Die verschwundene Braut

Die verschwundene Braut

Eines Tages wurde während seiner Abwesenheit ein Brief für Sherlock Holmes abgegeben. Ich hatte den ganzen Tag das Haus nicht verlassen, denn das Wetter war plötzlich regnerisch geworden; ein scharfer Herbstwind wehte, und die Flintenkugel in meinem Bein, die ich als Andenken aus dem afghanischen Feldzug heimgebracht habe, quälte mich mit empörender Hartnäckigkeit. In einem bequemen Stuhl sitzend, hatte ich die Beine auf einem zweiten Stuhl ausgestreckt und mich in einen ganzen Berg von Zeitungen vergraben, bis ich zuletzt die Tagesneuigkeiten satt bekam und die Blätter sämtlich beiseite schob. Während ich nun so in verdrossener Stimmung dalag, betrachtete ich mit träger Neugier das mächtige Wappen und Monogramm, das auf dem Umschlag des vor mir liegenden Briefes prangte, und fragte mich, wer wohl der adlige Briefschreiber sein möchte.

»Da liegt ein höchst vornehmer Brief für dich«, rief ich meinem Freund bei seinem Eintritt entgegen. »Deine Briefe heute früh, von einem Fischhändler und einem Zolleinnehmer, waren weniger vornehm.«

»Ja, mein Briefwechsel besitzt entschieden den Reiz der Abwechslung«, erwiderte er lächelnd, »und je weniger vornehm, desto interessanter sind sie in der Regel. Das da sieht gerade aus wie eine jener unwillkommenen gesellschaftlichen Einladungen, die einen entweder zu einer Marter oder zu einer Lüge verdammen.« Er erbrach das Siegel und überflog den Inhalt. »Warte einmal, das kann am Ende etwas ganz Interessantes geben!« rief er nun plötzlich.

»Also nichts Gesellschaftliches?«

»Nein, durchaus geschäftlich.«

»Und von wem?«

»Von einer der vornehmsten Personen in ganz England.«

»Nun, ich gratuliere, mein lieber Junge.«

»Ich versichere dir, Watson, es ist die Wahrheit, wenn ich sage, daß ich auf den gesellschaftlichen Rang meiner Kunden nicht so viel Wert lege, als auf das Interesse, das die Fälle bieten. Übrigens ist es wohl möglich, daß es bei dieser neuen Aufgabe auch nicht an interessantem Stoff fehlt. Du hast doch in diesen Tagen die Zeitungen genau durchgelesen, nicht wahr?«

»Na, und ob!« erwiderte ich in kläglichem Ton und deutete dabei auf einen mächtigen Stoß, der in einer Ecke aufgehäuft lag; »ich habe ja sonst fast nichts zu tun gehabt.«

»Nun, das kommt mir jetzt vielleicht zustatten, da kannst du mir sicher Auskunft geben. Ich lese nichts als die Kriminalberichte und den Briefkasten. Da erfährt man doch wenigstens immer etwas. Aber wenn du die neuesten Ereignisse so genau verfolgt hast, mußt du wohl auch etwas über Lord St. Simon und seine Hochzeit gelesen haben?«

»O ja, das hat mich sogar sehr interessiert.«

»Das ist schön. Der Brief hier ist von Lord St. Simon. Ich will ihn dir vorlesen, und dafür mußt du mir dann die Zeitungen noch einmal durchgehen und alles zusammensuchen, was sich auf die Angelegenheit bezieht. Er schreibt:

Mein lieber Herr Sherlock Holmes!

Lord Backwater sagt mir, daß ich Ihrem Scharfsinn und Ihrer Verschwiegenheit unbedingtes Vertrauen schenken dürfe. Ich habe mich daher entschlossen, bei Ihnen vorzusprechen und mir Ihren Rat in Beziehung auf das höchst schmerzliche Ereignis zu erbitten, das sich bei Gelegenheit meiner Hochzeit zugetragen hat. Herr Lestrade von der Geheimpolizei ist zwar in der Sache bereits tätig; allein er hat, wie er mir versichert, gegen Ihre Mitwirkung nicht nur nichts einzuwenden, sondern verspricht sich sogar Nutzen davon. Ich beabsichtige, um vier Uhr heute nachmittag bei Ihnen vorzusprechen und hoffe, daß Sie etwaige anderweitige Verpflichtungen auf später verschieben können.

Ihr aufrichtiger

St. Simon.

»Der Brief ist aus Schloß Grosvenor datiert und mit einer Füllfeder geschrieben, wobei dem edlen Lord das Mißgeschick begegnet ist, einen Tintenklecks außen an seinen rechten kleinen Finger zu bringen«, bemerkte Holmes, während er das Schreiben zusammenfaltete.

»Er sagt vier Uhr. Jetzt ist es drei. In einer Stunde ist er da. Bis dahin habe ich gerade noch Zeit, mich mit deiner Hilfe in der Sache aufs Laufende zu bringen. Sieh die Zeitungen durch und ordne die darauf bezüglichen Artikel nach ihrer Reihenfolge, unterdessen will ich einmal feststellen, wer unser Klient eigentlich ist.« Er nahm ein rotgebundenes Nachschlagebuch von dem Bücherbrett neben dem Kamin. »Da haben wir ihn ja«, sagte er, indem er sich niederließ und das Buch aufgeschlagen über seine Knie legte. »Lord Robert Walsingham de Vere St. Simon, zweiter Sohn des Herzogs von Balmoral – Hm! Wappen blau, drei Stachelnüsse im Mittelfeld über einem schwarzen Querbalken. Immerhin schon 41 Jahre alt, also nicht mehr zu jung zum Heiraten. War früher Unterstaatssekretär im Kolonialamt. Der Herzog, sein Vater, war früher Minister der auswärtigen Angelegenheiten. Stammen in gerader Linie von den Plantagenets und weiblicherseits von den Tudors ab. Das ist alles. Wir sind also nicht viel gescheiter als zuvor. Ich muß mich, scheint es, an dich halten, Watson, wenn ich etwas Ausgiebigeres erfahren will.«

»Es ist keine große Mühe, zu finden, was ich suche«, versetzte ich, »denn die Ereignisse sind neuesten Datums, und der merkwürdige Fall fesselte gleich meine Aufmerksamkeit. Trotzdem sah ich davon ab, dir darüber zu berichten, denn ich wußte, daß du gerade mit einer Untersuchung beschäftigt warst und es nicht gerne siehst, wenn man dir mit etwas anderem dazwischen kommt.«

»Ach, der Fall, den du meinst, ist bereits vollständig erledigt und war eigentlich von vornherein ganz klar. Bitte, lies mir nun vor, was du gefunden hast.«

»Dies hier ist, soviel ich finden kann, die erste Notiz. Sie stand vor ein paar Wochen in der ›Morning-Post‹ unter den Personalnachrichten. ›Lord Robert St. Simon‹, heißt es da, zweiter Sohn des Herzogs von Balmoral, beabsichtigt, sich mit Fräulein Hatty Doran, einziger Tochter des Herrn Aloysius Doran aus San Francisco in Kalifornien, ehelich zu verbinden, und zwar soll allem Anschein nach die Vermählung in allernächster Zeit stattfinden‹ Das ist alles.«

»Klipp und klar«, bemerkte Holmes darauf, indem er seine Beine vor dem Kaminfeuer ausstreckte.

»Ein paar Tage später las ich darüber in einer der vornehmen Wochenschriften noch einen Artikel. Ach, da ist er ja:

In Heiratssachen wird man wohl nächstens einen Schutzzoll für unsere heimischen Erzeugnisse verlangen, die allem Anschein nach durch die in Geltung stehenden freihändlerischen Grundsätze stark geschädigt werden. Eine der britischen Adelsfamilien um die andere beugt sich dem Szepter unserer hübschen überseeischen Stammverwandten. Die Zahl der Siegespreise, die diese entzückenden Eroberinnen davon getragen haben, hat in verflossener Woche einen ganz gewichtigen Zuwachs erfahren. Lord St. Simon, der sich seit mehr als zwanzig Jahren gegenüber den Pfeilen des kleinen Gottes als unverwundbar gezeigt hatte, kündigt nunmehr seine baldige eheliche Verbindung mit Miß Hatty Doran, der reizenden Tochter eines kalifornischen Millionärs an. Miß Doran, deren anmutige Erscheinung und blendend schöne Züge bei den Festlichkeiten in Westbury House großes Aufsehen erregten, ist ein einziges Kind, und ihre Mitgift wird, wie wir erfahren, mehr als eine Million betragen, abgesehen von dem, was ihr noch für später in Aussicht steht. Da es ein öffentliches Geheimnis ist, daß sich der Herzog im Lauf der letzten Jahre genötigt sah, seine Gemälde zu verkaufen, und Lord St. Simon außer dem kleinen Gute Birchmoor keinen eigenen Grundbesitz hat, so liegt es auf der Hand, daß die kalifornische Erbin nicht allein die Gewinnende bei dieser Verbindung ist, durch welche eine einfache Republikanerin auf so bequeme und nicht ungewöhnliche Art zur Angehörigen des höchsten britischen Adels erhoben wird.«

»Sonst noch etwas?« fragte Holmes gähnend.

»O freilich; die Hülle und Fülle. Es kommt dann noch eine Notiz in der ›Morning-Post‹, daß die Hochzeit in aller Stille in der St. Georgenkirche stattfinden, daß nur ein halbes Dutzend der nächsten Bekannten Einladungen erhalten, und daß die Gesellschaft sich danach wieder nach dem von Herrn Aloysius Doran gemieteten Hause in Lancastergate begeben werde. Zwei Tage darauf – also vorigen Mittwoch – kommt dann eine kurze Bemerkung, daß die Hochzeit stattgefunden habe, und daß das junge Paar die Flitterwochen auf Lord Backwaters Besitzung bei Petersfield zu verbringen gedenke. Dies ist alles, was die Zeitungen vor dem Verschwinden der jungen Frau über die Sache gebracht haben.«

»Vor was?« fragte Holmes, hoch aufhorchend.

»Vor dem Verschwinden der jungen Frau.«

»Wann verschwand sie denn?«

»Beim Hochzeitsmahl.«

»Wirklich? Nun, die Sache läßt sich ja weit interessanter an, als es den Anschein hatte; sie ist ja direkt hochdramatisch.«

»Ja. Ich war ganz überrascht; ein Fall wie dieser kommt nicht gerade alle Tage vor.«

»Vor der Trauung verschwinden sie oft und viel, gelegentlich kommt es auch einmal während der Flitterwochen vor; aber einen Fall, wo es nach der Trauung mit dem Verschwinden so große Eile hatte, habe ich wirklich noch nicht erlebt. Bitte, laß mich den genauen Bericht hören.«

»Ich will dir nur gleich im voraus sagen, daß er sehr unvollständig ist.«

»Nun, dem können wir ja vielleicht abhelfen.«

»Die Nachricht steht in einem der gestrigen Morgenblätter. Ich will dir den Artikel vorlesen; er trägt die Überschrift ›Merkwürdiger Vorfall bei einer vornehmen Hochzeit‹ und lautet:

Die Familie Lord Robert St. Simons ist durch die rätselhaften und bedauerlichen Vorfälle, die sich bei dessen Hochzeit zugetragen haben, in die größte Bestürzung versetzt worden. Die kirchliche Feier fand, wie wir schon kurz mitgeteilt haben, am gestrigen Vormittag statt; allein es war erst jetzt möglich, den sonderbaren Gerüchten, die sich um dieses Ereignis knüpften, auf den Grund zu kommen. Die Angelegenheit, welche die Näherstehenden vergeblich zu vertuschen suchten, hat die Öffentlichkeit in solchem Grade erregt, daß es keinen vernünftigen Zweck mehr haben könnte, Dinge totschweigen zu wollen, die in jedermanns Munde sind.

Die Feier in der St. Georgenkirche hielt sich im engsten Kreise. Es waren nur zugegen der Vater der Braut, Herr Aloysius Doran, die Herzogin von Balmoral, Lord Backwater, Lord Eustachius und Lady Clara St. Simon (die jüngeren Geschwister des Bräutigams) sowie Lady Alicia Whittington. Die ganze Gesellschaft begab sich darauf nach Herrn Aloysius Dorans Haus in Lancastergate, wo das Festmahl bereit stand. Eine Störung verursachte, wie es scheint, dabei eine weibliche Person, deren Name sich nicht hat feststellen lassen; sie versuchte unter dem Vorgeben, daß sie Ansprüche an Lord St. Simon habe, hinter der Gesellschaft gewaltsam in das Haus einzudringen und konnte nur nach einem längeren peinlichen Auftritt durch zwei Diener fortgebracht werden. Die Braut, welche das Haus glücklicherweise vor diesem unliebsamen Zwischenfall betreten hatte, saß mit der übrigen Gesellschaft zu Tische, als sie plötzlich über Übelbefinden klagte und sich auf ihr Zimmer zurückzog. Als ihre längere Abwesenheit aufzufallen begann, ging der Vater ihr nach, erfuhr jedoch von dem Kammermädchen, seine Tochter sei nur einen Augenblick auf ihr Zimmer gekommen, habe einen Mantel umgeworfen, den Hut aufgesetzt und darauf eilends das Haus verlassen. Ein Diener sagte aus, er habe allerdings eine Dame in dem eben beschriebenen Anzug das Haus verlassen sehen, ohne jedoch an die Möglichkeit zu denken, daß es seine Herrin sein könne, da er geglaubt habe, sie befinde sich bei der Gesellschaft. Sobald festgestellt war, daß die Braut wirklich verschwunden sei, setzten sich Herr Aloysius Doran und der Bräutigam augenblicklich mit der Polizei in Verbindung, und es sind alle Nachforschungen im Gange, um bald Licht in diese höchst merkwürdige Geschichte zu bringen. Bis gestern abend in später Stunde war übrigens von dem Verbleib der Vermißten noch nichts bekannt geworden. Die Polizei hat die Festnahme der Frau veranlaßt, welche die erste Störung herbeigeführt hatte, in der Annahme, daß sie aus Eifersucht oder irgend einem andern Beweggrund bei dem merkwürdigen Verschwinden der Braut beteiligt sein könnte.«

»Und ist das alles?«

»Nur eine kleine, aber wichtige Notiz steht noch in einem andern Morgenblatt.«

»Und was enthält sie?«

»Daß Fräulein Flora Millar, die Störerin der Hochzeitsfeier, wirklich festgenommen ist. Es scheint, daß sie früher Tänzerin am Allegrotheater war und mit dem Bräutigam einige Jahre lang ein Verhältnis unterhielt. Weitere Einzelheiten sind nicht erwähnt.

Das ist das ganze auf diese Hochzeit bezügliche Material – soweit die Tagespresse sich damit beschäftigt hat.«

»Es scheint tatsächlich ein sehr interessanter Fall zu sein, um den ich nicht kommen möchte. Aber da klingelt es, Watson; und da es gerade vier geschlagen hat, so dürfen wir sicher sein, daß es unser vornehmer Besuch ist. Laß dir nur nicht einfallen, Watson, fortgehen zu wollen, es ist mir viel lieber, ich habe einen Zeugen; wäre es auch nur zur Unterstützung meines Gedächtnisses.«

»Lord Robert St. Simon«, meldete unser kleiner Diener, indem er die Tür weit aufmachte. Ein Herr trat ein mit feinen, angenehmen Zügen, vorspringender Nase und blasser Farbe; er hatte einen etwas hochmütigen Ausdruck um den Mund und den festen, offenen Blick eines Mannes, dem das angenehme Los zuteil geworden ist, stets befehlen zu dürfen und jederzeit Gehorsam zu finden. Sein Wesen war lebhaft, und doch machte seine ganze Erscheinung keinen jugendlichen Eindruck mehr, denn er hielt sich ein klein wenig vorgeneigt und sank beim Gehen etwas in die Knie. Als er den hochkrempigen Hut abnahm, zeigte sich auch sein Haar ringsum an den Spitzen ergraut und auf dem Scheitel dünn. Sein Anzug war von einer fast stutzerhaften Eleganz. Er trat mit gemessenem Schritt ein, drehte dabei den Kopf von einer Seite zur andern und ließ den goldenen Nasenklemmer um seine rechte Hand tanzen.

»Guten Tag, Lord St. Simon«, sagte Holmes, indem er aufstand und sich verbeugte; »bitte, nehmen Sie Platz im Armstuhl. Dies ist mein Freund und Kollege, Dr. Watson. Setzen Sie sich etwas näher zum Feuer, dann wollen wir die Angelegenheit besprechen.«

»Eine höchst peinliche Sache für mich, wie Sie sich leicht vorstellen können, Herr Holmes. Der Schlag hat mich bis ins Mark getroffen. Ich habe erfahren, daß Sie schon mehr heikle Fälle dieser Art unter den Händen gehabt haben, jedoch wohl kaum aus unseren Kreisen.«

»Nein, aus weit vornehmeren.«

»Wie sagten Sie, bitte?«

»Mein letzter Klient dieser Art war ein König.«

»O wirklich! Davon hatte ich keine Ahnung. Und welcher König war das?«

»Der König von Schweden.«

»Was? War ihm auch seine Frau abhanden gekommen?«

»Sie werden begreifen«, erwiderte Holmes in sanftem Tone, »daß ich die Verschwiegenheit, die ich Ihnen in Ihren Angelegenheiten zusichere, in gleicher Weise auch meinen übrigen Klienten gegenüber beobachten muß.«

»Natürlich! Ganz recht! Ganz recht! Bitte sehr um Vergebung. Was meinen eigenen Fall betrifft, so bin ich bereit, Ihnen jeden Aufschluß zu geben, der Ihnen förderlich sein kann.«

»Danke. Was in den Tagesblättern darüber steht, weiß ich bereits alles, aber sonst nichts. Ich setze voraus, daß ich den Inhalt der Zeitungen als richtig annehmen darf – so z. B. auch den Artikel, der sich auf das Verschwinden der Braut bezieht.«

Lord St. Simon überflog ihn. »Allerdings; was darin steht, ist richtig.«

»Doch bedarf er noch der Vervollständigung, bevor man sich eine Ansicht in der Sache zu bilden vermag. Ich glaube, ich könnte mir das nötige Material am besten verschaffen, wenn ich Ihnen direkt Fragen stellte.«

»Bitte, tun Sie das nur.«

»Wann trafen Sie zum erstenmal mit Fräulein Doran zusammen?«

»In San Francisco, vor einem Jahr.«

»Sie befanden sich damals auf einer Reise in den Vereinigten Staaten?«

»Ja.«

»Verlobten Sie sich damals schon?«

»Nein.«

»Aber Sie standen auf freundschaftlichem Fuße mit ihr?«

»Ich fand Vergnügen an ihrer Gesellschaft, und sie konnte auch wohl merken, daß dies der Fall war.«

»Ihr Vater ist sehr reich?«

»Er gilt für den reichsten Mann an der ganzen Westküste.«

»Und womit verdiente er sein Geld?«

»Mit Bergbau. Vor wenigen Jahren war er noch ohne Vermögen. Dann grub er auf Gold und machte dabei so glänzende Geschäfte, daß er mit Riesenschritten vorwärts kam.«

»Nun, und was ist Ihr Eindruck von dem Charakter der jungen Dame – Ihrer Gemahlin?«

Der Edelmann ließ seinen Klemmer noch etwas rascher tanzen und blickte starr in das Kaminfeuer. »Sehen Sie, Herr Holmes«, begann er, »meine Gemahlin war schon zwanzig Jahre alt, ehe ihr Vater ein reicher Mann wurde. Bis dahin war sie in einem Goldgräberdorf frei umhergelaufen und durch Wälder und Berge geschweift, so daß ihre Erziehung mehr auf Rechnung der Natur als des Schulmeisters zu setzen ist. Sie ist, was man einen Wildfang nennt, eine starke, ungestüme, freie, durch keinerlei alte Überlieferung beengte Natur. Sie ist rasch fertig mit ihrem Urteil und kennt keine Furcht, wenn es gilt, ihre Entschlüsse auszuführen. Auf der anderen Seite würde ich ihr nicht den Namen gegeben haben, den ich die Ehre habe zu tragen (hier ließ er ein kurzes, vornehmes Hüsteln hören), hätte ich sie nicht für ein durchaus edel geartetes Wesen gehalten. Ich glaube, daß sie heroischer Aufopferung fähig ist, und daß jede Spur von Unehrenhaftigkeit ihr fern liegt.«

»Besitzen Sie ihre Photographie?«

»Dies hier habe ich bei mir.« Damit öffnete er ein Etui und ließ uns ein sehr einnehmendes weibliches Bildnis sehen. Es war keine Photographie, sondern eine Miniaturmalerei auf Elfenbein, in welcher der Künstler das glänzend schwarze Haar, die großen dunklen Augen, den ausgesucht schönen Mund zu voller Wirkung zu bringen verstanden hatte. Holmes betrachtete das Porträt lange und aufmerksam, dann schloß er das Etui wieder und gab es dem Lord zurück.

»Die junge Dame kam hierauf nach London, und Sie knüpften hier die Bekanntschaft wieder an?«

»Jawohl. Ihr Vater brachte sie zur diesjährigen Saison herüber. Ich traf mehrmals mit ihr zusammen, bis ich mich mit ihr verlobte und kürzlich verheiratete.«

»Sie hat, wenn ich recht berichtet bin, eine beträchtliche Mitgift erhalten?«

»Eine ganz hübsche Mitgift. Aber nicht größer, als es in meiner Familie üblich ist.«

»Und diese Mitgift verbleibt nun natürlich Ihnen, nachdem die eheliche Verbindung zur Tatsache geworden ist?«

»Danach habe ich mich wirklich noch nicht erkundigt.«

»Das läßt sich denken. Waren Sie mit Ihrer Braut am Tage vor der Hochzeit zusammen?«

»Jawohl.«

»War sie da guter Laune?«

»In so froher Stimmung als jemals. Sie machte fortwährend Pläne für unsere Zukunft.«

»Wirklich? Das ist höchst merkwürdig. Und am Hochzeitsmorgen?«

»War sie so heiter als nur möglich. Wenigstens bis nach der Trauung.«

»Und haben Sie nach der Trauung eine Veränderung an ihr bemerkt?«

»Nun ja, um die Wahrheit zu gestehen, erfuhr ich bei dieser Gelegenheit zum erstenmal, daß sie auch etwas heftig werden kann. Das Vorkommnis war übrigens zu nebensächlich, um ein Wort darüber zu verlieren, und hat keinerlei Bedeutung für den vorliegenden Fall.«

»Bitte, teilen Sie es uns trotz alledem mit.«

»Ach, es hört sich wirklich kindisch an. Als wir vom Altar zurückgingen, ließ sie ihren Blumenstrauß fallen. Sie schritt gerade an der vordersten Sitzreihe vorüber, und so fiel er in einen der Kirchenstühle hinein. Dies verursachte einen Aufenthalt von einigen Augenblicken, allein der dort sitzende Herr händigte ihr sogleich den Strauß wieder ein, der auch durch den Fall nicht gelitten hatte. Trotzdem gab sie mir auf meine Bemerkungen über den Vorfall nur abgerissene Antworten, und während unserer Fahrt nach Hause zeigte sie eine unbegreifliche Erregung über diese unbedeutende Sache.«

»Wirklich? Wie Sie sagen, befand sich ein Herr in dem Kirchenstuhl. Es waren also fremde Zuschauer zugegen?«

»O ja. Dies läßt sich unmöglich vermeiden, wenn die Kirche offen ist.«

»Jener Herr gehörte nicht zu den Bekannten Ihrer Gemahlin?«

»Nein, nein. Ich nenne ihn nur aus Höflichkeit einen Herrn; es war ein ganz gewöhnlich aussehender Mensch, den ich kaum bemerkt hatte. Aber ich glaube, wir schweifen ziemlich weit von unserem Ziele ab.«

»Ihre Gemahlin war also bei der Rückkehr von der Trauung in einer weniger heiteren Stimmung als auf dem Hinweg. Was tat sie nach der Ankunft im väterlichen Hause?«

»Da sah ich sie im Gespräch mit Alice, ihrem amerikanischen Kammermädchen, das sie aus Kalifornien mitgebracht hat.«

»Wohl eine vertraute Dienerin?«

»Ja, nur etwas zu sehr. Mir scheint, sie gestattet sich ihrer Herrin gegenüber große Freiheiten. Doch sieht man derartige Verhältnisse in Amerika natürlich etwas anders an.«

»Wie lange dauerte dieses Gespräch?«

»Nur ein paar Minuten. Ich dachte gerade an etwas anderes.«

»Sie haben nicht gehört, wovon sie sprachen?«

»Meine Frau sagte etwas von ›in fremdes Gehege kommen‹. Ich habe keine Ahnung, was sie damit meinte.«

»Und was tat Ihre Gemahlin nach dem Gespräch?«

»Sie begab sich in das Speisezimmer.«

»An Ihrem Arm?«

»Nein, allein. In solchen Kleinigkeiten war sie sehr selbständig. Wir mochten etwa zehn Minuten bei Tisch gesessen haben, als sie eilig aufstand, einige Worte der Entschuldigung murmelte und den Saal verließ, um nicht wiederzukehren.«

»Wenn ich recht verstanden habe, so ist sie nach Aussage des Kammermädchens auf ihr Zimmer gegangen, hat einen langen Mantel über ihr Brautkleid geworfen, einen Hut aufgesetzt und das Haus verlassen.«

»Ganz richtig. Darauf wurde sie noch im Hydepark zusammen mit der Flora Millar gesehen, die an jenem Vormittag bereits in Herrn Dorans Hause eine Störung verursacht hatte und inzwischen verhaftet worden ist.«

»Ganz richtig. Ich darf Sie wohl um etwas genauere Auskunft über diese junge Dame und Ihre Beziehungen zu ihr bitten.«

Lord St. Simon zuckte die Achseln und zog die Augenbrauen in die Höhe. »Wir haben ein paar Jahre lang auf freundschaftlichem Fuße miteinander gestanden – ich darf wohl sagen: auf sehr freundschaftlichem Fuße. Sie war meist am ›Allegro‹ beschäftigt. Ich habe nicht unnobel an ihr gehandelt, und sie hatte keinen triftigen Grund zur Klage über mich, aber Sie wissen ja, wie diese Mädel sind, Herr Holmes. Flora war ein ganz nettes, kleines Ding, allein äußerst hitzköpfig und von einer blinden Anhänglichkeit an mich. Sie schrieb mir schreckliche Briefe, als sie erfuhr, daß ich im Begriff stand, mich zu verheiraten; und, um die Wahrheit zu sagen, war der Grund, warum ich die Hochzeit so in der Stille feiern ließ, daß ich fürchtete, es möchte einen Skandal in der Kirche geben. Gerade wie wir von dort zurückkehrten, erschien sie vor Herrn Dorans Hause und suchte sich unter höchst unziemlichen, ja sogar drohenden Äußerungen gegen meine Gattin einzudrängen; allein ich hatte so etwas vorausgeahnt und deshalb zwei Polizisten in bürgerlicher Kleidung aufgestellt, die sie wieder fortbrachten. Sie beruhigte sich schließlich, als sie sah, daß sie mit dem lärmenden Auftritt doch nichts ausrichten konnte.«

»Hat Ihre Gattin das alles mit angehört?«

»Nein, Gott sei Dank, das nicht.«

»Und mit eben diesem Mädchen hat man sie nachher gehen sehen?«

»Jawohl. Dies ist auch der Punkt, den Herr Lestrade als so schwerwiegend ansieht. Man nimmt an, Flora habe meine Frau in irgend eine schreckliche Falle gelockt.«

»Nun, das wäre freilich möglich.«

»Sie sind also auch dieser Ansicht?«

»Für wahrscheinlich halte ich es gerade nicht; aber wie denken Sie selbst darüber?«

»So wie ich Flora kenne, könnte sie keiner Fliege etwas zuleide tun.«

»Die Eifersucht bewirkt aber doch oft ganz merkwürdige Veränderungen im Charakter des Menschen.«

»Sollte Ihnen das Glück beschieden sein, die Lösung dieses Rätsels zu finden –« fuhr unser Besucher fort, indem er sich erhob.

»Ich habe sie gefunden«, unterbrach ihn Holmes.

»Wie? Höre ich recht?«

»Ich habe sie gefunden, sage ich.«

»Nun, wo ist denn meine Frau?«

»Auch auf diesen weiteren Punkt werde ich die Antwort nicht lange schuldig bleiben.«

Lord St. Simon schüttelte das Haupt. »Ich glaube doch fast, dazu gehört mehr Weisheit, als Sie oder ich im Kopfe haben«, versetzte er. Dann zog er sich mit einer vornehmen, altmodischen Verbeugung zurück.

*

»Es ist wirklich recht gnädig von Seiner Lordschaft, daß er meinem Kopf die Ehre erweist, ihn mit dem seinigen auf eine Stufe zu stellen«, meinte Sherlock Holmes lachend. »Auf dieses lange Kreuzverhör hin habe ich aber eine kleine Erfrischung und eine Zigarre verdient. Ich war mit meinen Schlußfolgerungen übrigens im reinen, ehe unser Besuch erschien.«

»Mein lieber Holmes!«

»Ja – es ist so. Unter meinen Aufzeichnungen befinden sich mehrere ähnliche Fälle, aber so flink ist es noch bei keinem gegangen. Das Verhör machte meine Vermutung nur zur Gewißheit. Ein Indizienbeweis ist gelegentlich außerordentlich überzeugend, namentlich wenn auch das übrige so genau dazu paßt.«

»Aber ich habe doch alles mit angehört, so gut wie du!«

»Allerdings, aber ohne die Kenntnis der früheren Fälle, die mir so sehr zustatten kommt. Da war ein Fall vor einigen Jahren, wo –. Doch da kommt ja Lestrade! Hallo, Lestrade, guten Abend! Dort drüben steht Ihr Stammglas, und hier ist die Zigarrenkiste.«

Der kleine Herr erschien in einer hellen Jacke und hellem Halstuch, was ihm ein ganz seemännisches Aussehen gab, in der Hand trug er einen schwarzen Reisekoffer. Nach kurzem Gruß ließ er sich nieder und steckte sich die angebotene Zigarre an.

»Was ist denn los?« fragte Holmes mit einem Zwinkern seiner Augen. »Sie sehen ja recht mißmutig aus.«

»Bin ich auch. Diese Teufelsgeschichte mit der Hochzeit Lord St. Simons! Ich weiß nicht, an welchem Zipfel ich das Geschäft anfassen soll!«

»Wirklich! Das ist mir überraschend.«

»Hat man je von einer so vertrackten Geschichte gehört? Sobald ich meine, ich habe einen Faden gefunden, schlüpft er mir wieder durch die Finger; den ganzen Tag habe ich mich daran abgearbeitet.«

»Und gewaltig naß sind Sie scheint’s dabei geworden«, versetzte Holmes, seinen Rockärmel befühlend.

»Ja. Ich habe den Kanal ausfischen lassen.«

»Wozu denn das, um Gottes willen?«

»Um den Leichnam der Lady St. Simon zu finden.«

Sherlock Holmes lehnte sich in seinem Stuhl zurück und lachte aus vollem Halse.

»Haben Sie auch das Bassin des Springbrunnens auf dem Trafalgarplatz ausfischen lassen?«

»Wieso? Warum das?«

»Weil Sie gerade so viel Aussicht hatten, dort die Leiche zu finden, wie im Kanal.«

Lestrade warf einen zornigen Blick auf meinen Freund. »Es scheint, Sie sind schon vollständig im klaren über alles!« sagte er gereizt.

»Nun, ich habe zwar erst eben den Verlauf der Sache vernommen, aber meine Ansicht habe ich mir gebildet.«

»So! Dann sind Sie wohl der Meinung, der Kanal habe gar nichts mit der Sache zu tun?«

»Ich halte es für höchst unwahrscheinlich.«

»Wollen Sie dann vielleicht die Güte haben, mir zu erklären, wie diese Sachen hier hineingekommen sind?« Damit öffnete er seine Tasche, aus welcher ein Brautkleid aus Seide, ein Paar weiße Atlasschuhe, ein Brautkranz und Schleier herausfielen, alles vom Wasser durchweicht und verdorben. »So«, sagte er, und legte noch einen ganz neuen Ehering oben auf den Haufen, »nun knacken Sie mir mal diese Nuß, Herr Holmes.«

»Also aus dem Kanal sind die Sachen heraufgeholt worden?« versetzte mein Freund und blies dabei blaue Ringe in die Lust.

»Nein, ein Parkhüter sah sie in der Nähe des Ufers schwimmen; man hat sie als der Lady gehörig erkannt; nun dachte ich, sind die Kleider da, so wird die Leiche auch nicht weit davon sein.«

»Dieser wunderbaren Logik zufolge müßte man also die Leiche eines Verstorbenen stets in der Nähe seines Kleiderschrankes finden. Und bitte, sagen Sie mir doch, was hofften Sie denn dadurch zu erreichen?«

»Einen Beweis für die Beteiligung der Flora Millar an dem Verschwinden der Vermißten.«

»Tut mir leid, aber das wird schwer halten.«

»Wirklich, auch jetzt noch?« rief Lestrade in gereiztem Tone. »Und mir tut es leid, Holmes, Ihnen sagen zu müssen, daß Sie mit Ihren Schlüssen und Vermutungen sehr daneben gehauen haben. Sie haben zwei Böcke in den letzten zwei Minuten geschossen. Durch dieses Kleid ist Flora Millar überführt.«

»Und wieso das?«

»In dem Kleid ist eine Tasche. In der Tasche befindet sich ein Visitenkartentäschchen. In diesem Täschchen steckt ein Zettel. Und hier ist der Zettel selbst.« Damit legte er diesen vor Holmes auf den Tisch hin. »Hören Sie nur:

Wenn alles besorgt ist, werde ich erscheinen. Komme unverzüglich. F. H. M.

»Ich war von Anfang an der Überzeugung, daß Lady St. Simon durch Flora Millar weggelockt worden ist, daß diese, ohne Zweifel im Verein mit anderen, an ihrem Verschwinden schuld ist. Dieser Zettel, mit Flora Millars Anfangsbuchstaben unterzeichnet, wurde der Lady ohne Zweifel unter der Tür in aller Stille in die Hände gespielt, um sie vom Hause wegzulocken.«

»Vortrefflich Lestrade«, versetzte Holmes lachend. »Sie sind in der Tat höchst scharfsinnig. Lassen Sie mich mal sehen!« Damit griff er gleichgültig nach dem Zettel, allein plötzlich wurde seine Aufmerksamkeit rege, und ein Ausruf freudiger Überraschung entfuhr ihm. »Das ist wirklich von Bedeutung«, bemerkte er.

»So, sind Sie jetzt auch meiner Meinung?«

»Versteht sich. Ich gratuliere Ihnen aufrichtig.«

Lestrade erhob sich in seiner Siegesfreude und beugte sich gleichfalls über den Zettel. »Aber«, rief er, »Sie schauen ja auf die verkehrte Seite!«

»Durchaus nicht, das ist die richtige Seite.«

»Die richtige Seite? Sie sind nicht bei Trost. Hier steht ja die Notiz mit Bleistift geschrieben.«

»Und dort steht etwas, das einem Stück von einer Hotelrechnung ähnlich sieht und mich außerordentlich interessiert:

4. Okt. Zimmer 8 Schill., Frühst. 2 Schill. 6 Pence, Gabelfrühstück
22 Schill. 6 Pence, ein Glas Sherry 8 Pence. –

»Dahinter steckt nichts. Das habe ich längst gesehen«, erwiderte Lestrade.

»Es hat allerdings ganz den Anschein. Und trotzdem ist es von höchster Bedeutung. Was die Bleistiftnotiz betrifft, so ist sie, oder wenigstens die Anfangsbuchstaben, gleichfalls von Wichtigkeit. Ich gratuliere daher nochmals.«

»Wir haben jetzt genug Zeit vertrödelt«, versetzte Lestrade, indem er sich erhob. »Ich halte mehr davon, eine Aufgabe tüchtig anzupacken, als beim Kaminfeuer geistreiche Annahmen darüber auszuklügeln. Adieu, Herr Holmes, wir werden ja sehen, wer der Sache zuerst auf den Grund kommt!« Er packte die Kleidungsstücke wieder in die Tasche und schritt der Tür zu.

»Einen Wink will ich Ihnen doch noch geben, Lestrade«, rief Holmes gleichmütig seinem abgehenden Kollegen nach, »ich will Ihnen die richtige Lösung des Rätsels verraten: Lady St. Simon gehört ins Fabelreich. Eine solche gibt es nicht und hat es nie gegeben.«

Lestrade warf einen betrübten Blick auf meinen Freund. Dann wandte er sich zu mir, deutete auf seine Stirn und verschwand eiligst unter feierlichem Kopfschütteln.

Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, so erhob sich Holmes und zog seinen Überzieher an. »Es ist etwas Wahres an dem, was der Mensch sagt; es taugt nichts, hier müßig zu sitzen«, äußerte er, »deshalb muß ich dich wohl jetzt mit deinen Zeitungen allein lassen, Watson.«

Es war fünf Uhr vorüber, als Holmes mich verließ; doch hatte ich nicht lange Zeit, mich einsam zu fühlen: es dauerte keine Stunde, so brachten zwei Leute aus einem Delikatessengeschäft eine große flache Kiste herein, der sie zu meinem größten Erstaunen im Handumdrehen ein ganz üppiges kaltes Abendessen entnahmen, das bald auf unserem bescheidenen Junggesellentisch prangte. Da standen Rebhühner, ein Fasan, eine Gänseleberpastete nebst einer ganzen Batterie alter bestaubter Flaschen. Kaum waren der Wein und die leckeren Gerichte aufgestellt, so verschwanden die Überbringer wie die Geister in ›Tausend und eine Nacht‹, ohne sich auf eine weitere Erklärung einzulassen, als daß das alles hierher bestellt und schon bezahlt sei.

Kurz vor neun Uhr trat Holmes mit lebhaftem Schritt ins Zimmer. Seine Züge trugen einen ernsten Ausdruck, doch ersah ich aus einem gewissen Glanz in seinen Augen, daß der Erfolg seinen Schlüssen recht gegeben habe.

»Also das Abendessen ist bereit«, sagte er und rieb sich die Hände.

»Es scheint, du erwartest Gesellschaft; es sind ja fünf Gedecke.«

»Wir müssen uns heute auf einige ungebetene Gäste gefaßt machen«, meinte er. »Mich wundert nur, daß Lord St. Simon noch nicht da ist. Doch eben höre ich seinen Tritt auf der Treppe, wenn mich nicht alles täuscht.«

Es war wirklich unser Besuch vom Nachmittag, der jetzt hereinstürmte und mit verstörtem Ausdruck in den aristokratischen Zügen seinen Zwicker noch eifriger um die Finger schwang als sonst.

»Mein Bote hat Sie also getroffen?« fragte Holmes.

»Jawohl. Und ich muß gestehen, was er mir ausrichtete, hat mich über alle Maßen verblüfft. Haben Sie einen sichern Beweis für Ihre Behauptung?«

»Den besten, der sich denken läßt.«

Lord St. Simon sank auf einen Stuhl und fuhr sich mit der Hand über die Stirn.

»Was wird der Herzog sagen«, murmelte er vor sich hin, »wenn er hört, welche Demütigung einem Mitglied seiner Familie widerfahren ist.«

»Es ist lediglich eine unglückliche Verkettung von Umständen. Daß es sich dabei um eine Demütigung handelt, kann ich überhaupt nicht zugeben«, sagte Holmes.

»Sie sehen eben diese Dinge von einem andern Standpunkt an.«

»Ich kann mich nicht überzeugen, daß irgend jemand eine Schuld trifft. Die junge Frau hätte im Grunde kaum anders handeln können. Ihr schroffes Vorgehen ist freilich zu bedauern; aber sie stand ohne Mutter da und hatte somit keinen Menschen, der ihr in dieser kritischen Lage raten konnte.«

»Es war eine entwürdigende Behandlung, eine öffentliche Beschimpfung!« rief Lord St. Simon und trommelte mit den Fingern auf dem Tisch.

»Sie müssen dem armen Mädchen, das sich in einer so überaus schwierigen Lage befand, etwas zugute halten.«

»Ich bin nicht in der Stimmung, irgend jemandem etwas zugute zu halten. Ich bin aufs äußerste empört. Man hat mir schmählich mitgespielt.«

»Ich glaube, es hat geklingelt«, unterbrach ihn Holmes. »Jawohl, man hört schon Schritte heraufkommen. Da ich Sie nicht überreden kann, die Sache in milderem Licht zu sehen, Lord St. Simon, so habe ich hier einen Anwalt bestellt, der es vielleicht besser zu Wege bringt.« Damit öffnete er die Tür und ließ eine Dame und einen Herrn eintreten. »Lord St. Simon«, wandte er sich wieder an diesen, »gestatten Sie mir, Ihnen Herrn und Frau Hay Moulton vorzustellen. Die Dame ist Ihnen wohl bereits bekannt.«

Beim Erscheinen der neuen Ankömmlinge war der Lord sofort von seinem Sitz aufgesprungen; mit zu Boden gesenktem Blick, die rechte Hand vorn in den Rock gesteckt, stand er da – ein Bild beleidigter Würde. Die junge Frau tat einen raschen Schritt auf ihn zu und streckte ihm beide Hände entgegen, aber er schaute nicht empor. Und wenn er fest bleiben wollte, war dies wohl auch das beste, denn dem bittenden Ausdruck ihres Gesichtes war nicht leicht zu widerstehen.

