Seite der Straße zu gehen und Herrn Pickwicks Ehrenwort anzunehmen, daß er sich geraden Wegs zum Bürgermeister verfügen wolle. Beide, Herr Pickwick und Herr Tupman, weigerten sich ebenso bestimmt, die Kosten einer Postkutsche zu bezahlen, die das einzige anständige Vehikel war, das man bekommen konnte. Der Streit wurde hitzig, das Deklamieren zog sich in die Länge, und eben war die Exekutionsgewalt im Begriff, Herrn Pickwicks Weigerung durch ein ganz gewöhnliches Auskunftsmittel zu beseitigen: ihn nämlich nach dem Hause des Bürgermeisters zu schleppen, als man sich erinnerte, daß im Hofe eine alte Sänfte stand, die ursprünglich für einen mit der Gicht behafteten Grundeigentümer gemacht war und Herrn Pickwick und Herrn Tupman wenigstens ebenso anständig befördern konnte, als eine moderne Postkutsche. Die Sänfte wurde geholt und auf den Hausflur gebracht. Herr Pickwick und Herr Tupman schlüpften hinein und ließen die Vorhänge nieder; ein paar Träger wurden bald gefunden, und der Zug setzte sich in bester Ordnung in Bewegung. Die Gehilfen der Diener der Gerechtigkeit umgaben das Vehikel; Herr Grummer und Herr Dubbley schritten triumphierend voran, Herr Snodgraß und Herr Winkle gingen Arm in Arm hinterdrein, und die, die hinter den Ohren noch nicht trocken waren, von Ipswich bildeten den Nachtrab.

Die Krämer der Stadt hatten zwar nur eine sehr unbestimmte Vorstellung von der Natur des Vergehens, wurden aber doch durch dieses Schauspiel höchlich erbaut. Es war der starke Arm des Gesetzes, der mit der Kraft von tausend Pferdestärken auf zwei Verbrecher aus der Hauptstadt selbst fiel. Die gewaltige Maschine wurde durch ihren eigenen Bürgermeister geleitet und durch ihre eigenen Amtsdiener befördert, und durch ihre vereinten Anstrengungen waren die Frevler in dem engen Raum einer Sänfte sicher aufgehoben. Mancher Zuruf des Beifalls und der Bewunderung begrüßte Herrn Grummer, als er den Zug, mit dem Stab in der Hand, anführte. Laut und anhaltend war das Geschrei, das die hinter den Ohren noch nicht Trockenen erhoben, und mitten unter diesen vereinigten Zeugnissen des öffentlichen Beifalls bewegte sich der Zug langsam und feierlich vorwärts.

Herr Weller kehrte gerade in seiner Morgenjacke mit den schwarzen Kattunärmeln ziemlich niedergeschlagen von einer erfolglosen Beaugenscheinigung des geheimnisvollen Hauses mit dem grünen Tor zurück, als er, die Augen erhebend, eine die Straße hinabwogende Volksmenge sah, die einen Gegenstand umgab, der sehr viel von dem Ausehen einer Sänfte hatte. Gerne seine Gedanken von der Erfolglosigkeit seiner Bemühungen ablenkend, trat er beiseite, um die Menge vorbeizulassen, und da er hörte, daß sie größtenteils zu ihrem Privatvergnügen schrie und lärmte, begann er sofort, nur um sich aufzuheitern, ebenfalls aus vollem Halse zu schreien.

Herr Grummer ging vorüber, Herr Dubbley ging vorüber, die Sänfte ging vorüber, die Leibwache ging vorüber, und Sam stimmte noch immer in das enthusiastische Geschrei der Menge. Dabei schwenkte er seinen Hut, als ob er den höchsten Grad der wildesten Lust erreicht hätte, denn er ahnte die Wahrheit nicht im mindesten, als er plötzlich bei der unerwarteten Erscheinung der Herren Winkle und Snodgraß verstummte.

»Was ist los, meine Herren«, rief Sam. »Wen tragen sie denn da in diesem Trauerschilderhaus?«

Beide Herren antworteten zugleich, aber ihre Worte verhallten im allgemeinen Lärmen.

» Wer ist’s?« schrie Sam wieder.

Und wieder erfolgte eine gleichzeitige Antwort: und ob er gleich die Worte nicht vernehmen konnte, so sah er doch an der Bewegung der beiden Lippenpaare, daß sie das Zauberwort »Pickwick« aussprachen.

Das war genug. – In der nächsten Minute hatte sich Herr Weller Bahn gebrochen, brachte die Träger zum Stehen und trat vor den stattlichen Grummer hin.

»Holla, Alter«, rief Sam: »wen habt Ihr da in dieser Tragbahre?«

»Zurück«, rief Herr Grummer, dessen Würde, wie die Würde einer Menge anderer Leute, durch das bißchen Volksgunst wunderbar gehoben wurde.

»Schlagt ihn nieder, wenn er nicht weicht«, sagte Herr Dubbley.

»Ich bin Euch sehr verbunden, Alter«, versetzte Sam, »daß Ihr wenigstens meine Neigung um Rat fragt, und noch mehr bin ich es dem andern Herrn, der aussieht, als wäre er eben einer Riesenkarawane entlaufen, für seinen hübschen Vorschlag verpflichtet. Aber lieber wäre es mir, ihr gebet mir eine Antwort auf meine Frage, wenn es euch nichts verschlägt. – Wie geht es Ihnen, Sir?« Diese letztere Bemerkung war mit der Miene des Gönners an Herrn Pickwick gerichtet, der durch das Vorderfenster spähte.

Herr Grummer war völlig sprachlos vor Entrüstung. Er zog seinen Stab mit der messingenen Krone aus der Tasche hervor und schwenkte ihn vor Sams Augen.

»Ach«, sagte Sam, »recht hübsch, besonders die Krone, die ungemein viel Ähnlichkeit mit einer Königskrone hat.«

»Zurück!« schrie der entrüstete Herr Grummer.

Und um diesem Befehl mehr Kraft zu geben, stieß er mit der einen Hand das metallene Sinnbild des Stabs in Sams Halstuch, faßte ihn mit der andern am Kragen, eine Artigkeit, die Herr Weller dadurch zu erwidern suchte, daß er ihn alsbald zu Boden schlug, nachdem er zuvor mit der größten Bedachtsamkeit einen Träger niedergeschlagen hatte, auf dem Grummer nun liegen konnte.

Ob Herr Winkle von einem vorübergehenden Anfalle jener Art von Wahnsinn befallen war, die au« einem Gefühl des erduldeten Unrechts entspringt, oder ob er durch Herrn Wellers Tapferkeit angesteckt wurde, läßt sich nicht ermitteln. Aber gewiß ist, daß er nicht sobald Herrn Grummer stürzen sah, als er einen furchtbaren Angriff auf einen kleinen jungen machte, der neben ihm stand, worauf Herr Snodgraß mit echt christlichem Sinn, und um niemanden unversehens zu überfallen, mit sehr lauter Stimme ankündigte, er werde jetzt beginnen – eine Erklärung, nach der er mit der größten Überlegung seinen Rock auszog. Er wurde jedoch sogleich umringt und festgenommen; und es ist bloße Gerechtigkelt gegen ihn und Herrn Winkle, wenn wir sagen, daß beide nicht den geringsten Versuch machten, sich oder Herrn Weller zu befreien, der nach dem tapfersten Widerstände durch die Überzahl überwältigt und festgenommen wurde. Der Zug stellte sich wieder in Ordnung, die Träger traten an ihre Plätze, und alles setzte sich wieder in Bewegung.

Herrn Pickwicks Entrüstung während dieses ganzen Vorfalls kannte keine Grenzen. Er sah nur, wie Sam die Gehilfen der Gerechtigkeit in allen Richtungen niederwarf – das einzige, dessen er gewahr werden konnte, da er weder die Tür der Sänfte zu öffnen noch die Vorhänge aufzuziehen vermochte. Endlich gelang es ihm mit Hilfe des Herrn Tupman, die Decke durchzustoßen, und auf den Sitz steigend, auf dem er sich so fest wie möglich zu halten suchte, indem er seine Hand auf seines Freundes Schulter legte, begann er eine Rede an das Volk zu halten, worin er sich über die unverantwortliche Art beklagte, mit der er behandelt worden, und alle zu Zeugen aufrief, daß sein Diener zuerst angegriffen worden sei. In dieser Ordnung erreichten sie das Haus des Bürgermeisters; die Sänfteträger trabten, die Gefangenen folgten, Herr Pickwick hielt Reden und die Menge schrie.