»Du zürnst mir, Robert?« sagte sie. »Freilich, du hast wohl guten Grund dazu.«

»Nur keine Entschuldigung«, erwiderte der Angeredete bitter.

»Ich weiß wohl, ich habe wirklich unrecht an dir gehandelt; ich hätte dir’s sagen sollen, ehe ich davonging. Aber ich war ganz aus dem Häuschen; sobald ich meinen Frank wiedergesehen hatte, wußte ich wirklich nicht mehr, was ich tat und sagte. Ich wundere mich nur, daß ich nicht gleich vor dem Altar ohnmächtig wurde und hinfiel.«

»Vielleicht ist es Ihnen erwünscht, Frau Moulton, wenn ich mit meinem Freund während dieser Erörterungen das Zimmer verlasse?« warf hier Holmes ein.

»Wenn ich meine Meinung äußern darf«, ließ sich jetzt der fremde Herr vernehmen, »so glaube ich, daß wir die Sache bisher schon mit allzuviel Heimlichkeit betrieben haben. Meinetwegen könnte die ganze Welt erfahren, wie alles zugegangen ist.« Es war ein kleiner, geschmeidiger, sonnenverbrannter Mann, glatt rasiert, mit klugem Gesicht und lebhaftem Wesen.

»Dann will ich unsere Geschichte frischweg erzählen«, sagte die junge Frau. »Frank und ich trafen uns vor Jahren in Mc. Quires Camp am Felsengebirge, wo mein Vater eine Grube besaß. Wir verlobten uns miteinander; allein eines Tages stieß mein Vater auf eine reiche Ader in der Grube und gewann mächtig viel Gold, während Frank aus seiner Grube immer weniger herausschlug und zu nichts kam. Je reicher wir wurden, um so ärmer wurde Frank, zuletzt wollte mein Vater nichts mehr von unserer Verlobung hören und schickte mich fort nach Frisco. Aber Frank wollte nicht von mir lassen; er folgte mir und traf ohne meines Vaters Wissen mit mir zusammen. Hätten wir es ihm gesagt, so wäre er nur in Wut geraten, deshalb machten wir die Sache für uns allein ab. Frank erklärte, er wolle fortgehen und auch sein Glück machen; erst wenn er so viel habe wie wir, werde er wiederkommen und seine Rechte an mich geltend machen – nicht früher. So versprach ich ihm denn, auf ihn zu warten in alle Ewigkeit, und gab ihm mein Wort, keinen andern zu heiraten, solange er am Leben sei. ›Warum sollten wir aber nicht einfach heiraten?‹ meinte er, ›dann bist du mir sicher; meine Rechte als Ehemann mache ich erst geltend, wenn ich zurückkomme.‹ Wir kamen bald darüber ins reine, und er hatte alles so hübsch eingefädelt, ein Geistlicher wartete schon, daß wir’s gleich auf der Stelle abmachten; Frank ging dann fort, sein Glück zu suchen, und ich kehrte zu meinem Vater zurück.

Das nächste, was ich von Frank hörte, war, daß er in Montana sei; dann begab er sich nach Arizona, um sich dort umzusehen; und später bekam ich Nachricht von ihm aus Neu-Mexiko. Eines Tages stand eine lange Geschichte in den Zeitungen, wie die Apache-Indianer ein Goldgräberdorf überfallen hätten, und dabei war mein Frank unter den Erschlagenen aufgeführt. Ich fiel um wie tot und war monatelang schwer krank; mein Vater meinte, ich habe eine zehrende Krankheit und brachte mich in Frisco von einem Arzt zu andern. Ein Jahr oder noch länger hörte ich kein Wort mehr von Frank, so daß ich fest glaubte, er sei wirklich tot. Darauf kam Lord St. Simon nach Frisco, später reisten wir nach London, und meine Heirat mit ihm kam zustande. Mein Vater war sehr froh darüber; aber ich fühlte stets, daß kein anderer Mann auf dieser Welt je den Platz in meinem Herzen einnehmen würde, der nur allein Frank gehörte.

Trotzdem wäre ich Lord St. Simon eine pflichtgetreue Gattin gewesen, falls ich seine Frau geworden wäre. Unsere Gefühle haben wir nicht in der Gewalt, wohl aber unsere Handlungen. Als ich mit ihm vor den Altar trat, war es mein fester Vorsatz, ihn glücklich zu machen. Aber Sie können sich denken, wie mir zumute war, als ich gerade beim Hintreten vor den Altar zufällig hinter mich schaute und Franks Augen aus der ersten Sitzreihe unmittelbar auf mich gerichtet sah. Ich meinte zuerst, es sei sein Geist, aber als ich wieder hinschaute, saß er noch immer da und blickte mich mit einem so eigentümlichen Ausdruck an, als wollte er fragen, ob mir seine Gegenwart erwünscht sei oder nicht. Ich wundere mich nur, daß ich nicht in Ohnmacht fiel. Alles drehte sich mit mir im Kreise, und die Worte des Geistlichen klangen mir im Ohr wie Bienensummen. Was sollte ich tun? Sollte ich die Trauung unterbrechen und einen Auftritt in der Kirche veranlassen? Ich blickte noch einmal nach ihm hin, und er schien meine Gedanken zu erraten, denn er legte die Finger an die Lippen, zum Zeichen, daß ich nichts sagen solle. Dann sah ich ihn etwas auf ein Stückchen Papier kritzeln – offenbar eine Notiz für mich. Beim Vorübergehen an seinem Platz ließ ich meine Blumen vor ihm hinfallen, und als er sie mir zurückgab, drückte er mir das Zettelchen in die Hand. Es enthielt nur mit ein paar Worten die Aufforderung, zu ihm zu kommen, sobald er mir ein Zeichen geben würde. Ich war natürlich keinen Augenblick mehr im unklaren darüber, daß meine Pflichten in erster Linie jetzt ihm gehörten, und beschloß deshalb, einfach seinem Ruf zu folgen.

Zu Hause sprach ich mit meinem Mädchen, die ihn schon in Kalifornien gekannt hatte und ihm immer wohlgesinnt gewesen war. Ich hieß sie reinen Mund halten, ein paar Sachen einpacken und mir Hut und Mantel zurecht legen. Ich weiß wohl, ich hätte mich mit Lord St. Simon verständigen sollen, aber das wäre vor seiner Mutter und all den vornehmen Leuten eine furchtbare Aufgabe gewesen. So entschloß ich mich, auf- und davonzugehen und die Erklärung auf später zu verschieben. Ich saß noch keine zehn Minuten bei Tisch, als ich Frank durch das Fenster auf der Straße drüben erblickte. Er nickte mir zu und schlug dann den Weg nach dem Park ein. Ich schlüpfte hinaus, zog meine Sachen an und ging ihm nach. Unterwegs trat eine Frau an mich heran, um mir irgend etwas über Lord St. Simon mitzuteilen – nach dem wenigen, was ich davon verstand, schien es mir, als habe auch er vor der Hochzeit schon eine kleine Heimlichkeit gehabt –, aber ich machte, daß ich von ihr wegkam, und holte Frank bald ein. Darauf fuhren wir zusammen nach Gordon-Square, wo er eine Wohnung genommen hatte, und nun war ich nach den langen Jahren des Harrens wirklich mit meinem Gatten vereint.

Frank war bei den Apachen gefangen gewesen, war aber entflohen und nach Frisco gelangt, wo er erfuhr, daß ich ihn als tot aufgegeben hatte und nach England gegangen war; er reiste mir dahin nach und traf mich schließlich gerade am Morgen meiner zweiten Hochzeit.«

»Ich las davon in einer Zeitung«, erklärte der Amerikaner, »der Name der Braut und die Kirche waren darin genannt, aber ihre Wohnung war nicht angegeben.«

»Wir besprachen uns nun darüber, wie wir uns verhalten sollten«, fuhr die junge Frau fort, »Frank war für volle Offenheit; aber ich schämte mich so sehr, daß ich nur den einen Wunsch hatte, zu verschwinden und von den Hochzeitsgästen keinen je wiederzusehen. Höchstens wollte ich an meinen Vater ein paar Zeilen schreiben, zum Zeichen, daß ich noch am Leben sei. Es war gräßlich für mich, wenn ich mir vorstellte, wie alle die hochadeligen Herren und Damen um die Hochzeitstafel herumsaßen und auf meine Rückkehr warteten. So nahm denn Frank meine Hochzeitskleider, packte sie zusammen, damit man mir nicht auf die Spur käme, und warf das Bündel irgendwo weg, wo kein Mensch es finden könnte. Morgen würden wir höchst wahrscheinlich schon nach Paris abgereist sein, wäre nicht der gute Herr Holmes heute abend bei uns erschienen. Wie es ihm gelungen ist, uns aufzufinden, geht freilich über meinen Verstand; er setzte uns ganz klar und freundlich auseinander, daß Frank recht hätte und ich unrecht, und daß wir beide durch solche Heimlichkeit einen falschen Schein auf uns laden würden. Dann schlug uns Herr Holmes vor, in seiner Wohnung mit Lord St. Simon allein zu einer Besprechung zusammenzutreffen, und wir begaben uns gleich darauf hierher. Nun hast du alles gehört, Robert; es tut mir sehr leid, wenn ich dir weh getan habe, aber ich hoffe, du denkst nicht allzu schlecht von mir.«

Lord St. Simon hatte seine steife Haltung die ganze Zeit über beibehalten und mit gerunzelter Stirn und mit zusammengekniffenen Lippen der langen Erzählung zugehört.

»Sie werden entschuldigen«, erwiderte er, »aber ich bin nicht gewohnt, meine intimsten persönlichen Verhältnisse öffentlich zu erörtern.«

»Dann willst du mir also nicht vergeben – mir nicht noch einmal die Hand reichen, ehe ich fortgehe?«

»O gewiß, wenn es Ihnen Vergnügen macht.« Er streckte die Hand aus und ergriff kalt die ihm dargebotene Rechte der jungen Frau.

»Ich hatte gehofft«, warf Holmes ein, »Sie würden uns bei einem gemütlichen Abendessen Gesellschaft leisten.«

»Damit verlangen Sie denn doch wohl etwas zuviel von mir«, erwiderte Seine Lordschaft. »Es bleibt mir nichts übrig, als mich mit Ihren Enthüllungen abzufinden, aber man kann doch kaum von mir erwarten, daß ich noch gute Miene zum bösen Spiel mache. Gestatten Sie mir, Ihnen insgesamt eine recht gute Nacht zu wünschen.« Damit machte er uns allen eine gemeinsame Verbeugung und schritt zur Tür hinaus.

»Nun, dann werden wenigstens Sie uns doch sicherlich mit Ihrer Gesellschaft beehren«, wandte sich Holmes an Herrn Moulton. »Es ist mir jedesmal eine Freude, wenn ich einen Angehörigen des großen freien Staates treffe, dessen Sternenbanner der ganzen Welt auf der Bahn der Freiheit und des Fortschritts voranleuchtet!«

*

»Das war einmal ein interessanter Fall«, bemerkte Holmes, als unsere Gäste uns verlassen hatten. »Man konnte daran recht deutlich sehen, wie einfach sich oft die Dinge aufklären, die einem auf den ersten Blick ganz rätselhaft vorkommen. Wie klar und natürlich entwickelte sich in der Erzählung der jungen Frau ein Ereignis aus dem andern, und wie verblüffend kam einem die ganze Angelegenheit vor, wenn man sie zum Beispiel mit den Augen des Herrn Lestrade von der Geheimpolizei ansah!«

»So warst du selbst gar nicht auf einer falschen Fährte?«

»Von Anbeginn stand mir zweierlei klar vor Augen: einmal, daß die Braut der Hochzeit ganz freudig entgegenging, und dann, daß sie wenige Minuten nach der Rückkehr aus der Kirche anderen Sinnes wurde. Offenbar war demnach im Laufe des Vormittags etwas vorgefallen, das diese Wirkung hervorbrachte. Was konnte es sein? Gesprochen hatte sie außerhalb des Hauses mit niemand, da sie ihrem Bräutigam nicht von der Seite gegangen war. Hatte sie aber jemand gesehen, so mußte dies jemand aus Amerika gewesen sein, denn während ihres kurzen Aufenthalts hierzulande hatte keiner so viel Einfluß auf sie gewinnen können, daß sein bloßer Anblick eine völlige Sinnesänderung bei ihr bewirkte. Du siehst, durch Ausschließung anderer Möglichkeiten war ich bereits zu der Überzeugung gelangt, daß sie wohl jemand aus Amerika werde gesehen haben. Wer konnte wohl dieser Amerikaner sein, der eine solche Macht über sie besaß? Vielleicht ein Freund, möglicherweise aber auch ein Gatte. Daß sie ihre Jugendjahre in wilden Gegenden und unter eigentümlichen Verhältnissen verlebt hatte, war mir ja bekannt. So weit war ich bereits gelangt, ehe ich das erste Wort aus Lord St. Simons Munde vernahm. Als dieser dann von dem Zuschauer vorn in der ersten Bank und von der Veränderung erzählte, die nachher plötzlich mit der Braut vor sich ging, wie sie ihren Strauß vor den Fremden hinfallen ließ, zu dem sehr durchsichtigen Zweck, sich dabei von ihm einen Zettel zustecken zu lassen, wie sie sich dann mit ihrer Vertrauten besprach und dabei die sehr bezeichnende Andeutung von ›in fremdes Gehege kommen‹ fallen ließ, was in der Goldgräbersprache so viel bedeutet, als Besitz von etwas ergreifen, worauf einem anderen ältere Ansprüche zustehen – da war mir die ganze Sachlage völlig klar. Sie mußte mit einem Mann auf und davongegangen sein, und zwar entweder mit einem Freund oder mit einem Gatten, wobei übrigens die größere Wahrscheinlichkeit für letzteres sprach.«

»Aber wie in aller Welt hast du die beiden aufgefunden?«

»Das wäre freilich schwierig gewesen, allein Freund Lestrade hielt Anhaltspunkte hierfür in Händen, von deren Wert er selbst keine Ahnung hatte. Die Anfangsbuchstaben waren natürlich von großer Wichtigkeit, aber noch viel wertvoller war der Nachweis, daß der Gesuchte im Lauf der letzten Woche sich in einem der ersten Gasthöfe Londons seine Rechnung hatte ausstellen lassen.«

»Was brachte dich darauf, daß es einer der ersten Gasthöfe sein müsse?«

»Die ausgesucht hohen Preise. Acht Schilling für ein Bett und acht Pence für ein Glas Sherry wiesen auf eines der teuersten Hotels hin. Es gibt nicht viele hier, die derartige Preise haben. Schon in dem zweiten Hotel, in der Northumberland-Avenue, erfuhr ich aus dem Fremdenbuch, daß ein Herr Francis H. Moulton aus Amerika erst am Tage vorher ausgezogen war, und bei Durchsicht der auf seinen Namen eingetragenen Posten entdeckte ich wörtlich alle, für die er Rechnung erhalten hatte. Als seine neue Anschrift für etwa noch eintreffende Briefe gab er 226 Gordon-Square an. So fuhr ich dorthin und hatte das Glück, das liebende Paar zu Hause zu treffen. Ich erlaubte mir, ihnen einige väterliche Ratschläge zu erteilen und ihnen klar zu machen, daß sie in jeder Beziehung besser tun würden, weder die Welt noch insbesondere Lord St. Simon über ihr Verhältnis zu einander irgendwie in Zweifel zu lassen. Ich machte ihnen den Vorschlag, hier mit dem Lord zusammenzutreffen, und wie du gesehen hast, sind sie darauf eingegangen.«

»Damit haben sie aber nicht viel erreicht«, bemerkte ich. »Sein Verhalten war kein sehr liebenswürdiges.«

»Ach, Watson«, erwiderte Holmes heiter, »du wärest auch vielleicht nicht gerade besonders liebenswürdig, wenn du dich nach all den Mühen und Sorgen des Brautstandes mit einem Schlage um Gattin und Vermögen betrogen sehen müßtest. Ich meine, wir haben allen Grund, Lord St. Simon recht milde zu beurteilen und unserm Glücksstern zu danken, daß wir voraussichtlich niemals in eine ähnliche Lage geraten werden. Komm, setze dich hierher zum Feuer und reiche mir meine Violine, wir haben ja jetzt nur noch das eine Problem zu lösen, wie wir uns diese finsteren Herbstabende auf möglichst angenehme Weise vertreiben.«

*

Holmes ließ das Blatt sinken.

Ja, das war eine verdrehte Geschichte, dachte er. Und im Grund war sie doch höchst einfach und hat fast alle Beteiligten nichts als ein bissel Lehrgeld gekostet. Vielleicht hat auch der enttäuschte Lord inzwischen eine andere Dollarbraut gefunden.

Er nahm eine neue Zeitung zur Hand.

Als er die Überschrift gelesen hatte, lachte er leise. Watson vergaß doch gar nichts! Auch wenn Holmes selbst schon lang nicht mehr daran dachte, bei Watson tauchten doch alle ihre Erlebnisse eines Tages wieder auf. Und da der Freund noch immer nicht zurückkehrte, so blieb Holmes nichts übrig, als auch sie zu lesen:

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Die Geschichte des Beryll-Kopfschmuckes

Die Geschichte des Beryll-Kopfschmuckes

»Holmes«, sagte ich eines Morgens, während ich am Erkerfenster stand und auf die Straße hinabschaute, »da kommt ein Verrückter die Straße herab. Ich finde es ja eigentlich unrecht, daß man so einen Menschen allein umherlaufen läßt.« Mein Freund erhob sich träge aus dem Armstuhl und trat, die Hände in den Taschen seines Hausrocks, hinter mich, um mir über die Schulter zu sehen. Es war ein klarer, frischer Februarmorgen, der tags zuvor gefallene, tiefe Schnee bedeckte den Boden und glitzerte hell in der Wintersonne. In der Mitte der Straße war er durch den Verkehr bereits in eine braune Masse verwandelt; zu beiden Seiten dagegen und auf den erhöhten Rändern der Fußsteige lag er noch so weiß, wie er gefallen war. Das graue Pflaster dazwischen war, obwohl gekehrt und abgekratzt, noch gefährlich glatt und vielleicht deshalb weniger belebt als sonst. Tatsächlich war auch der Herr, dessen sonderbares Benehmen meine Aufmerksamkeit erregt hatte, der einzige Fußgänger, der aus der Richtung des Metropolitan-Bahnhofs herkam. Es war ein Mann in den fünfziger Jahren, groß und stattlich, eine vornehme Erscheinung mit breitem, scharfgeschnittenem Gesicht und von achtunggebietender Gestalt. Er war auffallend gut gekleidet. Zu dem würdigen Eindruck seines ganzen Äußern stand jedoch sein Benehmen in schroffem Gegensatz; er lief nämlich in großer Hast und machte dabei von Zeit zu Zeit einen kleinen Sprung, wie es bei eintretender Ermüdung Leute zu tun pflegen, die nicht gewohnt sind, ihren Beinen viel zuzumuten. Dabei fuhr er mit den Händen in der Luft umher, wackelte mit dem Kopf und verzerrte sein Gesicht aufs sonderbarste.

»Was in aller Welt mag nur mit ihm los sein?« fragte ich. »Er schaut an allen Häusern hinauf.«

»Ich glaube, er kommt zu uns«, versetzte Holmes und rieb sich die Hände.

»Zu uns?«

»Jawohl; ich vermute stark, er beabsichtigt, mich zu Rate zu ziehen. Es hat ganz den Anschein danach. Nun – habe ich es nicht gesagt?«

Der Mann war pustend und schnaubend auf unsere Haustür losgestürzt und läutete, daß das ganze Haus davon widerhallte.

Wenige Augenblicke darauf stand er im Zimmer, noch immer keuchend und mit den Händen umherfahrend, aber mit einem so kummervollen und verzweifelten Ausdruck in dem starren Blick, daß unsere unwillkürliche Heiterkeit sich mit einem Schlage in Schrecken und Mitleid verwandelte. Eine Zeitlang vermochte er kein Wort hervorzubringen; er wiegte sich nur hin und her und zerrte an seinen Haaren, als wäre er nahe daran, den Verstand zu verlieren. Holmes drückte ihn in den Armstuhl, setzte sich neben ihn, streichelte ihm die Hand und sprach ihm in der heiteren, beruhigenden Art zu, auf die er sich so gut verstand.

»Sie haben mich aufgesucht, um mir Ihre Geschichte zu erzählen, nicht wahr?« begann er. »Das rasche Gehen hat Sie müde gemacht. Bitte, warten Sie nur, bis Sie sich erholt haben, dann wird es Ihnen leichter fallen, mir alles der Reihe nach zu sagen, was Sie bedrückt.«

Eine oder zwei Minuten saß der Mann mit schwer arbeitender Brust da, gegen seine Erregung kämpfend. Dann fuhr er sich mit dem Taschentuch über die Augen, preßte die Lippen zusammen und wandte uns sein Gesicht zu.

»Sie halten mich sicherlich für verrückt«, begann er.

»Soviel ich sehe, hat Sie irgend ein schwerer Kummer getroffen«, antwortete Holmes.

»Gott weiß es, ja! – Ein Kummer, so plötzlich und so furchtbar, daß ich den Verstand darüber verlieren möchte. Die Schande vor der Öffentlichkeit würde ich zu ertragen gewußt haben, obwohl an meinem Namen bisher noch nie ein Flecken gehaftet hat; Kummer im Privatleben bleibt ja keinem Menschen erspart, aber daß beides zusammen und in so schrecklicher Gestalt über mich hereinbricht, das hat mich im Innersten erschüttert. Außerdem betrifft die Sache nicht mich allein. Eine sehr hochstehende Persönlichkeit in England kann dadurch in Mitleidenschaft gezogen werden, wenn sich nicht ein rettender Ausweg aus dieser schauderhaften Geschichte findet.«

»Bitte, beruhigen Sie sich«, erwiderte Holmes, »und sagen Sie mir klar und deutlich, wer Sie sind und was Ihnen begegnet ist.«

»Meinen Namen«, fuhr der andere fort, »haben Sie vermutlich schon oft gehört. Ich bin Alexander Holder, Teilhaber der Bankfirma Holder & Stevenson in der Threadneedle-Straße.«

Der Name war uns gut bekannt als der des älteren Teilhabers im zweitgrößten Privatbankinstitut der City. Was konnte nur geschehen sein, um einen der angesehensten Bürger Londons in diese wahrhaft klägliche Verfassung zu bringen? In höchster Spannung harrten wir, bis er sich mit erneuter Kraftanstrengung dazu aufraffte, seine Geschichte zu erzählen.

»Ich fühle«, begann er, »daß die Zeit kostbar ist. Deshalb habe ich mich augenblicklich hierher auf den Weg gemacht, nachdem mir der Polizeiinspektor nahegelegt hatte, mich Ihrer Mitwirkung zu versichern. Ich fuhr mit der Untergrundbahn und bin dann bis nach der Bakerstraße vollends zu Fuß gelaufen, denn die Wagen fahren so langsam bei diesem Schnee. Deshalb war ich so außer Atem; ich mache mir nämlich sonst nur sehr wenig Bewegung. Jetzt ist mir wieder besser, und ich will Ihnen die Tatsachen möglichst kurz und klar vortragen.

Sie werden wohl wissen, daß es in einem Bankgeschäft ebensoviel auf lohnende Anlagen für die Kapitalien ankommt, als auf die stete Erweiterung der Verbindungen und die immer ausgedehntere Heranziehung von Depositoren. Zu den einträglichsten Geldanlagen gehört die Gewährung von Darlehen gegen unzweifelhafte Pfandsicherheit. Wir haben in den letzten Jahren viel in dieser Richtung gearbeitet und zahlreichen vornehmen Familien erhebliche Summen auf ihre Gemäldesammlungen, ihre Bibliotheken oder ihr Silberzeug vorgestreckt. Gestern vormittag saß ich in meinem Büro, als mir einer der Angestellten unseres Bankhauses eine Visitenkarte überbrachte. Wie ich den Namen las, war ich zuerst sehr verblüfft, denn es war kein anderer als – doch es ist vielleicht auch Ihnen gegenüber besser, wenn ich nur sage, daß dieser Name jedermann überall bekannt ist, einer der höchsten, vornehmsten, angesehensten in ganz England. Überwältigt von der Ehre, versuchte ich beim Eintritt des Herrn etwas derartiges zu sagen, allein er brachte sofort sein geschäftliches Anliegen vor, als sei es ihm darum zu tun, mit einer unangenehmen Aufgabe möglichst rasch fertig zu werden.

›Herr Holder‹, begann er,›ich habe gehört, daß Sie sich mit Vorschußgeschäften befassen.‹

›Allerdings, gegen gute Sicherheit‹, erwiderte ich.

›Ich brauche auf der Stelle sehr notwendig fünfzigtausend Pfund. Natürlich könnte ich diese Summe zehnmal bei meinen Bekannten borgen, allein es paßt mir weit besser, die Sache in geschäftlicher Weise abzumachen, und zwar persönlich. Bei einer Stellung wie ich sie bekleide, ist es nicht klug, sich auf private Verbindlichkeiten einzulassen.‹

›Auf wie lange brauchen Sie diese Summe, wenn ich fragen darf?‹

›Nächsten Montag wird ein großer Betrag fällig, und dann werde ich den Vorschuß sofort zurückzahlen, samt den Zinsen, die Sie dafür zu berechnen haben. Mir ist hauptsächlich daran gelegen, das Geld unverzüglich in die Hand zu bekommen.‹

›Ich würde Ihnen sehr gerne die Summe aus meiner eigenen Tasche vorstrecken, aber es ist mehr, als ich auf mich nehmen darf. Tue ich es jedoch im Namen der Firma, so muß ich aus Rücksicht für meinen Teilhaber selbst Ihnen gegenüber auf der Beachtung aller geschäftsmäßigen Vorsichtsmaßregeln bestehen.‹

›Es ist mir viel lieber so‹, bemerkte er, indem er ein viereckiges schwarzes Maroquin-Etui zur Hand nahm, das er neben seinen Stuhl gelegt hatte. ›Sie haben ohne Zweifel schon von dem Beryll-Diadem gehört?‹

›Eines der kostbarsten Stücke unserer Reichskleinodien‹, versetzte ich.

›Gewiß‹. Er öffnete das Etui, und darin lag in weichen fleischfarbenen Samt gebettet das wundervolle Schmuckstück.

›Es enthält neununddreißig Berylle von außerordentlicher Größe, und der Wert der Goldfassung läßt sich gar nicht berechnen. Die niedrigste Schätzung würde als Wert des Schmuckes das Doppelte der Summe ergeben, die ich verlangt habe. Ich bin bereit, das Stück als Pfand in Ihren Händen zu lassen.‹ Er reichte mir das Etui, und ich blickte in einiger Verwirrung erst auf dessen kostbaren Inhalt und dann auf meinen hohen Besuch.

›Sie haben Zweifel über den Wert des Schmuckes?‹ fragte er.

›Durchaus nicht, ich bezweifle nur –‹

›Meine Befugnis zur Verpfändung desselben? Darüber können Sie sich beruhigen. Ich würde mir nicht im Traume einfallen lassen, es zu verpfänden, hätte ich nicht die unumstößliche Gewißheit, daß ich es binnen vier Tagen wieder einlösen kann. Es ist eine reine Formsache. Genügt die Sicherheit?‹

›Reichlich.‹

›Sie sehen ein, Herr Holder, daß ich Ihnen einen sehr großen Beweis des Vertrauens gebe. Ich verlasse mich darauf, daß Sie nicht nur verschwiegen sind und sich jedes Wortes über die Angelegenheit enthalten, sondern vor allem, daß Sie dieses Stück mit jeder möglichen Vorsicht aufbewahren, da die geringste Beschädigung schon einen gewaltigen öffentlichen Skandal nach sich ziehen würde. Eine Beschädigung wäre fast so schlimm wie ein völliger Verlust, denn es gibt in der ganzen Welt keine Berylle mehr, die diesen gleichkommen, sie wären überhaupt gar nicht zu ersetzen. Trotzdem überlasse ich Ihnen den Schmuck mit vollem Vertrauen und werde ihn Montag vormittag persönlich wieder abholen.‹

Da ich sah, daß es meinem Besuch darum zu tun war, möglichst rasch fortzukommen, sagte ich weiter nichts, sondern wies meinen Kassier an, dem Herrn fünfzig Tausendpfundnoten einzuhändigen. Als ich jedoch allein war und das Etui mit seinem kostbaren Inhalt vor mir auf dem Tische stand, vermochte ich nur mit Unbehagen an die ungeheure Verantwortung zu denken, die ich mir damit aufgeladen hatte. Da das Stück zum Reichsschatz gehörte, so mußte unfehlbar das geringste Mißgeschick, das ihm begegnete, großes Aufsehen verursachen. Ich bedauerte bereits, daß ich mich überhaupt zu einer Annahme hatte bestimmen lassen. Allein es war jetzt nichts mehr an der Sache zu ändern; so schloß ich denn den Schmuck in meinen eigenen Sicherheitsschrank ein und ging wieder an meine Arbeit. Als es Abend wurde, dachte ich, daß es eine Unvorsichtigkeit wäre, einen solchen Wertgegenstand im Büro zu lassen. Diebessichere Schränke bei Banken waren schon öfters erbrochen worden, warum sollte das nicht auch bei dem meinigen denkbar sein? Welch gräßliche Lage für mich, wenn so etwas vorkäme! Ich beschloß deshalb, während der nächsten Tage das Etui auf Schritt und Tritt bei mir zu tragen und es so tatsächlich keinen Augenblick aus meinem Bereich kommen zu lassen. Mit diesem Vorsatz fuhr ich nach meinem Hause in Streatham und nahm das Schmuckstück mit. Erst als ich es in meinen Schreibtisch oben in meinem Ankleidezimmer eingeschlossen hatte, atmete ich wieder frei.

Und nun ein Wort über mein Hauswesen, Herr Holmes, denn ich möchte Ihnen einen gründlichen Einblick in die Sachlage verschaffen. Der Stallbursche und der Hausbursche schlafen außerhalb des Hauses und können somit außer Betracht bleiben. Meine drei Dienstmädchen sind sämtlich schon seit einer Reihe von Jahren bei mir, und ihre Zuverlässigkeit ist über jeden Zweifel erhaben. Dann ist noch ein zweites Kammermädchen da, namens Lucy Parr, das erst seit wenigen Monaten in meinem Hause ist. Sie brachte jedoch ein ausgezeichnetes Zeugnis mit, und ich war stets zufrieden mit ihr. Sie ist sehr hübsch und hat viele Verehrer, die sich gelegentlich wohl einmal um das Haus herumtrieben. Das ist das einzige, was wir an ihr auszusetzen fanden, allein wir halten sie für ein durchaus braves Mädchen.

So viel von den Dienstboten. Meine Familie ist klein. Ich bin Witwer und habe einen einzigen Sohn namens Arthur. Dieser Junge hat mich in meinen Hoffnungen getäuscht, Herr Holmes, schmerzlich getäuscht! Gewiß bin ich selbst dabei nicht ohne Schuld. Man sagt, ich habe ihn verzogen. Das mag wohl sein. Als ich meine Frau verlor, übertrug ich meine ganze Liebe auf ihn. Ich habe ihm nie einen Wunsch abgeschlagen. Vielleicht wäre es für uns beide besser gewesen, ich hätte mehr Strenge gezeigt, aber ich meinte es herzlich gut.

Ich hatte natürlich vor, ihn zu meinem Nachfolger im Geschäft heranzubilden, allein er zeigte gar keine Neigung für den Beruf eines Bankbeamten. Er war unbeständig und launisch, und, um die Wahrheit zu gestehen, ich hätte ihm nicht die Verfügung über eine größere Geldsumme anvertrauen mögen. Schon in früher Jugend trat er in einen vornehmen Klub ein, wo er sich durch sein liebenswürdiges Wesen mit einer Reihe von Leuten eng befreundete, die volle Brieftaschen und kostspielige Gewohnheiten hatten. Er verstand es bald meisterhaft, sein Geld im Kartenspiel und auf dem Rennplatz zu vergeuden, so daß er mich immer wieder um Vorschuß auf sein Taschengeld angehen mußte, um seine Ehrenschulden begleichen zu können. Mehr als einmal versuchte er, sich von dieser gefährlichen Gesellschaft loszumachen, allein dem Einfluß seines Freundes Sir George Burnwell gelang es jedesmal, ihn wieder in diesen Kreis hineinzuziehen.

Daß ein Mann wie Sir George Burnwell Einfluß auf ihn gewonnen hatte, war wirklich nicht zu verwundern; er hat ihn oft zu mir ins Haus gebracht, und ich muß gestehen, daß ich selbst kaum imstande war, mich seinem anziehenden Wesen zu entziehen. Er ist älter als Arthur, ein vollendeter Weltmann, der schon überall war und alles gesehen hat, ein glänzender Redner und ein auffallend schöner Mensch. Und doch, wenn ich ihn mir bei vernünftiger Überlegung und völlig frei von der Wirkung seiner Gegenwart vorstelle, so kann ich bei seinen zynischen Reden und dem Blick, den ich gelegentlich schon an ihm bemerkt habe, nicht anders, als ihm gründlich mißtrauen. Darin ist auch meine Nichte Mary, die den echt weiblichen Scharfblick für Menschenherzen besitzt, mit mir einverstanden.

Mary ist die einzige, die ich noch zu schildern habe. Als mein Bruder vor fünf Jahren starb und sie allein in der Welt dastand, nahm ich sie an Kindesstatt an und betrachte sie seitdem als meine Tochter. Sie ist ein Sonnenstrahl für mein Haus, freundlich, liebevoll, schön; sie leitet das ganze Hauswesen und ist sehr umsichtig, sanft und ruhig. Sie ist sozusagen meine rechte Hand. Ich weiß nicht, was ich ohne sie anfangen sollte. Nur in einem einzigen Punkt ist sie meinen Wünschen nicht entgegengekommen. Zweimal hat mein Junge um ihre Hand angehalten, denn er liebt sie aufrichtig, aber beidemale hat sie ihn ausgeschlagen. Ich glaubte, sie allein wäre imstande, ihn auf den rechten Weg zu bringen; an ihrer Seite hätte er vielleicht ein ganz neues Leben angefangen, aber jetzt ist es zu spät – für immer zu spät!

Nun, Herr Holmes, kennen Sie alle, die mit mir unter einem Dache leben, und ich will in meinem Bericht fortfahren.

Beim Kaffee nach dem Essen im Wohnzimmer teilte ich Arthur und Mary mit, was mir begegnet war, und was für einen kostbaren Schatz wir unter unserem Dache hatten; ich verschwieg dabei nur den Namen des Verpfänders. Lucy Parr, die den Kaffee hereingebracht hatte, war schon nicht mehr im Zimmer, das weiß ich gewiß; ob jedoch die Türe geschlossen war, kann ich nicht beschwören. Mary und Arthur interessierten sich sehr für die Sache und hätten das berühmte Schmuckstück gerne gesehen, allein ich dachte, es sei besser, es an seinem Platze zu lassen.

›Wo hast du es aufgehoben?‹ fragte Arthur.

›In meinem Schreibtisch.‹

›Ich will nur hoffen, daß heute nacht nicht im Hause eingebrochen wird‹, fuhr er fort.

›Der Schreibtisch ist verschlossen.‹

›Oh, auf den paßt jeder alte Schlüssel. Als kleiner Junge habe ich ihn schon selbst mit dem Schlüssel zum Büfett aufgemacht.‹

Er führte oft so kecke Reden, deshalb achtete ich nicht viel auf seine Bemerkung. Nun ging er mir aber gerade diesen Abend mit sehr ernstem Gesicht in mein Zimmer nach.

›Sag mal, Papa‹, sagte er und heftete dabei die Augen auf den Boden, ›kannst du mir zweihundert Pfund geben?‹

›Nein, gewiß nicht?‹ erwiderte ich scharf. ›Ich bin in Geldsachen schon viel zu nachsichtig gegen dich gewesen.‹

›Du warst allerdings sehr gut gegen mich‹, versetzte er, ›aber ich muß diese Summe haben, oder ich kann mich nie wieder im Klub blicken lassen.‹

›Das wäre ja ein wahres Glück!‹ rief ich aus.

›Jawohl; aber du wirst doch nicht wollen, daß ich mit Schimpf und Schande abziehe. Ich könnte die Schmach nicht ertragen. Ich muß das Geld irgendwo auftreiben; und wenn du es mir nicht geben willst, so muß ich andere Mittel und Wege versuchen.‹

Ich war sehr aufgebracht; denn das war das drittemal in einem Monat, daß er mich um Geld anging. ›Keinen Deut bekommst du von mir!‹ rief ich. Darauf verließ er wortlos das Zimmer.

Als ich allein war, öffnete ich den Schreibtisch und überzeugte mich, daß mein Schatz noch unversehrt darin lag, dann schloß ich wieder ab. Ich machte noch einen Gang durch das Haus, um nachzusehen, ob alles verwahrt sei – eine Obliegenheit, die ich gewöhnlich Mary überlasse, die ich jedoch heute selbst erfüllen wollte. Unten an der Treppe angelangt, sah ich Mary am Seitenfenster des Hausgangs, das sie zumachte und verriegelte, während ich näher trat.

›Sag‘ einmal, Papa‹, fragte sie mich in etwas erregtem Ton, ›hast du Lucy heute abend Erlaubnis zum Ausgehen gegeben?‹

›Gewiß nicht.‹

›Sie kam soeben durch die Hintertür herein. Ich bin zwar ganz sicher, daß sie nur an der Seitenpforte mit irgend jemand zusammengetroffen ist, aber wir sollten doch jetzt gerade, da der Schmuck im Hause ist, sehr vorsichtig sein und es nicht so hingehen lassen.‹

›Du mußt morgen früh mit ihr sprechen, oder ich will es tun, wenn dir das lieber ist. Hast du dich überzeugt, daß alles gut verschlossen ist?‹

›Vollkommen, Papachen.‹

›Dann gute Nacht.‹ Ich gab ihr einen Kuß und ging wieder in mein Schlafzimmer hinauf, wo ich bald einschlief.

Ich bestrebe mich, Ihnen alles zu sagen, Herr Holmes, was für den Fall irgend von Bedeutung sein kann. Aber ich möchte bitten, daß Sie mich über jeden Punkt, der ihnen nicht völlig verständlich ist, ruhig befragen.«

»Ihre Darstellung ist im Gegenteil ganz ausnehmend klar.«

»Nun komme ich zu einem Abschnitt meiner Geschichte, bei dem es mir ganz besonders darum zu tun ist, Ihnen alles anschaulich zu machen. Ich habe keinen sehr festen Schlaf, und die Unruhe in meinem Innern trug wohl dazu bei, daß dies noch weniger der Fall war als sonst.

Etwa um zwei Uhr morgens erwachte ich von einem Geräusch im Hause. Es hörte bereits auf, ehe ich völlig wach war; aber ich hatte davon den Eindruck behalten, als wäre irgendwo im Hause ein Fenster zugemacht worden. Voll Spannung horchend lag ich da. Plötzlich vernahm ich zu meinem Entsetzen ganz deutlich leise Tritte im Nebenzimmer. Bebend vor Angst schlüpfte ich aus dem Bett und spähte vorsichtig durch die Türe in das Nebenzimmer.

›Arthur‹, rief ich, ›du Elender, du Dieb! Wie kannst du dich unterstehen, dich an dem Schmuck zu vergreifen?‹

Die Schreibtischlampe brannte noch, wie ich sie gelassen hatte, und mein unseliger Junge, nur mit Hemd und Hosen bekleidet, stand daneben, das Schmuckstück in der Hand. Es sah aus, als ziehe oder biege er daran herum mit aller Kraft. Auf meinen Zuruf ließ er es fallen und wurde blaß wie der Tod. Ich hob es auf und besichtigte es. Eine der goldenen Ecken, welche drei Berylle enthielt, fehlte.

›Du Lump!‹ schrie ich, außer mir vor Wut, ›du hast es zerbrochen, du hast mich in ewige Schande gestürzt! Wo sind die Steine, die du gestohlen hast?‹

›Gestohlen!‹ rief er dagegen.

›Jawohl, du Dieb!‹ schrie ich wieder und schüttelte ihn dabei an der Schulter.

›Es fehlt keiner. Es kann keiner fehlen‹, entgegnete er.

›Es fehlen drei. Und du weißt wohl, wo sie sind. Ist es nicht genug, daß du ein Dieb bist, muß ich dich auch noch einen Lügner heißen? Habe ich nicht mit eigenen Augen gesehen, wie du noch ein Stück davon abbrechen wolltest?‹

›Du hast mich genug beschimpft‹, versetzte er, ›ich lasse mir das nicht länger gefallen. Kein Wort kommt in dieser Angelegenheit mehr über meine Lippen, nachdem du mich ohne weiteres wie einen ehrlosen Menschen behandelt hast. Morgen früh verlasse ich dein Haus. Ich werde schon allein weiterkommen.‹

›Die Polizei wird die Sache in die Hand nehmen‹, rief ich, halb wahnsinnig vor Kummer und Wut. ›Ich werde dafür sorgen, daß alles gründlich untersucht wird.‹

›Von mir werdet ihr nichts erfahren!‹ erwiderte er mit einer Leidenschaftlichkeit, die ich gar nicht in ihm gesucht hätte. ›Beliebt es dir, die Polizei zu rufen, so mag sie auch sehen, wie sie fertig wird.‹

Inzwischen war alles im Hause wach geworden, denn ich hatte im Zorn laut genug gesprochen. Mary kam zuerst angelaufen. Beim ersten Blick auf den Schmuck und auf Arthurs Gesicht erriet sie alles und stürzte mit einem Schrei ohnmächtig zu Boden. Ich schickte das Hausmädchen auf die Polizei, damit die weiteren Nachforschungen gleich eingeleitet werden sollten. Als der Inspektor mit einem Schutzmann eintraf, richtete Arthur, der die ganze Zeit über mit gekreuzten Armen finster dagestanden, die Frage an mich, ob ich wirklich gesonnen sei, ihn des Diebstahls zu bezichtigen. Ich erklärte ihm, daß die Sache keine Privatangelegenheit mehr, sondern ein öffentliches Vergehen sei, da das beschädigte Schmuckstück zum Nationaleigentum gehöre. Ich sei entschlossen, dem Gesetz seinen vollen Lauf zu lassen. ›Dann wirst du doch wenigstens nicht auf einer sofortigen Festnahme bestehen‹, sagte er jetzt. ›Es wäre ebensosehr in deinem Interesse wie in meinem eigenen, wenn ich das Haus auf fünf Minuten verlassen dürfte.‹

›Um zu entfliehen, oder vielleicht um deinen Raub zu verstecken‹, erwiderte ich bitter. Dann stellte ich ihm die schreckliche Lage vor, in die ich mich versetzt sah; ich bat ihn, doch zu bedenken, wie nicht nur meine Ehre, sondern auch die einer viel höheren Persönlichkeit auf dem Spiele stehe, und daß er einen Skandal heraufbeschwöre, der die ganze Nation in Aufregung versetzen würde. Das alles ließe sich aber noch abwenden, wenn er mir nur sagen wollte, was er mit den drei fehlenden Steinen angefangen hätte.

›Du bist auf frischer Tat ertappt worden‹, fuhr ich fort, ›mache die Sache wenigstens so weit wieder gut, als es in deiner Macht steht; sage mir, wo die Steine sind, und alles soll vergeben und vergessen sein.‹

›Behalte deine Vergebung für Leute, die dich darum bitten‹, gab er zur Antwort und kehrte mir höhnisch den Rücken. Ich sah, daß sein Trotz ihn für alles Zureden taub machte. Nun gab es keine andere Wahl mehr. Ich rief den Inspektor herein und ließ Arthur verhaften. Sofort wurde eine Durchsuchung vorgenommen, nicht allein an ihm, sondern auch in seinem Zimmer und überall sonst im Hause, wo er möglicherweise die Steine versteckt haben konnte. Doch es fand sich keine Spur davon, und aus dem nichtsnutzigen Burschen war weder durch Überredung, noch durch Drohung eine Silbe herauszubringen.

Heute früh wurde er in Gewahrsam gebracht, und nach Erledigung der polizeilichen Förmlichkeiten bin ich sofort hierher geeilt, um Sie dringend zu bitten, all Ihren Scharfsinn an die Aufklärung dieser Angelegenheit zu setzen. Auf der Polizei hat man offen eingestanden, daß man mir vorläufig nicht zu helfen wisse. Wegen der Kosten brauchen Sie sich keinerlei Beschränkung aufzuerlegen. Ich habe bereits tausend Pfund Belohnung ausgesetzt. Mein Gott, was soll ich machen? In einer Nacht habe ich die Juwelen verloren und meinen Sohn dazu! Oh, was soll ich nur tun!«

Er fuhr sich mit beiden Händen an die Schläfen, wiegte sich hin und her und stöhnte dabei wie ein Kind, das für seine Betrübnis keinen Ausdruck mehr findet.

Holmes saß einige Minuten lang mit gerunzelten Brauen und starr auf das Kaminfeuer gerichtetem Blick schweigend da.

»Führen Sie ein großes Haus?« fragte er dann. »Geben Sie viele Einladungen?«

»Ich lade niemand ein außer gelegentlich meinen Teilhaber mit seiner Familie oder mal einen Bekannten von Arthur. Sir George Burnwell war in letzter Zeit mehrmals da. Sonst glaube ich, kein Mensch.«

»Gehen Sie viel in Gesellschaft?«

»Arthur, ja; ich und Mary bleiben zu Hause. Wir machen uns beide nichts daraus.«

»Das ist auffallend bei einem jungen Mädchen.«

»Sie ist ein ruhiges, anspruchsloses Wesen. Außerdem ist sie nicht mehr so jung. Sie ist vierundzwanzig.«

»Der Vorfall, den Sie uns soeben geschildert haben, hat anscheinend auch sie schwer getroffen.«

»Furchtbar. Sie ist noch fassungsloser als ich.«

»Und Sie haben beide durchaus keinen Zweifel an der Schuld Ihres Sohnes?«

»Wie wäre das möglich, da ich doch mit eigenen Augen sah, wie er den Schmuck in der Hand hielt!«

»Ich vermag dies kaum als einen zwingenden Beweis anzusehen. War das Diadem selbst sonst noch beschädigt?«

»Ja, es war verbogen.«

»Glauben Sie nicht, daß Ihr Sohn vielleicht versuchte, es wieder zurechtzubiegen?«

»Gott lohne Ihnen! Sie tun für ihn und mich, was Sie können; aber das geht über Ihre Kräfte. Was hatte er überhaupt dort zu schaffen? Wenn seine Absicht unsträflich war, warum sagte er es nicht?«

»Ganz richtig. Aber, wenn er schuldig war, warum brachte er nicht eine Lüge vor? Ich finde, sein Stillschweigen läßt sich in diesem wie in jenem Sinne deuten. Der Fall bietet mehrere eigentümliche Momente. Wie erklärte die Polizei das Geräusch, von dem Sie aufwachten?«

»Sie meinte, das werde wohl durch das Schließen von Arthurs Schlafzimmertür entstanden sein.«

»Außerordentlich glaubhaft! Als ob ein Mensch, der sich zur Ausführung eines Verbrechens anschickt, seine Tür zuschlägt, daß das ganze Haus davon wach wird. Und was meinten sie wegen des Verschwindens der Steine?«

»Sie sind noch dabei, die Fußböden und das Mobiliar zu untersuchen, in der Hoffnung, sie aufzufinden.«

»Hat man daran gedacht, auch außen um das Haus herum nachzusehen?«

»Jawohl. Die Polizei betreibt die Sache mit großem Eifer. Der ganze Garten ist bereits aufs genaueste abgesucht worden.«

»Nun, mein lieber Herr«, sagte Holmes, »Sie werden wohl selbst einsehen, daß die Sache nicht so klar auf der Hand liegt, wie Sie oder die Polizei von vornherein anzunehmen geneigt waren. – Der Fall kam Ihnen einfach vor, mir scheint er äußerst verwickelt. Vergegenwärtigen Sie sich nur einmal, was Ihre Auffassung alles in sich schließt. Sie nehmen an, Ihr Sohn sei aus seiner Stube heruntergekommen, habe unter großer Gefahr Ihr Ankleidezimmer betreten, Ihren Schreibtisch geöffnet, den Schmuck herausgenommen, an diesem ein Stück gewaltsam abgebrochen, sich sodann an einen dritten Ort begeben und daselbst drei Steine von den neununddreißig so schlau versteckt, daß kein Mensch sie zu finden imstande ist, um dann mit den übrigen sechsunddreißig nach dem Zimmer zurückzukommen, wo er die größte Gefahr lief, entdeckt zu werden. Nun frage ich Sie: ist das eine haltbare Auffassung?«

»Aber was läßt sich sonst annehmen?!« rief der Bankier mit einer Gebärde der Verzweiflung. »Warum redet er nicht, wenn er keine bösen Absichten hatte?«

»Das herauszubringen, ist unsere Sache«, erwiderte Holmes. »Wenn es Ihnen recht ist, Herr Holder, so wollen wir jetzt zusammen nach Streatham fahren und eine Stunde darauf verwenden, uns die Sache ein wenig genauer zu besehen.«

Mein Freund bestand auf meiner Begleitung, und ich war sehr gerne bereit dazu, denn die Erzählung, deren Ohrenzeuge ich gewesen war, hatte meine Neugier und Teilnahme erregt. Ich gestehe, daß mir die Schuld des jungen Mannes nicht minder zweifellos erschien, als dessen unglücklichem Vater, aber trotzdem hatte ich solches Vertrauen zu Holmes Urteil, daß ich überzeugt war, die Sache stehe noch nicht hoffnungslos, solange er sich mit der vorliegenden Erklärung nicht zufrieden gab. Holmes sprach unterwegs kaum ein Wort, vielmehr saß er, das Kinn auf die Brust gesenkt und den Hut über die Augen gedrückt, in tiefstes Nachdenken versunken da. Der Bankier war angesichts des schwachen Hoffnungsschimmers, den man ihm gezeigt hatte, wie neu belebt, so daß er sich sogar mit mir in eine gleichgültige Unterhaltung über seine Geschäftsangelegenheiten einließ. Nach kurzer Eisenbahnfahrt und einem noch kürzeren Weg zu Fuß erreichten wir Fairbank, den bescheidenen Wohnsitz des reichen Finanzmannes.

Es war ein stattliches viereckiges Gebäude aus weißem Werkstein, das etwas hinter der Straßenlinie zurückstand. Ein doppelter Fahrweg, der in der Mitte einen schneebedeckten freien Platz bildete und gegen die Straße durch zwei große Gittertore abgeschlossen war, führte von vorne auf das Haus zu. Rechts davon befand sich ein kleines Gehölz, durch das man zu einem schmalen Weg gelangte, der zwischen zwei sauberen Hecken von der Straße aus nach der Küche hinführte und den Eingang für die Lieferanten bildete. Links, und zwar bereits außerhalb des Anwesens, lief ein Gäßchen vorbei, durch das man zu den Ställen kam und das als allgemeine, wenn auch selten benutzte Durchfahrt diente. Holmes ließ uns an der Haustür stehen und ging langsam um das ganze Haus herum, vor demselben auf und ab, den Weg zur Küche entlang, dann hinten herum durch den Garten nach dem Weg zu den Ställen. Er hielt sich dabei so lange auf, daß Herr Holder mit mir unterdessen ins Speisezimmer ging, wo wir beim Feuer auf ihn warteten. Da saßen wir schweigend beisammen, als die Tür aufging und eine junge Dame eintrat. Sie war über mittelgroß, schlank, schwarzhaarig und schwarzäugig, was bei ihrer bleichen Gesichtsfarbe um so mehr hervortrat. Ich glaube, ich habe in meinem ganzen Leben keine solche Todesblässe auf einem Frauenangesicht gesehen. Auch ihre Lippen waren blutlos, dagegen ihre Augen vom Weinen gerötet. Wie sie schweigend in das Zimmer glitt, machte sie auf mich einen noch kummervolleren Eindruck als der Bankier am Morgen. Dies war bei ihr um so auffallender, als sie offenbar einen starken Charakter und eine außerordentliche Fähigkeit der Selbstbeherrschung besaß. Ohne mich zu beachten, ging sie geradeswegs auf ihren Onkel zu und streichelte ihm sanft und zärtlich die Wangen.

»Du hast Weisung gegeben, daß Arthur wieder auf freien Fuß gesetzt wird, nicht wahr, Papa?« fragte sie.

»Nein, nein, mein Kind; die Sache muß erst gründlich untersucht werden.«

»Aber ich bin so gewiß, daß er unschuldig ist. Mein Gefühl täuscht mich nicht. Ich weiß, er hat nichts Unrechtes begangen, und es wird dir noch leid tun, daß du so streng verfahren bist.«

»Warum spricht er denn nicht, wenn er unschuldig ist?«

»Wer kann das wissen? Vielleicht aus Unwillen über den Verdacht, den du gegen ihn hast.«

»Konnte ich denn anders als ihn in Verdacht haben, da er den Schmuck vor meinen Augen in der Hand hielt?«

»Ach, er hatte ihn doch nur aufgehoben, um ihn anzusehen. Glaube mir, er ist unschuldig. Laß die Sache auf sich beruhen und sprich nicht mehr davon. Es ist so entsetzlich, sich unsern guten Arthur im Gefängnis vorstellen zu müssen.«

»Ich werde die Sache niemals ruhen lassen, bis die Steine gefunden sind – niemals, Mary. Deine Anhänglichkeit an Arthur macht dich blind für die furchtbaren Folgen, die die Angelegenheit für mich hat. Ich werde sie keineswegs vertuschen, im Gegenteil, ich habe aus London einen Herrn mitgebracht, der sich noch eingehender damit befassen soll.«

»Diesen Herrn?« fragte sie, sich nach mir umwendend.

»Nein, seinen Freund. Er wünschte, wir sollen ihn allein lassen. Er ist eben drüben in dem Gäßchen bei den Ställen.«

»Bei den Ställen?« Sie zog ihre dunklen Brauen in die Höhe. »Was mag er denn dort suchen? Ach, das ist er vermutlich. Ich hoffe fest«, wandte sie sich an den eben eintretenden Holmes, »daß Sie imstande sein werden, die Unschuld meines Vetters Arthur nachzuweisen, von der ich ganz fest überzeugt bin.«

»Ich teile Ihre Anschauung vollkommen und nicht minder Ihre Hoffnung, daß wir den Beweis dafür erbringen werden«, entgegnete Holmes, indem er nochmals zur Fußmatte zurückging, um den Schnee von seinen Schuhen abzuklopfen. »Ich habe wohl die Ehre, mit Fräulein Mary Holder zu sprechen. Dürfte ich vielleicht eine oder zwei Fragen an Sie stellen?«

»Gewiß, wenn es zur Aufklärung dieser schrecklichen Sache dienen kann.«

»Sie haben vergangene Nacht selbst nichts gehört?«

»Nichts, bis mein Onkel hier laut zu sprechen anfing. Das hörte ich, und daraufhin kam ich herunter.«

»Sie haben am Abend vorher die Fenster und Türen verschlossen. Haben Sie sämtliche Fenster fest zugemacht?«

»Jawohl.«

»Waren heute früh noch alle fest zu?«

»Gewiß.«

»Eines Ihrer Dienstmädchen hat einen Liebhaber? Sie machten, soviel ich weiß, gestern abend Ihren Onkel darauf aufmerksam, daß sie das Haus verlassen hätte, um mit ihm zusammenzutreffen.«

»Jawohl, und sie war es eben, die im Wohnzimmer bediente, und die dabei vielleicht Onkels Äußerung über den Schmuck mit angehört hat.«

»Aha. Sie vermuten, sie habe dies ihrem Liebhaber mitgeteilt, und darauf haben dann die beiden zusammen den Diebstahl verabredet.«

»Aber was sollen denn diese unbestimmten Vermutungen!« rief der Bankier ungeduldig dazwischen, »wenn ich Ihnen doch sage, daß ich sah, wie Arthur den Schmuck in der Hand hatte!«

»Gedulden Sie sich ein wenig, Herr Holder, wir müssen noch darauf zurückkommen. Was dieses Mädchen anbelangt, Fräulein Holder, so sahen Sie mit an, wie es wieder zur Küchentür hereinkam, nicht wahr?«

»Jawohl. Als ich eben nachsehen wollte, ob die Türe gut geschlossen sei, schlüpfte sie herein; ich bemerkte auch den Mann draußen im Dunkeln.«

»Kennen Sie ihn?«

»O freilich, es ist ein Gemüsehändler, der uns den Küchenbedarf ins Haus liefert. Er heißt Francis Prosper.«

»Er stand«, fuhr Holmes fort, »links von der Tür, etwas weiter unten an der Hecke?«

»Allerdings.«

»Und er hat einen Stelzfuß!«

Hier blitzte etwas wie Angst in den ausdrucksvollen Augen des jungen Mädchens auf. »Sie sind ja ein wahrer Hexenmeister«, sagte sie, »woher wissen Sie das?« Dabei lächelte sie, aber auf Holmes magerem, scharfgeschnittenem Gesicht fand dies Lächeln keine Erwiderung.

»Ich möchte nun sehr gerne in den oberen Stock gehen. Nachher werde ich voraussichtlich noch einmal die Runde um das Haus machen müssen. Vielleicht ist es übrigens zweckmäßiger, ich besichtige die Fenster unten, ehe ich hinaufgehe.«

Rasch ging er von einem zum andern; nur bei dem einen großen Fenster, das vom Hausgang nach dem Gäßchen hinaussah, hielt er sich länger auf. Dies öffnete er und untersuchte die Fensterbank aufs sorgfältigste mit einem starken Vergrößerungsglas. »Jetzt wollen wir hinaufgehen«, sagte er endlich.

Des Bankiers Ankleidezimmer war ein einfach ausgestatteter kleiner Raum, mit einem grauen Teppich belegt, und enthielt einen großen Schreibtisch und einen hohen Spiegel. Holmes ging zunächst auf den Schreibtisch zu und unterzog das Schloß einer genauen Besichtigung.

»Mit welchem Schlüssel ist es geöffnet worden?« fragte er.

»Mit dem Schlüssel zum Büfett unten, den mein Sohn selbst bezeichnet hat.«

»Haben Sie ihn hier?«

»Dort liegt er auf dem Toilettentisch.«

Holmes nahm ihn und schloß den Schreibtisch damit auf. »Er schließt lautlos. Kein Wunder, daß Sie nicht davon aufwachten. In diesem Etui hier befindet sich wohl der Schmuck. Wir müssen einen Blick darauf werfen.« Er öffnete das Etui, nahm den Schmuck heraus und legte ihn auf den Tisch. Es war ein Prachtstück der Goldschmiedekunst, und die sechsunddreißig Steine waren die schönsten, die ich je gesehen. An dem einen Ende war ein Stück abgebrochen; es fehlte eine Zacke mit drei Steinen.

»Nun, Herr Holder«, sagte Holmes, »wir wollen jetzt versuchen, eine der andern Zacken abzubrechen. Dürfte ich Sie bitten, das vorzunehmen?«

Der Bankier wich vor Schrecken einen Schritt zurück. »Es fällt mir nicht im Traum ein, so etwas zu versuchen«, versetzte er.

»Dann will ich es tun.« Holmes versuchte seine ganze Stärke daran, allein ohne Erfolg. »Ich fühle, daß sie ein wenig nachgibt«, sagte er; »aber obwohl ich ausnahmsweise große Kraft in den Fingern habe, würde ich doch geraume Zeit brauchen, eine der Zacken auszubrechen. Ein gewöhnlicher Mensch wäre dazu gar nicht imstande.«

»Ich weiß nicht, was ich denken soll. Es ist mir völlig rätselhaft.«

»Nun, vielleicht wird es Ihnen doch mit der Zeit klarer werden. – Was halten Sie davon, Fräulein Holder?«

»Ich gestehe, daß ich vorläufig noch ebensowenig klug daraus werde, wie mein Onkel.«

»Ihr Sohn hatte keine Schuhe oder Pantoffeln an, als Sie ihn überraschten?« fragte er darauf Herrn Holder.

»Nichts als Hosen und Hemd.«

»Danke. Wir sind bei der Untersuchung wirklich außerordentlich vom Glück begünstigt, und es wird lediglich unsere eigene Schuld sein, wenn es uns nicht gelingt, die Sache aufzuklären. Wenn Sie erlauben, Herr Holder, will ich jetzt meine Nachforschungen draußen fortsetzen.« Wir ließen ihn dabei auf seine ausdrückliche Bitte wiederum allein; er hatte nämlich erklärt, daß alle unnötigen Fußspuren ihm seine Aufgabe nur erschweren könnten. Eine Stunde oder darüber brachte er damit zu, dann kam er zurück mit einer Masse Schnee an den Stiefeln und einer Miene, die völlig undurchdringlich war.

»Ich habe, glaube ich, jetzt alles gesehen, was es zu sehen gibt, Herr Holder«, sagte er, »ich kann nun nichts Besseres für Sie tun als wieder nach Hause gehen.«

»Aber die Steine, Herr Holmes, wo sind die?«

»Das kann ich nicht sagen.«

Der Bankier rang die Hände. »Ich sehe sie nie wieder!« rief er aus. »Und mein Sohn? Sie geben mir Hoffnung?«

»Meine Überzeugung hat sich nicht im mindesten geändert. Wenn Sie mich morgen vormittag zwischen neun und zehn Uhr in meiner Wohnung besuchen können, so werde ich Ihnen mit Vergnügen Aufschluß darüber geben, soweit dies irgend in meinen Kräften steht. Doch setze ich dabei voraus, daß Sie mir unbeschränkte Freiheit lassen, für Sie zu handeln und Sie mit jeder Summe zu belasten, die ich für nötig halte.«

»Mein ganzes Vermögen gebe ich hin, wenn ich nur die Steine wieder erlange!«

»Ganz gut; ich werde inzwischen die Sache weiter zu ergründen suchen. Leben Sie wohl. Es kann leicht sein, daß ich vor Abend noch einmal hierherkommen muß.«

Ich erkannte klar, daß mein Freund sich nunmehr seine Ansicht über den Fall gebildet hatte, obwohl ich mir von seinen Schlußfolgerungen auch nicht einmal eine dunkle Vorstellung machen konnte. Mehrmals bemühte ich mich auf unserer Heimfahrt, ihn darüber auszuholen, aber er ging immer wieder unmerklich auf einen anderen Gegenstand über, bis ich es schließlich als hoffnungslos aufgab. Vor drei Uhr befanden wir uns bereits wieder zu Hause. Er eilte auf sein Zimmer und erschien schon nach wenigen Minuten wieder in der Verkleidung eines gewöhnlichen Trödlers. Mit seinem aufgeschlagenen Kragen, dem ausgewaschenen, fadenscheinigen Rock, einem roten Halstuch und abgetragenen Stiefeln war er ein vollendetes Muster dieser Menschenklasse.

»Ich denke, so wird es gehen«, sagte er, in den Spiegel über dem Kamin blickend. »Ich möchte nur, du könntest mich begleiten, Watson, aber ich glaube, es geht wohl doch nicht an. Jedenfalls werde ich bald wissen, ob ich auf der richtigen Spur bin oder einem Irrlicht nachjage. Ich hoffe, in ein paar Stunden wieder da zu sein.« Er steckte sich ein belegtes Brötchen in die Tasche und machte sich auf den Weg.

Ich hatte eben meinen Tee getrunken, als er wieder eintraf, in ausgezeichneter Laune, einen alten Zugstiefel in der Hand schwingend, den er sofort in eine Ecke warf, um sich eine Tasse Tee einzuschenken. »Ich bin nur im Vorbeigehen schnell auf einen Augenblick hereingekommen. Ich muß sogleich weiter.«

»Wohin?«

»Hinüber nach der andern Seite des Westends. Ich bleibe vielleicht ziemlich lange aus. Warte nicht auf mich, falls ich spät heimkomme.«

»Wie macht sich die Sache?«

»Ganz leidlich. Kann nicht klagen. Ich bin seither draußen in Streatham gewesen, aber ohne im Hause vorzusprechen. Ein hübscher kleiner Fall, den ich nicht um vieles hergäbe! Aber ich darf die Zeit nicht länger verplaudern und muß aus dieser schnöden Hülle wieder in meine anständigen Kleider schlüpfen.«

Sein Wesen zeigte mir, daß er mehr Grund zur Befriedigung hatte, als seine Äußerungen erraten ließen. Es zuckte in seinen Augen, und auf seinen blassen Wangen zeigte sich sogar eine Spur von Farbe. Rasch ging er nach oben, und schon nach wenigen Minuten hörte ich an dem Zuschlagen der Haustür, daß er sich bereits wieder an die Verfolgung des Zieles gemacht hatte, das auf seinen Scharfsinn eine so unwiderstehliche Anziehung ausübte. Ich wartete bis Mitternacht, aber er kam nicht; ich zog mich deshalb auf mein Zimmer zurück. Es geschah nicht selten, daß er ganze Tage und Nächte ausblieb, wenn er eine Spur verfolgte. So hatte sein Ausbleiben nichts Überraschendes für mich. Wann er heimkam, weiß ich nicht, aber als ich mich morgens zum Frühstück einfand, saß er schon mit einer Kaffeetasse in der einen Hand und einer Zeitung in der andern, ganz frisch und sorgfältig angekleidet da.

»Entschuldige, daß ich nicht auf dich gewartet habe, Watson«, rief er mir entgegen, »aber du weißt ja, daß unser Klient heute schon zu ziemlich früher Stunde vorsprechen will.«

»Ich glaube, es kommt eben jemand«, versetzte ich. »Es ist ja schon neun Uhr vorüber; es sollte mich nicht wundernehmen, wenn er es wäre.«

Es war wirklich unsere neue Bekanntschaft, der Bankier. Ich war ganz betroffen über die Veränderung, die mit ihm vorgegangen war; er sah schlecht und eingefallen aus, und sein Haar kam mir um eine Schattierung weißer vor. Er trat mit einer Müdigkeit und Gleichgültigkeit ein, die einen noch betrübenderen Eindruck machte, als seine gestrige Aufregung, und ließ sich schwer in den Armstuhl fallen, den ich ihm hinschob.

»Ich weiß nicht, womit ich diese harte Prüfung verdient habe«, begann er. »Noch vor zwei Tagen war ich ein glücklicher wohlhabender Mann und ohne die geringste Sorge; nun gehe ich einem einsamen, ehrlosen Alter entgegen. Ein Schlag folgt dem andern auf dem Fuße. Meine Nichte Mary hat mich verlassen.«

»Sie verlassen?« –

»Jawohl. Ihr Bett war heute früh unberührt, ihr Zimmer leer und auf dem Tisch im Salon lag ein Brief an mich. Gestern abend hatte ich ihr gegenüber geäußert, – aber nur aus Betrübnis, nicht im Bösen – wenn sie meinen Jungen geheiratet hätte, so wäre er vielleicht auf gutem Wege geblieben. Es war wohl eine unbedachte Äußerung von mir. Sie spielt in dem Brief hier darauf an. ›Liebster Onkel!‹ schreibt sie, ›ich sehe ein, daß ich Dich betrübt habe, und daß, wenn ich anders gehandelt hätte, dieses schreckliche Mißverständnis vielleicht niemals eingetreten wäre. Mit diesem Gefühl im Herzen kann ich unter Deinem Dache nicht wieder glücklich werden und muß Dich daher auf immer verlassen; mache Dir keinen Kummer um meine Zukunft, denn dafür ist gesorgt; und vor allem forsche nicht nach mir; es wäre vergebliche Mühe und mir ein schlechter Dienst. Im Leben wie im Tode verbleibe ich stets

Deine Dich liebende Mary.‹

Was kann der Brief zu bedeuten haben, Herr Holmes? Glauben Sie, daß er auf Selbstmord hindeutet?«

»Nein, nein; kein Gedanke daran. Diese Lösung ist vielleicht die allerbeste. Ich glaube, Herr Holder, Sie sind dem Ende Ihrer Kümmernisse nahe.«

»Was sagen Sie da? – Sie haben etwas gehört, Herr Holmes, Sie haben etwas erfahren? Wo sind die Steine?«

»Würden Ihnen tausend Pfund für das Stück zu hoch erscheinen?«

»Ich gebe das Zehnfache dafür.«

»So viel braucht es nicht. Mit dreitausend Pfund ist die Sache gedeckt. Um eine kleine Belohnung wird es sich freilich auch noch handeln. Haben Sie Ihr Scheckbuch bei sich? Hier ist eine Feder. Schreiben Sie lieber viertausend Pfund.«

Mit ganz verdutzter Miene fertigte der Bankier den verlangten Scheck aus. Holmes ging nun an sein Schreibpult, nahm ein kleines dreieckiges Stück Gold heraus, an dem sich drei Steine befanden, und legte es auf den Tisch.

Der Bankier stieß einen Freudenschrei aus und griff danach.

»Sie haben es!« stammelte er. »Ich bin gerettet, ich bin gerettet!«

Der Ausbruch seiner Freude war jetzt ebenso leidenschaftlich, als es zuvor sein Kummer gewesen.

»Sie haben noch eine Schuld zu tilgen, Herr Holder«, bemerkte Holmes ziemlich ernst.

»Noch eine Schuld?« Er griff nach einer Feder. »Nennen Sie nur die Summe, und ich werde sie bezahlen.«

»Nein. Die Schuld betrifft nicht mich. Ihrem Sohn schulden Sie eine recht demütige Abbitte. Der hochherzige junge Mann hat sich in dieser Sache so brav gehalten, daß ich stolz auf meinen eigenen Sohn sein würde, falls ich je einen bekommen sollte, wenn er im gleichen Fall ebenso handeln würde.«

»Also ist Arthur nicht der Dieb?«

»Nein, wie ich Ihnen gestern schon sagte und heute wiederhole.«

»Sie wissen es gewiß? Dann lassen Sie uns gleich zu ihm eilen, um ihm zu sagen, daß sich der wahre Sachverhalt herausgestellt hat.«

»Er weiß bereits alles. Sobald ich selbst in der Sache zur Klarheit gekommen war, suchte ich ihn auf. Da er sich nicht dazu verstehen wollte, mir den Hergang zu erzählen, so erzählte ich ihm denselben. Darauf konnte er nicht anders als alles zuzugeben und die wenigen Einzelheiten beizufügen, die mir noch unverständlich waren. Die Neuigkeit, die Sie heute mitgebracht haben, öffnet ihm vielleicht vollends die Lippen.«

»So sagen Sie mir um des Himmels willen, was ist das für ein unbegreifliches Rätsel?«

»Das will ich, und ich werde Ihnen auch sagen, was für Schritte ich getan habe, um zur Lösung zu gelangen. Vor allem lassen Sie mich Ihnen mitteilen, was für mich auszusprechen und für Sie zu hören am schmerzlichsten ist: Ihre Nichte Mary handelte im Einverständnis mit Sir George Burnwell. Sie sind jetzt zusammen entwichen.«

»Meine Mary – unmöglich!«

»Es ist leider mehr als möglich, es ist sicher. Weder Sie selbst noch Ihr Sohn kannten den wahren Charakter dieses Menschen, als Sie ihm in Ihrem häuslichen Kreise Aufnahme gewährten. Er ist eines der gefährlichsten Subjekte in ganz England – ein heruntergekommener Spieler, ein ganz verzweifelter Schurke, ein Mensch ohne Herz und Gewissen. Ihre Nichte hat keine Ahnung davon, daß es solche Menschen auf der Welt gibt. Als er ihr seine Liebe gestand, wie hundert anderen vor ihr, schmeichelte sie sich, die einzige zu sein, die sein Herz gerührt habe. Der Teufel mag wissen, wie er es anfing, aber er brachte es dahin, daß sie zu seinem willenlosen Werkzeug wurde und fast jeden Abend mit ihm zusammentraf.«

»Ich kann, ich will es nicht glauben!« rief der Bankier mit aschfahlem Gesicht.

»Nun, dann will ich Ihnen erzählen, was vorletzte Nacht in Ihrem Hause vorging. Als Ihre Nichte annahm, Sie hätten sich in Ihr Zimmer zurückgezogen, schlüpfte sie hinunter und unterhielt sich mit ihrem Liebhaber durch das Fenster, das nach dem Gäßchen bei den Ställen hinausgeht. Seine Fußstapfen haben sich ganz durch den Schnee durchgedrückt, so lange hat er dortgestanden. Sie erzählte ihm von dem Schmuck. Diese Kunde entflammte seine verruchte Gier nach Gold, und er gewann sie für seine Pläne. Ich zweifle nicht an ihrer Anhänglichkeit für Sie, allein es gibt Frauen, bei denen neben der Anhänglichkeit an einen Geliebten keine andere mehr Raum findet, und zu diesen muß sie wohl gehört haben. Sie hatte kaum die nötigen Vorschriften für ihr Verhalten von ihm empfangen, als Sie die Treppe herunterkamen, worauf sie das Fenster eiligst schloß und ihnen die Geschichte von dem Dienstmädchen erzählte, das sich zu dem stelzfüßigen Liebhaber hinausgeschlichen habe, womit es auch seine volle Richtigkeit hatte.

Ihr Sohn begab sich nach der Unterredung mit Ihnen wohl zu Bett, konnte aber vor Sorgen wegen seiner Schulden im Klub nicht schlafen. Mitten in der Nacht hörte er jemand mit leisem Tritt an seiner Tür vorbeischleichen. Er stand auf, schaute hinaus und sah zu seiner größten Verwunderung seine Base verstohlen durch den Gang gleiten und in Ihrem Ankleidezimmer verschwinden. Rasch warf er ein paar Kleidungsstücke über und harrte im Dunkeln auf die weitere Entwicklung dieser merkwürdigen Geschichte. Nun kam sie wieder aus dem Zimmer heraus, und beim Schein der Flurlampe sah Ihr Sohn, daß sie das kostbare Schmuckstück in der Hand hatte. Sie ging die Treppe hinunter, und er eilte, zitternd vor Schrecken, zu dem Vorhang bei Ihrer Tür, um, dahinter versteckt, sehen zu können, was unten im Hausgang vorgehe. Er sah, wie sie vorsichtig das Fenster aufmachte und das Schmuckstück jemand im Dunkeln reichte, dann das Fenster wieder schloß und eiligst den Rückweg nach ihrem Zimmer einschlug, der sie ganz dicht an seinem Versteck vorbeiführte. Solange sie sich auf dem Schauplatz befand, konnte er nichts unternehmen, ohne das Mädchen, das er liebte, aufs furchtbarste bloßzustellen. Aber sobald sie verschwunden war, machte er sich klar, was für ein namenloses Unglück für Sie daraus entstehen müßte, und wie unendlich wichtig es sei, das Kleinod zurückzubekommen. Barfuß, wie er ging und stand, eilte er hinab, öffnete das Fenster, sprang in den Schnee hinaus und rannte das Gäßchen entlang, wo er eine dunkle Gestalt im Mondschein bemerkte. Es war Sir George, der sich aus dem Staube zu machen suchte, allein Arthur holte ihn ein und rang mit ihm, wobei beide an dem Schmuckstück zerrten, Ihr Sohn am einen Ende, sein Gegner am andern. Auf einmal knackte es, und Ihr Sohn sah, daß ihm der Schmuck in der Hand geblieben war. Er eilte nun ins Haus zurück, machte das Fenster wieder zu und ging hinauf in Ihr Ankleidezimmer. Dort bemerkte er, daß der Schmuck im Handgemenge verbogen worden war. Als er noch versuchte, ihn wieder zurechtzubiegen, erschienen Sie auf dem Schauplatz.«

»Ist es möglich?« stammelte der Bankier.

»Nun brachten Sie ihn in Wut, indem Sie ihm alle möglichen Schimpfreden in das Gesicht schleuderten, in einem Augenblick, wo er sich bewußt war, Ihren wärmsten Dank verdient zu haben. Den wahren Sachverhalt konnte er nicht enthüllen, ohne ein Mädchen zu verraten, das sicherlich keine große Rücksicht von seiner Seite verdient hatte. Er stellte sich jedoch auf den ritterlichen Standpunkt und wahrte ihr Geheimnis.«

»Also darum ihr Schrecken und ihre Ohnmacht beim Anblick des Schmuckes!« rief Herr Holder aus. »Oh, mein Gott, was war ich doch für ein blinder Narr! Und seine Bitte, auf fünf Minuten vor das Haus gehen zu dürfen! Der Junge wollte nur sehen, ob das fehlende Stück nicht noch auf dem Kampfplatz liege. Wie grausam von mir, wie habe ich ihn verkannt!«

»Sogleich nach meinem Eintreffen ging ich sorgfältig um das ganze Haus herum, um nach Spuren im Schnee zu suchen, die mir von Wert sein könnten. Ich wußte, daß seit dem Abend vorher kein Schnee mehr gefallen war, und bei dem starken Frost hatten sich auch die Eindrücke unverändert erhalten. Ich ging den Lieferantenweg entlang. Hier war jedoch alles zusammengetreten, so daß man nichts zu unterscheiden vermochte. Nur gerade oberhalb des Eingangs zur Küche hatte eine Frau bei einem Manne gestanden, der, nach den runden Spuren seines einen Fußes zu schließen, ein hölzernes Bein trug. Man vermochte sogar zu erkennen, daß sie gestört worden waren, denn die Frau war rasch zur Tür zurückgelaufen, wie die leichten Eindrücke ihrer Zehen im Gegensatz zur Ferse bewiesen, während der Stelzfuß noch eine Zeitlang gewartet und sich dann erst entfernt hatte. Ich dachte mir gleich, es werde das Dienstmädchen und ihr Liebhaber gewesen sein, von denen Sie bereits gesprochen hatten, und meine weiteren Nachforschungen bestätigten dies auch. Auf dem Gang durch den Garten konnte ich zahlreiche regellos durcheinanderlaufende Fußspuren bemerken, die ich den Polizeileuten zuschrieb. Als ich jedoch in das Stallgäßchen kam, stand dort in den Schnee geschrieben eine ganze lange, verwickelte Geschichte vor meinen Augen.

Da war eine zweifache Reihe von männlichen Stiefelspuren und eine weitere Doppelreihe von Eindrücken, die – wie ich zu meiner Freude sah – von den bloßen Füßen eines Mannes herrührten. Auf Grund Ihrer Erzählung war ich augenblicklich überzeugt, daß dieser Mann Ihr Sohn sein müsse. Der erste war hinauf- und heruntergegangen, der mit den bloßen Füßen dagegen war rasch gelaufen, und da sein Tritt an manchen Stellen über den des ersten fortging, so war er offenbar nach diesem gekommen. Ich folgte den Spuren und fand, daß sie zu dem Fenster im Hausgang führten, wo der mit den Stiefeln so lange gestanden hatte, daß der Schnee völlig weggetreten war. Dann ging ich ihnen bis zu ihrem andern Ende nach, vielleicht sechzig Meter das Gäßchen hinunter. Ich fand eine Stelle, wo der mit den Stiefeln sich umgewendet hatte und der Schnee aufgewühlt war, als ob ein Kampf stattgefunden hätte, eine Vermutung, welche durch ein paar Blutstropfen im Schnee ihre Bestätigung fand. Der Mann mit den Schuhen war dann rasch das Gäßchen hinabgelaufen, und eine zweite kleine Blutspur zeigte mir, daß er es war, der die Verwundung erhalten hatte. Auf der Straße draußen ließ sich die Spur nicht weiter verfolgen, da der Fußsteig inzwischen gesäubert worden war.

Nach meiner Rückkehr ins Haus untersuchte ich, wie Sie sich erinnern können, den Sims und den Rahmen an dem Gangfenster mit einem Vergrößerungsglas und konnte dabei sogleich erkennen, daß jemand hinausgestiegen war. Ferner vermochte ich die Umrisse eines nassen Fußes zu unterscheiden, den jemand beim Hereinsteigen aufgesetzt hatte. Nun fühlte ich mich allmählich imstande, mir ein Bild von den Vorgängen zu machen. Ein Mann hatte vor dem Fenster gewartet, bis ihm jemand die Steine hinausbrachte, Ihr Sohn hatte die Tat mit angesehen, den Dieb verfolgt und mit diesem gerungen, wobei sie beide an dem Schmuckstück zogen und dieses so mit vereinter Kraft in einer Weise beschädigten, wie dies keinem von beiden allein möglich gewesen wäre. Ihr Sohn brachte wohl das Schmuckstück an sich, mußte aber ein Stück davon in den Händen seines Gegners lassen. So weit war ich im reinen. Nun entstand die Frage, wer war dieser Mann und wer hatte ihm den Schmuck hinuntergebracht?

Es ist ein alter Grundsatz von mir: Nachdem alles Unmögliche ausgeschlossen worden ist, muß man in dem, was übrig bleibt, so unwahrscheinlich es sein mag, die Wahrheit finden. Nun wußte ich, daß Sie den Schmuck nicht hinunter gebracht hatten, demnach blieben nur noch Ihre Nichte und die Dienstmädchen übrig. Aber wenn es eines der Dienstmädchen war, warum hatte sich Ihr Sohn an ihrer Stelle beschuldigen lassen? Dafür war kein vernünftiger Grund zu finden. Er liebte jedoch seine Base, und darin lag die einzige Erklärung für sein Bestreben, ihr Geheimnis zu wahren – um so mehr, als es ein entehrendes Geheimnis war. Wenn ich ferner bedachte, daß Sie Ihre Nichte an jenem Fenster gesehen hatten, und sie in Ohnmacht gefallen war, als sie den Schmuck wieder erblickte, so wurde meine Vermutung zur Gewißheit.