 

Sechsundzwanzigstes Kapitel.


Sechsundzwanzigstes Kapitel.

Worin unter andern ergötzlichen Dingen gezeigt wird, welche Würde und Unparteilichkeit Herr Nupkins an den Tag legte, und wie Herr Weller Herrn Hiob Trotters Ball mit derselben Kraft zurückschlug, mit der er geworfen wurde – nebst andern Begebenheiten, die man am gehörigen Ort finden wird.

Herrn Wellers Entrüstung, als er fortgebracht wurde, war nicht gering, und sprach sich in zahllosen Anspielungen auf die Persönlichkeit und Handlungsweise Herrn Grummers und seines Amtsgenossen, sowie in heldenmütigen Herausforderungen gegen seine sechs Untergebenen aus.

Herr Snodgraß und Herr Winkle lauschten mit tiefem Respekt auf den Strom der Beredsamkeit, den ihr Meister von der Sänfte herabgoß, und dessen reißendem Lauf die ernstlichen Bitten Herrn Tupmans, den Deckel des Vehikels zu schließen, nicht einen Augenblick aufzuhalten vermochten. Doch Herrn Wellers Zorn wich plötzlich der Neugierde, als der Zug in denselben Hofraum einbog, in dem er den Ausreißer Hiob Trotter getroffen hatte. Die Neugierde machte einem Gefühle der freudigsten Überraschung Platz, als der allgewichtige Herr Grummer den Trägern Halt zu machen gebot, mit würdevollem und festem Gang auf dasselbe grüne Tor, durch das Hiob Trottcr herausgekommen war, zuschritt, und hastig am Glockenzuge riß, der an der Seite desselben hing. Auf dieses Zeichen erschien eine schmucke, rotwangige Dirne, die vor Erstaunen über das rebellische Aussehen der Gefangenen und die leidenschaftliche Sprache Herrn Pickwicks die Hände über dem Kopf zusammenschlug und Herrn Muzzle herbeirief. Herr Muzzle öffnete den einen Flügel des Tores, um die Sänfte, die Gefangenen und die Diener des Gerichts einzulassen, und schlug sie augenblicklich der andringenden Menge wieder vor der Nase zu, worauf diese voll Entrüstung und Neugierde ihren Gefühlen dadurch Luft machte, daß sie noch eine oder zwei Stunden lang an das Tor polterte und an der Glocke zog. Alle nacheinander nahmen an dieser Unterhaltung Teil: nur drei oder vier Glückliche hatten eine Ritze im Tor entdeckt, die eine freie Aussicht auf nichts gestattete. Nun starrten sie mit jener unermüdeten Beharrlichkeit in das Innere, mit der sich der Pöbel an den Fenstern des vorderen Zimmers eines Wundarztes die Nasen abstößt, wenn ein Betrunkener, der auf der Straße von einem Hundekarren überfahren wurde, im hinteren Zimmer der chirurgischen Inspektion unterworfen wird.

Am Fuße einer Treppe, die zur Haustür führte und die auf beiden Seiten von einer amerikanischen Aloe in grünem Topfe bewacht wurde, machte die Sänfte halt. Herr Pickwick und seine Freunde wurden in den Hausflur geführt, aus dem sie, nach vorhergegangener Anmeldung durch Muzzle, zu Herrn Nupkins gewiesen und sofort der hochachtbaren Person dieses patriotischen Beamten vorgestellt wurden.

Die Szene war ergreifend und ganz darauf berechnet, das Herz des Schuldbewußten mit Schrecken zu erfüllen und ihm einen richtigen Begriff von der Strenge und Majestät des Gesetzes beizubringen. Vor einem großen Bücherkasten, an einem großen Tisch, hinter einem großen Buche, in einem großen Stuhl saß Herr Nupkins, noch weit größer, als irgendeiner von den genannten Dingen, so groß diese auch immer waren. Der Tisch war mit Säulen von Akten geschmückt, und am entfernteren Ende desselben ragten Kopf und Schultern des Herrn Iinks hervor, der in dem eifrigen Geschäft begriffen war, so geschäftig wie möglich auszusehen. Nachdem die ganze Gesellschaft eingetreten, verschloß Muzzle sorgfältig die Tür und stellte sich hinter den Stuhl seines Herrn, um seine Befehle zu erwarten. Herr Nupkins lehnte sich mit feierlicher Würde zurück und betrachtete die Gesichter seiner unfreiwilligen Gäste mit durchbohrenden Blicken.

»Wer ist die Person, Grummer?« sagte Herr Nupkins, auf Herrn Pickwick deutend, der als Sprecher mit dem Hut in der Hand dastand und sich mit der äußersten Höflichkeit und Ehrerbietung verneigte.

»Ihr Gestrengen, das ist der Pickwick«, erwiderte Grummer.

»Keinen solchen Ton, alte Lichtschere«, fiel Herr Weller ein, sich mit Ellbogenstößen in die vorderste Reihe drängend – bitt‘ um Verzeihung, Sir, aber dieser – Ihr dienstbarer Geist in den Stulpenstiefeln – würde als Zeremonienmeister nirgends ein anständiges Auskommen finden. Dies, Sir«, fuhr Herr Weller, Grummer zurückdrängend, mit launiger Vertraulichkeit gegen den Oberbeamten fort – »dies ist Pickwick, Esquire; dies Herr Tupman; jener Herr Snodgraß, und der andere neben ihm Herr Winkle, lauter vortreffliche Ehrenmänner, deren Bekanntschaft zu machen Sie sich sehr glücklich schätzen werden. Je schneller Sie übrigens Ihre Amtsdiener auf einen Monat oder zwei ins Kittchen schicken, desto schneller und besser werden wir uns verständigen. Zuerst das Geschäft, dann das Vergnügen, wie König Richard der Dritte sagte, als er den andern König im Tower erstach, und ehe er die Kleinen erwürgte.«

Am Schlusse dieser Anrede bürstete Herr Weller seinen Hut mit dem rechten Ellenbogen und nickte Jinks huldvoll zu, der ihn mit unaussprechlichem Entsetzen zu Ende gehört hatte.

»Wer ist dieser Mensch, Grummer?« fragte der Oberbeamte.

»Ein ganz verzweifelter Kerl, Ihr Gestrengen«, erwiderte Grummer. »Er suchte die Gefangenen zu befreien und griff die Diener des Gesetzes an – wir nahmen ihn deswegen fest und brachten ihn hierher.«

»Daran habt ihr ganz recht getan«, entgegnete der Oberbeamte. »Es ist augenscheinlich ein ganz unglaublicher Halunke.«

»Es ist mein Diener, Sir«, sagte Herr Pickwick zornig.

»So, es ist Ihr Diener – so?« fragte Herr Nupkins. – »Also eine Verschwörung, dem Ansehen der Gesetze zu trotzen und die Boten des Gerichts zu ermorden. Pickwicks Diener! – Schreiben Sie das nieder, Herr Jinks.«

Herr Jinks schrieb.

»Euer Name, Bursche«, donnerte Herr Nupkin«.

»Weller«, antwortete Sam.

»Ein sehr hübscher Name für die Liste von Newgate Newgate ist das älteste Gefängnis in London.«, bemerkte Herr Nupkins.

Das war ein Scherz; folglich brachen Jinks, Grummer, Dubbley, sämtliche Gerichtsboten und Muzzle in ein Gelächter aus, das fünf Minuten lang dauerte.

»Notieren Sie den Namen, Herr Jinks«, sagte der Beamte.

»Zwei L, alter Knabe«, rief Sam.

Hier lachte ein unglücklicher Gerichtsbote wieder, worüber ihm der Beamte alsbald mit Verhaftung drohte. Es ist in solchen Fällen etwas Gefährliches, über den Unrechten zu lachen.

»Wo seid Ihr zu Hause?« fragte der Oberbeamte.

»Überall und nirgends«, erwiderte Sam.

»Notieren Sie das, Herr Jinks«, sagte der Beamte, der in eine förmliche Wut geriet.

»Unterstreichen Sie es auch«, bemerkte Sam.