Wer aber konnte es sein, mit dem sie unter einer Decke steckte? Doch nur ein Geliebter, denn nur ein solcher wäre imstande, über ihre Liebe und Dankbarkeit Ihnen gegenüber den Sieg davon zu tragen. Ich wußte, daß Sie wenig ausgingen und Ihr Bekanntenkreis ein sehr beschränkter war. Allein zu diesem kleinen Kreis gehörte Sir George Burnwell. Ich hatte schon früher erfahren, daß er im Hinblick auf seine Beziehungen zu Frauen berüchtigt war. Von ihm mußten die Stiefelspuren herrühren, in seinem Besitz mußten sich die fehlenden Steine befinden. Trotzdem er von Arthur entdeckt worden war, durfte er sich in der Hoffnung wiegen, unbehelligt zu bleiben, denn der junge Mann konnte ja kein Wort sagen, ohne seine eigene Familie bloßzustellen.

Nun werden Sie sich leicht denken können, welche Schritte ich zunächst tat. Ich begab mich, als Trödler verkleidet, in Sir Georges Wohnung, wo ich mit dessen Diener Bekanntschaft anzuknüpfen wußte, und erfuhr, daß sich sein Herr den Abend vorher am Kopf verletzt habe. Durch eine Ausgabe von sechs Schilling stellte ich dann vollends die ganze Wahrheit fest. Ich kaufte nämlich ein Paar seiner abgelegten Stiefel, nahm sie mit nach Streatham und überzeugte mich, daß sie vollkommen in die Fußspuren paßten.«

»Ich bemerkte gestern allerdings einen Strolch in abgerissener Kleidung vor meinem Hause«, warf Herr Holder ein.

»Ganz recht. Das war ich. Nachdem ich meines Mannes sicher war, wechselte ich zu Hause die Kleider. Nun harrte meiner noch eine heikle Aufgabe; denn ich sah ein, daß, um Aufsehen zu vermeiden, keine Verfolgung der Sache stattfinden dürfe, und wußte, ein solch abgefeimter Schurke würde sofort durchschauen, daß uns in dieser Sache die Hände gebunden seien. Ich suchte ihn also auf. Zuerst leugnete er natürlich alles. Als ich ihm jedoch sämtliche Einzelheiten des Hergangs vorhielt, machte er Miene, gewalttätig zu werden, und nahm einen Totschläger von der Wand. Ich kannte meinen Mann und drückte ihm, ehe er zuschlug, eine Pistole an die Stirn. Nun wurde er etwas vernünftiger. Ich erklärte ihm, wir seien bereit, ihm die Steine abzukaufen, und zwar um tausend Pfund das Stück. Diese Eröffnung entlockte ihm zum erstenmal ein Zeichen des Bedauerns. ›Verwünscht!‹ rief er, ›ich habe sie alle zusammen für sechshundert Pfund losgeschlagen.‹ Durch die Zusage, daß jede Verfolgung der Sache unterbleibe, brachte ich ihn bald so weit, mir die Adresse des Käufers der Steine zu geben. Augenblicklich machte ich mich dorthin auf und erhielt endlich nach langem Feilschen unsere Steine für tausend Pfund das Stück. Dann sprach ich noch bei Ihrem Sohne vor, um ihm mitzuteilen, daß alles in Ordnung sei, und ging endlich gegen zwei Uhr in mein Bett, nach einem Tagewerk, das gewiß ein schweres genannt werden darf.«

»Einem Tagewerk, durch das Sie einen großen öffentlichen Skandal verhindert haben«, versetzte der Bankier, indem er sich erhob. »Die Worte fehlen mir, um Ihnen meinen Dank auszudrücken, aber Ihre Leistung soll nicht unbelohnt bleiben. Ihr Scharfsinn übersteigt in der Tat alles, was ich je Ähnliches gehört habe. Aber jetzt muß ich zu meinem Jungen eilen, um ihm das Unrecht abzubitten, das ich ihm angetan habe. Was die arme Mary betrifft, so bin ich durch Ihre Auskunft über sie im Innersten erschüttert. Mir zu sagen, wo sie jetzt sein mag, dazu wird aber freilich selbst Ihr Scharfsinn nicht hinreichen.«

»Ich glaube, wir dürfen ruhig behaupten«, erwiderte Holmes, »sie befindet sich da, wo Sir George Burnwell ist. Wie groß aber auch ihr Unrecht sein mag, so wird sie sicher gar bald die Strafe dafür in mehr als genügendem Maß erhalten.«

*

Während Holmes das Blatt weglegte und das folgende aufschlug, dachte er: Ja, es ist so, das Leben gleicht immer irgendwie alles wieder aus, ohne unser Dazutun, das Gute und das Böse.

Dann fing er an, die nächste Geschichte zu lesen:

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Silberstrahl

Silberstrahl

»Mir wird wohl nichts anderes übrig bleiben, Watson, als hinzugehen«, sagte Holmes eines Morgens zu mir, als wir beim Frühstück saßen.

»So? Wohin denn?«

»Nach Dartmoor – nach Kings Pyland.«

Das überraschte mich nicht; im Gegenteil, ich hatte mich schon gewundert, daß er nicht längst zur Mitarbeit an dem ungewöhnlichen Fall aufgefordert worden war, der in ganz England das Tagesgespräch bildete. Mit gerunzelten Brauen, den Kopf auf die Brust gesenkt, war mein Gefährte einen ganzen Tag lang ruhelos im Zimmer auf- und abgegangen, hatte immer wieder den stärksten schwarzen Tabak in seine Pfeife gestopft und war für alle meine Fragen und Bemerkungen stocktaub gewesen. Die neuesten Nummern sämtlicher Tagesblätter überflog er nur mit einem Blick und warf sie dann in den Winkel. Er blieb stumm, aber ich wußte genau, worüber er brütete. Es lag ja nur ein Fall vor, der genug öffentliches Aufsehen erregte, um ihn zu bewegen, die ganze Kraft seines kritischen Scharfsinns aufzubieten, nämlich das seltsame Verschwinden des Rennpferdes, welches die größte Anwartschaft auf den Ehrenpreis von Wessex gehabt hatte, und die rätselhafte Ermordung des Stallmeisters John Straker. Als Holmes mir daher plötzlich mitteilte, er wolle sich auf den Schauplatz des Dramas begeben, hatte ich bereits auf diesen Entschluß von seiner Seite gewartet und gehofft.

»Ich würde dich sehr gern begleiten, wenn ich dir nicht im Wege bin«, sagte ich.

»Du würdest mir den größten Gefallen damit erweisen, lieber Watson, auch wäre es sicher keine Zeitverschwendung; der Fall enthält nämlich so interessante Einzelheiten, daß er wohl in seiner Art einzig dasteht. Wir können, glaube ich, gerade noch einen Zug erreichen, unterwegs will ich dann eingehender mit dir über die Sache reden. Bitte nimm auch deinen Feldstecher mit, wir brauchen ihn vielleicht.«

So saß ich denn etwa eine Stunde später in der Ecke eines Wagens erster Klasse, und während der Bahnzug mit uns nach Exter davonsauste, vergrub Sherlock Holmes sein scharfgeschnittenes, ausdrucksvolles Gesicht in einen Haufen neuer Zeitungen, die er sich am Zeitungsstand des Bahnhofs in Paddington gekauft hatte. Erst als Reading längst hinter uns lag, warf er die letzte Nummer unter den Sitz und holte seine Zigarrentasche heraus.

»Wir fahren rasch«, sagte er, nachdem er einen Blick aus dem Fenster geworfen und auf seine Uhr gesehen hatte, »unsere Fahrgeschwindigkeit beträgt augenblicklich dreiundachtzig und eine halbe Meile in der Stunde.«

»Ich habe mir nicht die Zeit genommen, die Meilensteine zu zählen.«

»Ich auch nicht«, erwiderte er. »Aber die Telegraphenstangen dieser Linie haben einen Abstand von sechzig Metern; da läßt sich’s leicht berechnen. Vermutlich ist dir die Ermordung John Strakers und das Verschwinden von Silberstrahl schon samt allen näheren Umständen bekannt?«

»Was ›Telegraph‹ und ›Chronicle‹ darüber mitteilen, habe ich gelesen.«

»Bei diesem Fall ist es für die Schlußfolgerung wichtiger, die vorhandenen Angaben genau zu untersuchen, als sich nach immer neuen Beweismitteln umzusehen. Das Trauerspiel ist so ungewöhnlicher Art und für eine große Anzahl Personen von solcher Tragweite, daß uns die Überfülle unbegründeter Annahmen, Mutmaßungen und Voraussetzungen zu verwirren droht. Da gilt es vor allem, die nackten Tatsachen, soweit sie unleugbar und bestimmt feststehen, von dem unnützen Beiwerk zu trennen, welches Berichterstatter und Theoretiker hinzugefügt haben. Erst wenn man eine sichere Grundlage gewonnen hat, wird man Schlüsse ziehen und die besonderen Punkte ins Auge fassen können, um welche sich das ganze Geheimnis dreht. Am Dienstag abend bin ich sowohl von Oberst Roß, dem Eigentümer des Pferdes, als auch von Polizeiinspektor Gregory, dem der Fall übergeben wurde, auf telegraphischem Wege um meine Mitarbeit gebeten worden.«

»Am Dienstag abend!« rief ich. »Und heute ist schon Donnerstag. Warum bist du denn nicht gestern hingefahren?«

»Weil ich mich in einem Irrtum befand, lieber Watson – was leider häufiger vorkommt, als die Leute glauben mögen, die mich aus deinen Aufzeichnungen kennen. Ich hielt es nämlich nicht für möglich, daß das berühmteste Rennpferd Englands lange verborgen bleiben könnte, noch dazu in einer so öden Gegend, wie der Norden von Dartmoor es ist. Von Stunde zu Stunde habe ich gestern auf die Nachricht gewartet, daß man sein Versteck entdeckt hat, und daß der Räuber des Pferdes zugleich John Strakers Mörder ist. Als aber die Zeitungen heute, außer der Festnahme des jungen Fitzroy Simpson, nichts Neues brachten, da fühlte ich wohl, daß etwas geschehen müsse und es für mich an der Zeit sei, tätig einzugreifen. Trotzdem halte ich auch den gestrigen Tag nicht gerade für verloren.«

»Also hast du dir schon eine Ansicht gebildet?«

»Wenigstens ist mir klar geworden, welches die wesentlichen Tatsachen sind. Ich werde sie dir aufzählen, denn es gibt kein besseres Mittel, Licht über einen Fall zu verbreiten, als wenn man ihn jemand auseinandersetzt; auch kann ich ja nur auf deine Mitwirkung rechnen, wenn ich dir zeige, welchen Standpunkt ich selbst einnehme.«

Ich lehnte mich nun in die Kissen zurück und rauchte meine Zigarre, während Holmes vornübergebeugt dasaß, einen kurzen Umriß der Ereignisse entwarf, welche uns zu der Reise veranlaßt hatten, und dabei mit dem langen, dünnen Zeigefinger auf der Fläche seiner linken Hand die verschiedenen Punkte beschrieb, die ihm wichtig erschienen.

»Silberstrahl«, sagte er, »ist ein Abkömmling des berühmten Isonomy, und seine Laufbahn war ebenso glänzend wie die seines großen Vorfahren. Das Pferd steht im fünften Jahr und hat seinem Besitzer, Oberst Roß, nacheinander bereits sämtliche Rennpreise eingebracht. Auch der Ehrenpreis von Wessex war ihm so gut wie gewiß; die Wetten verhielten sich wie drei zu eins. – Überhaupt ist Silberstrahl von jeher der bevorzugte Liebling des Rennpublikums gewesen und hat die auf ihn gesetzten Hoffnungen noch nie getäuscht; gelegentlich sind wahrhaft riesige Summen auf das Pferd gewettet worden. Hieraus ist leicht ersichtlich, daß eine ganze Anzahl Leute das stärkste Interesse daran haben mußten, sein Erscheinen auf dem Rennplatz am nächsten Dienstag zu verhindern.

Auch in Kings Pyland, wo Oberst Roß seinen Reitstall hat, war man sich dieser Tatsache wohl bewußt und traf umfassende Maßregeln zum Schutz des edlen Tieres. John Straker, ein früherer Jockey des Obersten, hatte bei allen Wettrennen dessen Farben getragen, bis sein Gewicht zu schwer wurde. Fünf Jahre ist er als Jockey und sieben Jahre als Stallmeister bei seinem Herrn gewesen und hat den Dienst stets mit Treue und Eifer versehen. Sein Amt war übrigens nicht sehr anstrengend, denn für die vier Pferde, die unter seiner Obhut standen, hatte er drei Stallknechte zur Verfügung. Einer pflegte immer die Nacht über im Stall zu wachen, während die beiden andern auf dem Heuboden schliefen. Alle drei standen in bestem Ruf und galten für sehr zuverlässig. Straker war verheiratet und wohnte in einem kleinen Landhaus, das kaum zweihundert Meter von den Stallgebäuden entfernt liegt; er hatte keine Kinder, hielt sich ein Hausmädchen und lebte in guten Verhältnissen. Die Gegend ist wohl einsam, doch hat ein Bauunternehmer aus Tavistock etwa eine halbe Meile nördlich ein kleines Villenviertel errichtet für Erholungsbedürftige und Sommerfrischler, die in der reinen Luft von Dartmoor Stärkung suchen. Der Ort Tavistock selbst liegt zwei Meilen nach Westen; jenseits des Moors befindet sich in gleicher Entfernung die große Pferdezüchterei von Mapleton, welche Lord Backwater gehört; der dortige Aufseher heißt Silas Brown. Nach jeder andern Richtung hin ist das Moor völlig verödet, es halten sich höchstens herumziehende Zigeuner darin auf.

Auch der letzte Montag verlief in Kings Pyland ruhig wie alle Tage. Nachdem die Pferde ihren gewöhnlichen Übungsritt gemacht hatten und getränkt worden waren, verschloß man um neun Uhr den Stall. Zwei von den Knechten begaben sich nach Strakers Haus, wo sie in der Küche zu Abend aßen, während Eduard Hunter, der dritte, als Wächter zurückblieb. Einige Minuten nach neun brachte ihm das Mädchen, Edith Baxter, sein Nachtessen, das in einem Teller voll Hammelragout bestand. Sie nahm kein Getränk mit, da der Stall eine Wasserleitung hatte und es als strenge Regel galt, daß der wachhabende Knecht nichts anderes trinken durfte als Wasser.

Edith Baxters Weg führte über das offene Moor, und da es ganz dunkel war, nahm sie eine Laterne mit. Als sie sich dem Stall bis auf etwa dreißig Meter genähert hatte, tauchte plötzlich aus der Finsternis ein Mann auf und rief sie an. Er trat in den Lichtkreis der Laterne, sie sah, daß er den besseren Ständen angehörte; er trug einen grauen Anzug aus leichtem Wollstoff, Gamaschen und eine Tuchmütze, in der Hand hielt er einen schweren Stock mit dickem Knauf. Was ihr am meisten auffiel, war jedoch die entsetzliche Blässe seines Gesichts und sein ängstliches Benehmen; nach ihrer Ansicht mochte er eher über als unter dreißig Jahre alt sein.

›Können Sie mir vielleicht sagen, wo ich bin?‹ fragte er. ›Ich hatte mich schon darein ergeben, die Nacht auf dem Moor zuzubringen, als ich das Licht Ihrer Laterne sah.‹

›Sie sind dicht bei den Stallgebäuden von Kings Pyland‹, versetzte sie.

›Wirklich! Nun, das nenne ich Glück haben!‹ rief er. ›Man hat mir gesagt, daß dort nur ein Stallknecht wohnt; vielleicht wollen Sie ihm eben sein Abendbrot bringen. Ich denke, Sie werden nicht zu stolz sein, um sich ein neues Kleid zu verdienen, nicht wahr? – Nun gut, wenn Sie dem Knecht noch heute abend dies hier zukommen lassen‹, er nahm ein kleines, zusammengefaltetes Papier aus der Westentasche, ›so sollen Sie das Geld zu einem hübschen Kleid von mir bekommen.‹

Die Magd erschrak, als er sein Anliegen so dringend vorbrachte, sie lief rasch an ihm vorbei nach dem Fenster hin, durch welches sie das Essen hineinzureichen pflegte. Es war schon geöffnet. Hunter saß drinnen an einem kleinen Tisch. Eben erzählte sie ihm, was ihr zugestoßen sei, als der Fremde selbst herzutrat.

›Guten Abend‹, sagte er, durch das Fenster blickend; ›ich möchte gern ein paar Worte mit Ihnen reden.‹ – Das Mädchen hat unter Eid versichert, daß sie, während er sprach, eine Ecke des weißen Papierpäckchens in seiner geschlossenen Hand bemerkte.

›Was haben Sie hier zu suchen?‹ fragte der Knecht.

›Etwas, wobei Sie ein gutes Stück Geld verdienen können‹, lautete die Antwort. ›Sie haben zwei Pferde hier, die für den Wessex-Preis rennen sollen – Silberstrahl und Bayard. Schenken Sie mir klaren Wein ein, und es soll nicht Ihr Schaden sein. Ist es wahr, daß Bayard dem andern beim Proberennen auf fünf Achtelmeilen hundert Meter Vorsprung abgewonnen hat, und daß das Stallpersonal auf ihn wetten will?‹

›Sie sind ein verdammter Schwindler!‹ rief Hunter. ›Warten Sie nur, ich zeige Ihnen gleich, wie wir solchem Pack in Kings Pyland mitspielen.‹ Er sprang auf und lief nach dem Stall hinüber, um den Hund loszuketten. Das Mädchen ergriff eilends die Flucht, blickte jedoch noch einmal zurück und sah, wie der Fremde sich zum Fenster hineinlehnte. Als Hunter gleich darauf mit dem Hund herausgestürzt kam, war jener verschwunden und keine Spur von ihm zu entdecken, obwohl der Stallknecht rings um das Haus herum nach ihm suchte.«

»Warte einen Augenblick«, unterbrach ich den Bericht meines Freundes; »hat der Stallknecht, als er mit dem Hunde herauskam, die Tür hinter sich offen gelassen?«

»Vortrefflich, Watson, vortrefflich«, murmelte Holmes. »Der Umstand schien auch mir von solcher Wichtigkeit, daß ich gestern eigens ein Telegramm nach Dartmoor sandte, um mir Gewißheit darüber zu verschaffen. Der Stallknecht hat aber die Tür zugeschlossen, als er hinausging, und das Fenster ist nicht groß genug, um einem Mann Einlaß zu gewähren.

Hunter wartete bis zur Rückkehr seiner beiden Kameraden und schickte dann seinem Herrn einen Bericht über den Vorfall. Straker war zwar sehr ärgerlich, doch scheint er sich nicht klar gemacht zu haben, was die Sache eigentlich zu bedeuten hatte. Eine unbestimmte Sorge quälte ihn indessen jedenfalls, denn als seine Frau um ein Uhr nachts aufwachte, sah sie, daß er im Begriff war, sich anzukleiden. Auf ihre Fragen erwiderte er, seine Unruhe um die Pferde lasse ihn nicht schlafen, er wolle im Stall nachsehen, ob alles in Ordnung sei. Sie hörte den Regen an die Scheiben klatschen und bat ihren Mann, daheim zu bleiben, aber es war vergebens; er zog seinen Gummimantel an und verließ das Haus.

Als Frau Straker um sieben Uhr erwachte, war ihr Mann noch nicht zurückgekehrt. Rasch kleidete sie sich an, rief das Mädchen und eilte nach den Ställen. Die Tür stand offen; drinnen saß Hunter auf einem Stuhl zusammengesunken und völlig betäubt; die Box, in der Silberstrahl gestanden, war leer und Straker nirgends zu finden.

Man weckte die beiden Stallknechte, die auf dem Heuboden über der Geschirrkammer schliefen. Sie hatten während der Nacht kein Geräusch gehört. Hunter mußte wohl ein starkes Schlafmittel erhalten haben und litt noch an den Folgen; da nichts Vernünftiges aus ihm herauszubringen war, ließ man ihn weiter schlafen. Frau Straker, die Magd und die beiden Knechte machten sich inzwischen auf, um nach dem Stallmeister zu suchen. Sie hegten noch die leise Hoffnung, er könne vielleicht mit dem Pferd einen Morgenritt gemacht haben, und wandten sich nach einer Anhöhe in der Nähe des Hauses, von der aus man das Moor ringsum überblicken kann. Von dem Rennpferd sahen sie nirgends eine Spur, aber nach John Straker brauchten sie nicht lange zu suchen. Etwa eine Viertelmeile von dem Stallgebäude entfernt hing sein Mantel an einem Ginsterbusch, und nicht weit davon, in einer muldenförmigen Vertiefung des Bodens, fand man seine Leiche. Der Schädel war ihm durch einen wuchtigen Schlag mit einem schweren Werkzeug zerschmettert worden, und am Schenkel hatte er eine lange Schnittwunde, die von einer scharfen Waffe herrühren mußte. Offenbar hatte sich Straker, so gut er konnte, gegen seine Angreifer verteidigt, denn in der rechten Hand hielt er ein kleines Messer, das über und über mit geronnenem Blut bedeckt war. Seine Linke aber umklammerte eine rot und schwarz gestreifte seidene Krawatte; eine solche hatte, nach Aussage der Magd, jener Fremde getragen, den sie am Abend zuvor beim Stall getroffen hatte.

Als Hunter aus seiner Betäubung erwachte, bezeugte auch er, daß der Fremde eine solche Krawatte getragen habe. Nach seiner Ansicht hatte ihm der Fremde das Schlafpulver vom Fenster aus in das Hammelragout geschüttet, damit der Stall unbewacht bleibe.

Was nun das fehlende Rennpferd betrifft, so fand man im Moorboden des Talkessels zahlreiche Beweise, daß es zur Zeit des Kampfes auch am Tatort gewesen sein muß. Aber seit jenem Morgen blieb es verschwunden, und obwohl eine hohe Belohnung ausgesetzt ist und alle Zigeuner von Dartmoor sich auf der Suche befinden, weiß niemand, wo es geblieben sein kann. Schließlich ist noch zu bemerken, daß eine beträchtliche Menge pulverisierten Opiums in den Resten des Nachtessens des Stallknechtes vorgefunden wurde, während die Leute im Hause an demselben Abend vom nämlichen Gericht gegessen haben, ohne nachteilige Folgen zu verspüren.

Das sind in kurzen Umrissen und mit möglichst geringen Abschweifungen die hauptsächlichsten Tatsachen, welche vorliegen. Nun will ich dir noch aufzählen, was für Maßregeln die Polizei getroffen hat.

Inspektor Gregory, der den Fall in Händen hat, ist ein außerordentlich fähiger Beamter. Er würde große Dinge in seinem Beruf leisten, wenn ihm nicht alle Einbildungskraft fehlte. Das erste, was er tat, war, den Mann ausfindig zu machen und festzunehmen, auf dem natürlich der größte Verdacht ruhte. Ihn zu finden, war nicht schwer, denn man kannte ihn in der ganzen Nachbarschaft. Sein Name ist Fitzroy Simpson, er stammt aus einer angesehenen, gebildeten Familie, hat sein Vermögen auf dem Rennplatz durchgebracht und erwirbt jetzt den standesgemäßen Lebensunterhalt durch eine anständige kleine Buchmacherei bei den Londoner Rennklubs. Eine Durchsicht seines Wettbuchs ergab, daß Wetten bis zum Betrage von 5000 Pfund gegen den Favoriten Silberstrahl durch ihn gebucht worden waren.

Bei seiner Verhaftung bekannte er freiwillig, er sei nach Dartmoor gekommen, um Erkundigungen über die Pferde in Kings Pyland einzuziehen und zugleich etwas Näheres über den zweiten Favoriten, Desborough, zu erfahren, der unter Silas Browns Aufsicht im Stall von Mapleton steht. Auch versuchte er nicht etwa sein Benehmen vom Abend zuvor abzuleugnen, erklärte jedoch, er hätte keinerlei böse Absicht gehabt, sondern nur den Wunsch, sich Nachricht aus erster Hand zu verschaffen. Als man ihm die Krawatte zeigte, erblaßte er sichtlich und war außerstande, anzugeben, auf welche Weise sie in die Hand des Ermordeten gelangt sein könne. Sein nasser Anzug trug deutliche Spuren, daß er in der Regennacht draußen gewesen war, und sein Stock, ein mit Blei beschwerter sogenannter Totschläger, war genau die Waffe, mit der die Verletzung hervorgebracht sein konnte, welcher der unglückliche Stallmeister erlegen war.

Dagegen hatte Simpson selbst keine Wunde am Körper, während doch, nach der Beschaffenheit von Strakers Messer zu urteilen, mindestens einer seiner Angreifer durch ihn gezeichnet worden war. – So, Watson, das ist, kurz zusammengefaßt, der ganze Sachverhalt, und wenn du mir nun vielleicht irgendeinen Hinweis geben kannst, tust du mir den größten Gefallen.«

Ich hatte den klaren Auseinandersetzungen meines Gefährten mit gespanntem Interesse zugehört; denn obgleich mir die Tatsachen größtenteils schon bekannt waren, ging mir doch erst jetzt ein Licht auf über ihren Zusammenhang und ihre eigentliche Bedeutung.

»Wäre es nicht möglich«, warf ich ein, »daß sich Straker bei den krampfhaften Zuckungen, welche mit jeder Verletzung des Gehirns verbunden zu sein pflegen, die Schnittwunde mit seinem eigenen Messer beigebracht hat?«

»Nicht nur möglich, sondern höchst wahrscheinlich«, versetzte Holmes. »In diesem Fall wird einer der Hauptpunkte hinfällig, welcher zugunsten des Angeklagten spricht.«

»Und doch«, erwiderte ich, »bin ich noch ganz im Dunkeln darüber, wie sich die Polizei die Sache vorstellt.«

»Ich fürchte, es werden sich gegen jede Theorie, die wir vorbringen könnten, gewichtige Einwendungen erheben«, sagte mein Gefährte. »Die Polizei ist, glaube ich, der Ansicht, daß Simpson, nachdem er dem Stallknecht das Schlafmittel verabreicht hatte, sich mittels eines Nachschlüssels, den er sich irgendwie zu verschaffen gewußt, in den Stall geschlichen hat, um das Pferd zu rauben. Er muß ihm auch den Zaum angelegt haben, da dieser sich nicht vorfindet. Während er nun, die Stalltür offen lassend, das Tier über das Moor davonführte, kam ihm Straker entgegen oder holte ihn ein. Natürlich entspann sich ein Kampf, bei dem Simpson seinen Gegner mit dem schweren Stock erschlug, ohne von ihm mit dem Messer verwundet zu werden, das Straker als Verteidigungswaffe gebrauchte. Hierauf gelang es dem Dieb, entweder das Pferd in ein geheimes Versteck zu bringen, oder es hat sich losgerissen und läuft nun in der Irre auf dem Moor umher. – So denkt sich die Polizei den Fall, und trotz vieler Unwahrscheinlichkeiten, auf die wir bei dieser Erklärung stoßen, ist sie noch die wahrscheinlichste von allen. Sobald ich an Ort und Stelle bin, werde ich der Sache übrigens besser auf den Grund sehen können, einstweilen müssen wir, wohl oder übel, auf dem Standpunkt stehen bleiben, den wir jetzt einnehmen.«

Erst gegen Abend kamen wir in dem Städtchen Tavistock an, das mitten in dem großen Rund von Dartmoor liegt, wie der Buckel an einem Schilde. Zwei Herren erwarteten uns am Bahnhof, der eine groß und blond, mit Haar und Bart wie eine Löwenmähne und scharfen, hellblauen Augen, der andere, ein kleiner beweglicher Mann im Überrock und Gamaschen, sehr geschniegelt und gebügelt, mit kurz geschnittenem Backenbart und eingekniffenem Augenglas. Dies war Oberst Roß, der wohlbekannte Sportsmann, jener aber Polizeiinspektor Gregory, der sich im Dienst der englischen Geheimpolizei rasch einen Namen gemacht hatte.

»Ich bin sehr froh, daß Sie gekommen sind, Herr Holmes«, sagte der Oberst. »Zwar hat der Inspektor alles nur Erdenkliche getan, aber ich möchte nichts unversucht lassen, um den Tod des armen Straker zu sühnen und wieder in den Besitz meines Pferdes zu gelangen.«

»Haben Sie irgend eine neue Spur entdeckt?« fragte Holmes.

»Leider sind wir nur wenig vorwärts gekommen«, entgegnete der Inspektor. »Draußen wartet ein Wagen auf uns«, fuhr er fort, »Sie werden gewiß den Schauplatz sehen wollen, ehe es dunkel wird, und wir können das Nähere während der Fahrt besprechen.«

Gleich darauf fuhren wir durch die Straßen des altertümlichen Städtchens. Inspektor Gregory hatte nichts als den Fall im Kopf und goß die ganze Flut seiner Betrachtungen über uns aus, während Holmes nur dann und wann eine Frage oder einen Ausruf dazwischen warf. Oberst Roß lehnte sich in den Sitz zurück, schlug die Arme unter, drückte seinen Hut tief ins Gesicht und lauschte eifrig dem Gespräch der beiden Männer. Gregorys Auffassung von der Sache stimmte fast genau mit dem überein, was mir Holmes im Zuge zum voraus berichtet hatte.

»Das Netz hat sich schon ziemlich dicht um Fitzroy Simpson zusammengezogen«, schloß der Inspektor, »und ich für meine Person zweifle nicht, daß er der Täter ist. Bei alledem muß ich jedoch zugeben, daß diese Annahme nur auf Indizienbeweisen beruht, die durch eine neue Enthüllung unhaltbar gemacht werden können.«

»Und wie steht’s mit Strakers Messer?«

»Wir sind zu dem sichern Schluß gelangt, daß er sich selbst verwundet hat, als er zu Boden fiel.«

»Mein Freund Watson hat sich bei unserer Herfahrt auch in diesem Sinne geäußert. Dadurch würde der Verdacht gegen Simpson bedeutend erhöht.«

»Natürlich, denn bei ihm hat man weder ein Messer noch Spuren einer Verletzung gefunden. Doch liegen auch andere sehr starke Beweise gegen ihn vor. Sein großes Interesse am Verschwinden des Renners, sein Versuch, den Stallknecht zu vergiften, der Umstand, daß er in der Regennacht draußen war, der schwere Stock, der ihm als Waffe diente, und die Krawatte in des Toten Hand liefern genug Verdachtsgründe, um ihn vor die Geschworenen zu bringen.«

Holmes schüttelte den Kopf. »Ein geschickter Anwalt würde dies ganze Gewebe in Fetzen reißen«, sagte er. »Warum brauchte er das Pferd aus dem Stalle zu führen? Hätte er ihm nicht ebensogut dort einen Schaden zufügen können? Hat man einen Nachschlüssel bei ihm gefunden? Welcher Apotheker hat ihm das Opiumpulver verkauft? Und vor allem – wo hätte ein Mensch, der in der Gegend fremd ist, ein solches Pferd verbergen können? – Wie lautet denn seine eigene Aussage über das Papier, welches das Mädchen dem Stallknecht geben sollte?«

»Er sagt, es sei eine Zehnpfundnote gewesen. Eine solche fand sich auch in seinem Geldbeutel, übrigens lassen sich Ihre andern Einwürfe samt und sonders entkräften. Die Umgegend ist ihm bekannt, da er im Sommer zweimal in Tavistock übernachtete. Das Opium kann er von London mitgebracht haben. Den Nachschlüssel hat er natürlich weggeworfen, sobald er ihn nicht mehr brauchte. Das Pferd liegt vielleicht irgendwo im Moor auf dem Grunde eines alten Schachts.«

»Was sagt er über die Krawatte?«

»Er gibt zu, daß sie ihm gehört, und behauptet, er habe sie verloren. Inzwischen ist ein neuer Verdacht aufgetaucht, der uns vielleicht eine Aufklärung bringt, weshalb Simpson das Pferd aus dem Stall geführt hat.«

Holmes horchte hoch auf.

»Wir haben Spuren gefunden, welche beweisen, daß eine Zigeunerbande am Montag abend eine Meile von der Mordstelle entfernt ihr Lager hatte. Am Dienstag früh war die Bande verschwunden. Kann nicht Simpson im Einvernehmen mit diesen Leuten gestanden haben und im Begriff gewesen sein, ihnen das Pferd zuzuführen, als er sich verfolgt sah? Vielleicht ist es noch in ihrem Besitz?«

»Unmöglich wäre das nicht.«

»Man durchstreift das Moor nach den Zigeunern. Auch habe ich jeden Stall und jedes Hintergebäude in Tavistock und zehn Meilen in der Runde untersuchen lassen.«

»Ich höre, daß noch ein Besitzer von Rennpferden seine Stallungen hier ganz in der Nähe hat.«

»Jawohl, und diesen Umstand dürfen wir nicht aus den Augen lassen. Da der Renner Desborough das zweite Pferd war, auf das gewettet wurde, hatten die Leute dort ein großes Interesse an dem Verschwinden des Favoriten. Silas Brown, der Stallmeister, soll hohe Wetten eingegangen sein, und er war dem armen Straker nicht wohlgesinnt. Übrigens haben wir die Ställe durchsucht und nichts gefunden, was mit der Angelegenheit zusammenhängt.«

»Auch kein Anzeichen, daß Simpson mit dem Stallmeister von Mapleton in irgendwelcher Verbindung steht?«

»Nicht das geringste.«

Holmes lehnte sich in den Wagen zurück, und die Unterhaltung stockte. Wenige Minuten später hielten sie vor einem hübschen kleinen Landhaus aus roten Ziegelsteinen mit vorspringendem Giebel, das dicht am Wege stand. In einiger Entfernung davon, jenseits einer Umfriedung, lag ein langes, mit grauem Schiefer gedecktes Gebäude. Nach allen anderen Richtungen dehnte sich, soweit das Auge reichte, der wellenförmige Boden des Moors aus, dem das welke Farnkraut eine Bronzefärbung verlieh. Nur die Kirchtürme von Tavistock und nach Westen zu eine Anzahl Häuser, die um die Stallungen von Mapleton herlagen, unterbrachen den einförmigen Horizont. Wir sprangen alle aus dem Wagen, Holmes allein lehnte noch in seiner Ecke; er starrte unverwandt ins Weite und schien ganz in Gedanken versunken. Als ich seinen Arm berührte, fuhr er heftig zusammen, raffte sich empor und stieg gleichfalls aus.

»Entschuldigen Sie«, sagte er zu Oberst Roß, der ihn verwundert ansah, »ich habe bei hellem Tage geträumt.« Aber ein gewisses Leuchten seiner Augen und die geheime Erregung in seinem ganzen Wesen überzeugten mich, der ich seine Art kannte, daß er dem Geheimnis auf der Spur sei, wiewohl ich keine Ahnung hatte, wo er den Schlüssel gefunden haben könne.

»Vielleicht möchten Sie gleich weiter fahren, Herr Holmes, um den Schauplatz des Verbrechens zu besichtigen?« fragte Gregory.

»Es wäre mir lieber, eine Weile hier zu bleiben, um erst noch über einige Einzelheiten ins klare zu kommen. Vermutlich ist Straker hierhergeschafft worden?«

»Ja, er liegt im oberen Stock. Morgen soll die Totenschau stattfinden.«

»Nicht wahr, er stand schon seit mehreren Jahren in Ihrem Dienst, Herr Oberst?«

»Ja, und ich war stets außerordentlich zufrieden mit ihm.«

»Sie haben gewiß ein Verzeichnis von den Gegenständen gemacht, die er zur Zeit seines Todes bei sich trug?«

»Die Sachen sind alle im Wohnzimmer verwahrt, Sie können sie dort in Augenschein nehmen.«

»Das wäre mir lieb.«

Wir traten nun in das vordere Zimmer und nahmen um den Tisch in der Mitte Platz, während der Inspektor einen viereckigen Blechkasten aufschloß und eine Anzahl Gegenstände herausnahm: eine Schachtel mit Wachskerzchen, zwei Stückchen Talglicht, einen halb gefüllten ledernen Tabaksbeutel, eine kurze Pfeife, eine silberne Uhr mit goldener Kette, einen Bleistifthalter von Aluminium, fünf goldene Sovereigns, verschiedene Papiere und ein Messer mit Elfenbeingriff, welches ›Weiß & Co. London‹ gezeichnet war und eine sehr biegsame, feine Klinge hatte. Holmes nahm es in die Hand und betrachtete es.

»Ein sonderbares Messer«, sagte er. »Nach den Blutflecken zu urteilen, ist es wohl dasselbe, welches man in des Toten Hand gefunden hat. Ich denke, auf diese Art Messer müßtest du dich eigentlich am besten von uns verstehen, Watson.«

»Es ist ein Messer, wie man es zu Staroperationen braucht«, antwortete ich.

»Ich dachte mir’s wohl, daß man eine so feine Klinge nur zu sehr heikler Arbeit benutzt. Wie sonderbar, daß er ein solches Messer bei dem nächtlichen Ausgang mitgenommen hat; es läßt sich nicht einmal zuklappen und in die Tasche stecken.«

»Die Spitze war durch eine Korkscheibe geschützt, die wir neben der Leiche fanden«, berichtete der Inspektor. »Frau Straker sagt, das Messer hätte schon seit ein paar Tagen auf dem Tisch im Schlafzimmer gelegen, und beim Hinausgehen habe ihr Mann es mitgenommen. Es war nur eine schwache Verteidigungswaffe, aber vielleicht die einzige, die er im Augenblick zur Hand hatte.«

»Wohl möglich. Und was für Papiere sind das?«

»Drei Quittungen von Händlern für geliefertes Heu; ein Brief von Oberst Roß mit Verhaltungsmaßregeln, ferner die Rechnung einer Schneiderin im Betrag von siebenunddreißig Pfund fünfzehn Schilling, von Madame Lesurier in Bondstreet für William Darbyshire ausgestellt. Frau Straker teilte mir mit, dieser Darbyshire sei ein Freund ihres Mannes gewesen, und zuweilen seien Briefe an ihn hierher adressiert worden.«

»Frau Darbyshire scheint etwas verschwenderischer Natur zu sein«, bemerkte Holmes, die einzelnen Beträge der Rechnung überfliegend. »Zweiundzwanzig Pfund ist eine hohe Summe für ein Straßenkostüm. – Nun habe ich hier wohl alles gesehen, und wir können uns an den Tatort selbst begeben.«

Als wir das Wohnzimmer verließen, trat eine Frau, die im Hausflur gewartet hatte, auf uns zu. Man sah es ihrem hagern, eingefallenen Gesicht und ihrer aufgeregten Miene an, daß sie erst kürzlich Entsetzliches erlebt hatte.

»Hat man sie gefunden und festgenommen?« stieß sie hastig hervor und legte ihre Hand auf den Arm des Inspektors.

»Nein, Frau Straker; aber Herr Holmes hier ist aus London gekommen, um uns zu helfen; wir werden alles Menschenmögliche tun.«

»Habe ich Sie nicht kürzlich bei einem Gartenfest in Plymouth gesehen, Frau Straker?« fragte Holmes.

»Nein, das muß ein Irrtum sein.«

»Wirklich? Ich hätte darauf schwören mögen; Sie trugen ein taubengraues Seidenkleid mit Straußenfedern besetzt.«

»Ein solches Kleid habe ich noch nie besessen«, erwiderte die Dame.

»So? – Dann habe ich mich freilich getäuscht. Entschuldigen Sie, bitte«, sagte Holmes und folgte dem Inspektor ins Freie.

Ein kurzer Weg über das Moor brachte uns nach der Talsenkung, wo der Getötete gefunden worden war. Am Rande der Senkung stand der Ginsterbusch, auf dem der Mantel gehangen hatte.

»Es ging in jener Nacht kein Wind, soviel ich weiß«, sagte Holmes.

»Nein, es regnete nur sehr stark.«

»Also ist der Mantel nicht in das Gebüsch geweht worden, sondern man hat ihn dort aufgehängt.«

»Ja, er war quer über den Busch gelegt.«

»Das ist mir von großem Interesse. Der Boden ist ringsherum ganz zertreten. Wahrscheinlich sind seit Montag nacht schon viele Leute hier gewesen.«

»Wir haben auf diese Seite eine Matte gelegt und standen darauf.«

»Ausgezeichnet!«

»In dem Sack hier habe ich einen von den Stiefeln, welche Straker angehabt hat, nebst einem Schuh von Simpson und ein Hufeisen von Silberstrahl.«

»Lieber Inspektor, Sie sind ganz unvergleichlich.«

Holmes nahm den Sack, stieg in die Talsenkung hinab und schob die Matte mehr nach der Mitte zu. Dann streckte er sich der Länge nach auf den Boden, stützte sein Kinn auf die Hände und begann den zertretenen Boden sorgfältig zu betrachten.

»Halt, was ist das?« rief er plötzlich.

Es war ein halb abgebranntes Wachskerzchen, aber so mit Schmutz überzogen, daß es kaum als solches zu erkennen war.

»Ich begreife nicht, wie ich das habe übersehen können«, sagte der Inspektor ärgerlich.