»Er ist ein Landstreicher, Herr Jinks«, rief der Beamte, »ein Landstreicher nach seinem eigenen Geständnis – nicht wahr, Herr Jinks.«

»Ganz gewiß, Sir.«

»Ich will ihn einsperren lassen – ich will ihn einsperren lassen, als einen Landstreicher«, sagte Herr Nupkins.

»Das ist mir eine saubere Justiz hierzulande«, bemerkte Sam; »da gibt es keinen Beamten, der nicht zwei Streiche macht, wenn er andere Leute wegen eines einsperrt.«

Über diesen Witz lachte ein anderer Gerichtsdiener und machte dann eine so krampfhafte Anstrengung, eine ernste Miene zu erzwingen, daß der Beamte den Täter augenblicklich entdeckte.

»Grummer«, rief der Beamte, vor Wut ganz karfunkelrot werdend, »wie können Sie es wagen, einen so unverantwortlichen Taugenichts zum Gehilfen der Gerechtigkeit zu machen? Wie können Sie es wagen, Sir?«

»Es tut mir herzlich leid. Euer Gestrengen«, stammelte Grummer.

»Herzlich leid?« rief der wütende Beamte. »Sie sollen mir büßen für diese Pflichtvergessenheit, Herr Grummer; ich will ein Exempel an Ihnen statuieren. Nehmen Sie dem Burschen den Stab ab. Er ist betrunken. Ihr seid betrunken, Kerl.«

»Ich bin nicht betrunken. Euer Gnaden«, erwiderte der Mann.

»Ihr seid betrunken«, entgegnete der Beamte. »Wie könnt Ihr Euch unterfangen, zu sagen. Ihr seid nicht betrunken, wenn ich sage, Ihr seid es? Riecht er nicht nach Schnaps, Grummer?«

»Entsetzlich, Ihr Gestrengen«, erwiderte Grummer, der eine entfernte Ahnung hatte, daß es irgendwo nach Rum rieche.

»Ich wußte es, daß er danach riecht«, bemerkte Herr Nupkins, »Gleich beim Eintritt ins Zimmer sah ich es ihm an seinen aufgelaufenen Augen an, daß ei betrunken ist. Haben Sie seine aufgelaufenen Augen nicht bemerkt, Herr Jinks?«

»Jawohl, Sir.«

»Ich habe diesen Morgen nicht einen Tropfen Branntwein gesehen«, sagte der Mann, der so nüchtern war, wie er nur sein konnte.

»Wie wagt Ihr es, mir eine Lüge ins Gesicht zu sagen?« rief Herr Nupkins. »Ist er nicht in diesem Augenblick betrunken, Herr Jinks?«

»Jawohl, Sir«, versetzte Jinks.

»Herr Jinks«, bemerkte der Beamte, »ich lasse den Kerl einsperren wegen Unverschämtheit. Setzen Sie den Verhaftungsbefehl auf, Herr Jinks.«

Und der Gerichtsdiener wäre ohne weiteres eingesperrt worden, allein Jinks, der der Ratgeber des Beamten war und drei Jahre lang in der Schreibstube eines Grafschaftsanwalts gelernt hatte, flüsterte dem Beamten zu, er glaube, das gehe nicht wohl an. Darauf hielt der Beamte eine Rede, worin er sagte, er wolle es aus Rücksicht auf die Familie des Gerichtsdieners beim Verweise und bei der Entlassung bewenden lassen. Demgemäß wurde derselbe eine Viertelstunde lang tüchtig gewaschen und seiner Verpflichtung enthoben; und Grummer, Dubbley, Muzzle und sämtliche übrigen Gerichtsdiener bewunderten murmelnd Herrn Nupkins Großmut.

»Jetzt, Herr Jinks, lassen Sie Grummer schwören«, sagte der Beamte.

Grummer wurde sofort vereidigt; aber da er etwas verworren sprach, und Herrn Nupkins‘ Mittagessenszeit nahe war, so machte dieser die Sache kurz und legte Grummern die Antworten auf die Zunge, die denn auch immer so bejahend wie möglich ausfielen. Das Verhör ging also seinen Gang, und Herr Weller wurde zweier tätlicher Angriffe, Herr Winkle einer Drohung und Herr Snodgraß eines Stoßes überführt. Als das alles zur Zufriedenheit des Beamten erledigt war, hielten der Beamte und Herr Jinks eine stille Beratung.

Die Beratung dauerte ungefähr zehn Minuten; dann zog sich Herr Jinks auf seinen Platz am Ende des Tisches zurück, und der Beamte setzte sich nach einem vorbereitenden Räuspern in seinen Stuhl und war eben im Begriff, seine Anrede zu beginnen, als Herr Pickwick mit den Worten einfiel:

»Ich bitte um Verzeihung, Sir, wenn ich Sie unterbreche«, sagte Herr Pickwick, »aber bevor Sie das Urteil, das Sie auf die stattgehabten Verhandlungen gegründet haben mögen, aussprechen und in Vollzug setzen, muß ich mein Recht in Anspruch nehmen, gehört zu werden, insofern die Sache meine Person betrifft.«

»Halten Sie den Mund«, rief ihm der Beamte kategorisch zu.

»Ich muß Sie aber darauf aufmerksam machen, Sir«, sagte Herr Pickwick.

»Halten Sie den Mund«, unterbrach ihn der Beamte, »oder ich werde meinen Gerichtsdiener befehlen. Sie abzuführen.«

»Sie mögen Ihrem Gerichtsdiener befehlen, was Ihnen beliebt, Sir«, fiel Herr Pickwick ein; »und nach dem, was ich von der Subordination gesehen habe, die unter Ihnen gehandhabt wird, zweifle ich nicht, daß sie alles ausführen, was Sie ihnen nur immer befehlen; aber ich muß mir die Freiheit nehmen, Sir, so lange mein Recht, gehört zu werden, zu beanspruchen, bis ich mit Gewalt entfernt werde.

»Pickwick und Grundsatz!« rief Herr Weller mit sehr vernehmlicher Stimme.

»Sam, sei ruhig«, sagte Herr Pickwick.

»Stumm wie eine durchlöcherte Trommel«, entgegnete Sam.

Herr Nupkins betrachtete Herrn Pickwick mit dem Blicke des höchsten Erstaunens, als er eine so unerhörte Keckheit an den Tag legte, und war augenscheinlich im Begriff, eine sehr zornige Erwiderung zu geben, als ihn Herr Jinks an den Ellenbogen stieß und ihm etwas ins Ohr flüsterte. Auf dieses gab der Beamte eine halbvernehmliche Antwort, und dann erneuerte sich das Geflüster.

Endlich wandte sich der Beamte, seinen Verdruß hinunterschluckend, an Herrn Pickwick, und sagte in scharfem Tone – »was haben Sie mir zu sagen?«

»Vorerst«, begann Herr Pickwick, einen Blick durch seine Brille werfend, vor dem sogar Herr Nupkins die Augen niederschlug – »vorerst wünschte ich zu erfahren, warum ich und meine Freunde hierher gebracht wurden?«

»Muß ich es ihm sagen?« flüsterte der Beamte Jinks zu.

»Ich denke, es wird das beste sein, Sir«, flüsterte Jinks dem Beamten zu.

»Es ist mir eine polizeiliche Anzeige zugekommen, daß man besorgt. Sie wollen einen Zweikampf ausfechten, und daß die andere Person, Tupman, Ihr Sekundant und Helfershelfer sei. Deshalb – nun, Herr Jinks?«

»Jawohl, Sir.«

»Deshalb fordere ich Sie beide auf, eine – nicht wahr, so ist’s richtig, Herr Jinks?«

»Jawohl, Sir.«

»Eine – eine – was, Herr Jinks?« fragte der Beamte ärgerlich,

»Eine Bürgschaft zu stellen, Sir.«

»Ja. Deshalb fordere ich Sie beide auf – wie ich eben sagen wollte, als ich durch meinen Schreiber unterbrochen wurde – eine Bürgschaft zu stellen.«

»Eine gute Bürgschaft«, flüsterte Herr Jinks.

»Ich verlange eine gute Bürgschaft«, sagte der Beamte.

»Von Bürgern aus der Stadt«, flüsterte Jinks.

»Es müssen Bürger aus der Stadt sein«, sagte der Beamte.