»Es war auch unsichtbar, ganz im Schlamm vergraben. Ich entdeckte es nur, weil ich danach suchte.«

»Was – Sie erwarteten, es zu finden?«

»Ich hielt es nicht für unwahrscheinlich.«

Holmes nahm jetzt den Schuh und den Stiefel aus dem Sack und verglich den Abdruck, welchen sie hinterließen, mit den Fußspuren auf dem Boden. Dann kletterte er an der Böschung hinauf und kroch unter den Farnkräutern und dem Gebüsch umher.

»Schwerlich werden noch andere Spuren vorhanden sein«, sagte der Inspektor. »Ich habe den Boden auf hundert Meter nach allen Richtungen hin sorgfältig untersucht.«

Holmes stand auf. »Wenn das der Fall ist«, meinte er, »so wäre es meinerseits mehr als überflüssig, wollte ich es noch einmal tun. Aber einen kleinen Gang über das Moor möchte ich doch machen, ehe es dunkel wird, damit ich morgen schon etwas Bescheid weiß. Auch möchte ich gern das Hufeisen in die Tasche stecken, das bringt Glück.«

Oberst Roß, der zuletzt nicht ohne deutliche Zeichen von Ungeduld der ruhigen und systematischen Arbeit meines Gefährten zugesehen hatte, zog jetzt die Uhr heraus.

»Es wäre mir lieb, wenn Sie mit mir zurückkämen, Herr Inspektor«, sagte er. »Ich möchte noch über verschiedene Punkte Ihren Rat hören; besonders frage ich mich, ob wir nicht dem Publikum gegenüber verpflichtet sind, den Namen des Pferdes aus der Wettbewerbsliste zu streichen.«

»Keinesfalls!« rief Holmes mit Entschiedenheit, »lassen Sie den Namen nur stehen!«

Der Oberst verbeugte sich. »Es freut mich sehr, daß Sie der Ansicht sind«, sagte er. »Sie werden uns im Haus des armen Straker finden, wenn Sie von Ihrem Gang zurückkommen, und wir fahren dann wieder zusammen nach Tavistock.«

Er kehrte in Begleitung des Inspektors um, während wir, Holmes und ich, langsam über das Moor schritten. Die Sonne begann eben hinter den Stallgebäuden von Mapleton zu sinken; über der weiten, abschüssigen Ebene vor uns lag ein goldener Schimmer ausgebreitet, der sich dort in ein sattes, prächtiges Rotbraun verwandelte, wo der Abendschein auf das dürre Farnkraut und das Dorngesträuch fiel. Aber die ganze landschaftliche Schönheit ging spurlos an meinem Gefährten vorüber, der tief in Gedanken versunken war.

»Es wird am besten sein, Watson«, sagte er endlich, »wir lassen die Frage, wer John Straker umgebracht hat, fürs erste ganz aus dem Spiel und beschränken uns darauf, zu ergründen, was aus dem Rennpferd geworden ist. Angenommen, es hätte sich vor oder nach dem Totschlag losgerissen, wohin könnte es gelaufen sein? – Das Pferd ist ein sehr geselliges Tier. Seinen eigenen Trieben überlassen, würde es entweder nach Kings Pyland zurückgekehrt oder nach Mapleton hinübergetrabt sein. Warum sollte es auf dem Moor in der Irre umherlaufen? Jedenfalls hätte man es dann schon aufgefunden. Auch daß die Zigeuner es gestohlen haben, ist unwahrscheinlich. Diese Leute machen sich immer aus dem Staube, wenn sie von einem Unfall hören, weil sie fürchten, durch die Polizei behelligt zu werden. Verkaufen könnten sie ein solches Pferd doch nicht; wenn sie es aber mit sich führten, würden sie sich nur einer großen Gefahr aussetzen und keinerlei Gewinn davon haben. Das liegt doch auf der Hand.«

»Wo soll es denn aber sein?«

»Wie ich dir schon gesagt habe – es muß nach Kings Pyland oder nach Mapleton gelaufen sein. In Kings Pyland ist es nicht, also ist es in Mapleton. Laß uns diese Annahme fürs erste festhalten und sehen, wohin uns das führt. Dieser Teil des Moors ist sehr hart und trocken, wie der Inspektor schon bemerkt hat. Aber nach Mapleton zu senkt sich der Boden, und der lange Hohlweg, den wir dort drüben sehen, muß Montag nacht ziemlich naß gewesen sein. Habe ich recht in meiner Vermutung, so ist das Pferd hinübergelaufen, und das ist auch die Stelle, wo wir nach seiner Spur suchen müssen.«

Wir waren während dieses Gesprächs rasch weitergegangen und hatten in wenigen Minuten den Hohlweg erreicht. Holmes bat mich, rechts am Abhang hinunter zu steigen, indessen er sich nach links wandte; noch war ich aber keine fünfzig Schritte weit, als ich seinen Zuruf vernahm und sah, daß er nur mit der Hand winkte. Die Spur des Pferdes war in dem weichen Boden deutlich erkennbar, und das Hufeisen, das er aus der Tasche zog, paßte genau in den Abdruck.

»Nun siehst du, welchen Wert die Einbildungskraft hat«, sagte Holmes. »Es ist das einzige, woran es Gregory fehlt. Wir haben uns vorgestellt, was geschehen sein könnte; wir handelten danach und fanden, daß wir uns nicht geirrt hatten. Komm, laß uns weitergehen.«

Wir schritten über den Marschboden, dann über eine Strecke harten dürren Rasens; hierauf senkte sich der Boden wieder, und wir fanden die Hufspuren. Zwar verloren wir sie abermals während einer halben Meile, entdeckten sie jedoch ganz dicht bei Mapleton von neuem. Holmes sah sie zuerst und zeigte mit triumphierendem Blick darauf hin. Die Fußspuren eines Mannes erschienen neben denen des Pferdes.

»Bisher war das Pferd allein«, rief ich.

»Jawohl, es war allein. Aber halt, was ist das?«

Die Doppelspur brach kurz ab und ging in der Richtung nach Kings Pyland weiter. Holmes pfiff vor sich hin, und wir verfolgten sie. Während er aber kein Auge davon verwandte, blickte ich ein wenig zur Seite und sah zu meiner Überraschung, daß dieselben Spuren in entgegengesetzter Richtung zurückkamen.

»Bravo Watson«, sagte Holmes, als ich ihn darauf aufmerksam machte, »du hast uns einen weiten Weg erspart, der uns wieder auf den alten Fleck zurückgebracht hätte. Folgen wir jetzt der Spur nach rückwärts.«

Wir brauchten nicht weit zu gehen. Sie endete bei dem Asphaltpflaster, das bis ans Tor der Stallungen von Mapleton führte. Als wir uns näherten, kam ein Stallknecht eilig heraus.

»Hier darf sich niemand herumtreiben«, rief er uns zu.

Holmes steckte Daumen und Zeigefinger in seine Westentasche. »Ich möchte mir nur eine Frage erlauben«, sagte er. »Könnte ich wohl Herrn Silas Brown schon morgen früh um fünf Uhr sprechen?«

»Warum nicht? Er steht immer zeitig auf und ist zuerst um den Weg. Aber fragen Sie den Herrn selbst, da kommt er eben. – Nein, nein, jetzt kann ich nichts nehmen; sobald er sieht, daß Sie mir Geld geben wollen, verliere ich meine Stelle. – Nachher, wenn’s Ihnen beliebt.« –

Gerade als Sherlock Holmes die halbe Krone, die er aus der Tasche geholt hatte, wieder einsteckte, kam ein grimmig dreinschauender älterer Mann, die Reitpeitsche schwingend, aus dem Tor.

»Was soll das heißen, Dawson?« schrie er. »Ich dulde kein Geschwätz! Geh an deine Arbeit! Und Sie – was zum Henker wollen Sie hier?«

»Eine Unterredung von zehn Minuten mit Ihnen, mein werter Herr«, sagte Holmes in verbindlichstem Ton.

»Ich habe keine Zeit, mich mit jedem Pflastertreter einzulassen. Fremde haben hier nichts zu suchen. Machen Sie, daß Sie fortkommen, sonst sollen die Hunde Ihnen Beine machen.«

Holmes beugte sich nieder und flüsterte dem Stallmeister etwas ins Ohr. Dieser schrak heftig zusammen und wurde rot bis an die Schläfen.

»Das ist nicht wahr«, schrie er. »Es ist eine verdammte Lüge.«

»Sehr wohl. Sollen wir hier draußen öffentlich darüber verhandeln oder drinnen in Ihrem Wohnzimmer?«

»Kommen Sie meinetwegen herein, wenn Sie wollen.«

Holmes lächelte. »Ich bin gleich wieder hier, du brauchst nur ein paar Minuten auf mich zu warten, Watson«, sagte er. »Nun stehe ich ganz zu Ihrer Verfügung, Herr Brown.«

Es vergingen wohl zwanzig Minuten; das Abendrot hatte bereits einer grauen Dämmerung Platz gemacht, als Holmes und der Stallmeister wieder erschienen. In der kurzen Zeit war mit Silas Brown eine Veränderung vorgegangen, wie ich das nie zuvor gesehen hatte. Sein Gesicht war aschbleich, Schweißtropfen standen ihm auf der Stirn, und er zitterte so heftig, daß die Reitpeitsche in seiner Hand hin und her schwankte, wie ein Zweig, den der Wind bewegt. Das herrische, unverschämte Wesen, das er zur Schau getragen, war völlig verschwunden; er begleitete meinen Gefährten mit kriechender Höflichkeit, wie ein Hund, der neben seinem Herrn herläuft.

»Ihre Anweisungen sollen befolgt werden; ich will alles pünktlich ausrichten«, sagte er.

»Es darf keinerlei Mißverständnis vorkommen, beherzigen Sie das wohl«, erwiderte Holmes, und der andere erschrak, als er seinem drohenden Blick begegnete.

»O nein, jeder Irrtum ist ausgeschlossen. Es wird zur Stelle sein. Soll ich erst die Veränderung vornehmen oder nicht?«

Holmes überlegte ein wenig und lachte dann hell auf. »Nein, tun Sie’s nicht«, sagte er. »Ich schreibe Ihnen noch darüber. Aber spielen Sie mir keinen Streich, sonst –«

»Oh, Sie können mir trauen; verlassen Sie sich fest auf mich.«

»Sie müssen an dem Tage dafür sorgen, als ob es Ihr eigenes wäre.«

»Das versteht sich.«

»Ich glaube, Sie werden Wort halten. Morgen sollen Sie noch von mir hören.« Er wandte sich ab, ohne zu beachten, daß der andere ihm zitternd die Hand bot, und wir machten uns wieder nach Kings Pyland auf den Weg.

»Ein solches Gemisch von Unverschämtheit, Feigheit und Hinterlist wie bei diesem Herrn Silas Brown ist mir noch selten begegnet«, äußerte Holmes, während wir zurückwanderten.

»Also, er hat das Pferd?«

»Er versuchte, es zu leugnen; aber ich habe ihm alles, was er an jenem Morgen getan hat, ganz genau beschrieben, und er ist überzeugt, daß ich ihn dabei beobachtet haben muß. Natürlich sind dir bei dem Abdruck der Stiefel die ungewöhnlich breiten Spitzen aufgefallen, und daß seine eigenen Stiefel genau dieselbe Form hatten. Wie sollte sich auch ein Untergebener so etwas herausnehmen! Er war, seiner Gewohnheit gemäß, der erste auf dem Platz gewesen, hatte ein fremdes Pferd bemerkt, welches über das Moor dahergetrabt kam, ging ihm entgegen und erkannte es mit Staunen an dem weißen Streifen vorn am Kopf, dem es seinen Namen verdankt. Der Zufall hatte ihm das einzige Pferd zugeführt, welches den Renner besiegen konnte, auf den er sein Geld gesetzt hatte. Das alles sagte ich ihm und schilderte ihm dann, wie sein erster Antrieb gewesen wäre, das Tier nach Kings Pyland zurückzuführen. Da habe ihm aber der Teufel den Gedanken eingegeben, auf welche Art er Silberstrahl verbergen könne, bis das Wettrennen vorüber wäre; worauf er wieder mit ihm umgekehrt sei, um ihn in Mapleton zu verstecken. Als ich ihm das alles haarklein auseinandersetzte, gab er das Leugnen auf und war nur noch bedacht, seine Haut zu retten.«

»Aber seine Ställe sind doch durchsucht worden.«

»Bah, ein alter Pferdehändler wie Brown versteht sich auf allerlei Kniffe.«

»Aber fürchtest du denn nicht, das Pferd in seiner Gewalt zu lassen, da er ein Interesse daran hat, ihm Schaden zuzufügen?«

»Er wird es hüten, wie seinen Augapfel, liebster Freund. Nur wenn er es gesund und heil zum Vorschein bringt, darf er auf Gnade hoffen.«

»Oberst Roß sieht mir nicht gerade aus wie jemand, der sehr geneigt wäre, Gnade für Recht gelten zu lassen.«

»Über die Sache hat auch der Oberst nicht zu entscheiden. Ich verfahre stets nach eigener Methode und teile den andern so viel oder so wenig mit, wie mir beliebt. Das ist der Vorteil, wenn man kein angestellter Beamter ist. Ich weiß nicht, ob du bemerkt hast, Watson, daß der Oberst mich etwas von oben herab behandelt, dafür will ich mir jetzt einen kleinen Spaß auf seine Kosten machen. Erwähne gegen ihn nichts von dem Pferd.«

»Gewiß nicht ohne deine Erlaubnis.«

»Das alles hat ja natürlich nur sehr geringe Bedeutung im Vergleich zu der Frage, wer John Straker getötet hat.«

»Das wirst du jetzt natürlich zu erforschen suchen!«

»Bewahre; wir kehren beide mit dem Nachtzug nach London zurück.«

Ich war bei diesen Worten meines Freundes wie vom Donner gerührt. Daß er eine Untersuchung, die er mit so glänzendem Erfolg begonnen hatte, wieder aufgeben wollte, nachdem wir uns kaum ein paar Stunden in Devonshire aufgehalten, schien mir ganz unbegreiflich. Doch konnte ich nichts mehr aus ihm herausbringen, bis wir wieder in Strakers Wohnung angekommen waren. Der Oberst und der Inspektor erwarteten uns im Besuchszimmer.

»Wir fahren mit dem Nachtschnellzug zur Stadt zurück, mein Freund und ich«, erklärte Holmes. »Ihre köstliche Luft hier hat uns bei dem kleinen Ausflug sehr wohl getan.«

Der Inspektor machte große Augen, und um den Mund des Obersten zuckte es spöttisch.

»Sie geben also die Hoffnung auf, den Mörder des armen Straker festzunehmen?« sagte er.

Holmes zuckte die Achseln. »Die Sache hat ihre großen Schwierigkeiten. Dagegen ist begründete Aussicht vorhanden, daß Ihr Pferd am nächsten Dienstag am Rennen teilnehmen wird. Halten Sie jedenfalls den Jockey in Bereitschaft. Jetzt möchte ich Sie nur noch um eine Photographie von John Straker bitten.«

Der Inspektor nahm das gewünschte Bild aus einem Umschlag, den er in der Tasche trug, und händigte es ihm ein.

»Mein lieber Gregory, Sie kommen immer meinem Verlangen zuvor. Seien Sie so freundlich, nur einen Augenblick zu warten, ich habe noch eine Frage an das Mädchen zu richten.«

»Ich muß gestehen, daß mich unser Londoner Berater gründlich enttäuscht hat«, sagte Oberst Roß ganz unumwunden, sobald mein Freund das Zimmer verlassen hatte. »Soviel ich sehe, sind wir um keinen Schritt weiter, als vor seiner Ankunft.«

»Wenigstens hat er Ihnen aber doch ziemlich bestimmt die Versicherung gegeben, daß Ihr Pferd das Rennen mitmachen wird.«

»Jawohl«, meinte der Oberst achselzuckend, »aber das kann jeder sagen.«

Ich wollte eben etwas erwidern und meinen Freund in Schutz nehmen, als er selbst eintrat.

»Nun, meine Herren«, sagte er, »bin ich zur Abfahrt bereit.«

Als wir das Haus verließen, öffnete uns einer der Stalljungen die Türe. Holmes fuhr ein plötzlicher Einfall durch den Kopf, er wandte sich um und berührte den Arm des Jungen.

»Ihr haltet doch ein paar Schafe im Pferch«, sagte er. »Wer besorgt denn ihre Pflege?«

»Ich, Herr.«

»Ist ihnen in letzter Zeit nichts Besonderes zugestoßen?«

»Nichts von Bedeutung; drei Schafe waren allerdings etwas lahm.«

Die Antwort schien Holmes große Freude zu machen, denn er lachte und rieb sich die Hände.

»Ein richtiger Treffer, Watson, ein Schuß ins Schwarze«, sagte er und kniff mich in den Arm. »Gregory, ich empfehle diese seltsame Krankheit unter den Schafen Ihrer Aufmerksamkeit. – Aber nun wollen wir abfahren.«

Im Gesicht des Obersten stand deutlich zu lesen, welch geringe Meinung er von der Kunst meines Gefährten hegte, aber des Inspektors Miene nahm einen sehr gespannten Ausdruck an.

»Halten Sie das für so wichtig?« fragte er.

»Für außerordentlich wichtig.«

»Könnten Sie mich nicht noch auf einen oder den andern Punkt aufmerksam machen?«

»Jawohl – auf das sonderbare Benehmen des Hundes während der Nacht.«

»Der Hund hat sich in der Nacht ganz ruhig verhalten.«

»Ja, darin bestand eben die Sonderbarkeit«, versetzte Sherlock Holmes.

Vier Tage später saßen Holmes und ich abermals im Zuge, um nach Winchester zu fahren, wo das Rennen um den Ehrenpreis von Wessex stattfinden sollte. Oberst Roß empfing uns verabredetermaßen am Bahnhof und nahm uns in seinem Wagen nach dem Rennplatz mit, der außerhalb der Stadt lag. Er machte eine sehr ernste Miene, und sein Wesen war schroff und kalt. »Ich habe mein Pferd nicht zu Gesicht bekommen«, sagte er.

»Vermutlich würden Sie es aber doch wiedererkennen, wenn Sie es sähen?« äußerte Holmes.

Der Oberst war sehr ärgerlich. »Seit zwanzig Jahren halte ich Rennpferde«, rief er, »aber eine solche Frage hat noch nie ein Mensch an mich gestellt! Jedes Kind würde doch Silberstrahl an seiner weißen Stirn und dem gesprenkelten rechten Vorderbein erkennen.«

»Wie steht’s mit den Wetten?«

»Sie sind in vollem Gange, und Silberstrahl steht mehr in Gunst als je.«

»Hm«, meinte Holmes, »irgend jemand muß das Publikum beruhigt haben, das ist klar.«

Als der Wagen innerhalb der Umzäunung am großen Halteplatz vorfuhr, warf ich einen Blick auf das Programm, welches die Namenliste enthielt. Es lautete:

Wessex-Preis, 50 Sovereigns, die Hälfte Reugeld
für 4 jähr. und 5 jähr. Pferde. Zusatzpreis 1000 Sovereigns.

Zweiter Preis 300 Pfund. Dritter Preis 200 Pfund. Distanz 2615 Meter.

1. Der Neger. Eigent. Herr Heath Newton (Mütze rot, Jacke zimmetfarben).

2. Gräfin Leah. Eigent. Oberst Wardlow (Mütze rosa, Jacke blau und schwarz).

3. Desborough. Eigent. Lord Backwater (Mütze und Ärmel gelb).

4. Silberstrahl. Eigent. Oberst Roß (Mütze schwarz, Jacke rot).

5. Iris. Eigent. Herzog von Balmoral (Mütze und Jacke schwarz und gelb gestreift).

6. Rasper. Eigent. Lord Singleford (Mütze lila, Ärmel schwarz).

»Wir haben unser zweites Pferd zurückgezogen und unsere ganze Hoffnung auf Ihr Wort gesetzt«, sagte der Oberst.

»Eben wird die Tafel mit den Nummern angehängt«, rief ich. »Alle sechs stehen darauf.«

»Alle sechs! Dann läuft also mein Pferd auch?« sagte der Oberst in großer Erregung. »Aber ich sehe es nicht. Meine Farben sind nicht dabei.«

»Bis jetzt sind nur fünf vorübergekommen. Dies hier muß es sein.«

Als ich diese Worte sprach, trabte gerade ein mächtiger Brauner von der Waage her an uns vorbei; der Jockey auf seinem Rücken trug des Obersten wohlbekannte Farben, die schwarze Mütze und rote Jacke.

»Das ist nicht mein Pferd!« rief der Besitzer des Silberstrahl. »Das Tier hat ja kein weißes Haar am Leibe. Was haben Sie da angerichtet, Herr Holmes?!«

»Lassen Sie uns doch erst sehen, was es zu leisten vermag«, sagte mein Freund mit unerschütterlicher Ruhe. Einige Minuten lang ließ er meinen Feldstecher nicht vom Auge. »Vortrefflich! Ein ausgezeichneter Start!« rief er plötzlich. »Da – jetzt kommen sie eben um die Biegung!«

Von unserem Wagen aus konnten wir die gerade Bahn ihrer ganzen Länge nach prächtig übersehen. Die sechs Pferde waren ganz nahe beisammen, man hätte sie alle mit einem einzigen Teppich bedecken können. Halbwegs kam jedoch der gelbe Jockey aus Mapleton an die Spitze. Aber noch ehe die Renner in unserer Nähe waren, hatte des Obersten Pferd den Desborough überholt; es schoß wie ein Pfeil dahin und erreichte das Ziel reichlich sechs Pferdelängen vor seinem Nebenbuhler. Die ›Iris‹ des Herzogs von Balmoral folgte als drittes in geringer Entfernung.

»Jedenfalls habe ich das Rennen gewonnen«, stieß der Oberst keuchend heraus und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Aber kein Mensch kann klug daraus werden. Mir scheint doch, Herr Holmes, Sie haben Ihr Geheimnis nun lange genug für sich behalten.«

»Jawohl, Herr Oberst. Sie sollen alles wissen. Kommen Sie, wir wollen uns das Pferd zusammen betrachten. – Da ist es«, fuhr er fort, als wir die Umzäunung bei der Waage betraten, in die nur die Besitzer der Rennpferde und ihre Freunde Einlaß erhalten. »Sie brauchen ihm nur das Gesicht und das Vorderbein mit Spiritus zu waschen, dann haben Sie Ihren alten Silberstrahl unverändert wieder.«

»Ist das möglich?!«

»Ich fand ihn in den Händen eines Betrügers und nahm mir die Freiheit, ihn das Rennen so mitmachen zu lassen, wie er hierher geschickt worden war.«

»Mein bester Herr, Sie haben Wunder getan. Das Pferd ist in vortrefflichem Zustand. So gut ist es noch nie gelaufen. Ich muß mich tausendmal bei Ihnen entschuldigen wegen meiner Zweifel an Ihrem Können. Sie haben mir durch die Auffindung des Pferdes einen großen Dienst erwiesen. Noch lieber wäre es mir freilich, wenn Sie auch den Mörder des John Straker entdecken könnten.«

»Ist schon besorgt«, sagte Holmes mit größter Ruhe.

Wir starrten ihn beide mit offenem Munde an, der Oberst und ich. »Sie haben ihn festgenommen! Wo ist er denn?«

»Er ist hier.«

»Hier! Wo?«

»In meiner nächsten Nähe in diesem Augenblick.«

Der Oberst wurde rot vor Zorn. »Ich erkenne vollkommen an, daß ich Ihnen zu Dank verpflichtet bin, Herr Holmes«, sagte er, »aber, was Sie soeben sagen, kann ich nur als einen sehr schlechten Spaß oder eine Beleidigung ansehen.«

Sherlock Holmes lachte. »Ich glaube durchaus nicht, daß Sie auf irgend eine Weise an dem Verbrechen beteiligt sind, Herr Oberst«, sagte er; »der wahre Mörder steht unmittelbar hinter Ihnen.«

Er schritt an ihm vorbei und legte seine Hand auf den glänzenden Hals des Vollblutpferdes.

»Silberstrahl!« riefen der Oberst und ich wie aus einem Munde.

»Ja, das Pferd. Seine Schuld wird dadurch gemildert, daß es aus Notwehr gehandelt hat, und daß John Straker ein Ihres Vertrauens durchaus unwürdiger Mensch war. – Aber da tönt eben die Glocke; ich erwarte einen kleinen Gewinn beim nächsten Rennen und will daher meinen ausführlichen Bericht auf eine spätere Zeit verschieben.«

Als wir am Abend nach London zurückfuhren, hatten wir eine Ecke des Pullmanwagens ganz für uns. Vermutlich wird die Reise dem Obersten ebenso kurz vorgekommen sein wie mir, denn unterwegs erzählte uns mein Freund, was sich in jener Nacht im Stall von Dartmoor zugetragen hatte und auf welche Weise es ihm gelungen war, das Geheimnis zu enträtseln.

»Ich gestehe«, sagte er, »daß alle Schlüsse, die ich aus den Zeitungsberichten gefolgert hatte, ganz auf Irrtum beruhten. Und doch enthielten sie Andeutungen der Wahrheit, die nur durch verschiedene Einzelheiten verdunkelt wurde, welche mich von der Fährte ablenkten. Als ich nach Devonshire fuhr, war ich überzeugt, daß Fitzroy Simpson das Verbrechen begangen hätte, obwohl ich natürlich einsah, daß noch nicht genügende Beweismittel gegen ihn beigebracht waren.

Im Wagen, auf unserer Fahrt nach Strakers Hause, kam mir zum erstenmal der Gedanke, welche wichtige Rolle das Hammelragout bei der Sache gespielt hatte. Sie erinnern sich vielleicht, daß ich in meiner Zerstreutheit noch sitzen blieb, während alle schon ausgestiegen waren. Ich verwunderte mich gerade innerlich darüber, wie ich imstande sein konnte, eine so deutliche Spur zu übersehen.«

»Wozu sie nützen sollte, begreife ich auch jetzt noch nicht«, warf der Oberst ein.

»Es war das erste Glied in der Kette meiner Beweisführung. – Beim Opiumpulver ist Geruch und Geschmack nicht gerade unangenehm, aber doch entschieden bemerkbar. In den meisten Speisen würde man es gleich herausschmecken. Ein Hammelragout aber ist gerade ein Gericht, in dem ein solcher Beigeschmack schwer zu erkennen wäre. Wie sollte nun wohl Fitzroy Simpson, ein ganz fremder Mann, veranlaßt haben, daß an jenem Abend in Strakers Hause Hammelragout gegessen wurde? – Oder läßt sich annehmen, daß er gerade mit dem Pulver in der Tasche einhergegangen kam, als dort zufällig ein Gericht gekocht worden war, in dem man das Opium nicht schmecken konnte? – An ein so unglaubhaftes Zusammentreffen vermochte ich nicht zu glauben und schloß daher bei der Erwägung des Falles Simpson völlig aus, während ich meine ganze Aufmerksamkeit auf Straker und seine Frau richtete; denn diese beiden allein konnten das Hammelragout zum Abendessen bestellt haben. Das Opiumpulver war erst in die Portion des Stallknechts hineingeschüttet worden, nachdem sein Teller aufgeschöpft war, denn die anderen hatten ohne schädliche Folgen von dem Gericht gegessen. Wer hatte wohl Gelegenheit gehabt, das zu tun, ohne daß die Dienstmagd es bemerkte?

Noch bevor ich hierüber ins reine kam, war mir klar geworden, weshalb der Hund nicht angeschlagen hatte; denn eine richtige Schlußfolgerung leitet immer stets auf neue Spuren. Daß ein Hund im Stall gehalten wurde, bewies der Vorfall mit Simpson, und doch hatte er nicht laut genug gebellt, um die beiden Knechte auf dem Heuboden zu wecken, als jemand in den Stall kam und ein Pferd hinausführte. Offenbar mußte der nächtliche Besucher dem Hunde wohlbekannt gewesen sein.

Ich war jetzt so gut wie überzeugt, daß John Straker bei nachtschlafender Zeit in den Stall gegangen war, um den Silberstrahl herauszuholen. Aber zu welchem Zweck? – Gewiß in unredlicher Absicht, sonst hätte er nicht seinen eigenen Stallknecht zu betäuben brauchen. Aber unerklärlich blieb es mir fürs erste doch, bis mir einfiel, daß Pferdezüchter sich den Gewinn großer Summen sichern können, wenn sie einen Agenten beauftragen, gegen ihre eigenen Renner zu wetten, und es dann den Pferden durch irgend eine Hinterlist unmöglich machen, den Sieg zu erringen. Es waren Fälle vorgekommen, daß man den Jockey bestochen hatte, doch gab es auch noch ein anderes und unfehlbares Mittel. Was aber war hier geschehen? – Ich hoffte, der Inhalt von Strakers Taschen würde mir Aufklärung darüber geben und ich täuschte mich nicht.

Sie erinnern sich gewiß noch des seltsamen Messers, das man in des Toten Hand gefunden hat; kein Mensch, der bei Sinnen ist, hätte es als Waffe gewählt. Messer von solcher Form werden, wie uns Doktor Watson mitgeteilt hat, bei sehr schwierigen chirurgischen Operationen verwendet. Und zu einer derartigen Operation sollte es auch in jener Nacht dienen. Bei Ihrer großen Erfahrung in allem, was mit der Rennbahn zusammenhängt, werden Sie, Herr Oberst, ohne Zweifel wissen, daß man am Schenkel des Pferdes, unter der Haut, einen kleinen Einschnitt in die Sehnen machen kann, so daß äußerlich keine Spur zurückbleibt. Infolgedessen fängt das Pferd an, ein wenig lahm zu gehen, was gewöhnlich auf Überanstrengung geschoben wird oder auf einen leichten Anfall von Rheumatismus; ein Bubenstück vermutet niemand dahinter.«

»So ein Schuft!« schrie der Oberst.

Holmes fuhr fort: »Das liefert uns zugleich die Erklärung, weshalb John Straker das Pferd auf das Moor hinausgeführt hat. Ein so feuriges Tier würde sicherlich jeden aus dem festesten Schlaf geweckt haben, sobald es den Messerstich fühlte. Die Sache konnte nur im Freien vorgenommen werden.«

»Ich war wie mit Blindheit geschlagen«, rief der Oberst; »natürlich brauchte er ein Licht dazu und strich das Wachskerzchen an!«

»Ohne Frage. Bei der Untersuchung seiner Besitztümer war es mir übrigens gelungen, nicht nur die Art zu entdecken, wie er das Verbrechen begehen wollte, sondern auch seine Beweggründe. Auch Sie, Herr Oberst, werden wissen, daß man nicht die Rechnungen anderer Leute in der Tasche herumzutragen pflegt. Jeder hat gewöhnlich genug damit zu tun, seine eigenen zu bezahlen. Ich vermutete sofort, daß Straker ein Doppelleben führen und eine zweite Wohngelegenheit haben müsse. Aus der Rechnung selbst ersah ich, daß eine Dame dabei im Spiel war, die sehr teuere Bedürfnisse hat. Wie hoch auch das Gehalt Ihrer Angestellten sein mag, so glaube ich doch nicht, daß sie ihren Frauen Straßenkostüme für zweiundzwanzig Pfund kaufen können. Ich fragte Frau Straker nach dem Kleide, ohne daß sie meine Absicht merkte; und als ich mich überzeugt hatte, daß es nie in ihre Hände gelangt sei, schrieb ich mir die Adresse der Schneiderin auf. Daß ich mich nur mit Strakers Photographie bei ihr einzufinden brauchte, um den rätselhaften Herrn Darbyshire aus der Welt zu schaffen, dachte ich mir wohl.

Von da ab war alles sonnenklar. Straker hatte das Pferd in den Hohlweg geführt, wo man das Licht nicht sehen konnte. Unterwegs fand er Simpsons Krawatte, die dieser auf der Flucht verloren hatte, und hob sie auf, vermutlich in der Absicht, dem Pferd damit das Bein festzubinden. Im Hohlweg angelangt, trat er hinter das Pferd und machte Licht, aber der plötzliche grelle Schein erschreckte das Tier, welches wohl instinktmäßig fühlen mochte, daß irgend ein Unheil im Werke sei; es schlug aus und traf Straker mit dem Huf gerade auf die Stirn. Trotz des Regens hatte er schon den Mantel abgelegt, um sein schwieriges Vorhaben auszuführen; so kam es, daß er sich im Fallen mit dem Messer die Wunde am Schenkel beibrachte. – Ist Ihnen die Sache jetzt verständlich?«

»Vollkommen«, rief der Oberst, »Sie sind ein wunderbarer Mensch; es ist gerade, als wären Sie dabei gewesen.«

»Meinen letzten Pfeil habe ich so ziemlich ins Blaue geschossen. Es fuhr mir durch den Kopf, daß ein so schlauer Mensch wie Straker den mißlichen Sehnenschnitt gewiß nicht vornehmen würde, ohne sich erst etwas darin zu üben. Woran konnte er seine Versuche machen? Mein Blick fiel auf die Schafe, und aus der Antwort, die mir auf meine dahinzielende Frage wurde, ersah ich zu meiner Verwunderung, daß ich ganz richtig geraten hatte.«

»Ihr Scharfsinn ist wirklich staunenswert, Herr Holmes.«

»Bei meiner Rückkehr nach London suchte ich die Schneiderin auf. Sie erkannte Straker sofort nach dem Bilde als einen ausgezeichneten Kunden, namens Darbyshire, dessen schöne Frau, eine sehr auffallende Erscheinung, große Vorliebe für kostspielige Kleider habe. Ohne Zweifel hat ihn dies Weib über Hals und Kopf in Schulden gestürzt und ihn so auf den schändlichen Plan gebracht.«

»Nur eins haben Sie noch im Dunkeln gelassen«, sagte der Oberst. »Wo war denn das Pferd?«

»Es war durchgegangen, und einer Ihrer Nachbarn hat es in Pflege genommen. Nach dieser Richtung hin werden wir wohl Gnade für Recht ergehen lassen müssen. – Eben hält der Zug; ich glaube, wir sind jetzt in Clapham, und in zehn Minuten kommen wir nach der Viktoria-Station. Wenn Sie uns begleiten wollen, Herr Oberst, um bei mir zu Hause eine Zigarre zu rauchen, werde ich Ihnen mit Vergnügen noch alle übrigen Einzelheiten mitteilen, die Sie etwa zu wissen wünschen.«

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Holmes‘ erstes Abenteuer.

Holmes‘ erstes Abenteuer.

»Hier, Watson, habe ich Papiere,« sagte mein Freund Sherlock Holmes, als wir uns an einem Winterabend vorm Kaminfeuer gegenübersaßen, »deren Durchsicht sich sicher für dich lohnen wird. Es sind Akten aus dem ungewöhnlichen Falle der ›Gloria Scott‹, und hier ist das Schriftstück, das dem Friedensrichter ein tödliches Entsetzen einjagte.«

Damit zog er aus einer Schublade eine kleine vergilbte Rolle, machte die umgebundene Schnur auf und hielt mir ein halbes Blatt schiefergrauen Papiers hin, auf das ein paar Zeilen gekritzelt waren.

»Die Zeit der Jagd auf Hasen geht bald los,« lauteten die Worte. »An Wechseln, Förster Hudson sagte mir’s, hat gestern schon alles voll Wild gestanden. Er meinte, fort sei Reineke von Haus, und hier und da eile ein Iltis.«

Als ich diese rätselhaften Worte gelesen hatte und wieder aufschaute, sah ich, wie Holmes ein Lächeln über den Ausdruck meines Gesichtes unterdrückte.

»Du machst ein recht erstauntes Gesicht,« sagte er.

»Ich kann nicht einsehen, wie eine solche Botschaft Entsetzen einzuflößen vermochte. Sie kommt mir eher lächerlich als sonst etwas vor.«

»Allem Anschein nach. Dennoch steht die Tatsache fest, daß der Leser, ein schöner, kräftiger Mann in höherem Lebensalter, geradezu davon zu Boden geschmettert wurde wie von einem Keulenschlag.«

»Du machst mich neugierig,« erwiderte ich. »Warum sagtest du aber soeben, es lägen ganz besondere Gründe vor, weshalb ich mich in diesen Fall vertiefen sollte?«

»Weil es der allererste war, mit dem ich zu tun hatte.«

Schon oft hatte ich aus meinem Freunde eine Mitteilung darüber herauszulocken versucht, was ihn zuerst auf die Detektivlaufbahn geführt hätte; aber er hatte niemals Neigung zu einer Erklärung gezeigt. Jetzt rückte er sich auf seinem Lehnstuhl etwas nach vorn und rollte die Papiere auf seinen Knien auseinander. Dann zündete er seine Pfeife an und saß eine Weile schweigend da, während seine Augen die Papiere überflogen.

»Du hast mich niemals von Viktor Trevor reden hören?« fragte er mich endlich. »Er war während meiner zweijährigen Studienzeit mein einziger Freund. Sehr gesellig bin ich nie gewesen, Watson; ich ging lieber grübelnd in meinen vier Wänden meinen eigenen kleinen Ideen nach, sodaß ich wenig mit Altersgenossen verkehrte. Von Fechten und Boxen abgesehen, fand ich an ihren athletischen Künsten keinen Geschmack, auch die Art meines Studiums war anders als die ihre; so hatten wir gar keine Berührungspunkte miteinander. Trevor war der einzige, den ich näher kennen lernte, und das auch nur ganz zufällig dadurch, daß sein Bullterrier eines schönen Morgens sich in meine Knöchel verbissen hatte.

Es war ein prosaisches Freundschaftsband, aber es hielt fest. Zehn Tage mußte ich meinen Knöcheln zuliebe liegen bleiben, und Trevor kam jeden Tag und erkundigte sich nach meinem Ergehen. Zuerst dauerte unsere Unterhaltung nur eine Minute, dann blieb er immer länger, und ehe ich wieder auf war, hatten wir feste Freundschaft geschlossen. Er war ein gemütvoller, kerniger Mensch von Geist und Tatkraft und in vielen Beziehungen ganz das Gegenteil von mir; aber wir hatten erkannt, daß uns manches gemeinsam war, und der Umstand, daß er so wenig Freunde hatte wie ich, knüpfte uns fest zusammen. Schließlich lud er mich zu einem Besuch in Donnithorpe in Norfolk ein, wo sein Vater wohnte, und ich wollte einen Monat lang während der langen Sommerferien seine Gastfreundschaft genießen.

Der alte Trevor war offenbar ein ziemlich wohlhabender und angesehener Mann, Friedensrichter und Grundbesitzer in Donnithorpe, einem kleinen Orte nördlich von Langmere. Das Wohnhaus war ein altertümliches ausgedehntes Steingebäude mit eichenen Querbalken, Pfosten und Türen, zu dem eine schöne Lindenallee führte. In den nahen Moorheiden fehlte es nicht an allerlei Vogelwild; dazu kam ein guter Fischbestand, eine kleine, aber erlesene Bücherei, die, wie ich hörte, von einem früheren Besitzer übernommen war, und eine passable Küche, sodaß man es wohl einen Monat aushalten konnte.

Trevor senior war Witwer und mein Freund sein einziger Sohn. Wie man mir sagte, hatte er auch eine Tochter gehabt, aber sie war, während sie in Birmingham zu Besuch weilte, an Diphtheritis gestorben. Für den Vater interessierte ich mich in hohem Grade. Wenig gebildet, besaß er offenbar ein gut Teil urwüchsiger Kraft in physischer wie geistiger Beziehung. Beschwerte ihn aber auch Buchweisheit nicht, so war er dafür weit gereist, hatte viel von der Welt gesehen und alles, was ihm vorgekommen war, fest im Gedächtnis behalten. Körperlich war er ein untersetzter, wohlbeleibter Mann mit buschigem, ergrautem Haar, braunem, sonnenverbranntem Gesicht und blauen Augen mit durchdringendem, fast wildem Ausdruck. Dennoch galt er bei den Bauern jener Gegend als freundlich und barmherzig und war wegen der Milde seiner richterlichen Urteile bekannt.

Eines Abends, wenige Tage nach meiner Ankunft, saßen wir nach Tische bei einem Glase Portwein, als der junge Trevor anfing, von meinen scharfen Beobachtungen und Schlußfolgerungen zu erzählen, die ich damals schon in ein System gebracht hatte, wenn ich auch noch nicht ahnte, welche Rolle sie in meinem Leben spielen sollten. Offenbar dachte der Alte, sein Sohn übertreibe, als dieser ein paar unbedeutende Kunststückchen von mir zum besten gab, und sagte mit großmütigem Lachen:

»Herr Holmes, ich bin ein ausgezeichnetes Objekt, nun zeigen Sie mal, ob Sie was von mir ausklügeln können!«

»Ich fürchte, daß das etwas schwer hält,« antwortete ich. »Ich denke mir, Sie haben während der letzten zwölf Monate gefürchtet, es könnte ein Angriff auf Ihre Person gemacht werden.«

Das Lachen erstarb auf seinen Lippen, und ganz überrascht starrte er mich an.