»Fünfzig Pfund jeder«, flüsterte Jinks! »und natürlich Hausbesitzer.«

»Ich verlange zwei Bürgen, jeden von fünfzig Pfund«, sagte der Beamte laut, mit großer Würde, »und es müssen natürlich Hausbesitzer sein.«

»Aber ums Himmels willen, Sir«, rief Herr Pickwick, gleich Herrn Tupman vor Erstaunen und Unwillen außer sich: «wir sind in dieser Stadt völlig fremd. Ich kenne ebensowenig einen Hausbesitzer hier, wie ich mit irgend jemandem einen Zweikampf auszufechten gedenke.«

»Ich bin meiner Sache gewiß«, versetzte der Beamte, »ich bin meiner Sache gewiß – Sie nicht auch, Herr Jinks?«

»Jawohl, Sir.«

»Haben Sie noch mehr zu bemerken?« fragte der Beamte.

Herr Pickwick hatte allerdings noch weit mehr zu bemerken und würde es auch, obwohl nicht sehr zu seinem Vorteil oder zur Zufriedenheit des Beamten, getan haben, wäre er nicht in dem Augenblick, wo er zu sprechen aufhörte, von Herrn Weller an den Ellenbogen gestoßen worden. Darauf ließ er sich mit dem genannten Herrn in eine so ernste Unterhaltung ein, daß er die Frage des Beamten völlig überhörte. Herr Nupkins war indes nicht der Mann, eine Frage von der Art zweimal zu stellen, und so begann er denn nach einem zweiten vorbereitenden Geräusper seine Entscheidung auszusprechen, während die Gerichtsboten voll Ehrfurcht und Bewunderung stillschweigend zuhörten.

Herr Weller sollte für den ersten Angriff um zwei, und für den zweiten um drei, Herr Winkle um zwei und Snodgraß um ein Pfund gestraft werden, und außerdem, lautete Herrn Nupkins Erkenntnis, den Frieden gegen seiner Majestät Untertanen und namentlich gegen seinen Gerichtsdiener Daniel Grummer beschwören. Von Pickwick und Tupman hatte er bereits die Bürgschaft gefordert.

Kaum hatte der Beamte zu sprechen aufgehört, als Herr Pickwick mit einem Lächeln, das sich über sein wieder aufgeheitertes Gesicht verbreitete, einige Schritte vortrat und sagte:

»Ich bitte den Bürgermeister um Verzeihung, aber darf ich die Erlaubnis nachsuchen, Sie in einer für Sie selbst sehr wichtigen Angelegenheit fünf Minuten lang insgeheim zu sprechen?«

»Was?« fragte der Beamte.

Herr Pickwick wiederholte sein Gesuch.

»Das ist eine sehr außerordentliche Bitte«, sagte der Beamte – »eine geheime Unterredung?«

»Eine geheime Unterredung«, wiederholte Herr Pickwick mit festem Tone: »nur wünschte ich, daß mein Diener dabei gegenwärtig wäre, insofern ich die Mitteilung, die ich Ihnen zu machen habe, zum Teil ihm verdanke.«

Der Beamte sah voll Erstaunen auf Herrn Jinks, Herr Jinks auf den Beamten, und die Gerichtsdiener auf einander. Herr Nupkins erbleichte plötzlich. Konnte Weller in einer Anwandlung von Gewissensbissen irgendeine heimliche Verschwörung gegen sein Leben entdeckt haben? Es war ein furchtbarer Gedanke. Er war ein Staatsbeamter, und er wurde blasser, als er an Julius Cäsar und Herrn Perceval dachte.

Der Beamte sah wieder auf Herrn Pickwick und winkte Herrn Jinks.

»Was halten Sie von diesem Gesuch, Herr Jinks?« flüsterte Herr Nupkins.

Herr Jinks, der nicht genau wußte, was er davon halten sollte und anzustoßen fürchtete, lächelte bedenklich und schüttelte langsam den Kopf, während er seine Mundwinkel hinaufzog.

»Herr Jinks«, sagte der Beamte mit strengem Tone. »Sie sind ein Esel, Sir.«

Als er diese lakonische Ansicht ausgesprochen hatte, lächelte Herr Jinks wieder – doch etwas weniger als zuvor – und zog sich allgemach in seinen Winkel zurück.

Herr Nupkins ging einige Minuten mit sich selbst zu Rate, erhob sich dann von seinem Stuhl, bedeutete Herrn Pickwick und Sam Weller, ihm zu folgen, trat in ein kleines Zimmer, das an die Amtsstube stieß, ersuchte hierauf Herrn Pickwick, sich bei der gegenüberliegenden Wand des Gemaches aufzustellen. Dann erklärte er sich bereit, die Mitteilungen, welcher Art sie auch sein möchten, anzuhören, wobei er die Hand an der halbgeschlossenen Tür hatte, um sogleich entrinnen zu können, im Falle die Herren nur die geringste Miene machen sollten, Feindseligkeiten zu beginnen.

»Ich will sofort zur Sache kommen, Sir«, begann Herr Pickwick; »es betrifft Sie und Ihre Ehre wesentlich. Ich habe allen Grund zu der Vermutung, Sir, daß Sie einem groben Betrüger in Ihrem Hause Ein- und Ausgang gestatten.«

»Zwei«, unterbrach ihn Sam, »das maulbeerfarbene Untier steckt voll Tränen und Schurkerei.«

»Sam«, fiel Herr Pickwick ein; »wenn ich mich diesem Herrn verständlich machen soll, so muß ich dich bitten, deinen Gefühlen Einhalt zu tun.«

»Tut mir sehr leid, Sir«, versetzte Herr Weller; »aber wenn ich bedenke, was der Hiob für ein Kerl ist, so kann ich mir nicht helfen; ich muß die Klappe einen oder zwei Zoll weit aufmachen.«

»Mit einem Wort, Sir«, sagte Herr Pickwick, »ist mein Diener recht daran, wenn er vermutet, daß ein gewisser Kapitän Fitz-Marshall hier aus- und eingeht? – Denn«, fügte Herr Pickwick hinzu, als er sah, daß Herr Nupkins im Begriff stand, ihn zornig zu unterbrechen – »denn wenn er recht hat, so kenne ich diese Person als einen –«

»Pst, pst«, fiel Herr Nupkins, die Tür schließend, ein. »Sie kennen ihn – als was?«

»Als einen nichtswürdigen Abenteurer – einen ehrlosen Halunken – einen Mann, der die Gesellschaft plündert und die Leute mit seinen Schurkereien, seinen albernen, dummen, erbärmlichen Schurkereien hinters Licht führt«, rief der aufgeregte Herr Pickwick,

»Ach Gott«, seufzte Herr Nupkins, tief errötend und plötzlich sein ganzes Benehmen ändernd. »Ach Gott, Herr –«

»Pickwick«, ergänzte Sam.

»Pickwick«, sagte der Beamte, »ach Gott, Herr Pickwick – bitte, nehmen Sie Platz – das kann nicht Ihr Ernst sein. Kapitän Fitz-Marshall?«

»Nennen Sie ihn nicht Kapitän«, fiel Sam ein, »auch nicht Fitz-Marshall: er ist weder das eine noch das andere. Er ist ein herumziehender Komödiant, weiter nichts. Sein Name ist Jingle: und wenn es je einen Wolf in maulbeerfarbener Haut gab, so ist es Hiob Trotter.«

»Es ist reine Wahrheit, Sir«, sagte Herr Pickwick, als ihn der Beamte voll Bestürzung anstarrte. »Ich habe in dieser Stadt nichts anderes zu tun, als die Person, von der wir sprechen, zu entlarven.«