»Ja, das ist freilich wahr,« sagte er. »Du weißt, Viktor, als wir das Wilddiebsnest ausnahmen, schworen sie uns den Tod, und auf Sir Edward Hoby ist tatsächlich ein Mordversuch gemacht worden. Seitdem bin ich immer auf der Hut gewesen, habe aber keine Ahnung, wie Sie das wissen können.«

»Sie haben einen sehr schönen Stock,« antwortete ich. »Aus der Aufschrift habe ich ersehen, daß Sie ihn erst ein Jahr besitzen. Sie haben aber seinen Knopf mit vieler Mühe ausgebohrt und mit geschmolzenem Blei ausgegossen, sodaß er nun eine furchtbare Waffe ist. Ich schloß, daß Sie solche Vorsichtsmahregeln nicht treffen würden, wenn Sie nicht eine Gefahr voraussähen.«

»Sonst noch was?« fragte er lächelnd.

»Sie sind in Ihrer Jugend ein großer Boxer gewesen.«

»Wieder richtig. Woher wußten Sie das? Hat etwa meine Nase durch einen Stoß ihre gerade Richtung verloren?«

»Nein,« sagte ich. »Die Ohren sind’s. Sie zeigen die dem richtigen Boxer eigene Abflachung und Verdickung.«

»Sonst noch was?«

»Sie haben viel gegraben – wegen Ihrer Schwielen.«

»Habe mein ganzes Geld in den Goldgruben verdient.«

»Sie sind in Neuseeland gewesen.«

»Wieder richtig.«

»Sie haben Japan besucht.«

»Ganz recht.«

»Und Sie standen in den intimsten Beziehungen zu einem, dessen Anfangsbuchstaben J. A. waren und den Sie später ganz aus Ihrem Gedächtnis zu tilgen suchten.«

Bei diesen Worten richtete sich Herr Trevor langsam auf, heftete seine großen blauen Augen mit einem eigentümlichen wilden und starren Ausdruck auf mich und fiel dann bewußtlos nieder, mit dem Gesicht zwischen die auf dem Tischtuch liegenden Nußschalen.

Du kannst dir denken, Watson, wie erschrocken wir beide, sein Sohn und ich, waren. Doch ging der Anfall bald vorüber, denn als wir seinen Kragen aufknöpften und ihm Wasser übers Gesicht spritzten, seufzte er ein- oder zweimal tief auf und richtete sich in die Höhe.

»Ach,« sagte er mit erzwungenem Lächeln, »hoffentlich hab‘ ich euch nicht erschreckt. So stark ich aussehe, das Herz ist ein wunder Punkt bei mir, und es gehört nicht viel dazu, mich umzuwerfen. Ich weiß nicht, wie Sie das fertig bringen, Herr Holmes, aber mir scheint’s, alle Detektivs im Leben wie in Erzählungen sind Waisenknaben gegen Sie. Das ist Ihr eigentlicher Beruf, glauben Sie einem Manne, der etwas von der Welt gesehen hat!«

Und dieser Hinweis zusammen mit der übertriebenen Wertschätzung meiner Geschicklichkeit, brachte mich, du kannst mir’s glauben, Watson, zu allererst auf den Gedanken, es könnte vielleicht mein Lebenslauf werden, was bis dahin eitel Spielerei gewesen war. In jenem Augenblick war ich freilich noch zu sehr über das plötzliche Unwohlsein meines Wirtes betroffen, um irgend welchen anderen Gedanken Raum zu geben.

»Ich hoffe, meine Worte haben Ihnen keinen Schmerz bereitet,« sagte ich.

»Nun, jedenfalls haben Sie einen etwas empfindlichen Punkt berührt. Wollen Sie mir sagen, wie Sie zu der Kenntnis gekommen sind und wie weit Ihre Kenntnis reicht?« Er sprach jetzt in halb scherzhaftem Tone, aber ich sah im Hintergrunde seiner Augen noch einen Ausdruck des Schreckens.

»Es ist das einfachste von der Welt,« sagte ich. »Als Sie damals Ihren Arm entblößten, um den Fisch ins Boot zu holen, sah ich an Ihrem inneren Ellenbogen ›J. A.‹ eintätowiert. Die Buchstaben waren noch lesbar, aber ihr verschwommenes Aussehen und der fleckige Zustand der Haut ringsum ließen klar erkennen, daß man versucht hatte, sie auszutilgen. Daraus ergab sich ohne weiteres der Schluß, daß Ihnen die Buchstaben einmal sehr teuer gewesen waren, und daß Sie sie dann zu vergessen wünschten.«

»Was für ein Auge Sie haben!« rief er mit einem Seufzer der Erleichterung. »Sie haben genau das Richtige getroffen. Aber wir wollen das ruhen lassen! Von allen Erinnerungen ist die an eine tote Liebe am übelsten. Kommt ins Billardzimmer und laßt uns da gemütlich eine Zigarre rauchen!«

Von dem Tage an lag in Herrn Trevors Benehmen gegen mich bei aller Herzlichkeit stets ein gewisser Argwohn. Sogar seinem Sohne konnte das nicht entgehen. »Du hast meinem Vater mitgespielt,« sagte er, »daß er immer in Zweifel sein wird, was du weißt und was du nicht weißt.« Ich glaube sicher, er wollte es nicht zeigen, aber dieses Gefühl war so mächtig in ihm, daß es in allem, was er tat, hervortrat. Schließlich war ich so sehr überzeugt, daß ihm in meiner Nähe unbehaglich zumute war, daß ich beschloß, ihm durch längeres Verweilen in seinem Hause nicht mehr lästig zu fallen. Aber gerade am Tage vor meiner Abreise sollte noch ein Ereignis eintreten, das sich später als folgenschwer erwies.

Wir saßen eben alle drei auf Gartenstühlen auf der Wiese, sonnten uns behaglich und ließen unsere Augen weithin über das Moor schweifen, als das Mädchen kam und sagte, es wäre ein Mann an der Tür und wollte Herrn Trevor sprechen.

»Wie ist sein Name?« fragte mein Wirt.

»Er wollte ihn nicht nennen.«

»Was will er denn?«

»Er sagt, Sie kennten ihn, und er wolle Sie nur einen Augenblick sprechen.«

»So lassen Sie ihn hierher kommen!«

Einen Augenblick später erschien eine kleine, ausgemergelte Gestalt mit kriechender Haltung und schleppendem Gange. Der Mensch trug eine offene Jacke mit teerbefleckten Aermeln, ein rot- und schwarzgewürfeltes Hemd, Drillichhosen und schwere, ganz abgetragene Stiefel. Sein braunes, eingefallenes Gesicht zeugte von Verschmitztheit, ein beständiges Lächeln ließ eine unregelmäßige Reihe gelber Zähne sehen, und seine runzeligen Hände waren halb geschlossen, wie es Matrosen eigen ist. Als er über den Rasen auf uns zuschlenkerte, hörte ich ein sonderbares schluckendes Geräusch in Herrn Trevors Kehle und sah ihn plötzlich aufspringen und ins Haus eilen. Im Augenblick war er wieder zurück, und als er an mir vorüberschritt, ging ein starker Branntweingeruch von ihm aus.

»Nun, mein Bester,« sagte er, »was kann ich für Sie tun?«

Der Matrose stand da und sah ihn mit halb zugekniffenen Augen und zähnefletschendem Lächeln an.

»Sie kennen mich nicht?« fragte er.

»Was? Straf‘ mich! Das ist doch Hudson!« sagte Herr Trevor im Tone der Ueberraschung.

»’s ist Hudson, ja!« sagte der Seemann. »Dreißig Jahre und länger ist’s her, seit ich Sie nicht gesehen habe. Sie haben hier Ihr Haus, und ich muß mir noch mein Salzfleisch aus’m Tranfaß fischen!«

»Still! Sie werden sehen, ich hab‘ die alten Zeiten nicht vergessen!« rief Herr Trevor, trat an den Matrosen heran und sprach leise ein paar Worte zu ihm. »Gehen Sie in die Küche!« fuhr er laut fort. »Da wird man Ihnen zu essen und zu trinken geben. Ich werde schon eine Stelle für Sie finden.«

»Danke,« sagte der Seemann und fuhr sich mit der Hand au die Stirn. »Komm‘ gerade von einer zweijährigen Achtknotenlustfahrt, dazu ziemlich knapp dran, und mal ausruhen tut mir auch gut. Da dacht‘ ich, versuchst’s mal bei Herrn Beddoes oder bei Ihnen.«

»Was?« rief Herr Trevor, »Sie wissen, wo Herr Beddoes ist?«

»Himmel auch, ich weiß, wo alle meine alten Freunde sind,« erwiderte die Teerjacke mit tückischem Lächeln und schlenkerte hinter dem Mädchen her nach der Küche.

Herr Trevor murmelte einige unverständliche Worte über Kameradschaft zur See und Goldgraben, ließ uns dann auf der Wiese allein und ging ins Haus. Als wir ihm eine Stunde später folgten, fanden wir ihn total betrunken auf dem Sofa im Speisezimmer ausgestreckt liegen. Der ganze Vorfall hatte einen äußerst widerwärtigen Eindruck auf mich gemacht, und ich war am nächsten Tage recht froh, Donnithorpe hinter mir zu lassen; denn ich fühlte, daß meine Gegenwart für meinen Freund eine Quelle der Pein sein mußte.

Dies alles trug sich während des ersten Monats der langen Sommerferien zu. Ich ging dann nach London und arbeitete dort sieben Wochen angestrengt an einigen Experimenten aus der organischen Chemie. Eines Tages aber, als der Herbst schon ziemlich vorgerückt war und die Ferien zur Neige gingen, erhielt ich eine Depesche von meinem Freunde, in der er mich dringend bat, nach Donnithorpe zurückzukommen, da er meines Rates und Beistandes bedürfe. Natürlich ließ ich alles liegen und dampfte wieder dem Norden zu.

Er erwartete mich mit dem Einspänner am Bahnhof, und ein Blick sagte mir, daß die letzten beiden Monate eine schwere Zeit für ihn gewesen waren. Er sah eingefallen und verkümmert aus und hatte nicht mehr das ihm früher eigene muntere und lustige Wesen.

»Mein Vater liegt im Sterben,« waren die ersten Worte, die er sprach.

»Unmöglich!« rief ich. »Was ist’s?«

»Schlag! Nervenschlag! Den ganzen Tag schon ringt er mit dem Tode. Wer weiß, ob wir ihn noch am Leben treffen.«

Wie du dir denken kannst, Watson, erschütterte mich die unerwartete Nachricht.

»Was war die Ursache?« fragte ich.

»Ja, das ist’s eben. Springe in den Wagen, und wir können darüber während des Fahrens sprechen! Erinnerst du dich des Menschen, der am Abend vor deiner Abreise auftauchte?«

»Vollkommen.«

»Weißt du, wen wir damals in unser Haus aufnahmen?«

»Keine Ahnung.«

»Es war der Teufel, Holmes!« rief er.

Erstaunt starrte ich ihn an.

»Ja, es war der Teufel selbst. Wir haben seitdem keine ruhige Stunde gehabt – nicht eine einzige. Mein Vater wagte von jenem Abend an nicht mehr, sein Haupt zu erheben, und jetzt ist das Leben in ihm vernichtet und sein Herz gebrochen – alles durch diesen höllischen Hudson.«

»Was gab ihm denn soviel Macht über ihn?«

»Ja, ich gäbe viel darum, wenn ich das wüßte. Der freundliche, mildherzige, gute alte Herr! Wie konnte er in die Klauen dieses Schuftes geraten sein! Aber ich bin so froh, daß du gekommen bist, Holmes! Ich habe solches Zutrauen zu deinem Urteil und deiner Verschwiegenheit und weiß, du wirst mir den besten Rat geben.«

Wir jagten auf der glatten weißen Landstraße dahin, während die weiten Moorstrecken vor uns im roten Licht der untergehenden Sonne erglühten. Ueber den Baumgipfeln zu unserer Linken konnte ich schon die hohen Schornsteine und den Fahnenmast auf dem Trevorschen Herrenhause bemerken.

»Mein Vater machte den Burschen zum Gärtner,« sagte mein Begleiter, »und dann, als er damit nicht zufrieden war, sogar zum Kellermeister. Das ganze Hauswesen schien ihm ausgeliefert zu sein, und er ging herum und tat, was ihm in den Sinn kam. Die Dienstmädchen beklagten sich über seine unsauberen Gewohnheiten, seine Trunkenheit und über seine gemeine Sprache. Papa suchte sie durch Lohnerhöhung für die Unbill zu entschädigen. Der Bursche nahm ohne weiteres meines Vaters Boot und seine beste Büchse und lud sich selbst zu kleinen Jagdpartien ein. Das tat er alles mit solchem höhnischen, tückischen, frechen Gesichtsausdruck, daß ich ihn zwanzigmal niedergeschlagen hätte, wäre er nicht ein alter Mann gewesen. Ich sage dir, Holmes, ich mußte während dieser ganzen Zeit mit Gewalt an mich halten, und jetzt frage ich mich, ob es nicht besser gewesen wäre, ich hätte mich etwas mehr gehen lassen.

»Nun, es wurde noch immer schlimmer, und dieses Vieh, der Hudson, nahm sich immer mehr heraus, bis endlich der übers Maß gefüllte Eimer überlief und ich Hudson, als er einmal meinem Vater in meiner Gegenwart eine unverschämte Antwort gab, an der Schulter packte und aus dem Zimmer schob. Gelb vor Wut und mit giftsprühenden Augen, die drohender wirkten, als es Worte vermocht hätten, schlich er sich fort. Was zwischen dem armen Papa und dem Schuft darauf stattgefunden hat, weiß ich nicht, aber Papa kam am nächsten Tage zu mir und fragte, ob ich Hudson um Entschuldigung bitten wollte. Wie du dir denken kannst, weigerte ich mich und hielt meinem Vater vor, wie er diesem Elenden erlauben könnte, ihm und allen Hausbewohnern so auf dem Kopfe herumzutanzen.

»›Ach, mein Junge.‹ sagte er, ›du hast gut reden, aber du weißt nicht, wie meine Lage ist. Doch du sollst es erfahren, komme, was da wolle! Du würdest nichts Böses von deinem armen alten Vater glauben, wie, Junge?‹

»Er war sehr bewegt und schloß sich den ganzen Tag in sein Studierzimmer ein, wo er, wie ich durch das Fenster sehen konnte, eifrig schrieb.

»An jenem Abend trat etwas ein, das uns Erlösung zu bringen schien; Hudson erklärte uns nämlich, er wolle fortgehen. Er kam nach dem Essen ins Speisezimmer und kündigte uns seine Absicht mit der schweren Zunge eines Halbtrunkenen an.

»›Hab‘ genug von Norfolk,‹ sagte er. ›Will ’nunter zu Herrn Beddoes in Hampshire. Er wird, glaub‘ ich, ebenso froh sein, wenn ich komme, wie Sie’s waren.‹

»›Sie gehen nicht im Zorn weg, Hudson, hoffe ich?‹ sagte mein Vater mit einem mehr als sanftmütigen Ausdruck, der mein Blut zum Kochen brachte.

»›Man hat mich noch nicht um Entschuldigung gebeten,‹ sagte er mürrisch und lauernd, indem er nach meinem Platze hinschielte.

»›Viktor, du wirst zugeben, du hast diesen würdigen Mann zu rauh behandelt,‹ sagte Papa, zu mir gewendet.

»›Im Gegenteil, ich denke, wir haben uns beide ganz außerordentlich langmütig gegen ihn gezeigt,‹ lautete meine Antwort.

»›So, meinen Sie? So?‹ knurrte er. ›Sehr gut, junger Mann! Wir werden ja sehen.‹ Damit schlenderte er aus dem Zimmer, und eine halbe Stunde später war er fort. Mein Vater befand sich aber fortan in einem Zustand bejammernswerter nervöser Aufregung. Jede Nacht hörte ich ihn in seinem Zimmer ruhelos auf- und abgehen, und als er endlich wieder etwas ruhiger zu werden anfing, gerade da traf ihn der Schlag.

»Und wie?« fragte ich eifrig.

»Auf ganz sonderbare Weise. Gestern abend kam an meinen Vater ein Brief, der den Stempel Fordingbridge trug. Mein Vater las ihn, schlug sich mit beiden Händen an den Kopf und fing an, kleine Kreise beschreibend, im Zimmer herumzulaufen, ganz als wenn er von Sinnen wäre. Als ich ihn endlich aufs Sofa niederzog, waren sein Mund und seine Augenlider auf einer Seite ganz verzogen, und ich sah, daß er einen Schlaganfall gehabt hatte. Dr. Fordham kam sofort herüber, und wir brachten ihn zu Bett; aber die Lähmung griff weiter um sich, und kein einziges Zeichen von wiederkehrendem Bewußtsein hat sich eingestellt; ich zweifle, daß wir ihn noch am Leben finden.«

»Das klingt ja entsetzlich, Trevor!« rief ich. »Was stand denn so Schreckliches in diesem Brief?«

»Gar nichts Schreckliches. Das ist das Unbegreifliche daran. Was da stand, war albern und nichtssagend. Ach, mein Gott, es ist, wie ich gefürchtet habe!«

Während er so sprach, bogen wir in die Torfahrt ein, gerade auf das Haus zu und sahen, daß alle Rollläden heruntergelassen waren. Als wir dann vorfuhren, zog sich das Gesicht meines Freundes vor Schmerz krampfhaft zusammen, da er einen Herrn in schwarzer Kleidung heraustreten sah.

»Wann ist es eingetreten, Herr Doktor?« fragte Trevor.

»Fast unmittelbar nach Ihrer Wegfahrt.«

»Ist er noch einmal zum Bewußtsein gekommen?«

»Nur einen Augenblick vor dem Ende.«

»Hat er mir noch etwas sagen wollen?«

»Nichts, als daß die Papiere im japanischen Zimmer im Sekretär lägen.«

Mein Freund ging mit dem Arzte ins Sterbezimmer hinauf, während ich in der Studierstube zurückblieb und mir die ganze Geschichte immer und immer wieder durch den Kopf gehen ließ. Meine Gedanken waren sehr düsterer Natur. Welches war die Vergangenheit dieses Trevor? Boxer, Seemann und Goldgräber; und wie war er in die Gewalt dieses schielenden Schuftes geraten? Und warum ließ ihn eine Anspielung auf die halb verwischte Tätowierung an seinem Arm in Ohnmacht fallen und ein Brief von Fordingbridge zu Tode erschrecken? Da fiel mir ein, daß Fordingbridge in Hampshire lag, und daß dieser Herr Beddoes, den der Matrose hatte aufsuchen und bei dem er voraussichtlich ebenfalls hatte Erpressungsversuche machen wollen, gleichfalls in Hampshire leben sollte. Dann konnte der Brief entweder von dem Matrosen kommen und die Mitteilung enthalten, er habe das schuldbergende Geheimnis, das offenbar zu vermuten war, verraten, oder das Schreiben kam von Beddoes, der einen alten Genossen warnen wollte, ein solcher Verrat werde sehr bald erfolgen. Soweit schien alles ziemlich klar. Aber wie konnte dann der Brief – nach den Worten meines Freundes – nichtssagend reichte mir ein kurzes Schreiben hin, das, wie du siehst, auf ein einzelnes Blatt graues Papier gekritzelt ist. Es lautete: »Die Zeit der Jagd auf Hasen geht bald los. An Wechseln, Förster Hudson sagte mir’s, hat gestern schon alles voll Wild gestanden. Er meinte, fort sei Reineke von Haus und hier und da eile ein Iltis.«

Ich kann wohl sagen, beim ersten Lesen dieser Zeilen sah ich ebenso verblüfft aus wie du jetzt eben. Dann las ich sie noch einmal langsam durch. Es war offenbar, wie ich mir gedacht hatte, und es mußte sich hinter dieser sonderbaren Wortfolge eine andere Bedeutung verstecken. Oder konnten etwa Ausdrücke wie ›Wechsel‹, ›Reineke‹, ›Iltis‹ einen vorweg vereinbarten Sinn haben? Dann freilich war die Bedeutung ganz willkürlich und konnte ohne den Schlüssel in keiner Weise durch Schlußfolgerungen gefunden werden. Und doch wollte ich das nicht glauben; auch wies schon das Wort ›Hudson‹ darauf hin, daß sich die Mitteilung auf den von mir vermuteten Gegenstand bezog, und daß sie eher von Beddoes als vom Matrosen herrührte. Ich versuchte es mit Rückwärtslesen, aber der Anfang ›Iltis ein eile da‹ war nicht eben ermutigend. Dann ließ ich jedes zweite Wort weg, jedoch weder ›die der auf‹ noch ›Zeit Jagd Hasen‹ versprach das Dunkel aufzuhellen. Dann aber, im nächsten Augenblick, hielt ich den Schlüssel des Rätsels in Händen; ich sah, daß das erste Wort und dann jedes dritte zusammen eine Botschaft bildeten, die wohl geeignet sein konnte, den alten Trevor zur Verzweiflung zu bringen.

Kurz und glatt war die Warnung, wie ich sie nun meinem Gegenüber vorlas:

»Die Jagd geht an. Hudson hat alles gestanden. Fort von hier, eile!«

Viktor Trevor ließ sein Gesicht in seine zitternden Hände sinken. »Ich denke, so ist’s,« sagte er. »O, das ist schlimmer als der Tod, denn es bedeutet Schande obendrein! Aber was sollen die Wörter ›Wechsel‹, ›Förster‹, ›Iltis‹?«

»Sie besagen für die Mitteilung selbst gar nichts, aber für uns ziemlich viel, wenn wir sonst kein Mittel hätten, den Absender zu entdecken. Siehst du, er hat zuerst geschrieben: ›Die – – Jagd – – geht – – an‹ und so weiter. Dann hatte er gemäß der Verabredung zwischen je zwei Wörter zwei andere zu setzen. Naturgemäß brauchte er die Wörter, die ihm zuerst in den Sinn kamen, und da sich darunter so viele auf den Jagdsport bezügliche befinden, so kann man ziemlich sicher sein, daß der Schreiber ein leidenschaftlicher Weidmann oder Schütze ist. Weißt du irgend etwas von diesem Beddoes?«

»Allerdings,« erwiderte er; »jetzt, da du mich daran erinnerst, fällt mir ein, daß mein Vater jeden Herbst eine Einladung zur Jagd von ihm erhielt.«

»Dann geht das Schreiben zweifellos von ihm aus,« sagte ich, »und wir haben nur noch das Geheimnis aufzudecken, das der Matrose drohend über den Häuptern dieser beiden begüterten und geachteten Männer zu halten scheint.«

»Weh, Holmes! Ich fürchte, es steckt Sünde und Schande dahinter,« stöhnte mein Freund. »Aber vor dir habe ich kein Geheimnis. Hier ist das Schreiben, das mein Vater verfaßt hat, als er sah, daß die von Hudson drohende Gefahr immer näher rückte. Ich fand es im japanischen Zimmer, wie er dem Arzte gesagt hatte. Nimm und lies es mir vor! Denn mir fehlt Kraft und Mut, es selbst zu tun.«

Und das sind hier eben die Papiere, Watson, die er mir einhändigte, und ich will sie dir vorlesen, wie ich sie ihm in jener Nacht in dem alten Studierzimmer vorgelesen habe. Sie tragen, wie du siehst, die Aufschrift: ›Erlebnisse auf der Fahrt der Barke »Gloria Scott«, die Falmouth am 8. Oktober 1855 verließ und am 6. November 15 Grad 20 Minuten nördlicher Breite, 25 Grad 14 Minuten westlicher Länge unterging.‹ Der Bericht ist in Form eines Briefes verfaßt und lautet:

Mein lieber, lieber Sohn! Jetzt, wo der Augenblick der Schmach herannaht und schon seinen dunkeln Schatten auf meinen Lebensabend wirft, kann ich es mit voller Wahrheit und Aufrichtigkeit niederschreiben: nicht der Schrecken des Gesetzes, nicht der Verlust meiner weithin angesehenen Stellung, auch nicht mein Sturz in den Augen aller meiner Bekannten schneidet mir so ins Herz, wie der Gedanke, daß du über mich erröten sollst – du, der mich liebt, und der, hoffe ich, selten Grund hatte, mich anders als mit Achtung anzusehen. Wenn mich aber der Schlag trifft, der mir beständig droht, dann, wünsche ich, sollst du dies lesen und von mir selbst ungeschminkten Bericht erhalten, aus dem du das Maß meiner Schuld ersehen kannst. Sollte jedoch alles gut ablaufen – was Gott der Allmächtige geben möge –, und dieses Schreiben aus irgend einem Zufall noch nicht vernichtet sein und dir in die Hände fallen, dann beschwöre ich dich bei allem, was dir heilig ist, bei dem Andenken an deine teure Mutter und an die Liebe, die uns verbunden hat, wirf es ins Feuer und tilge es ganz aus deinem Gedächtnis!

Wenn also dein Auge diese Zeilen liest, werde ich schon angeklagt und vor Gericht geschleppt sein oder, was wahrscheinlicher ist – denn du kennst meine Herzschwäche –, mit auf immer versiegelter Zunge als Beute des Todes daliegen. In beiden Fällen ist die Zeit der Vertuschung vorbei, und jedes Wort, das du hier liest, ist die nackte Wahrheit; das schwöre ich dir, so wahr ich auf Barmherzigkeit hoffe.

Mein Name, teurer Sohn, ist nicht Trevor. In meinen jungen Jahren hieß ich James Armitage, und du kannst jetzt verstehen, wie es mich vor einigen Wochen erschüttern mußte, als dein Studienfreund Worte an mich richtete, aus denen hervorzugehen schien, daß er mein Geheimnis entdeckt habe. Als Armitage trat ich bei einem Londoner Bankhause ein, und als Armitage wurde ich wegen Gesetzesbruchs vor Gericht gezogen und zur Strafverschickung verurteilt. Denke darum nicht zu schlecht von mir, mein Junge! Es war eine sogenannte Ehrenschuld, die ich zu tilgen hatte, und ich verwendete dazu Geld, das mir nicht gehörte, in der Gewißheit, es ersetzen zu können, ehe auch nur die Möglichkeit der Entdeckung bestand. Aber das schrecklichste Unglück verfolgte mich. Das Geld, auf das ich gerechnet hatte, blieb aus, und eine unvermutete Kontrolle deckte das Defizit auf. Der Fall hätte milde beurteilt werden können, aber vor dreißig Jahren war die Gesetzesauslegung und Rechtsprechung weit schärfer als heutzutage, und mein dreiundzwanzigster Geburtstag fand mich als Missetäter mit siebenunddreißig anderen Sträflingen im Zwischendeck der nach Australien segelnden Barke »Gloria Scott« angekettet.

Es war im Jahre 1855, als der Krimkrieg noch in voller Wucht tobte, und die alten Sträflingsschiffe dienten vielfach zum Truppentransport nach dem Schwarzen Meere. Die Regierung sah sich daher genötigt, zur Verschickung der Strafkolonisten kleinere oder weniger geeignete Schiffe einzustellen. Die »Gloria Scott« war als Chinafahrer zum Teehandel verwendet worden, aber sie war ein altmodisches, schwergebautes, breitbugiges Fahrzeug, das den neuen scharfbugigen Kuttern weit nachstand. Bei fünfhundert Tonnen Tragfähigkeit zählte sie außer ihren siebenunddreißig Zuchthausvögeln eine Mannschaft von sechsundzwanzig Köpfen, achtzehn Seesoldaten, einen Kapitän, drei Maate, einen Arzt, einen Kaplan und vier Wärter. So faßte sie alles in allem an hundert Seelen, als wir von Falmouth in See stachen.

Die Wände zwischen den Sträflingszellen waren nicht, wie gewöhnlich auf diesen Schiffen, von dickem Eichenholz, sondern ganz dünn und zerbrechlich. Mein nächster Nachbar nach Backbord zu war mir schon, als man uns zum Kai hinunterführte, vor allen aufgefallen. Er war ein junger Mann mit bleichem, bartlosem Gesicht, langer, dünner Nase und wahren Nußknackerkinnbacken. Sein Kopf reckte sich recht übermütig in die Luft, sein Gang war herausfordernd; übrigens ragte er schon durch seine auffallende Körpergröße über alle hervor. Ich möchte glauben, daß ihm keiner von uns bis an die Schulter reichte, und er muß nach meiner Schätzung sechseinhalb Fuß gemessen haben. Sonderbar mutete es einen an, unter so vielen Jammergesichtern eines voll Tatkraft und Entschlossenheit zu sehen. Wie ein Kaminfeuer im Schneesturm kam es mir vor. So war es für mich eine Freude, diesen Mann zum Nachbarn zu haben, und eine noch größere, als ich durch die Totenstille der Nacht auf einmal dicht an meinem Ohr eine Stimme flüstern hörte und merkte, daß es ihm geglückt war, ein Loch in die uns trennende Bretterwand zu schneiden.

»Hallo, Kollege!« sagte er. »Wie heißen Sie, und was haben Sie ausgefressen?«

Ich antwortete ihm und fragte meinerseits nach seinem Namen.

»Ich bin Jack Prendergast,« sagte er, »und bei Gott, Sie werden meinen Namen segnen lernen, ehe wir wieder voneinander gehen.«

Ich erinnerte mich augenblicklich seines Falles, denn er hatte kurz vor meiner eigenen Festnahme ungeheures Aufsehen im ganzen Lande erregt. Prendergast war von guter Herkunft und ein sehr begabter Mensch, besaß aber eine unheilbare Neigung zu gesetzlosem Tun und hatte die ersten Londoner Kaufleute durch die sinnreichsten Gaunereien um gewaltige Summen gebracht.

»Ah, ich sehe, Sie erinnern sich an meinen Fall,« sagte er stolz.

»Allerdings, sehr gut.«

»Dann erinnern Sie sich vielleicht auch an etwas Merkwürdiges dabei?«

»Was soll das sein?«

»Ich hatte ziemlich eine Viertelmillion Pfund, nicht?«

»So hieß es.«

»Aber man konnte nichts wiederfinden, was?«

»Nein.«

»Nun, wo denken Sie, daß das Geld geblieben ist?« fragte er.

»Ich habe keine Ahnung.«

»Gerade zwischen meinem Finger und Daumen,« sagte er. »Bei Gott, meines Vaters Sohn hat mehr Dukaten als Sie Haare auf dem Kopfe! Und wenn man Geld hat, mein Lieber, und es zu verwenden und auszugeben versteht, so kann man alles machen. Nun werden Sie es nicht für wahrscheinlich halten, daß ein Mann, der alles machen kann, seine Hosen in dem stinkigen Schiffsraum eines rattenwimmelnden, wurmzerfressenen, muffigen alten Kastens von Chinaküstenfahrer durchscheuern will. Nein, mein Bester, solch ein Mann sieht, wo er selbst bleibt und wo seine Genossen bleiben. Darauf können Sie Gift nehmen! Machen Sie Part mit ihm, und Sie können einen Eid auf die Bibel leisten, die er Ihnen hinlotsen wird!«

So redete er fort, und zuerst dachte ich, es wäre, nur Geschwätz; aber nach einiger Zeit, als er meiner sicher zu sein glaubte und mich mit aller Feierlichkeit hatte Verschwiegenheit geloben lassen, weihte er mich in der Tat in einen Plan ein, den man schon lange gefaßt hatte, und der auf nichts anderes ausging, als sich des Schiffes zu bemächtigen. Ein Dutzend Sträflinge hatten ihn ausgeheckt, ehe sie an Bord gebracht worden waren; Prendergast war das Haupt des Unternehmens und sein Geld die Triebkraft.

»Ich hatte einen Partner,« sagte er, »einen ausnahmsweise guten Kerl, so fest und treu wie der Schaft am Lauf. Er hat sich die Ordination verschafft, wahrhaftig; und wo denken Sie, daß er sich in diesem Augenblicke befindet? Na, er ist unser Schiffskaplan – der Kaplan, nichts weniger. Er kam an Bord in schwarzem Rock, mit seinen Papieren in Ordnung und mit Geld genug im Sack, das ganze Ding da vom Kiel bis zum Topmast zu kaufen. Die Mannschaft ist mit Leib und Seele sein. Er konnte sie haben, das Gros zu so und so viel mit Rabatt bei Barzahlung, und er kaufte sie, noch ehe sie sich heuern ließen. Er hat zwei Wärter gewonnen und Mercer, den zweiten Maat, und er hätte den Kapitän selbst gekriegt, wenn sich’s verlohnt hätte.«

»Was werden wir nun tun?« fragte ich.

»Was denken Sie?« sagte er. »Wir wollen einigen von den Soldaten die Röcke röter machen, als sie ihnen je der Schneider liefern könnte.«

»Aber sie sind bewaffnet!«

»Und das werden wir auch sein, mein Junge! Für jeder Mutter Sohn von uns gibt’s ein Paar Pistolen, und sind wir mit der Mannschaft auf unserer Seite nicht imstande, das Schiff zu nehmen, so wären wir alle reif, in eine Töchterschule geschickt zu werden. Sie reden heute abend mit Ihrem linken Flügelmann und sehen, ob man ihm trauen darf!«

Ich folgte der Weisung und fand in meinem anderen Nachbar einen jungen Mann, der sich in ähnlicher Lage befand, wie ich selbst, und wegen Fälschung verurteilt worden war. Er hieß Evans, nahm aber später ebenfalls einen anderen Namen an und ist jetzt ein reicher, gutgestellter Mann im südlichen England. Bereitwillig schloß er sich der Verschwörung an, da es keinen anderen Weg zur Rettung für uns gab, und ehe wir noch das nördliche Spanien erreicht hatten, blieben nur zwei Gefangene übrig, die nicht mit uns unter einer Decke steckten. Der eine war ein Schwächling, dem wir nichts anzuvertrauen wagten, und der andere litt an Gelbsucht und konnte für uns von keinem Nutzen sein.

Von Anfang an stand eigentlich dem Gelingen unseres Planes nichts im Wege. Die Mannschaft war ein für den Zweck besonders ausgelesenes Pack von Schuften. Der vermeintliche Kaplan kam zur Erbauung in unsere Zellen mit einer schwarzen Tasche in der Hand, die scheinbar voll von Traktätchen und geistlichen Büchern war; und das tat er so fleißig, daß wir am dritten Tage jeder am Fuß des Bettes eine Feile, eine Doppelpistole, ein Pfund Pulver und Zwanzig Patronen verstaut hatten. Zwei von den Wärtern standen, wie gesagt, in Prendergasts Sold, und der zweite Maat war sein erster Gehilfe. Der Kapitän, zwei Maate, zwei Wärter, Leutnant Martin mit seinen achtzehn Rotröcken und der Doktor – das war alles, was uns gegenüberstand. Trotz dieser sicheren Aussichten waren wir doch entschlossen, keine Vorsicht aus dem Auge zu lassen und unseren Ueberfall plötzlich zur Nachtzeit auszuführen. Es kam jedoch schneller dazu, als wir gedacht hatten.

Als nämlich eines Abends, so in der dritten Woche nach unserer Abfahrt, der Doktor herunterkam, um nach einem kranken Sträfling zu sehen, legte er zufällig seine Hand auf das Fußende des Bettes und fühlte dabei den Umriß der Doppelpistole. Hätte er den Mund gehalten, so wäre vielleicht unser ganzer schöner Plan in die Luft geflogen; aber er war ein aufgeregter kleiner Mann, und so stieß er einen Schrei der Ueberraschung aus und wurde so bleich, daß der vor ihm liegende Sträfling erkannte, was die Glocke geschlagen hatte, sich mit aller Kraftanstrengung aufrichtete und ihn packte. Bevor der Doktor noch Lärm schlagen konnte, war er geknebelt, gefesselt und unter das Bett gerollt. Er hatte die zum Deck führende Tür offen gelassen, und wir waren im Nu durch. Die beiden Schildwachen wurden niedergeschossen und ebenso der Korporal, der herbeigeeilt kam, um zu sehen, was los wäre. Zwei andere Soldaten standen am Eingange des Salons, ihre Musketen aber waren, scheint’s, nicht geladen; denn ohne zu feuern, versuchten sie, ihre Bajonette aufzustecken, und wurden von uns niedergeknallt. Dann stürzten wir zur Kajüte des Kapitäns, aber als wir dabei waren, die Tür aufzustoßen, hörten wir innen einen Knall und sahen dann den Kapitän mit dem Kopfe auf der den Tisch bedeckenden Karte des Atlantischen Ozeans liegen, während der Kaplan mit rauchender Pistole neben ihm stand. Die beiden Maate waren von der Mannschaft gefangen genommen worden, und die ganze Geschichte schien glücklich abgelaufen zu sein.

Der Salon lag zunächst der Kapitänskabine. Dort wandten wir uns hin und sanken erschöpft auf die Diwans nieder, alle zugleich durcheinander sprechend; denn das Gefühl, wieder freie Menschen zu sein, erfüllte uns mit ganz unbändiger Freude. Ringsherum liefen Wandschränke, und Wilson, der Pseudokaplan, riß einen auf und zog ein Dutzend Flaschen Sherry hervor. Wir schlugen den Flaschen die Köpfe ab, gössen uns Humpen voll und wollten eben anstoßen, als auf einmal ohne jede Warnung Musketengeknatter unser Ohr traf und der Salon sich so mit Rauch füllte, daß wir nicht über den Tisch sehen konnten. Als sich der Pulverdampf verzogen hatte, glich der Platz einem Schlachtfeld. Wilson und acht andere lagen zuckend am Boden; noch jetzt wird mir übel, wenn ich mir den Anblick ins Gedächtnis zurückrufe. Das Unvermutete und Schreckliche dieses Zwischenfalles machte einen so niederschmetternden Eindruck auf uns, daß ich glaube, wir hätten gar keine Gegenwehr geleistet, wäre nicht Prendergast gewesen. Der aber brüllte wie ein verwundeter Stier und stürzte zur Tür hinaus, wir alle, die noch unverwundet waren, hinter ihm drein. Im Nu waren wir oben, und da, auf dem Hinterdeck, standen der Leutnant und zehn von seiner Truppe. Die Oberlichtfenster über dem Salontisch hatten ein wenig offen gestanden, und durch den Spalt hatten die Soldaten gefeuert. Wir warfen uns auf sie, ehe sie wieder geladen hatten; mannhaft leisteten sie Widerstand, aber wir gewannen die Oberhand, und in fünf Minuten war alles vorüber. Prendergast war wie vom Teufel besessen und warf jeden Soldaten, der ihm in die Hände kam, tot oder lebendig über Bord. Als der Kampf vorüber war, blieb von unseren Gegnern niemand weiter übrig als die Wärter, die Maate und der Doktor.

Und ihretwegen entbrannte nun der große Streit. Viele von uns waren über alles froh, ihre Freiheit gewonnen zu haben, wollten aber keine weitere Blutschuld auf ihre Seelen laden. Wenn wir auch, um unsere Freiheit wiederzuerlangen, die Soldaten, die eben nach uns geschossen hatten, niederschlagen halfen, so konnten wir es doch nicht mit kaltem Blute mit ansehen, daß man unsere Mitmenschen mordete. Acht von uns, fünf Sträflinge und drei Matrosen, erklärten, wir würden nicht zulassen, daß man die fünf tötete. Aber Prendergast und seine Partei wichen keinen Zollbreit zurück. Sicherheit könnte es für uns nur geben, erklärte er, wenn wir reinen Tisch machten, und er würde keine Zunge übrig lassen, die einmal Zeugnis gegen uns ablegen könnte. Fast hätten wir das den Gefangenen bestimmte Los geteilt, aber schließlich sagte Prendergast, wenn wir nicht anders wollten, so sollten wir ein Boot nehmen und uns davonmachen. Wir waren über diesen Ausweg hoch erfreut, denn wir fühlten uns schon ganz krank von dem Anblick des Gemetzels und sahen, daß es noch schlimmer kommen würde. Man gab jedem von uns einen Matrosenanzug, dazu erhielten wir ein Faß Wasser, zwei Gefäße, eins voll Salzfleisch, das andere voll Biskuit, und einen Kompaß. Prendergast warf uns noch eine Karte ins Boot und rief uns zu, wir wären Seeleute, deren Fahrzeug unter 15 Grad nördlicher Breite und 25 Grad westlicher Länge Schiffbruch gelitten hätte, kappte das Tau und ließ uns fahren.

Und nun komme ich zu dem merkwürdigsten Teil meiner Geschichte, mein lieber Sohn! Die Matrosen hatten die Fockraa angebraßt; jetzt braßten sie sie wieder los, und da eine leichte Brise von Nordost ging, so entfernte sich die Barke langsam von uns. Unser Boot lag, auf- und abschwankend, auf den langen, glatten Wogen, und Evans und ich, die noch am meisten von allen Bootsinsassen verstanden, saßen im Vorderteil des Bootes, suchten unsere Lage zu bestimmen und einen Plan zu entwerfen, welche Küste wir gewinnen sollten. Es war ein hübsches Problem, denn die Kapverdischen Inseln lagen etwa 500 Seemeilen nördlich von uns und die afrikanische Küste etwa 700 Meilen im Osten. Nach Lage der Dinge, und da sich der Wind glatt nach Norden drehte, hielten wir es noch für das beste, Sierra Leone zum Ziel zu nehmen, und wandten unsere Augen nach dieser Richtung, während die Barke etwas mehr rechts von unserem Boote schon so weit entfernt war, daß wir nur noch ihr Segel- und Takelwerk erblicken konnten. Auf einmal, als wir wieder nach ihr hinschauten, sahen wir, wie eine dichte schwarze Rauchwolke von ihr emporstieg, die wie ein ungeheurer Baum über dem Horizont hing. Wenige Sekunden später drang ein donnerartiges Getöse an unsere Ohren, und als der Rauch dünner wurde, war keine Spur mehr von der ›Gloria Scott‹ wahrzunehmen. Sofort lenkten wir unseren Bug herum und ruderten mit aller Kraft nach der Stelle, wo noch ein leichter, über das Gewässer ziehender Rauchstreifen den Schauplatz der Katastrophe bezeichnete.