Und Herr Pickwick begann dem schreckensbleichen Herrn Nupkins einen kurzen Abriß von Herrn Jingle zu geben. Er erzählte, wie er ihn zuerst kennengelernt, wie er Fräulein Wardle entführt, wie er die Dame gegen ein Lösegeld gerne wieder freigegeben, wie er ihn um Mitternacht in eine Mädchenschule gelockt, und wie er (Herr Pickwick) es jetzt für seine Pflicht halte, seine Ansprüche auf seinen Stand und Namen in ihrer Nichtigkeit darzustellen. Während dieser Erzählung stieg alles warme Blut, das in Herrn Nupkins‘ Adern kreiste, bis in die äußersten Spitzen seiner Ohren. Er hatte den Kapitän bei einem Pferderennen in der Nachbarschaft zufälligerweise getroffen. Entzückt durch seine lange Liste aristokratischer Bekanntschaften, seine ausgedehnten Reisen und sein fashionables Benehmen, hatten Frau Nupkins und Fräulein Nupkins Herrn Kapitän Fitz- Marshall und wieder Kapitän Fitz-Marshall und Kapitän Fitz- Marshall hinten und vorn bei allen Matadoren ihrer auserlesenen Gesellschaft eingeführt, bis endlich ihre Busenfreundinnen, Frau Porkenham und das Fräulein Porkenham und deren Bruder, Herr Sidney Porkenham, vor Eifersucht und Verzweiflung beinahe platzten. Und nun, nach all diesem hören zu müssen, er sei ein elender Abenteurer, ein herumziehender Komödiant und, wo nicht ein Betrüger, doch wenigstens ein Mann, der einem solchen so ähnlich sah, daß es schwer hielt, einen Unterschied zu entdecken. Himmel! was würden die Porkenham sagen? Wie würde Herr Sidney Porkenham triumphieren, wenn er erführe, daß man ihn um eines solchen Nebenbuhlers willen hintangesetzt? Wie konnte er bei der nächsten Quartalsitzung dem alten Porkenham unter die Augen treten, und wenn die Geschichte bekannt wurde, wie hätte er dadurch der Opposition der herrschenden Partei das Messer selbst in die Hand gegeben?«

»Aber bei alledem«, sagte Herr Nupkins, dessen Gesicht sich nach einem langen Stillschweigen wieder für einen Augenblick aufheiterte: »bei alledem ist das eine bloße Behauptung. Fitz-Marshall ist ein sehr einnehmender Mann – und hat ohne Zweifel viele Feinde. Welche Beweise haben Sie für die Wahrheit Ihrer Angaben?«

»Stellen Sie ihn mir gegenüber«, erwiderte Herr Pickwick: »das ist alles, was ich verlange und alles, was ich mir ausbitte. Stellen Sie ihn mir und meinen Freunden gegenüber, so werden Sie keiner weiteren Beweise bedürfen.«

»Nun«, versetzte Herr Nupkins, »das läßt sich sehr leicht bewerkstelligen, denn er wird diesen Abend hier sein, und dann würde zugleich das Aufsehen vermieden. Es wäre mir bloß – bloß – um den jungen Mann selbst, Sie verstehen mich. Ich – ich möchte aber doch vorerst Madame Nupkins über das Geeignete eines solchen Schrittes um Rat fragen. Auf alle Fälle, Herr Pickwick, müssen wir unser Amtsgeschäft ins reine bringen, ehe wir an etwas anderes gehen können. Haben Sie die Güte, wieder in das andere Zimmer zu treten.«

Sie kehrten in das Amtszimmer zurück.

»Grummer«, rief der Beamte mit feierlichem Tone.

»Ihr Gestrengen«, erwiderte Grummer mit dem Lächeln eines Günstlings.

»Gehen Sie«, sagte der Beamte streng, »und nehmen Sie sich in acht, daß Sie sich künftig nicht mehr übereilen. Es geziemt Ihnen gar nicht, und ich kann Sie versichern, Sie haben sehr wenig Ursache, darüber zu lächeln. War der Bericht, den Sie mir soeben erstattet, durchaus der Wahrheit getreu? Besinnen Sie sich wohl, Mensch.«

»Ihr Gestrengen«, stotterte Grummer, »ich –«

»Ah, Sie kommen in Verwirrung – nicht wahr?« sagte der Beamte. »Herr Jinks, bemerken Sie seine Verwirrung?«

»Jawohl, Sir«, erwiderte Jinks.

»Wiederholen Sie jetzt Ihre Aussagen, Grummer«, sagte der Beamte; »und noch einmal warne ich Sie, besinnen Sie sich wohl. – Herr Jinks, nehmen Sie seine Angaben zu Protokoll.«

Der unglückliche Grummer begann also seinen Bericht aufs neue: allein die Art und Weise, wie Herr Jinks seine Worte zu Protokoll und der Beamte sie auf die Wagschale legte, verbunden mit seinem natürlichen Hang zu Weitschweifigkeiten und seiner außerordentlichen Verwirrung, verwickelte ihn in einem Zeitraum von weniger als drei Minuten in eine solche Menge von Widersprüchen, daß Herr Nupkins auf einmal erklärte, er könne ihm keinen Glauben schenken. Die Strafen wurden also erlassen, und Herr Jinks wußte im Augenblick ein paar Bürgen. Als nun die ganze feierliche Gerichtsverhandlung zur allgemeinen Zufriedenheit geschlossen war, wurde Herr Grummer schimpflich hinausgewiesen – ein furchtbarer Beweis der Unbeständigkeit menschlicher Größe und der unsicheren Stellung eines Günstlings der Großen. –

Frau Nupkins war eine majestätische Person in einem blauen Gazeturban und lichtbraunen falschen Haaren. Fräulein Nupkins besaß alles Hochfahrende ihrer Mama, außer dem Turban, und alles Falsche dieser, außer den Haaren. Wenn die Ausübung dieser liebenswürdigen Eigenschaft Mutter und Tochter, wie es nicht selten der Fall war, in eine unangenehme Lage versetzte, so kamen beide darin überein, die Schuld auf Herrn Nupkins‘ Schultern zu legen. Als daher Herr Nupkins Frau Nupkins aufsuchte und ihr verriet, was Herr Pickwick ihm anvertraut hatte, erinnerte sich Frau Nupkins plötzlich, daß sie immer so etwas der Art erwartet, daß sie immer gesagt, dahin würde es noch kommen; daß man nie auf ihren Rat geachtet, daß sie wirklich gar nicht wisse, wofür Herr Nupkins sie halte, und so weiter.

»Der Gedanke«, sagte Fräulein Nupkins, aus jedem Augenwinkel eine Träne von kaum bemerkbaren Dimensionen hervorpressend: »der Gedanke, so zum besten gehalten worden zu sein –«

»Dafür kannst du dich bei deinem Papa bedanken«, fiel Frau Nupkins ein. »Wie habe ich den Mann gebeten und beschworen, sich nach des Kapitäns Familienverhältnissen zu erkundigen: wie bin ich in ihn gedrungen, einen entscheidenden Schritt zu tun! Ich weiß gewiß, niemand wird mir’s glauben – niemand.«

»Aber meine Liebe«, sagte Herr Nupkins.

»Entschuldige dich nicht, du machst die Sache nur schlimmer: entschuldige dich nicht«, fiel Frau Nupkins ein.

»Meine Liebe«, begann Herr Nupkins aufs neue, »du hast doch selbst Kapitän Fitz-Marshall so sehr begünstigt; hast ihn beständig zu uns eingeladen, meine Liebe, und hast keine Gelegenheit vorübergehen lassen, ihn auch in andere Gesellschaften einzuführen.«

»Hab ich es nicht gesagt, Henriette?« entgegnete Frau Nupkins, sich mit der Miene des schwer beleidigten Weibes an ihre Tochter wendend: hab‘ ich es nicht gesagt, dein Papa werde es umdrehen und alles mir aufbürden? Hab‘ ich es nicht gesagt?«

Hier schluchzte Frau Nupkins.

»Ach, Papa!« rief Fräulein Nupkins und schluchzte ebenfalls.

»Ist es nicht himmelschreiend? Nachdem er alle diese Schmach über uns gebracht und uns lächerlich gemacht hat, treibt er noch seinen Spott mit mir und sagt, ich sei schuld daran!« rief Frau Nupkins.

»Wie können wir uns je wieder in Gesellschaft blicken lassen?« sagte Fräulein Nupkins.

»Wie können wir den Porkenhams unter die Augen treten?« fragte Frau Nupkins.

»Oder den Grigs?« sagte Fräulein Nupkins.

»Oder den Slummintowkens?« fragte Frau Nupkins. »Doch was kümmert das deinen Papa? Was gilt das ihm?«

Bei diesem furchtbaren Gedanken weinte Frau Nupkins so heftig, wie man nur im tiefsten Seelenschmerz weinen kann, und Fräulein Nupkins folgte ihrem Beispiele.