Es dauerte eine lange Stunde, bis wir hinkamen, und zuerst fürchteten wir, wir wären zu spät gekommen, um noch einem Hilfsbedürftigen beistehen zu können. Ein zersplittertes Boot und eine Menge Balken und Spierstücke, die mit den Wogen auf und nieder tanzten, zeigten uns, wo das Schiff seinen Untergang gefunden hatte; aber kein Lebenszeichen machte sich bemerkbar, und schon hatten wir uns mit schwerem Herzen weggewandt, da vernahmen wir einen Hilferuf und sahen nun nicht weit von uns ein Wrackstück treiben und quer darüber einen Menschen ausgestreckt. Als wir ihn an Bord gezogen hatten, erfuhren wir, daß wir einem jungen Matrosen namens Hudson das Leben gerettet hatten; er war aber so erschöpft, daß er uns erst am folgenden Morgen über die Ereignisse auf der ›Gloria Scott‹ Auskunft zu geben vermochte.

Nach seinem Bericht hatten sich, wie es scheint, Prendergast und seine Genossen nach unserer Abfahrt daran gemacht, die verbleibenden fünf Gefangenen vom Leben zum Tode zu befördern: die beiden Wärter wurden erschossen und über Bord geworfen und ebenso der dritte Maat. Dann stieg Prendergast ins Zwischendeck hinunter und schnitt mit eigener Hand dem unglücklichen Schiffsarzt die Kehle durch. Nun blieb nur noch der erste Maat übrig, ein kühner, tatkräftiger Mann. Als er den Sträfling mit blutigem Messer auf sich zukommen sah, streifte er seine Fesseln ab, die er schon vorher auf irgend eine Weise hatte lockern können, eilte die Treppe hinunter und verschwand im hinteren Schiffsraum. Ein Dutzend Sträflinge, die mit gespannten Pistolen nach ihm suchten, fanden ihn mit einer Zündholzschachtel in der Hand neben einem offenen Pulverfasse stehen. Er rief ihnen warnend zu, er würde sie sämtlich in die Luft sprengen, wenn sie ihn nicht in Frieden ließen. Einen Augenblick darauf erfolgte die Explosion, von der Hudson meinte, sie sei eher durch eine fehlgehende Kugel veranlaßt worden, als durch ein Zündholz des Maats. Mag die Ursache sein, welche sie wolle, es war das Ende der ›Gloria Scott‹ und alles Lebenden auf ihr mit Ausnahme des von uns geretteten Hudson.

Das ist, mein teurer Sohn, in wenigen Worten die schreckliche Geschichte, in die ich verwickelt war. Am nächsten Morgen nahm uns die nach Australien segelnde Brigg ›Hotspur‹ auf, deren Kapitän ohne weiteres unserer Aussage Glauben schenkte, wir hätten uns aus dem Schiffbruch eines Passagierschiffes gerettet. Das Transportschiff ›Gloria Scott‹ wurde von der Admiralität für verschollen erklärt, und von seinem wirklichen Schicksal ist niemals auch nur ein Wort durchgesickert. Nach einer vorzüglichen Fahrt setzte uns der ›Hotspur‹ in Sidney ans Land, wo wir, Evans und ich, andere Namen annahmen und uns bis zu den Goldgruben durchschlugen. Hier war es uns ein leichtes, unter den Angehörigen aller Nationen, die dort zusammenströmten, die Erinnerung an unsere frühere Existenz völlig zu verwischen.

Den Rest brauche ich kaum zu erzählen. Wir hatten Glück und kamen vorwärts. Wir machten Reisen und kehrten endlich als reiche Kolonialen nach England zurück, wo wir uns Landgüter kauften. Länger als zwanzig Jahre haben wir ein friedvolles und ersprießliches Leben geführt und hegten die Hoffnung, unsere Vergangenheit wäre auf immer vergraben. Nun kannst du dir meine Gefühle vorstellen, als ich in dem Matrosen, der uns aufsuchte, beim ersten Blick den Mann erkannte, den wir damals von den Trümmern der ›Gloria Scott‹ aufgelesen hatten. Er war irgendwie auf unsere Spur gekommen und hatte beschlossen, aus unserer Furcht Kapital zu schlagen. Du wirst nun auch begreiflich finden, warum ich mit ihm im Guten auszukommen suchte, und wirst einigermaßen die Angst verstehen, die mich jetzt erfüllt, da er mit Drohungen auf der Zunge zu seinem zweiten Opfer gegangen ist.

Unten steht noch in einer Schrift, so zitterig, daß sie kaum lesbar ist: Beddoes schreibt in Chifferschrift, daß Hudson alles verraten hat. Teurer Vater im Himmel, sei unseren Seelen gnädig!

Das war der Bericht, den ich in jener Nacht dem jungen Trevor vorgelesen habe, und ich denke, er war unter solchen Umständen dramatisch genug. Dem guten Burschen wollte das Herz darüber brechen, und er ging nach Ceylon, wo er Teepflanzer wurde. Wie ich höre, geht es ihm dort gut. Was den Matrosen und Beddoes anlangt, so hat man von keinem von beiden je wieder etwas gehört seit dem Tage, an dem der warnende Brief geschrieben wurde. Beide sind ganz und gar verschollen. Eine Anzeige bei der Polizei oder bei Gericht war nicht erfolgt. Beddoes muß also für wirklich geschehen halten, was nur eine Drohung gewesen war. Man hatte Hudson noch in der Gegend umherschleichen sehen, und nach der Annahme der Polizei war er mit Beddoes auf und davon gegangen. Ich glaube, in Wahrheit liegt es gerade umgekehrt. Für mich ist es höchst wahrscheinlich, daß Beddoes, zur Verzweiflung gebracht, an dem vermeintlichen Verräter Rache genommen hat und mit soviel Mitteln, wie er nur zusammenraffen konnte, geflohen ist. Das ist der Tatbestand dieses Falles, Doktor, und wenn er für deine Sammlung von Wert sein sollte, so stelle ich ihn dir herzlich gern zur Verfügung.

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Der goldene Klemmer.

Der goldene Klemmer.

Wenn ich die drei dicken Bände Manuskript vor mir sehe, welche die Aufzeichnungen über unsere Erlebnisse im Jahre 1894 enthalten, dann muß ich gestehen, daß es mir wirklich schwer fällt, aus dieser Fülle von Stoff gerade die Fälle herauszuziehen, die an sich am interessantesten sind, und bei denen zugleich diejenigen Fähigkeiten meines Freundes Sherlock Holmes am deutlichsten hervortreten, derentwegen er weithin bekannt ist. Beim Durchblättern sehe ich meine Notizen über die abstoßende Geschichte des roten Tierarztes und den schrecklichen Tod des Bankiers Crosby. Weiter finde ich einen Bericht über die Tragödie von Addleton; auch die berüchtigte Smith-Mortimersche Erbschaftsangelegenheit fällt in diese Periode, und ebenso die Aufspürung und Verhaftung des Straßenmörders Hurot – eine Tat, die Holmes einen eigenhändigen Dankesbrief des französischen Präsidenten und den Orden der Ehrenlegion einbrachte. Jeder dieser Fälle würde das Material zu einer spannenden Erzählung liefern, aber im großen und ganzen bin ich doch der Ueberzeugung, daß keiner so viele eigenartige und interessante Punkte bietet, wie die Episode von Yoxley Place, die nicht nur das beklagenswerte Ende des jungen William Smith in sich schließt, sondern auch die nachfolgenden Verwickelungen beleuchtet, die ein so merkwürdiges Licht auf die Ursachen dieses Verbrechens warfen.

Es war an einem rauhen, stürmischen Abend gegen Schluß des Monats November. Holmes und ich saßen schweigend in unserem Zimmer nebeneinander. Er war damit beschäftigt, mit Hilfe einer starken Lupe die Schrift auf einem alten Pergament zu entziffern, und ich hatte mich in eine medizinische Abhandlung vertieft. Draußen heulte der Wind, und der Regen klatschte gegen die Fensterscheiben. Es war ein sonderbares Gefühl, wenn man mitten in der gewaltigen Stadt, im Umkreis von zehn Meilen von menschlichen Wohnungen umgeben, die elementare Gewalt der Natur verspürte, und sich bewußt wurde, daß den furchtbaren Naturkräften ganz London weiter nichts war als ein winziger Hügel, wie ihn draußen auf dem Feld ein Maulwurf aufwirft. Ich ging ans Fenster und blickte hinunter auf die menschenleere Straße. Von der Ecke der Oxfordstraße kam eine einzelne Droschke durch den Schmutz und die Pfützen der Bakerstraße gefahren.

»Nun, Watson, heute nacht ist’s gut, daß wir nicht ’naus brauchen,« sagte Holmes, als er sein Vergrößerungsglas beiseite legte und das Pergament zusammenrollte. »Ich habe für eine Sitzung genug getan. Es ist eine anstrengende Arbeit für die Augen. Es gibt kaum was Aufregenderes als den Bericht eines Abtes aus der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts. Hallo! Was ist da los?«

Durch das Pfeifen des Windes drang der Aufschlag eines Pferdes und das knirschende Geräusch eines Wagenrades an unser Ohr, das gegen die Kante des Fußsteigs fuhr. Die Droschke, die ich gesehen hatte, machte vor unserer Türe Halt.

»Was mag er wollen?« rief ich aus, als ich einen Mann aussteigen sah.

»Was! Uns will er. Und wir, mein armer Watson, wollen unsere Ueberzieher, Halsbinden und sonstigen Schutzmittel hervorsuchen, die der menschliche Geist gegen die Unbilden der Witterung erfunden hat. Wart noch ’n Moment! Das Vehikel ist wieder weg! Noch ist Hoffnung vorhanden. Er würde es haben warten lassen, wenn er uns mit haben wollte. Lauf‘ hinunter, mein Lieber, und mach‘ die Haustür auf, denn alle ehrsamen Bürger liegen längst im Bett.«

Als das Licht unserer Hausflurlampe auf unseren mitternächtigen Besucher fiel, erkannte ich ihn gleich wieder. Es war der junge Stanley Hopkins, ein vielversprechender Beamter der Geheimpolizei, an dessen Laufbahn Holmes verschiedentlich ein lebhaftes Interesse genommen hatte.

»Ist er zu Hause?« fragte er hastig.

»Kommen Sie nur ‚rauf, mein Lieber,« rief ihm Holmes von oben zu. »Hoffentlich haben Sie keine bösen Absichten auf uns in einer solchen Nacht wie der heutigen.«

Der Detektiv stieg die Treppe hinauf, während von seinem glänzenden Wassermantel die Tropfen herunterliefen. Ich half ihm ihn ausziehen, und Holmes entfachte das Feuer in unserem Ofen zu neuer Glut.

»Nun, mein lieber Hopkins, setzen Sie sich an den Ofen und wärmen Sie sich die Beine,« sagte er dann. »Hier haben Sie eine Zigarre, und Dr. Watson hat ein Rezept, heißes Wasser mit Zitronensaft, das ist eine ausgezeichnete Arzenei in einer solchen Nacht. Es muß schon etwas Wichtiges sein, was Sie bei solchem Wetter hierher führt.«

»Das ist es tatsächlich auch, Herr Holmes. Ich habe schon einen anstrengenden Nachmittag hinter mir, das kann ich Ihnen versichern. Haben Sie in den letzten Abendzeitungen etwas von dem Fall in Yoxley gelesen?«

»Das Neueste, was ich heute gelesen habe, ist ein Bericht aus dem fünfzehnten Jahrhundert.«

»Es war nur eine kurze Notiz in den Zeitungen, und da sie auch noch vollkommen falsch war, so haben Sie nichts eingebüßt. Ich bin keine Minute zur Ruhe gekommen. Es liegt unten in Kent, sieben Meilen von Chatham und drei von der Eisenbahn. Ich bekam um drei Uhr fünfzehn ein Telegramm, war um fünf Uhr in Yoxley Place, nahm die Untersuchung vor, fuhr mit dem letzten Zug nach Charing Croß und direkt in einer Droschke zu Ihnen.«

»Was vermutlich bedeutet, daß Sie über Ihren Fall nicht ganz im klaren sind?«

»Es bedeutet, daß ich überhaupt nicht klug daraus werde. So weit ich bis jetzt sehen kann, ist es die verzwickteste Sache, die mir je vorgekommen ist; und doch schien sie anfangs so einfach, daß man glaubte, man könne gar nicht fehl gehen. Es fehlt jeder Beweggrund, Herr Holmes. Das macht mich stutzig – ich sehe keinerlei Motiv. Es ist ein Mann getötet – das läßt sich nicht wegleugnen – aber es läßt sich auch nicht ‚mal der leiseste Grund dafür finden, daß ihm jemand das geringste Leid hätte antun sollen.«

Holmes zündete sich eine Zigarre an und lehnte sich in seinem Stuhle zurück.

»Lassen Sie uns Näheres hören,« sagte er.

»Die Tatsachen sind alle wunderschön klar,« begann Hopkins. »Ich kann sie mir nur nicht erklären. Die Sache verhält sich folgendermaßen. Vor mehreren Jahren ist das Landhaus Yoxley Place von einem älteren Herrn erworben worden, welcher sich Professor Coram nannte. Es war ein kränklicher Mann, der die Hälfte seines Lebens im Bett zubrachte, und während der anderen an einem Stock umherhumpelte, oder sich von seinem Gärtner in einem Stuhl auf seinem Besitztum herumfahren ließ. Er war von seinen wenigen Nachbarn, die ihn besuchten, wohl gelitten, und stand dort unten im Ruf eines sehr gelehrten Mannes. Sein Haushalt bestand für gewöhnlich aus einer ältlichen Wirtschafterin, Fräulein Marker, und aus dem Zimmermädchen Susan Tarlton. Diese beiden Dienstboten hat er schon mitgebracht, und sie scheinen beide einen vorzüglichen Charakter zu haben. Der Professor schreibt ein wissenschaftliches Buch und hat zu diesem Zweck vor ungefähr einem Jahr einen Sekretär engagiert. Die ersten beiden, die er angenommen hatte, waren nicht nach seinem Sinn, aber der dritte, Herr William Smith, ein junger Mann, der gerade von der Universität kam, scheint den Wünschen des Professors voll und ganz entsprochen zu haben. Seine Tätigkeit bestand darin, daß er alle Vormittag nach seines Herrn Diktat schrieb, während er in der übrigen Zeit in Büchern Stellen suchte, die sich auf die Arbeit des nächsten Tages bezogen. Dieser William Smith hat sich sowohl als Schüler in Uppingham, wie als Student in Cambridge ausgezeichnet geführt. Ich habe seine Zeugnisse gesehen, er ist von Jugend auf ein anständiger, ruhiger, fleißiger Mensch gewesen und hat keine einzige schwache Seite gehabt. Und doch hat dieser junge Herr heute morgen im Arbeitszimmer des Professors unter solchen Umständen den Tod gefunden, daß man nur auf Mord schließen kann.«

An den Fenstern heulte und rüttelte der Sturm. Holmes und ich schoben unsere Stühle näher an den Kamin, während der junge Inspektor langsam und Schritt für Schritt seine Erzählung weiter spann.

»Ich glaube, in ganz England könnte man keine zweite Haushaltung finden, die so zurückgezogen und frei von äußeren Einflüssen wäre. Es vergingen ganze Wochen, ohne daß irgend ein Glied dieser Familie auch nur die Straße betrat. Der Professor war in seine Bücher vergraben und existierte für nichts sonst. Der junge Smith kannte keinen Menschen in der Nachbarschaft und lebte fast ebenso wie sein Chef. Die beiden Mädchen hatten ebenfalls nichts außer dem Hause zu tun. Mortimer, der Gärtner, der den Fahrstuhl fährt, ist ein alter Militärinvalide aus dem Krimkrieg, ein Mann von ausgezeichnetem Charakter. Er wohnt nicht im Herrschaftshaus, sondern in einem kleinen Häuschen von drei Zimmern an der anderen Seite des Grundstücks. Das sind die einzigen menschlichen Wesen weit und breit im Umkreis von Yoxley Place. Das Gartentor ist nur etwa hundert Meter von der London-Chathamer Chaussee entfernt. Es hat eine einfache Klinke, sodaß jedermann ungehindert eintreten kann.

»Nun will ich Ihnen die Aussage der Susan Tarlton mitteilen, der einzigen Person, die etwas Positives über die Sache weiß. Es war vormittags zwischen elf und zwölf Uhr. Sie hing gerade in einer Kammer die Halsschlagader war getroffen. Das Werkzeug, womit die Tat ausgeführt worden war, lag neben ihm auf dem Teppich. Es war eines jener kleinen Siegellackmesser, wie man sie auf altmodischen Schreibtischen noch zuweilen findet, mit einem Elfenbeingriff und einer steifen Klinge ohne Feder. Es war Eigentum des Professors und gehörte auf seinen eigenen Schreibtisch.

»Erst glaubte das Mädchen, der junge Smith wäre schon tot, als sie ihm aber etwas Wasser auf die Stirne goß, schlug er noch einen Moment die Augen auf und murmelte: ›Professor – sie war’s!‹ Das Mädchen ist bereit, zu beschwören, daß er genau diese Worte ausgesprochen hat. Er machte noch verzweifelte Anstrengungen, mehr zu sagen, und deutete mit der rechten Hand in die Höhe. Dann sank er tot zurück.

»Inzwischen war auch die Wirtschafterin auf dem Schauplatz der Tat erschienen, aber zu spät, um noch die letzten Worte des sterbenden jungen Mannes hören zu können. Sie ließ Susan mit der Leiche allein und eilte durch den Korridor über eine kleine Treppe in das im Erdgeschoß, etwas erhöht liegende Schlafzimmer des Professors. Er saß aufrecht im Bett und war schrecklich aufgeregt, denn er hatte genug gehört, um zu ahnen, daß etwas Furchtbares vorgefallen sein mußte. Fräulein Marker ist in der Lage, zu beeidigen, daß der Professor noch die Nachtkleider anhatte, und er konnte sich ja auch tatsächlich ohne die Hilfe des Gärtners nicht anziehen; Mortimer war aber erst auf zwölf Uhr bestellt. Der Professor selbst erklärt, den fernen Schrei gehört zu haben, aber weiter nichts zu wissen. Er kann die Worte des Sterbenden: ›Professor – sie war’s‹ nicht deuten, er hält sie vielmehr für die Aeußerung einer Geistesverwirrung vor dem Tode. Er meint auch, daß Smith keinen einzigen Feind gehabt habe, und kann keinen mutmaßlichen Grund zu dem Verbrechen angeben. Er entsandte zuerst den Gärtner Mortimer zur Ortspolizei, deren Vorsteher dann an mich depeschierte. Vor meiner Ankunft war nichts angerührt worden und sogar strenger Befehl erteilt, daß niemand die Wege, die nach dem Haus zu führten, betreten sollte. Es bot sich also eine feine Gelegenheit, Ihre Theorien, Herr Holmes, in die Praxis zu übertragen. Es fehlte wirklich keine Bedingung mehr dazu.«

»Außer Herrn Sherlock Holmes,« warf mein Freund bitter lächelnd ein. »Nun lassen Sie uns weiter hören. Was haben Sie denn also zunächst getan?«

»Ich muß Sie zuerst bitten, Herr Holmes, einen Blick auf diese flüchtige Skizze zu werfen, die Ihnen ein allgemeines Bild von der Oertlichkeit geben wird. Sie werden dadurch meiner Schilderung leichter folgen können.«

Er breitete folgenden oberflächlichen Riß aus und legte ihn auf Holmes‘ Knie. Ich stand auf und stellte mich hinter meinen Freund und sah ihm über die Schulter.

»Er ist ganz roh natürlich und enthält nur die wesentlichsten Punkte. Das übrige werden Sie später ja selbst sehen. Nun, zu allererst, wenn wir den Fall setzen, daß der Mörder von außen gekommen ist, wie ist er oder sie ins Haus gelangt? Noch zweifellos auf dem Gartenweg und durch die hintere Türe, von der ein Gang direkt ins Studierzimmer führt. Jeder andere Weg würde sehr verzwickt und daher gefährlich gewesen sein. Zur Flucht muß der Verbrecher den gleichen Weg benutzt haben, denn die beiden anderen Ausgänge waren ihm versperrt, der eine von Susan, als sie die Treppe herunter lief, und der andere mündet in das Schlafzimmer des Professors. Ich richtete daher mein Augenmerk sofort auf den Gartenpfad. Da frischer Regen gefallen war, würde er sicher irgendwelche Fußspuren aufweisen.

»Die Untersuchung zeigte mir, daß ich’s mit einem vorsichtigen und erfahrenen Verbrecher zu tun hatte. Der Kiesweg zeigte keinerlei Fußstapfen, aber ohne Zweifel war jemand auf dem Rasenstreifen längs des Pfades hingegangen und hatte auf diese Weise Fußabdrücke vermeiden wollen. Ich konnte keinen bestimmten Eindruck finden, es hatte eben nur jemand das Gras niedergetreten; soviel stand für mich fest. Es konnte nur der Mörder gewesen sein, weil weder der Gärtner noch sonst jemand an diesem Vormittag dort gewesen war, und der Regen erst während der Nacht begonnen hatte.«

»Einen Moment,« sagte Holmes. »Wohin geht dieser Pfad?«

»Auf die Landstraße.«

»Wie lang ist er?«

»Gegen hundert Meter.«

»An der Stelle, wo die Gartentüre ist, konnten Sie aber doch gewiß Fußabdrücke finden?«

»Da ist der Pfad unglücklicherweise gerade gepflastert.«

»Nun, und auf der Straße selbst?«

»Auch nicht; dort war alles vertrampelt.«

»Babab! Wo wiesen denn nun die Rasenspuren aber hin, nach dem Hause zu oder von ihm weg?«

»Was konnte man unmöglich erkennen. Es war nirgends ein richtiger Umriß da.«

»War’s ein großer Fuß oder ein kleiner?«

»Das konnte man auch nicht unterscheiden.«

Holmes stieß eine Aeußerung des Unwillens aus.

»Es hat unterdessen furchtbar geregnet und ein orkanartiger Sturm geweht,« sagte er. »Es wird sich jetzt schwerer dort etwas herausholen lassen als aus diesem Pergament hier. Aber das alles kann nun nichts helfen. Was haben Sie dann getan, Hopkins, nachdem Sie sich klar gemacht hatten, daß Sie nichts klar gemacht hatten?«

»Ich denke doch, mancherlei klar gemacht zu haben, Herr Holmes. Ich wußte, daß jemand vorsichtig von außen ins Haus getreten war. Ich untersuchte also zunächst den Hausflur. Er ist mit Kokosmatten belegt und wies keinerlei Spuren auf. Von da aus gelangte ich in das Studierzimmer selbst. Es ist ziemlich dürftig möbliert. Den Hauptteil der Einrichtung bildet ein großer Schreibtisch mit einem festen Aufsatz. Dieser besteht aus einer doppelten Reihe Schubkasten an den Seiten und einem schmalen Schränkchen in der Mitte, Dieses Schränkchen war verschlossen, die Schubfächer dagegen nicht. Dieselben scheinen stets offen zu sein und enthielten auch nichts von besonderem Wert. In dem Schränkchen dagegen lagen wichtige Papiere, aber nichts deutete darauf hin, daß es geöffnet gewesen war, und der Professor versicherte mir auch, daß nichts fehlte. Daraus geht mit Bestimmtheit hervor, daß kein Raubmord vorliegt.

»Ich komme nun auf die Leiche des jungen Mannes zu sprechen. Sie wurde in der Nähe des Schreibtisches gefunden, und zwar links davon, wie auf der Skizze zu sehen ist. Der Stich war rechts am Hals und ging von hinten nach vorn, sodaß Selbstmord so gut wie ausgeschlossen ist.«

»Wenn er nicht in das Messer gefallen ist,« bemerkte Holmes.

»Jawohl. Dieser Gedanke kam mir auch. Aber das Messer lag ein paar Fuß von der Leiche entfernt, so daß diese Annahme auch unmöglich erscheint. Dazu kommen noch die eigenen Worte des Sterbenden in Betracht. Und endlich fand ich noch dieses äußerst wichtige Beweisstück, das der Tote in der rechten Hand gehabt hatte.«

Hopkins zog ein zusammengefaltetes Papier aus der Tasche. Er wickelte es auf und brachte einen goldenen Klemmer zum Vorschein mit einer zerrissenen schwarzen Seidenschnur daran. »Der Sekretär selbst hatte sehr gute Augen,« fügte er hinzu. »Ohne Frage hat er das seinem Mörder abgenommen.«

Holmes nahm das Glas in seine Hand und prüfte es mit höchster Aufmerksamkeit und lebhaftem Interesse. Er setzte den Kneifer auf und bemühte sich zu lesen, er ging damit ans Fenster und sah auf die Straße, er betrachtete ihn im vollen Lampenlicht und setzte sich schließlich an den Tisch und schrieb einige Zeilen auf ein Blatt Papier, das er dann dem Inspektor Hopkins reichte.

»Das ist das beste, was ich Ihnen raten kann,« sagte er. »Es wird Ihnen vielleicht von einigem Nutzen sein.«

Der erstaunte Detektiv las die Notiz vor. Sie hatte folgenden Inhalt: –

»Gesucht wird eine Frauensperson, die gutes Benehmen hat und wie eine Dame gekleidet ist. Sie hat eine auffallend dicke Nase und eng aneinander liegende Augen. Die Stirn ist runzelig, der Gesichtsausdruck stechend, und die Schultern sind wahrscheinlich gekrümmt. Es sind Anzeichen vorhanden, daß sie in den letzten Paar Monaten zweimal bei einem Optiker gewesen ist. Da sie sehr starke Gläser trägt, und es nicht viele Optiker gibt, dürfte es nicht schwer sein, ihr auf die Spur zu kommen.«

Holmes lächelte über das Erstaunen von Hopkins, das sich wohl auch auf mich übertragen haben mußte.

»Meine Schlüsse sind doch so klar, wie nur was,« sagte er. »Ich kann mir kaum einen Gegenstand vorstellen, aus dem man leichter folgern kann als aus einer Brille, zumal, wenn sie von so besonderer Art ist wie diese. Daß der Klemmer einer Dame gehört, geht aus seiner feinen Beschaffenheit hervor, und natürlich auch aus den letzten Worten des sterbenden Sekretärs. Daß sie eine Frau von guten Manieren und gut gekleidet ist, schließe ich daraus, daß die Gläser eine starke goldene Einfassung haben, denn es ist kaum anzunehmen, daß jemand, der darauf Wert legt, sonst nachlässig ist. Sie werden finden, daß die Bügel für Ihre Nase zu weit auseinander stehen, woraus zu entnehmen ist, daß ihre Nase an der Basis sehr breit ist. Derartige Nasen sind gewöhnlich kurz und unfein, es gibt dabei aber Ausnahmen, sodaß ich mich nicht auf diesen Punkt in meiner Beschreibung besonders versteifen will. Ich selbst habe ein schmales Gesicht, und doch stehen die Gläser für mich zu eng. Die Augen der Dame müssen also sehr nahe aneinander stehen. Du kannst dich überzeugen, Watson, daß es konkave und außergewöhnlich starke Gläser sind. Ein Weib, das Zeit seines Lebens so kurzsichtig gewesen ist, muß sicher die körperlichen Merkmale dieses Fehlers haben, die sich auf der Stirn, den Augenlidern und in der Schulterhaltung ausprägen.«

»Jawohl,« sagte ich, »ich kann allen deinen Schlüssen wohl folgen. Ich muß aber eingestehen, daß ich nicht begreife, wie du zu dem doppelten Besuch beim Optiker kommst.«

Holmes nahm den Klemmer wieder in die Hand.

»Wie du bemerken wirst,« erläuterte er, »sind die Bügel mit dünnen Korkstreifchen gefüttert, um den Druck auf die Nase abzuschwächen. Das eine ist mißfarbig und etwas verfettet, dagegen ist das andere noch neu. Offenbar ist eins abgegangen und ersetzt worden. Soviel ich es beurteilen kann, ist auch das ältere erst vor wenigen Monaten aufgelegt worden. Sie passen genau zueinander, woraus ich entnehme, daß die Dame wieder in demselben Geschäft die Reparatur hat machen lassen.«

»Bei Gott, es ist wunderbar!« rief Hopkins in höchster Begeisterung. »Wenn ich bedenke, daß ich all‘ diese Beweise in der Hand gehabt habe, ohne eine Ahnung davon zu haben! Immerhin hatte ich die Absicht, bei den Londoner Optikern die Runde zu machen.«

»Natürlich würden Sie das getan haben. Uebrigens, haben Sie uns noch etwas über den Fall zu erzählen?«

»Weiter nichts, Herr Holmes. Ich glaube, Sie wissen jetzt so viel wie ich – wahrscheinlich noch mehr. Wir haben noch nachgeforscht, ob irgend eine fremde Person auf der Landstraße oder am Bahnhof gesehen worden ist. Wir haben jedoch von keiner gehört. Was mich bekümmert, ist eben der vollkommene Mangel irgend einer ersichtlichen Veranlassung zu dem Verbrechen. Auch keinen Schimmer eines Motivs kann man angeben.«

»In dieser Beziehung kann ich Ihnen leider auch nicht helfen. Aber ich vermute, daß wir morgen mit Ihnen hinausfahren sollen?«

»Wenn meine Bitte nicht zu unbescheiden ist, Herr Holmes. Von Charing Croß geht um sechs Uhr früh ein Zug nach Chatham, mit dem wir zwischen acht und neun in Yoxley Place eintreffen würden.«

»Dann wollen wir diesen benutzen. Ihr Fall hat gewiß einige sehr interessante Punkte, und ich werde mit Freuden einen tieferen Einblick in die Angelegenheit tun. Nun, es ist gleich eins, und wir können ein paar Stunden Schlaf vertragen. Sie können sich’s auf dem Sofa vor dem Kamin bequem machen. Ich werde Ihnen auf meinem Spirituskocher vor dem Aufbruch eine Tasse Kaffee machen.«

*

Der Sturm hatte sich am nächsten Morgen gelegt, aber es war sehr rauh, als wir unsere Tour antraten. Ueber den düsteren Morästen der Themse ging die kalte Wintersonne auf, und wir sahen wieder die langen eintönigen Kanäle, bei deren Anblick ich stets unwillkürlich an unsere Verfolgung des Andamaniers in früheren Zeiten unserer Tätigkeit denken muß. [Fußnote] Nach einer beschwerlichen Fahrt stiegen wir auf einer kleinen Station, einige Meilen von Chatham entfernt, aus. Während ein Gefährt besorgt wurde, nahmen wir im Dorfwirtshaus schnell einen Imbiß, sodaß wir bei unserer Ankunft in Yoxley Place gleich mit der Untersuchung beginnen konnten. Am Gartentor empfing uns ein Polizist.

»Nun, Wilson, ‚was Neues?«

»Nein, Herr, nichts.«

»Keine Nachricht, daß ein Fremder gesehen worden ist?«

»Nein, Herr. Drunten an der Station wissen sie bestimmt, daß gestern weder ein Fremder angekommen noch abgefahren ist.«

»Haben Sie in den Wirts- und Logierhäusern Erkundigungen einziehen lassen?«

»Jawohl. Da ist auch niemand, der in Betracht kommen könnte.«

»Gut. – Das ist der Gartenweg, von dem ich gesprochen habe, Herr Holmes. Ich gebe Ihnen mein Wort, daß gestern keine Fährte darauf war.«

»An welcher Seite war die Spur im Gras?«

»An dieser, auf diesem schmalen Rasenstreifen zwischen dem Pfad und dem Blumenbeet. Ich kann die Spuren jetzt nicht sehen, aber gestern waren sie ganz deutlich.«

»Ja, ja; da ist jemand hergegangen,« sagte Holmes, als er sich niederbückte. »Unsere Dame muß sehr vorsichtig marschiert sein, nicht wahr? weil sie sonst auf der einen Seite auf den Pfad und auf der anderen auf das nasse Beet getreten wäre und deutliche Abdrücke hinterlassen hätte.«

»Allerdings; sie hat mit kalter Ueberlegung gehandelt.«

Ich bemerkte einen vielsagenden Gesichtsausdruck bei meinem Freunde.

»Sie meinen, daß sie auf diesem Weg zurückgekommen sein muß?«

»Gewiß; es gibt keinen anderen.«

»Auf diesem schmalen Rasenstreifchen?«

»Allerdings, Herr Holmes.«

»Hm! Eine ganz besondere Leistung – wirklich, eine ganz besondere. Nun, ich glaube, hier können wir nichts mehr lernen. Wir wollen weiter gehen. Das Gartentor ist gewöhnlich offen, nicht wahr? Dann brauchte der Besuch also nur einfach hereinzuspazieren. An Mord dachte die Person nicht, sonst würde sie sich selbst mit irgend einer Waffe versehen und nicht das Messer auf dem Schreibtisch erwischt haben. Sie benutzte dann diesen Korridor, wo sie auf dem Kokosnußmattenwerk keine Fährte hinterlassen hat. Dann trat sie ins Studierzimmer. Wie lange mag sie sich hier aufgehalten haben? Dafür haben wir keinen Anhaltspunkt.«

»Nur wenige Minuten, Herr Holmes. Ich habe vergessen, Ihnen zu sagen, daß Fräulein Marker, die Haushälterin, nicht lange vorher hier gewesen war und Staub gewischt hatte – ungefähr eine Viertelstunde vorher.«

»Schön, das gibt uns eine zeitliche Grenze. Unsere Dame kommt herein, und was tut sie? Sie geht an den Schreibtisch. Wozu? Nicht um etwas aus den Schubladen zu nehmen, denn Wichtiges würde sicher eingeschlossen gewesen sein. Nein, sie wollte etwas aus dem Schränkchen holen. Haha! Was ist das für ein Kritz? Zünde ein Streichholz an, Watson. Warum haben Sie mir davon nichts gesagt, Hopkins?«

Der Kritzer, den er untersuchte, fing am Messingbeschlag rechts vom Schlüsselloch an, war gegen vier Zoll lang und hatte am Holz die Politur beschädigt.

»Ich hab’s gesehen, Herr Holmes. Aber um ein Schlüsselloch herum gibt’s stets solche Kritzer.«

»Dieser ist aber neu, ganz neu. Sehen Sie, wie das Messing an der Schnittfläche glänzt. Ein alter Riß würde ebenso aussehen wie seine Umgebung. Gucken Sie ‚mal durch meine Lupe. An der Politur ist’s auch noch wahrzunehmen, sie ist an beiden Seiten aufgelockert wie die Erde bei einer Furche. Ist Fräulein Marker da?«

Ein ältliches Weib mit niedergeschlagenem Gesicht trat ins Zimmer.

»Haben Sie dieses Schränkchen gestern abgestaubt?«

»Jawohl, Herr.«

»Haben Sie diesen Kritzer bemerkt?«

»Nein, er ist mir nicht aufgefallen.«

»Ich bin überzeugt, daß Sie ihn nicht gesehen haben, denn sonst würden Sie diese abgelösten Anstrichteilchen weggewischt haben. Wer hat den Schlüssel zu diesem Schränkchen?«

»Der Professor bewahrt ihn an der Uhrkette auf.«

»Ist es ein gewöhnlicher Schlüssel?«

»Nein, Herr; er hat eine besondere Konstruktion.«

»Gut. Sie können wieder gehen, Fräulein Marker.

Nun wissen wir schon etwas mehr. Unsere Dame kommt herein, geht an das Schränkchen auf dem Schreibtisch und öffnet es, oder versucht es zu öffnen. Während sie dabei ist, tritt der Sekretär herein. In der Eile, den Schlüssel herauszuziehen, macht sie diesen Kritzer. Er hält sie fest, und sie ergreift den ersten besten Gegenstand auf dem Tisch – zufällig dieses Messer – und schlägt nach ihm, damit er sie loslassen soll. Der Schlag stellt sich als verhängnisvoll heraus. Der Getroffene sinkt nieder, und sie flieht, sei es nun nach Erreichung ihres Zweckes oder ohne dies. Ist das Mädchen hier? Susan, könnte jemand, nachdem Sie den Schrei gehört hatten, noch durch jenen Ausgang entkommen sein?«

»Nein, Herr; das ist unmöglich. Ehe ich die Treppe hinunterlief, hätte ich jemanden im Gange sehen müssen. Außerdem ist die Tür nicht aufgemacht worden, denn ich müßte es sonst gehört haben.«

»Also kommt dieser Ausgang nicht in Betracht. Dann muß die Dame zweifellos rückwärts denselben Weg eingeschlagen haben wie herwärts. Der andere Gang führt, wenn ich recht verstehe, nur nach des Professors Schlafzimmer. Er hat keinen Ausgang ins Freie?«

»Nein, Herr.«

»Wir wollen ihn jetzt entlang gehen und die Bekanntschaft des Professors machen. Holla, Hopkins! Das ist sehr wichtig, äußerst wichtig, wahrhaftig. Dieser Korridor ist mit ebensolchem Mattenwerk belegt.«

»Was meinen Sie damit?«

»Finden Sie den Zusammenhang nicht heraus? Nun, nun, ich will nicht gerade darauf bestehen. Ich kann mich irren. Aber es regt mich an, erscheint mir als eine gewisse Andeutung. Kommen Sie und stellen Sie mich vor.«

Wir schritten den Gang entlang; er war ebenso lang wie der nach dem Garten. Am Ende waren einige Stufen, und dann kam eine Türe. Unser Führer klopfte an und führte uns in das Zimmer des Professors.

Es war ein sehr großer Raum. An den Wänden standen mächtige Büchergestelle mit unzähligen Bänden, auch in den Ecken und auf dem Boden lagen noch Haufen von Büchern, für die in den Schränken und auf den Brettern kein Platz mehr war. In der Mitte des Zimmers stand das Bett, und darin saß, auf Kissen gestützt, der Eigentümer des Hauses. Ich habe selten einen charakteristischer aussehenden Mann kennen gelernt. Er hatte ein langes, hageres Gesicht mit einer Adlernase, und aus tiefen Höhlen unter überhängenden, buschigen Brauen blickten uns ein Paar durchdringende Augen entgegen. Haar und Bart waren weiß, nur um den Mund herum hatten die Barthaare merkwürdige gelbe Flecken. Zwischen dem wirren weißen Barthaar glühte eine Zigarette, und das ganze Zimmer war von Tabaksrauch erfüllt. Als er Holmes die Hand reichte, bemerkte ich, daß auch sie gelbe Nikotinflecken hatte.

»Raucher, Herr Holmes?« fragte er in gewähltem Englisch mit einem ganz unmerklichen Akzent. »Bitte, nehmen Sie eine Zigarette. Und Sie, mein Herr? Ich kann sie empfehlen, ich habe sie bei Jonides in Alexandria besonders anfertigen lassen. Er schickt mir jedesmal ein Tausend, und ich muß leider gestehen, daß ich alle vierzehn Tage eine neue Sendung bestellen muß. Das ist bös, sehr bös, aber ein alter Mann hat nur noch wenig Vergnügungen. Der Tabak und meine Arbeit – das ist alles, was ich noch habe.«

Holmes zündete sich eine Zigarette an und warf unmerklich verstohlene Blicke überallhin.

»Tabak und meine Arbeit, aber jetzt nur noch Tabak,« rief der alte Mann aus. »Ach, was für eine fatale Unterbrechung! Wer hätte an eine solche Katastrophe gedacht? Ein so ehrenwerter junger Mann! Ich versichere Ihnen, nachdem er sich ein paar Monate eingearbeitet hatte, war er ein wunderbarer Assistent. Was halten Sie von dieser Sache, Herr Holmes?«

»Ich bin noch zu keinem Urteile gekommen.«

»Sie würden mich wirklich sehr zu Danke verpflichten, wenn Sie in diese für uns so dunkle Angelegenheit Licht bringen könnten. Auf einen armen Bücherwurm wie ich, der obendrein noch krank ist, wirkt ein solcher Schlag geradezu lähmend. Ich habe vollständig meine Gedanken verloren. Aber Sie sind ein Mann der Tat – ein Mann, der mitten im Leben steht. Ihnen kommen solche Fälle fast alle Tage vor. Sie können Ihr seelisches Gleichgewicht in allen Lebenslagen bewahren. Wir sind wirklich sehr froh, daß wir Sie auf unserer Seite haben.«

Holmes schritt, während der Professor sprach, an der einen Seite des Zimmers beständig auf und ab. Ich bemerkte, daß er außerordentlich rasch rauchte. Offenbar teilte er unseres Wirtes Vorliebe für frische alexandrinische Zigaretten.