Frau Nupkins Tränen fuhren fort, mit großer Geschwindigkeit zu fließen, bis sie ein wenig Zeit gewonnen hatte, die Sache zu überdenken. Darauf fiel dann ihre Entscheidung dahin aus, es werde das beste sein, wenn man Herrn Pickwick und seine Freunde bis zur Ankunft des Kapitäns zu bleiben bäte, um Herrn Pickwick die gewünschte Gelegenheit zu verschaffen. Würden sich dann seine Angaben als wahr herausstellen, so könnte der Kapitän ohne weiteres Aufsehen aus dem Hause gewiesen und den Porkenhams leicht vorgespielt werden, er sei durch den Einfluß seiner Familie bei Hof zum Generalgouverneur von der Teufelsinsel oder vom Pfefferland oder irgendeiner andern Kolonie in jenen gesunden Himmelsstrichen ernannt worden, die die Europäer so sehr bezaubern, daß sie, wenn sie einmal dort sind, nicht mehr leicht zur Rückkehr bestimmt werden können.

Als Frau Nupkins ihre Tränen trocknete, trocknete auch Fräulein Nupkins die ihren, und Herr Nupkins war äußerst froh, daß die Sache so abgemacht wurde, wie Frau Nupkins vorgeschlagen hatte. Also wurde Herr Pickwick mit seinen Freunden, nachdem sie sich zuvor von allen Spuren ihres letzten Erlebnisses rein gewaschen hatten, den Damen vorgestellt und bald darauf in einen Speisesaal geführt. Herr Weller, in dem der Beamte vermöge des ihm eigenen Scharfblicks binnen einer halben Stunde einen der feinsten Burschen von der Welt entdeckt hatte, wurde der Sorgfalt und Pflege Herrn Muzzles empfohlen, dem besonders eingeschärft wurde, Weller mit sich herunter zu nehmen und mit der gehörigen Achtung zu behandeln.

»Wie geht es Ihnen, Sir?« fragte Herr Muzzle, als er Herrn Weller die Küchentreppe hinunterführte.

»Nun, es hat seit der kurzen Zeit, daß ich Sie in der Amtsstube hinter dem Stuhle Ihres Herrn aufgepflanzt sah, keine große Veränderung in meinen inneren Zuständen stattgefunden«, versetzte Sam.

»Sie werden mich entschuldigen, daß ich Ihnen damals so wenig Aufmerksamkeit erwiesen«, bemerkte Herr Muzzle. »Sie wissen, mein Herr hatte Sie mir noch nicht vorgestellt. Himmel, wie er jetzt so große Stücke auf Sie hält, Herr Weller! Sie dürfen dessen versichert sein!«

»Ach, was er für ein artiger Herr ist!« sagte Sam.

»Nicht wahr?« erwiderte Muzzle.

»Soviel Humor«, meinte Sam.

»Und ein so beredter Mann«, sagte Muzzle, »seine Gedanken fließen – nicht wahr?«

»Wundervoll«, versetzte Sam; »sie stürzen heraus und stoßen die Köpfe so hart aneinander, daß sie sich ganz verwirrt machen; man weiß oft kaum, was er damit will – nicht wahr?«

»Das ist eben die große Kunst, die in seinem Vortrage liegt«, bemerkte Herr Muzzle. »Geben Sie acht, hier kommt die letzte Stufe, Herr Weller. Wollen Sie sich nicht die Hände waschen, Sir, ehe wir zu den Damen gehen? Hier ist ein Becken mit Wasser, Sir, und hinter der Tür ein reines Handtuch.«

»Es könnte nicht schaden, wenn ich mich etwas säuberte«, erwiderte Herr Weller, das Handtuch dick mit Seife überschmierend und das Gesicht reibend, bis es wieder schimmerte. »Wie viele Damen sind hier?«

»Nur zwei sind in unserer Küche«, antwortete Herr Muzzle, »eine Köchin und ein Stubenmädchen. Wir halten einen Jungen für die gewöhnlichen Arbeiten, und außerdem noch ein Laufmädchen; aber sie essen im Waschhause.«

»Ah, sie essen im Waschhause – wirklich?« fragte Herr Weller.

»Ja«, versetzte Herr Muzzle: »wir versuchten es anfangs, sie an unsere Tafel zu ziehen, aber es ging nicht. Das Laufmädchen hat so furchtbar ungebildete Manieren und der Junge schnauft so schrecklich, wenn er ißt, daß wir es unmöglich fanden, mit ihnen bei Tisch zu sitzen.«

»Etwa wie ein junger Haifisch?« bemerkte Herr Weller. »O, fürchterlich«, erwiderte Herr Muzzle. »Das ist das schlimmste an einem Dienst auf dem Lande, Herr Weller: die jüngeren sind immer so außerordentlich roh. Bitte wollen Sie gefälligst hierher sich bemühen, Sir, hierher.«

So ging er Herrn Weller mit der größten Höflichkeit voran und führte ihn in die Küche.

»Marie«, sagte Herr Muzzle zu dem hübschen Stubenmädchen: »dies ist Herr Weller, ein Gentleman, den der Herr herunterschickt und unserer Fürsorge für seine Unterhaltung aufs beste empfiehlt.«

»Und Ihr Herr ist ein Kenner – und hat mich gerade an den rechten Platz geschickt«, bemerkte Herr Weller, indem er Marie mit einem Blick der Bewunderung betrachtete. »Wenn ich Herr im Hause wäre, Stoff zur Unterhaltung würde ich überall finden, wo Marie ist.«

»Bitte, Herr Weller«, sagte Marie errötend.

»Schön, von mir will niemand was«, rief die Köchin aus.

»Beim Himmel, ich habe nicht an Sie gedacht, Köchin«, sagte Herr Muzzle. »Erlauben Sie mir, Herr Weller, Sie vorzustellen.«

»Wie geht es Ihnen, Madame?« fragte Herr Weller. »Freut mich unendlich, Ihre Bekanntschaft zu machen, und ich hoffe, sie soll von langer Dauer sein, wie der Kavalier zu der Fünfpfundnote sagte.«

Als diese Vorstellungszeremonie vorüber war, zogen sich die Köchin und Marie an das Ende der Küche zurück, um zehn Minuten lang zu kichern, und kamen dann mit hochroten, lachenden Gesichtern wieder zur Gesellschaft, die sich sofort zu Tisch setzte.

Herrn Wellers Gewandtheit und Unterhaltungsgabe äußerten einen so unwiderstehlichen Einfluß auf seine neuen Freunde, daß sie, noch ehe das Mittagessen halb vorüber war, bereits auf dem vertrautesten Fuße mit ihm standen und in die Schurkenstreiche Hiob Trotters völlig eingeweiht waren.

»Ich konnte diesen Hiob nie ausstehen«, sagte Marie.

»Das war auch nicht wohl anders möglich, mein Schätzchen«, versetzte Herr Weller.

»Warum nicht?« fragte Marie.

»Weil sich Häßlichkeit und Schurkerei nie mit Schönheit und Tugend verschwistern können«, antwortete Herr Weller. »Nicht wahr, Herr Muzzle?«

»Sie haben ganz recht«, sagte dieser.

Hier lachte Marie und sagte, die Köchin habe sie zum Lachen gebracht, und die Köchin lachte und sagte, es sei nicht wahr.

»Ich habe kein Glas«, sagte Marie. ,

»Trinken Sie mit mir, meine Teuerste«, sagte Herr Weller; »setzen Sie Ihre Lippen an meinen Becher, so kann ich Sie durch Vermittlung küssen.«

»Schämen Sie sich, Herr Weller«, meinte Marie.

»Warum schämen, meine Teuerste?«

»Daß Sie so reden.«

»Pah; es ist ja nichts Arges. Es ist etwas Natürliches; nicht wahr, Jungfer Köchin?«

»Fragen Sie mich nicht so närrisch«, erwiderte die Köchin in der besten Laune. Darauf lachten die Köchin und Marie wieder solange, bis die letztgenannte Dame vom Bier, von der kalten Küche und dem Gelächter so angegriffen wurde, daß sie beinahe erstickte – eine gefährliche Krisis, die sie nur überstand mit Hilfe mehrerer Schläge auf den Rücken und anderer erforderlicher Aufmerksamkeiten, die ihr auf die zarteste Weise von Herrn Samuel Weller erwiesen wurden.

Diese laute Fröhlichkeit wurde plötzlich durch starkes Läuten am Gartentor unterbrochen, worauf der junge Herr, der seine Mahlzeit im Waschhause hielt, alsbald öffnete. Herr Weller widmete seine ganze Aufmerksamkeit dem hübschen Stubenmädchen. Herr Muzzle war durch das Servieren in Anspruch genommen, und die Köchin hatte eben zu lachen aufgehört und führte gerade ein beträchtliches Stück Fleisch nach ihren Lippen, als die Küchentür aufging und Herr Hiob Trotter hereintrat.

Wir haben gesagt, daß Herr Hiob Trotter hereintrat, aber diese Behauptung kann auf die gewöhnliche Gewissenhaftigkeit der Geschichtsschreiber keinen Anspruch machen. Die Tür ging auf, und Herr Trotter erschien. Er wäre hereingetreten, und war wirklich im Begriff, hereinzutreten, als er beim Anblick des Herrn Weller unwillkürlich ein paar Schritte zurückbebte und vor Bestürzung und Schrecken die unerwartete Szene völlig regungslos anstarrte.

»Da ist er«, sagte Sam, vergnügt aufstehend. »Wir sprachen soeben von Ihnen. Wie geht es Ihnen? Wo haben Sie sich befunden? Treten Sie ein.«

Und seine Hand auf den maulbeerfarbenen Kragen des widerstandslosen Hiob legend, zog ihn Herr Weller in die Küche, schloß die Tür ab und händigte den Schlüssel Herrn Muzzle ein, der ihn ganz kaltblütig in seine Seitentasche steckte.

»Das ist höchst lustig«, rief Sam. »Denken Sie nur, mein Herr hat das Vergnügen, den Ihren oben zu sehen, und ich habe die Freude, Sie hier unten zu begrüßen. Wie steht es mit Ihnen und wie steht es mit dem Kramladen? Nun, es freut mich sehr, Sie zu treffen. Wie gut Sie aussehen! Es ist eine wahre Lust, Sie zu betrachten – nicht wahr, Herr Muzzle?«

»Gewiß«, meinte Herr Muzzle.

»Er ist so zutraulich«, bemerkte Sam.

»So aufgeräumt«, bestätigte Muzzle.

»Und so glücklich, uns zu sehen – das macht ihn so heiter«, sagte Sam. »Setzen Sie sich: setzen Sie sich.«

Herr Trotter ließ sich in einen Stuhl zwängen, der am Feuer stand, richtete seine Äuglein zuerst auf Herrn Weller, dann auf Herrn Muzzle und sagte nichts.

»Nun hätte ich Lust«, sagte Sam, »Sie aus einer Art von Neugierde in Gegenwart dieser Damen zu fragen, ob Sie sich nicht für einen so hübschen und artigen jungen Ehrenmann halten, wie nur je einer ein rotgewürfeltes Taschentuch und Nummer vier der geistlichen Liedersammlung bei sich trug.«

»Und wie nur je einer im Begriff war, sich mit einer Köchin zu verheiraten«, fügte die Dame unwillkürlich hinzu. »Der Schurke!«

»Ha, ha; sich von seinen bösen Wegen bekehren und dann einen Kramladen errichten!« sagte das Stubenmädchen.

»Jetzt will ich Euch was sagen, junger Mann«, begann Herr Muzzle, den die beiden letzteren Anspielungen in Wut versetzten, mit strengem Tone; »mit dieser Dame (auf die Köchin deutend) gedenke ich eine Verbindung fürs Leben zu schließen; und wenn Sie sich erdreisten, davon zu sprechen, Sie wollten mit ihr eine Verbindung zu einem Kramladen eingehen, so beleidigen Sie mich in einem der empfindlichsten Punkte, worin nur ein Mann den andern beleidigen kann. Verstehen Sie das, Sir?«

Hier schwieg Herr Muzzle, der einen großen Begriff von seiner Beredsamkeit hatte; denn er ahmte darin seinem Herrn nach, und wartete auf Antwort. ,

Aber Herr Trotter gab keine Antwort. Und so fuhr denn Herr Muzzle in strengem Ton fort:

»Es ist sehr wahrscheinlich, Sir, daß man Sie oben für einige Minuten nötig haben wird, Sir; denn mein Herr ist in diesem Augenblick damit beschäftigt, mit Ihrem Herrn, Sir, ein Hühnchen zu rupfen. Darum haben Sie einstweilen Muße, mit mir eine kleine Privatunterredung zu haben, Sir. Verstehen Sie das, Sir?«

Herr Muzzle wartete wieder auf Antwort, aber Herr Trotter täuschte abermals seine Erwartung.

»Nun denn«, sagte Herr Muzzle, »es tut mir sehr leid, mich in Gegenwart der Damen erklären zu müssen; aber das Dringende des Falls wird mich entschuldigen. Das anstoßende Gemach ist leer, Sir, wenn Sie dort hineintreten wollen, Sir; und Herr Weller wird nichts dagegen haben, und wir können unsere Sache dann ausfechten, bis die Glocke ertönt. Folgen Sie mir, Sir.«

Während Herr Muzzle also sprach, ging er ein paar Schritte der Tür zu, und um Zeit zu ersparen, zog er während des Gehens seinen Rock aus.

Kaum hatte die Köchin die letzten Worte dieser furchtbaren Herausforderung gehört, und gesehen, wie Herr Muzzle im Begriff war, sie zur Ausführung zu bringen, als sie einen lauten, durchdringenden Schrei ausstieß und auf Herrn Hiob Trotter losstürzte. Dieser war eben von seinem Stuhl aufgestanden, und nun zerkratzte und zerschlug sie ihm sein breites, plattes Gesicht mit jener Energie, die aufgeregten Damen eigentümlich ist. Sie fuhr ihm mit den Händen in sein langes, schwarzes Haar und riß ihm soviel davon aus, daß man fünf bis sechs Dutzend der größten Trauerringe 1 hätte daraus flechten können. Als sie dieses Bravourstück mit all jener Begeisterung vollbracht hatte, die ihr die feurige Liebe zu Herrn Muzzle einflößte, taumelte sie zurück, und da sie eine Dame von sehr erregbaren und feinen Gefühlen war, so fiel sie augenblicklich ohnmächtig unter den Tisch.

In diesem Augenblick ertönte die Glocke.

»Das gilt Ihnen, Hiob Trotter«, sagte Sam; und bevor Herr Trotter etwas antworten konnte – ja sogar bevor Herr Trotter Zeit hatte, die Wunden zu verstopfen, die ihm die besinnungslose Dame beigebracht – nahm ihn Sam an einem und Herr Muzzle an dem andern Arm, und indem ihn der eine vorn zog und der andere hinten schob, brachten sie ihn die Treppe hinauf ins Wohnzimmer.

Ein imposantes Bild entfaltete sich vor ihnen. Alfred Jingle, Esquire, alias Kapitän Fitz-Marshall, stand mit dem Hute in der Hand und einem Lächeln auf seinem trotz seiner höchst unangenehmen Lage völlig ruhigen Gesicht, an der Tür. Ihm gegenüber stand Herr Pickwick, der soeben eine strenge moralische Vorlesung gehalten haben mußte; denn seine linke Hand ruhte auf seiner Hüfte und seine rechte schwebte in der Luft – eine Haltung, die ihm eigen war, wenn er eine nachdrückliche Rede hielt. In einiger Entfernung stand Herr Tupman mit zornigem Gesicht und wurde von seinen beiden jüngeren Freunden sorglich zurückgehalten. Weiter hinten im Zimmer sah man Herrn Nupkins, Frau Nupkins und Fräulein Nupkins, großartig düster und wild empört.

»Was hindert mich«, sagte Herr Nupkins mit der Würde des Herrschers, als Hiob hereingebracht wurde – »was hindert mich, diese Menschen als Landstreicher und Betrüger verhaften zu lassen? Es ist törichte Nachsicht. Was hindert mich?«

»Stolz, alter Kamerad, Stolz«, erwiderte Jingle ganz wohlgemut. »Ließe sich nicht machen – ginge nicht – einen Kapitän ins Garn gelockt, he? – ha! ha! sehr hübsch – einen Mann für die Tochter – saurer Apfel – öffentlich werden – um alle Welt nicht – sehen verblüfft drein, ganz verblüfft.«

»Schändlicher!« rief Frau Nupkins; »wir verachten Ihre gemeinen Anspielungen.«

»Ich habe ihn von jeher gehaßt«, fügte Henriette hinzu.

»Ha, natürlich«, bemerkte Jingle. »Schlanker junger Mann – alter Liebhaber – Sidney Porkenham – reich – seiner Bursche – doch nicht so reich als der Kapitän, he? – Gebt ihm den Abschied – fort mit ihm – alles für den Kapitän – gibt nur einen Kapitän – alle Mädchen – rasend verliebt – he, Hiob he?«

Hier lachte Herr Jingle aus vollem Halse, und Hiob rieb sich die Hände vor Vergnügen und gab den ersten Laut von sich, seit er ins Haus getreten war – ein leises, kaum vernehmliches Kichern, das anzudeuten schien, wie er sich seines Lachens zu sehr freute, um es von sich zu geben.

»Nupkins«, bemerkte die ältere Dame, »unsere Unterhaltung ist nicht dazu geeignet, Dienstboten zu Zeugen zu haben. Schaffe die Schurken fort.«

»Jawohl, meine Liebe«, versetzte Herr Nupkin«. »Muzzle!«

»Ihro Gnaden –«

»Machen Sie die Tür auf.«

»Ja, Ihro Gnaden.«

»Verlassen Sie dieses Haus«, sagte Herr Nupkins, mit nachdrucksvoller Bewegung seiner Hand.

Jingle lächelte und ging auf die Tür zu.

»Halt!« rief Herr Pickwick.

Jingle blieb stehen.

»Ich hätte«, sagte Herr Pickwick, »eine weit empfindlichere Rache für die Behandlung nehmen sollen, die mir von Ihnen und Ihrem heuchlerischen Freunde widerfahren ist.«

Hier macht Hiob Trotter eine sehr höfliche Verbeugung und legte seine Hand aufs Herz.

»Ich wiederhole«, fuhr Herr Pickwick, immer zorniger werdend, fort: »ich hätte eine empfindlichere Rache nehmen sollen, aber ich begnüge mich damit, Sie zu entlarven, und ich glaube, das der Gesellschaft schuldig zu sein. Es ist das eine Nachsicht, Sir, für die Sie hoffentlich ein dankbares Gedächtnis haben werden.«

Als Herr Pickwick soweit gekommen war, hielt Hiob Trottet mit ironischer Würde die Hand ans Ohr, als läge ihm alles daran, ja keine Silbe von Herrn Pickwicks Rede zu verlieren.

»Und ich habe nur noch hinzuzufügen, Sir«, fuhr Herr Pickwick, außer sich vor Zorn, fort, »daß ich Sie für einen Schurken und einen – einen Galgenstrick – und – einen größeren Schandbuben halte, als mir je einer vorgekommen ist, oder als ich je von einem gehört habe, mit Ausnahme des höchst frommen und heiligen Landstreichers in der maulbeerfarbigen Livree.«

»Ha–ha–ha«, lachte Jingle. »Ehrlicher Kerl, Pickwick – gute Seele – wackerer alter Knabe – aber müssen nicht leidenschaftlich werden – bös‘ Ding das, sehr bös‘ – nun, nun – sehen uns wohl wieder – nur den Mut nicht sinken lassen – jetzt Hiob – komm.«

Mit diesen Worten setzte Herr Jingle den Hut in seiner gewohnten Weise auf und schritt aus dem Zimmer. Hiob Trotter blieb stehen, sah sich ringsum, lächelte, machte gegen Herrn Pickwick eine spöttisch-feierliche Verbeugung, warf Herrn Weller einen Blick zu, dessen freche Pfiffigkeit jeder Beschreibung spottet, und folgte den Fußtapfen seines hoffnungsvollen Herrn.

»Sam!« rief Herr Pickwick, als Herr Weller ihm nacheilte.

»Sir.«

»Bleib!«

Herr Weller schien unschlüssig.

»Bleib«, wiederholte Herr Pickwick.

»Darf ich diesen Hiob nicht im Garten noch etwas ausstäuben?« fragte Herr Weller.

»Nein«, erwiderte Herr Pickwick.

»Darf ich ihm nicht am Gartentor noch einen Fußtritt geben, Sir?« fragte Herr Weller.

»Nein, unter keinen Umständen«, entgegnete sein Herr.

Zum ersten Male seit seiner Anstellung sah Herr Weller für einen Augenblick mißvergnügt und unglücklich aus. Aber bald klärte sich sein Gesicht auf, denn der schlaue Herr Muzzle, der sich hinter die Haustür versteckt hatte, brach gerade im rechten Moment hervor und hatte das Glück, durch seine außerordentliche Gewandtheit Herrn Jingle und seinen Adjutanten kopfüber die Treppe hinab in die Töpfe zu werfen, worin die amerikanischen Aloen standen.

»Nachdem ich meine Pflicht erfüllt habe, Sir«, sagte Herr Pickwick zu Herrn Nupkins, »will ich mich jetzt mit meinen Freunden von Ihnen verabschieden. Wir danken Ihnen für die uns erwiesene Gastfreundschaft. Erlauben Sie mir, Sie in unser aller Namen zu versichern, daß wir diese nie in Anspruch genommen, noch uns auf eine solche Weise aus unserer früheren Verlegenheit gezogen hätten, wären wir nicht durch ein strenges Pflichtgefühl dazu bestimmt worden. Wir kehren morgen nach London zurück. Ihr Geheimnis ist sicher bei uns aufgehoben.«

Das war der Entgelt, mit dem Herr Pickwick gegen die Behandlung protestierte, die ihnen am Morgen widerfahren war. Er machte den Damen eine tiefe Verbeugung und verließ, ungeachtet der dringenden Einladung der Familie, mit seinen Freunden das Zimmer.

»Nimm deinen Hut, Sam«, sagte Herr Pickwick.

»Er ist unten, Sir«, erwiderte Sam, und eilte hinunter, um ihn zu holen.

Nun war aber niemand in der Küche als das hübsche Stubenmädchen, und da Sams Hut verlegt war, so mußte er ihn suchen, und das hübsche Stubenmädchen leuchtete ihm. Sie mußten die ganze Küche durchsuchen, und das hübsche Stubenmädchen ließ sich in ihrer Besorgnis um den Hut auf ein Knie nieder und durchstöberte alles, was in dem kleinen Winkel hinter der Tür aufgehäuft lag. Es war ein unbequemer Winkel, man konnte nicht hinkommen, ohne vorher die Tür zu schließen.

»Hier ist er«, rief das hübsche Stubenmädchen: »das ist er, nicht wahr?«

»Zeigen Sie«, sagte Sam.

Das hübsche Stubenmädchen hatte das Licht auf den Boden gestellt, und da es nur einen matten Schein von sich warf, war Sam genötigt, sich ebenfalls auf die Knie niederzulassen, um zu sehen, ob es wirklich sein Hut war oder nicht. Der Winkel war außerordentlich eng, und deswegen – es trug niemand anders die Schuld, als der Mann, der das Haus gebaut hatte – kamen Sam und das hübsche Stubenmädchen notwendig sehr nahe zusammen.

»Ja, da« ist er«, sagte Sam. »Leben Sie wohl.«

»Leben Sie wohl«, antwortete das hübsche Stubenmädchen.

»Leben Sie wohl«, sagte Sam: und als er das sagte, ließ er den Hut fallen, dessen Auffindung so viele Mühe gekostet hatte.

»Wie ungeschickt Sie sind«, rief das hübsche Stubenmädchen aus. »Sie werden ihn wieder verlieren, wenn Sie nicht besser acht geben.«

Und um dem vorzubeugen, setzte sie ihm selber den Hut auf den Kopf.

Ob nun das Gesicht des hübschen Stubenmädchens noch hübscher aussah, als es dem Gesichte Sams zugekehrt war, oder ob es eine zufällige Folge des Umstandes war, daß sie einander so nahe waren, das ist eine Frage, die bis auf diesen Tag noch nicht entschieden ist – kurz, Sam küßte sie.

»Sie haben das doch nicht absichtlich getan?« fragte das hübsche Stubenmädchen errötend.

»Nein«, antwortete Sam, »aber jetzt will ich es absichtlich tun.«

Somit küßte er sie wieder.

»Sam!« rief Herr Pickwick von der Treppe her.

»Ich komme, Sir«, erwiderte Sam, hinaufeilend.

»Wo bist du solange gewesen?« fragte Herr Pickwick.

»Es lag etwas hinter der Tür, Sir; darum konnten wir sie solange nicht aufmachen«, antwortete Sam.

Und das war der erste Akt von Herrn Wellers erster Liebe.

  1. Eine längst aus der Mode gekommene Liebhaberei, aus Menschenhaar künstliche Blumen, Schleifen und Schmucksachen, wie auch Trauerhalsketten und Trauerringe zu flechten.