»Ja, ja, es ist ein schwerer Schlag, Herr Holmes. Es ist mein größtes Werk – jener Stoß Manuskripte dort drüben auf dem Seitentisch. Es ist eine Analyse der in den koptischen Klöstern Syriens und Aegyptens gefundenen Urkunden, die bis in die frühesten Perioden vergangener Religionen zurückreichen und von einschneidendster Bedeutung für deren Auffassung sind. Bei meiner schwachen Gesundheit weiß ich nun nicht, ob ich’s vollenden werde, nachdem ich meinen Assistenten verloren habe. Alle Wetter, Herr Holmes; ei, Sie rauchen ja noch schneller als ich.«

Holmes lächelte.

»Ich bin Kenner,« antwortete er und nahm sich eine neue Zigarette aus dem Kistchen – seine vierte – und zündete sie gleich wieder an dem Stummel der eben zu Ende gerauchten an. »Ich will Sie nicht mit vielem Hin- und Herfragen belästigen, Herr Professor, weil Sie ja, als das Verbrechen geschah, im Bett lagen und nichts davon wissen können. Ich möchte Sie nur um eine einzige Auskunft bitten. Was glauben Sie, daß der arme Kerl mit seinen letzten Worten: ›Professor – sie war’s‹ gemeint hat?«

Der Professor schüttelte sein Haupt.

»Susan ist ein Landmädchen,« erwiderte er, »und Sie kennen ja die Beschränktheit dieser Leute. Ich stelle mir vor, daß der arme Mensch in seinem Wahn ein paar unzusammenhängende Worte gemurmelt hat, die sie nun zu diesem sinnlosen Ausruf verknüpft hat.«

»Ich verstehe. Sie haben selbst keine Erklärung für die Tat?«

»Möglicherweise ist’s ein unglücklicher Zufall; möglicherweise – ich sage’s nur unter uns – ein Selbstmord. Junge Leute haben oft verborgenen Kummer – irgendwelchen Liebesschmerz vielleicht, den wir nie bemerkt haben. Immerhin ist es eine noch wahrscheinlichere Annahme als Mord.«

»Aber der Klemmer?«

»Ach so! Ich bin nur ein Gelehrter – ein Träumer. Ich habe kein Verständnis für die Dinge des praktischen Lebens. Aber doch ist es bekannt, daß es gar sonderbare Liebespfänder gibt, mein Freund. Auf alle Fälle nehmen Sie sich noch eine Zigarette. Ich freue mich, daß Sie sie so zu schätzen wissen. Ein Fächer, ein Handschuh, ein Kneifer – wer weiß, was für Sachen einem Menschen, der sich das Leben nehmen will, als Andenken und teuere Schätze erscheinen? Dieser Herr spricht von Fußtapfen auf dem Rasen; aber, man kann sich dabei leicht irren. Das Messer kann der Unglückliche wahrend des Fallens weit fortgeschleudert haben. Ich spreche vielleicht wie ein Kind, aber mir scheint’s, als ob Smith seinem Dasein mit eigener Hand ein Ziel gesetzt habe.«

Holmes machte den Eindruck, als ob ihm diese Theorie einleuchtete, er setzte seinen Spaziergang im Zimmer noch eine Zeitlang fort und rauchte, in Gedanken versunken, immer noch eine Zigarette nach der anderen.

»Sagen Sie mir, Herr Professor,« fragte er endlich, »was ist in jenem Schränkchen auf dem Schreibtisch?«

»Durchaus nichts, was einem Dieb begehrenswert erscheinen könnte. Privatpapiere, Briefe von meiner Frau, Diplome von Universitäten, die mir Ehrungen haben zuteil werden lassen. Hier haben Sie den Schlüssel, Sie können sich selbst überzeugen.«

Holmes nahm den Schlüssel und betrachtete ihn einen Moment; dann gab er ihn wieder zurück.

»Nein; ich glaube kaum, daß es einen Zweck haben würde,« sagte er. »Ich will lieber ruhig hinunter in Ihren Garten gehen und mir die ganze Sache richtig überlegen. Die Theorie vom Selbstmord, die Sie anführten, hat manches für sich. Wir müssen Sie um Entschuldigung bitten, daß wir Sie so überfallen haben, Herr Coram, ich verspreche Ihnen nun, daß wir Sie vor dem Essen nicht wieder stören werden. Um zwei Uhr werden wir noch einmal wiederkommen und Ihnen Bericht erstatten, ob wir in der Zwischenzeit irgendwie weiter gekommen sind.«

Holmes war auffallend zerstreut, und wir spazierten eine Weile schweigend auf dem Gartenweg auf und ab.

»Hast du eine Spur?« fragte ich ihn endlich.

»Das hängt von den Zigaretten ab, die ich geraucht habe,« erwiderte er. »Es ist möglich, daß ich stark auf dem Holzweg bin. Die Zigaretten werden’s zeigen.«

»Mein lieber Holmes,« rief ich aus, »wie in aller Welt –«

»Nun, du wirst’s ja selbst noch sehen. Ist’s nichts, so schadet’s auch nichts. Selbstverständlich bleibt uns immer noch übrig, auf den Optiker zurückzukommen, aber, wenn ich’s kann, wähle ich den kürzesten Weg. Ah, hier ist das gute Fräulein Marker! Wir wollen uns ein paar Minuten mit ihr unterhalten.«

Wie ich an einer anderen Stelle schon hervorgehoben habe, konnte Holmes, wenn er wollte, gegen Frauen sehr liebenswürdig sein und sich sehr rasch ihr Vertrauen erwerben. Nach kurzer Zeit hatte er sich bei der Wirtschafterin eingeschmeichelt, und plauderte mit ihr, als ob er sie schon jahrelang kennte.«

»Ja, Herr Holmes. Sie haben recht. Er raucht zu furchtbar. Den ganzen Tag und zuweilen auch die ganze Nacht. Ich hab‘ das Zimmer eines Morgens mal gesehen – na, Herr, man hätte es für ’n Londoner Nebel halten können. Der arme Herr Smith, er war auch ’n Raucher, aber nicht so schlimm wie der Professor. Seine Gesundheit – nun, ich weiß nicht, ob’s gut oder nicht gut ist, das Rauchen.«

»Auf alle Fälle nimmt es den Appetit,« versetzte Holmes.

»Davon weiß ich nichts, Herr.«

»Ich vermute, daß der Professor kaum ‚was ißt?«

»Nun, ’s ist verschieden bei ihm.«

»Ich möchte wetten, daß er heute morgen kein Frühstück gegessen hat, und, nach all‘ den Zigaretten, die ich ihn schon wieder habe rauchen sehen, auch das Mittagessen stehen lassen wird.«

»Damit haben Sie aber zufällig daneben gehauen, denn er hat ein auffallend großes Frühstück verzehrt, und auch wieder eine tüchtige Portion Kotelettes zu Mittag bestellt. Ich wundere mich selbst, denn als ich gestern den jungen Herrn Smith auf dem Boden liegen sah, konnte ich Essen nicht sehen. Nun, ’s gibt allerlei Menschen auf der Welt, und dem Professor hat die Sache den Appetit nicht genommen.«

Wir schlenderten den ganzen Vormittag im Garten umher. Hopkins war ins Dorf hinuntergegangen, um das Gerücht von einem fremden Weibe, das am vorhergehenden Morgen von Kindern auf der Chathamer Chaussee gesehen worden wäre, weiter zu verfolgen. Was meinen Freund anbetraf, so schien ihn seine gewohnte Tatkraft verlassen zu haben. Ich hatte ihn noch nie einen Fall so wenig energisch behandeln sehen. Selbst die Nachricht von Hopkins, daß er die Kinder gesprochen habe, und daß dieselben sich ganz genau darauf besinnen könnten, eine Frau, wie sie Holmes beschrieben habe, ohne Brille oder Klemmer, gesehen zu haben, schien ihn gar nicht besonders zu interessieren. Er achtete viel mehr darauf, als Susan, die mit dem Essen auf uns wartete, freiwillig erzählte, daß sie glaubte, der Herr Smith sei gestern morgen spazieren gewesen und erst eine halbe Stunde vor dem schrecklichen Ereignis zurückgekehrt. Ich selbst konnte die Bedeutung dieses Nebenumstandes nicht einsehen, aber gleichwohl bemerkte ich, daß ihn Holmes seinem Bild, das er sich von dem Fall gemacht hatte, einverleibte, und daß er auch in dieses Schema zu passen schien. Denn er sprang plötzlich vom Stuhl auf und sah nach der Uhr. »Zwei, meine Herren,« sagte er. »Wir müssen hinaufgehen und die Sache mit unserem Freund, dem Professor ins reine bringen.«

Der alte Herr war gerade mit dem Essen fertig, und die leeren Schüsseln bewiesen, daß seine Haushälterin recht gehabt hatte mit ihrer Prophezeiung; er mußte einen ordentlichen Hunger gehabt haben. Als er sein weißes Haupt emporhob und uns mit seinen durchbohrenden Augen ansah, machte er wirklich einen bezaubernden Eindruck. Die unvermeidliche Zigarette qualmte schon wieder in seinem Munde. Er war angezogen und saß in seinem Lehnstuhl am Kamin.

»Nun, Herr Holmes, haben Sie das Geheimnis schon aufgeklärt?« Er schob die große Schachtel Zigaretten, die neben ihm auf dem Tische stand, meinem Gefährten hin. Holmes streckte gleichzeitig seine Hand aus, und das Kistchen kam zu weit über die Tischkante hinaus, verlor das Gleichgewicht und fiel zu Boden. Ein oder zwei Minuten lagen wir alle auf den Knien Und lasen in alle Winkel zerstreute Zigaretten auf. Als wir aufstanden, bemerkte ich an Holmes, daß seine Augen glänzten und seine Wangen leicht gerötet waren. Nur in entscheidenden Augenblicken zeigten sich diese Kampfsignale.

»Jawohl,« versetzte er, »ich hab’s aufgedeckt.«

Hopkins und ich starrten ihn erstaunt an. Ueber das hagere Gesicht des alten Professors zuckte es wie Hohnlachen und Spott.

»Tatsächlich! Im Garten?«

»Nein, hier.«

»Hier! Wann?«

»Eben.«

»Sie scherzen gewiß, Herr Holmes. Da muß ich Ihnen freilich sagen, daß die Sache doch zu ernst ist, um in dieser Weise verhandelt zu werden.«

»Ich habe jedes einzelne Glied meiner Kette sorgfältig geschmiedet und geprüft, Herr Professor Coram, und ich weiß bestimmt, daß sie stark und fest ist. Ihre Motive und Ihre ganze Rolle, die Sie in diesem eigenartigen Falle spielen, durchschaue ich noch nicht ganz. In wenigen Minuten werde ich’s wahrscheinlich aus Ihrem eigenen Munde hören. Ich will Ihnen daher, was vorgefallen ist, vorher noch einmal im Zusammenhang erzählen, damit Sie wissen, welcher Aufklärung ich noch bedarf.

»Gestern kam eine Dame in Ihr Studierzimmer, mit der Absicht, sich gewisse Papiere anzueignen, die sich in dem Schränkchen befanden. Einen Schlüssel brachte sie selbst mit. Ich habe den Ihrigen betrachtet, wie Sie wissen, und jene leichte Spur nicht gefunden, welche der Kritzer hätte daran hervorbringen müssen. Sie haben also keine Schuld und, soweit ich es bis jetzt beurteilen kann, kam sie ohne Ihr Wissen.«

Der Professor blies eine dicke Rauchwolke von sich. »Das ist ja äußerst interessant und lehrreich,« sagte er dann. »Haben Sie nichts mehr hinzuzufügen? Da Sie die Spur dieser Dame so weit verfolgt haben, können Sie gewiß auch sagen, was weiter aus ihr geworden ist.«

»Ich will es versuchen. Zuerst wurde sie von Ihrem Sekretär ergriffen, den sie niederstach, um zu entkommen. Diesen tödlichen Ausgang bin ich geneigt, als einen unglücklichen Zufall anzusehen, denn ich bin überzeugt, daß die Dame nicht die Absicht gehabt hat, ein solches Verbrechen zu begehen. Ein Mörder kommt nicht unbewaffnet. Erschreckt über ihre Tat, verließ sie in wilder Flucht die Stätte des Unglücks. Zu ihrem Leidwesen hatte sie in dem Handgemenge ihren Klemmer eingebüßt, und bei ihrer starken Kurzsichtigkeit war sie ohne die Gläser vollkommen hilflos. Sie lief einen Korridor entlang, durch den sie hereingekommen zu sein glaubte – weil beide mit Strohmatten belegt waren – und als sie gewahr wurde, daß sie in den falschen Gang geraten war, war es zur Rückkehr schon zu spät, sie war ihr bereits abgeschnitten. Was sollte sie machen? Sie konnte nicht zurück, sie konnte aber auch nicht stehen bleiben. Sie mußte vorwärts. Sie lief weiter. Sie kam an eine kleine Treppe, ging diese hinauf, stieß eine Türe auf und befand sich in Ihrer Kammer.«

Der Alte saß mit offenem Mund in seinem Stuhle und starrte meinen Freund groß an. Staunen und Furcht malten sich aus seinem ausdrucksvollen Gesicht. Dann zuckte er mit einiger Anstrengung die Schultern und brach in ein falsches Lachen aus.

»Das ist alles sehr schön, Herr Holmes,« erwiderte er dann. »Aber Ihr Beweis hat eine Lücke. Ich war selbst in meinem Zimmer hier und bin den ganzen Tag nicht hinausgekommen.«

»Das weiß ich wohl, Herr Professor Coram.«

»Und Sie glauben wohl, daß ich hier im Bett liegen könnte, ohne gewahr zu werden, daß ein Weib in mein Zimmer tritt?«

»Das habe ich nicht gesagt. Sie wußten es. Sie haben mit ihr gesprochen. Sie haben sie gekannt, Sie wollen ihr zur Flucht verhelfen.«

Der Professor fing wieder laut zu lachen an. Er war aufgestanden, seine Augen funkelten wild vor Wut. »Sie sind toll!« schrie er. »Sie sprechen wie ein Verrückter. Ich hälfe ihr zur Flucht! Wo ist sie denn nun?«

»Dort,« sagte Holmes und zeigte auf einen hohen Bücherschrank in der Ecke.

Der Alte rang die Hände, ein krampfhaftes Zucken ging über sein grimmes Gesicht und er sank zurück in seinen Stuhl. Im selben Moment ging die Tür des bezeichneten Bücherschrankes auf und ein Weib stand vor uns. »Sie haben recht!« rief sie mit merkwürdigem, fremdländischem Klang. »Sie haben recht! Ich bin hier.«

Sie war mit Staub und Spinnengewebe bedeckt von den Wänden ihres Verstecks. Auch im Gesicht hatte sie Schmutzstreifen. Aber auch davon abgesehen, konnte sie nie hübsch gewesen sein. Sie zeigte genau die körperlichen Merkmale, die Holmes auf den Zettel geschrieben hatte, hinzu kam nur noch ein langes, vorstehendes Kinn. Teils wohl infolge ihrer Kurzsichtigkeit, teils infolge des jähen Wechsels zwischen Dunkelheit und Licht, stand sie wie geblendet und blinzelte unaufhörlich, um zu erkennen, wer und wo wir waren. Und doch, trotz all dieser körperlichen Nachteile lag eine gewisse Vornehmheit in dem Benehmen dieses Weibes, eine Hochherzigkeit in dem unschönen Kinn und dem erhobenen Kopfe, der einem eine Art Achtung und Bewunderung abnötigte. Hopkins hatte sie am Arm gefaßt und sie als seine Gefangene erklärt, aber sie schob ihn sanft zur Seite, und zwar mit einer überlegenen Würde, die Gehorsam erzwingt. Der Alte lag in den Stuhl zurückgelehnt, sein Gesicht zuckte, und die Augen waren starr auf die Frau gerichtet.

»Jawohl, ich bin Ihre Gefangene,« sagte sie. »Von meinem Platz aus konnte ich alles hören, und ich weiß, daß Sie die Wahrheit herausgebracht haben. Ich gestehe alles ein. Ich habe den jungen Mann getötet. Aber Sie haben recht, daß es ein Unglücksfall war. Ich wußte noch nicht einmal, daß es ein Messer war, was ich in meiner Hand hatte, denn in meiner Verzweiflung erwischte ich irgend etwas vom Tisch und schlug nach ihm, damit er mich gehen lassen sollte. Ich sage die Wahrheit, ich lüge nicht.«

»Gnädige Frau,« bemerkte Holmes, »ich zweifle nicht daran. Mir scheint, Sie werden unwohl.«

Sie hatte sich verfärbt, die Totenblässe trat durch die schwarzen Schmutzstriche auf ihrem Gesicht noch stärker hervor. Sie setzte sich auf den Bettrand und fuhr dann fort:

»Ich habe nur noch wenig Zeit hier, aber Sie sollen die volle Wahrheit von mir erfahren. Ich bin dieses Mannes Frau. Er ist kein Engländer. Er ist ein Russe. Seinen Namen will ich nicht nennen.«

Jetzt rührte sich der Greis zum ersten Male. »Gott segne dich, Anna!« rief er. »Gott segne dich!«

Sie warf ihm einen Blick größter Verachtung zu. »Warum klammerst du dich so krampfhaft an dein elendes Leben, Sergius?« erwiderte sie. »Es hat so viele unglücklich gemacht und niemanden glücklich – dich selbst nicht ‚mal. Doch ist es nicht meine Sache, dich zu veranlassen, den schwachen Lebensfaden vor dem normalen Ende durchzuschneiden. Ich habe schon genug auf mich geladen, seitdem ich diese verfluchte Schwelle übertreten habe. Aber ich muß reden, es wird sonst zu spät.

»Ich habe Ihnen gesagt, meine Herren, daß ich die Frau dieses Mannes bin. Er war fünfzig und ich ein törichtes Mädchen von zwanzig, als wir heirateten. Es war in einer russischen Stadt, einer Universitätsstadt – den Namen will ich nicht nennen.«

»Gott vergelt dir’s, Anna!« murmelte wieder der Alte.

»Wir waren Reformisten – Revolutionäre – Nihilisten, Sie verstehen mich. Er und ich und viele andere. Dann kam eine Zeit der Verfolgung; ein Polizeibeamter wurde getötet, es fanden viele Verhaftungen statt, man suchte einen Zeugen, und um sein eigenes Leben zu retten und die ausgesetzte hohe Belohnung zu verdienen, verriet er seine Frau und seine Genossen. Auf seine Aussage hin wurden wir alle festgenommen. Einige kamen an den Galgen und einige nach Sibirien. Unter den letzteren war ich, aber ich hatte nicht lebenslänglich. Mein Mann ging mit seinem unredlich erworbenen Vermögen nach England und hat hier stets zurückgezogen gelebt. Er weiß wohl, daß, wenn der Bund seinen Aufenthaltsort kennte, er schwerlich länger als eine Woche zu leben haben würde.«

Der Alte streckte die zitternde Hand aus, um sich eine Zigarette zu nehmen, dann sagte er: »Ich bin in deiner Hand, Anna. Du bist mir immer gut gewesen.«

»Aber seine größte Schurkerei habe ich noch nicht erzählt,« fuhr sie fort. »Unter unseren Genossen war einer, der meinem Herzen nahe stand. Er war edel, selbstlos und liebreich – was mein Mann alles nicht war. Er haßte die Gewalttat. Wir waren alle schuldig – wenn man dabei von schuldig sprechen kann – nur er war’s nicht. Er schrieb uns stets, daß wir diesen Weg nicht einschlagen sollten. Auf diese Briefe hin würde er freigesprochen worden sein. Ebenso würde ihn mein Tagebuch gerettet haben, worin ich täglich meine Gefühle gegen ihn, sowie unseren politischen Standpunkt eingetragen hatte. Mein Mann machte Tagebuch und Briefe ausfindig und behielt sie. Er versteckte sie und hätte diesen Mann gerne durch seinen Eid an den Galgen gebracht. Das gelang ihm nicht, aber Alexis wurde in eine Zwangskolonie nach Sibirien gebracht, wo er noch jetzt, bis auf diesen Augenblick, in einem Salzbergwerk arbeitet. Bedenke das, du Schurke, du Elender; jetzt, jetzt, in diesem Augenblick muß Alexis, ein Mann, dessen Namen du nicht würdig bist, auf die Zunge zu nehmen, arbeiten und leben wie ein Sklave, und trotzdem ich dein Leben in meiner Hand habe, laß‘ ich dich gehen.«

»Tu warst immer ein edles Weib, Anna,« warf der Alte dazwischen und zog an seiner Zigarette.

Sie hatte sich erhoben, sank aber mit einem leisen Schrei des Schmerzes wieder nieder.

»Ich muß rasch zu Ende kommen,« sagte sie. »Als meine Zeit um war, nahm ich mir vor, mir das Tagebuch und meine Briefe wieder zu verschaffen, welche, an die russische Regierung gesandt, meines Freundes Freilassung bewirken würden. Ich wußte, daß sich mein Mann nach England gewandt hatte. Nach monatelangem Suchen entdeckte ich seinen Aufenthaltsort. Ich wußte, daß er das Tagebuch noch im Besitz hatte, denn nach Sibirien hat er mir einmal einen Brief geschrieben, worin er mir Vorwürfe machte und einige Stellen daraus anführte. Aber ich kannte seine rachsüchtige Natur zu gut, um zu wissen, daß er mir’s nie freiwillig geben würde. Ich mußte mir’s selbst zu verschaffen suchen. Zu diesem Zweck nahm ich einen Agenten von einem Privatdetektivinstitut an, der als Sekretär bei meinem Manne eintrat – es war dein zweiter Sekretär, Sergius, derjenige, der dich so schnell verlassen hat. Er entdeckte, daß die Papiere in jenem Schränkchen eingeschlossen waren, und machte ein Modell vom Schloß. Weiter wollte er nicht gehen. Er versah mich mit einem Plan des Hauses und sagte mir, daß am Vormittag das Studierzimmer fast stets leer sei, weil der Sekretär hier hinten zu tun habe. So faßte ich endlich den Vorsatz und kam hierher, um die Briefschaften wiederzuerlangen. Es gelang mir, aber um welchen Preis!

»Ich hatte gerade die Papiere herausgenommen und wollte das Schränkchen wieder zuschließen, als mich der junge Herr ergriff. Ich hatte ihn schon am Morgen gesehen. Ich traf ihn auf der Straße und fragte ihn, wo Professor Coram wohne; ich wußte nicht, daß er in seinen Diensten stand.«

»Richtig! richtig!« sagte Holmes. »Der Sekretär ist zurückgekommen und hat seinem Herrn von dem Weibe erzählt, das er getroffen hatte. Dann wollte er in den letzten Sekunden kund tun, daß sie’s war, sie, über die er eben mit dem Professor gesprochen hatte.«

»Sie müssen mich reden lassen,« sagte die Frau in befehlendem Tone, während sie das Gesicht vor Schmerzen verzog. »Als er zu Boden gefallen war, stürzte ich aus dem Zimmer, erwischte die verkehrte Tür und stand meinem Mann gegenüber. Er sagte, daß er mich der Polizei überliefern wolle. Ich bedeutete ihm, daß ich auch sein Leben in der Hand hatte. Wenn er mich der Behörde übergäbe, könnte ich ihn dem Bunde überantworten. Ich wollte nicht meinetwegen mein Leben retten, sondern ich wollte meinen Zweck erfüllen. Er wußte, daß ich Wort halten würde, und daß sein eigenes Schicksal mit meinem verquickt war. Aus diesem Grunde, und nur aus diesem, beherbergte er mich. Er steckte mich in jenen dunkeln Schrank, ein Ueberbleibsel aus vergangenen Zeiten. Er allein kannte meinen Aufenthalt. Er aß in seinem Zimmer und konnte mich so mit einem Teil seiner Speise versehen. Es war abgemacht, daß ich, sobald die Polizei das Haus verlassen hätte, bei Nacht hinausschlüpfen und nie wiederkehren sollte. Aber Sie haben unsere Pläne bis zu einem gewissen Grade erraten und sie durchkreuzt.« Sie riß ein kleines Paketchen aus ihrem Busen. »Jetzt komme ich zum Schluß,« rief sie, »hier sind die Papiere, die Alexis retten werden. Ich vertraue sie Ihrer Ehre und Ihrer Gerechtigkeitsliebe an. Nehmen Sie sie hin! Uebergeben Sie sie der russischen Botschaft. Nun habe ich meine Pflicht erfüllt, und –«

»Haltet sie!« rief Holmes. Er war mit einem Sprung bei ihr und entwand ihrer Hand ein kleines Fläschchen.

»Zu spät!« sagte sie und sank zurück auf das Bett. »Zu spät! Ich habe das Gift genommen, eh‘ ich aus meinem Versteck heraustrat. Mir wird schwindlig! Ich sterbe! Vergessen Sie das Paketchen nicht!«

»Ein einfacher Fall, und in mancher Hinsicht doch ein recht lehrreicher,« bemerkte Holmes, als wir zur Stadt zurückfuhren. »Es drehte sich vom Anfang an um den Klemmer. Wenn der Sterbende dieses Glas nicht erfaßt hätte, so hätten wir womöglich nie die Lösung gefunden. Es war mir klar, daß die Trägerin einer so starken Nummer ohne Augengläser ganz hilflos gewesen sein mußte. Als Sie mir zumuteten, zu glauben, daß sie auf einem so schmalen Rasenstreifchen hingegangen sein sollte, ohne einen einzigen Fehltritt deiner Gegenwart, Watson, ohne daß du freilich meine Absicht ganz verstandest, daß Professor Corams Nahrungsaufnahme zugenommen hatte – wie das ja zu erwarten war bei jemandem, der eine zweite Person mit ernährte. Dann gingen wir wieder hinauf, und durch das Umkippen des Zigarettenkistchens verschaffte ich mir eine günstige Gelegenheit, den Fußboden genau in Augenschein zu nehmen. Ich sah sehr deutlich an den Spuren auf der Zigarettenasche, daß die Gefangene in unserer Abwesenheit ihr Versteck verlassen hatte.

*

Nun, Herr Hopkins, hier ist Charing Croß. Ich gratuliere Ihnen, daß Sie Ihren Fall so glücklich zu Ende geführt haben. Sie werden doch wohl ins Hauptquartier gehen. Wir beide, Watson, wollen zusammen nach der russischen Botschaft fahren.«

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Die einsame Radfahrerin.


Die einsame Radfahrerin.

Vom Jahre 1894–1901 einschließlich war Sherlock Holmes ein außerordentlich beschäftigter Mann. Man kann ohne Uebertreibung sagen, daß es kaum einen irgendwie schwierigen Fall von öffentlichem Interesse gab, zu dem er während dieses Zeitraums nicht zugezogen worden wäre, außerdem spielte er auch noch in Hunderten von oft sehr verzwickten und außergewöhnlichen privaten Angelegenheiten eine hervorragende Rolle. Viele überraschende Erfolge und nur einige wenige unvermeidliche Mißerfolge waren das Resultat dieser langen Periode mühseliger, unablässiger Tätigkeit. Da ich sämtliche Fälle notiert und bei vielen selbst mitgewirkt habe, fällt es mir natürlich nicht leicht, eine richtige Auswahl zur Veröffentlichung zu treffen. Ich will jedoch meinem alten Grundsatz treu bleiben und solchen Fällen den Vorzug geben, die mehr infolge der scharfsinnigen und dramatischen Lösung als durch die Schwere des Verbrechens selbst ein weiteres Interesse beanspruchen können. Von diesem Gesichtspunkte ausgehend, will ich jetzt die Geschichte des Fräuleins Violet Smith, der einsamen Radfahrerin von Charlington, erzählen. In dieser Angelegenheit wurden durch unsere Untersuchung eigentümliche begleitende Umstände ans Licht gebracht, welche zu einem ganz unerwarteten tragischen Ende führten. Wenn auch in Anbetracht der Verhältnisse mein Freund gerade diejenigen Fähigkeiten, derentwegen er berühmt wurde, nicht voll zur Geltung bringen konnte, so gehört doch dieser Fall infolge der begleitenden Nebenumstände mit zu den bemerkenswertesten.

Aus meinem Tagebuch geht hervor, daß wir am Sonnabend, den 23. April 1895, zum ersten Male den Besuch des Fräulein Smith erhielten. Holmes war er, wie ich mich erinnere, äußerst unangenehm, weil er damals in ein sehr dunkles Problem, die absonderliche Verfolgung des bekannten Tabakkönigs John Vincent Harden, vertieft war. Mein Freund, der Konzentration der Gedanken über alles schätzte, war stets ungehalten, wenn seine Aufmerksamkeit von dem Gegenstande, der ihn gerade beschäftigte, durch irgend etwas anderes abgelenkt wurde. Und doch mußte er, wenn er nicht unhöflich werden wollte, was seiner Natur zuwider war, die Erzählung des jungen hübschen Mädchens ruhig anhören, das noch in später Abendstunde zu uns in die Bakerstraße kam und uns um Rat und Beistand bat. Es war vergeblich, die junge Dame darauf aufmerksam zu machen, daß seine Zeit bereits voll und ganz in Anspruch genommen sei; sie war mit dem festen Entschluß gekommen, uns ihre Geschichte vorzutragen, und würde, bevor sie das getan hätte, nur mit Gewalt zu entfernen gewesen sein. So sah sich Holmes denn gezwungen, unserem schönen Eindringling einen Stuhl anzubieten und ihn zu ersuchen, uns zu erzählen, was ihn bedrücke.

»Wenigstens kann es sich bei Ihnen um keine Gesundheitsstörung handeln,« sagte er, nachdem er sie scharf betrachtet hatte; »bei einer so kühnen Radfahrerin gibt’s keine Körperschwäche.«

Sie sah erstaunt auf ihre Füße, und ich konnte an ihren Schuhen sehen, daß sie an einer Stelle durch die Reibung am Pedal etwas abgeschabt waren.

»Allerdings radle ich ziemlich viel, Herr Holmes, und das steht auch in einem gewissen Zusammenhang mit meinem heutigen Besuch bei Ihnen.«

Mein Freund nahm die bloße Hand der Dame in die seinige und untersuchte sie mit so viel Aufmerksamkeit und so wenig Gefühl wie ein Kenner eine Warenprobe.

»Sie werden entschuldigen,« sagte er, indem er sie losließ, »aber in meinem Beruf darf man nichts außer acht lassen. Ich war beinahe versucht, anzunehmen, daß Sie Schreibmaschine schreiben, aber es kommt offenbar vom Klavierspielen. Siehst du die plattgedrückten Fingerspitzen, Watson, die bei beiden Berufsarten charakteristisch sind? Aber das Gesicht zeigt einen geistigen Zug,« – er drehte es zart gegen das Licht – »den Maschinenschreiberinnen gewöhnlich nicht haben. Diese Dame ist also wohl Musiklehrerin.«

»Jawohl, Herr Holmes, ich gebe Klavierunterricht.«

»Auf dem Lande, soviel aus Ihrer Gesichtsfarbe hervorgeht.«

»Jawohl, mein Herr; in der Nähe von Farnham, an der Grenze von Surrey.«

»Eine schöne Gegend, die interessante Erinnerungen in mir wachruft. Watson, entsinnst du dich noch, daß wir dort in der Nähe den Schmied Stamford gefaßt haben? Nun, Fräulein Violet, was ist Ihnen bei Farnham denn passiert?«

Die junge Dame gab folgende klare und ruhige Schilderung:

»Mein Vater lebt nicht mehr, Herr Holmes. Er hieß James Smith und war Kapellmeister am alten Königlichen Theater. Meine Mutter und ich hatten weiter keine Verwandte als einen Onkel Ralph Smith. Dieser ist vor fünfundzwanzig Jahren nach Afrika ausgewandert, und wir haben seit jener Zeit kein Wort von ihm gehört. Unser Vater ließ uns in großer Armut zurück, aber eines Tages erfuhren wir, daß in der »Times« ein uns betreffender Aufruf gestanden habe. Sie können sich unsere Aufregung denken, denn wir glaubten, es habe uns jemand ein Vermögen ausgesetzt. Wir gingen sofort zu dem in der Zeitung namhaft gemachten Vertreter. Dort trafen wir zwei Herren, Herrn Carruther und Herrn Woodley, die zu Besuch aus Südafrika in der Heimat weilten. Sie sagten uns, mein Onkel sei ein Freund von ihnen gewesen und vor einigen Monaten ganz arm in Johannesburg gestorben; er hätte sie noch kurz vor seinem Tode beauftragt, sich nach seinen Verwandten umzusehen, und sie vor Not zu schützen. Es kam uns sonderbar vor, daß sich Onkel Ralph, der sich zu seinen Lebzeiten nie um uns gekümmert hatte, noch um unser Wohlergehen nach seinem Tode solche Sorge machen sollte. Herr Carruther klärte jedoch die Sache dahin auf, daß mein Onkel damals erst den Tod meines Vaters in Erfahrung gebracht und dadurch nun ein gewisses Verantwortlichkeitsgefühl gehabt hätte.«

»Entschuldigen Sie,« sagte Holmes; »wann fand diese Unterredung statt?«

»Vergangenen Dezember – vor vier Monaten.«

»Bitte, fahren Sie fort.«

»Herr Woodley machte auf mich einen höchst unangenehmen Eindruck. Er hatte ein gemeines, pausbäckiges Gesicht mit rotem Schnurrbart und glattgescheiteltem Haupthaar und warf mir die ganze Zeit über freche Blicke zu. Er kam mir vollkommen häßlich und widerwärtig vor – und ich fühlte bestimmt, daß Cyril von einer solchen Bekanntschaft nichts würde wissen wollen.«

»Aha, Cyril heißt er!« sagte Holmes lächelnd.

Die junge Dame errötete und lachte.

»Ja, Herr Holmes; Cyril Morton ist sein Name, er ist Ingenieur, und wir wollen uns Ende des Sommers verheiraten. Ach Gott, wie bin ich nur auf ihn zu sprechen gekommen? Was ich sagen wollte, Herr Woodley erschien mir äußerst hassenswert, dagegen war mir Herr Carruther, obwohl viel älter, nicht unsympathisch. Er war ein dunkler, blasser Mann mit glattrasiertem Gesicht und von ruhigem Temperament; er hatte gute Manieren und ein angenehmes Lächeln. Er erkundigte sich nach unseren Verhältnissen, und als er erfuhr, daß wir arm seien, machte er mir den Vorschlag, seiner einzigen, zehnjährigen Tochter Musikunterricht zu erteilen. Ich sagte ihm, daß ich meine Mutter nicht gerne allein lassen möchte. Darauf erwiderte er, daß ich sie alle Sonnabend besuchen könnte. Er bot mir hundert Pfund fürs Jahr, gewiß eine noble Bezahlung. Ich willigte schließlich ein und ging hinunter nach Chiltern Orange, ungefähr sechs Meilen von Farnham entfernt. Herr Carruther war Witwer und hatte zur Führung des Haushaltes eine sehr achtbare ältere Dame, Frau Dixon, in seine Dienste genommen. Die Tochter war ein recht liebenswürdiges Kind, und alles schien gut zu gehen. Herr Carruther war sehr gut gegen mich, er war selbst auch musikalisch, und wir haben sehr schöne Abende zusammen verlebt. Jeden Sonnabend ging ich nach Hause zu meiner Mutter in die Stadt.

»Die erste Trübung erfuhr mein Glück durch die Ankunft des Herrn Woodley. Er kam zu Besuch auf eine Woche, aber ach! mir wurde sie länger als drei Monate. Er war ein schrecklicher Mensch, ein furchtbarer Prahlhans bei allen Leuten, aber bei mir am allermeisten. Er machte mir häßliche Liebeserklärungen, renommierte mit seinem Reichtum, wenn ich ihn heiratete, würde ich die herrlichsten Diamanten in ganz London bekommen, und eines Tages endlich, als ich ihm sagte, daß ich nichts mit ihm zu schaffen haben wollte, nahm er mich in seine Arme – er war riesig stark – und schwor, daß er mich nicht eher loslassen würde, bis ich ihm einen Kuß gegeben hätte. Als Herr Carruther ins Zimmer trat und ihn von mir losriß, wandte er sich gegen seinen eigenen Gastgeber, indem er ihn zu Boden schlug und mißhandelte. Wie Sie sich denken können, war damit der Besuch zu Ende. Herr Carruther entschuldigte sich am folgenden Tage bei mir und versicherte mir, daß ich nie wieder einer derartigen Beschimpfung ausgesetzt sein würde. Seit damals habe ich Herrn Woodley nicht wieder gesehen.

»Nun kommt erst die eigentliche Veranlassung zu bestellt hätte, so daß ich künftighin diese einsamen Wege nicht mehr allein zu machen brauchte.

»Der Wagen sollte diese Woche kommen, aber aus irgend einem Grunde wurde er nicht geliefert, und ich mußte wieder nach der Station radeln. Das war heute morgen. Wie Sie sich denken können, hielt ich auf der Charlingtoner Heide Umschau, und wahrhaftig, der Mann war wieder da, genau wie die vorhergehenden Male. Er kam mir nie so nahe, daß ich sein Gesicht deutlich sehen konnte, aber sicher war es ein Unbekannter. Er trug einen dunklen Anzug und eine Tuchmütze. Das einzige, was ich richtig sehen konnte, war sein dunkler Bart. Ich hatte heute weniger Angst, war vielmehr neugierig und fest entschlossen, herauszukriegen, wer er sei und was er wolle. Ich fuhr ganz langsam, da fuhr er auch so langsam. Ich hielt ganz an, er ebenfalls. Nun wollte ich ihm eine Falle stellen. Der Weg macht eine scharfe Biegung, ich fuhr rasch um die Ecke ‚rum, sprang ab und wartete. Er sollte nun schnell ebenfalls herumsausen und an mir vorüberkommen, ohne vorher halten zu können. Aber er ließ sich nicht sehen. Ich fuhr zurück und guckte um die Ecke. Ich konnte die Straße eine Meile weit überblicken, er war jedoch nirgends zu entdecken. Das plötzliche Verschwinden wurde dadurch noch rätselhafter, daß an dieser Stelle kein Seitenweg abging, den er benutzt haben könnte.«

Holmes rieb sich vergnügt die Hände.

»Der Fall ist von ganz besonderer Art,« sagte er. »Wieviel Zeit lag wohl dazwischen – ich meine zwischen Ihrer Fahrt um die Ecke und Ihrer Umkehr, wo niemand mehr zu sehen war?«

»Zwei oder drei Minuten.«

»In dieser Zeit kann er also nicht auf der Straße außer Sehweite gekommen sein, und Seitenwege, sagen Sie, gibt’s dort nicht?«

»Nein.«

»Dann muß er auf einem Fußpfad nach der einen oder anderen Seite entkommen sein.«

»Nach der Seite der Heide ist es ausgeschlossen, denn da müßte ich ihn gesehen haben.«

»Wenn das alles unmöglich ist, so bleibt nur der eine Ausweg nach Charlington Hall zu. – Haben Sie noch weitere Angaben zu machen?«

»Nein, Herr Holmes. Ich möchte nur noch bemerken, daß ich sehr bestürzt war und mich nicht eher beruhigen werde, bis ich Ihren erfahrenen Rat und Ihren Beistand habe.«

Holmes verharrte eine Zeitlang in Schweigen.

»Wo wohnt Ihr Bräutigam?« fragte er endlich.

»In Coventry, er ist bei der Midland-Elektrizitätsgesellschaft in Stellung.«

»Sollte er nicht vielleicht Sie haben überraschen wollen?«

»Oh, Herr Holmes. Und ob ich den nicht erkannt hätte!«

»Haben Sie sonst noch Verehrer gehabt?«

»Ja, einige – ehe ich Cyril kennen lernte.«

»Und seitdem weiter keinen?«

»Wenn Sie den schrecklichen Woodley nicht so nennen wollen, nein.«

»Sonst wissen Sie von keinem?«

Unsere hübsche Klientin wurde etwas verlegen.

»Gestehen Sie’s nur, Fräulein Smith,« sagte Holmes, »wer hat Sie außerdem noch verehrt?«

»Ach, es ist vielleicht bloß Einbildung von mir; aber manchmal schien mir’s, als ob mein Prinzipal, Herr Carruther, sich stärker für mich interessiere. Wir sind ziemlich viel zusammen, ich begleite ihn abends immer auf dem Klavier. Er hat zwar nie etwas geäußert, er ist ein gebildeter Mann – aber ein Mädchen fühlt’s schon heraus.«

»Aha!« rief Holmes und machte ein ernstes Gesicht. »Was führt er für ein Leben?«

»Er ist reich.«

»Und hat keine Wagen und Pferde?«

»Wenigstens gibt er sich den Anstrich größerer Wohlhabenheit. Er geht wöchentlich zwei- bis dreimal zur Stadt. Er ist an südafrikanischen Minenwerten stark interessiert.«

»Setzen Sie mich sofort in Kenntnis, wenn sich die Angelegenheit weiter entwickelt, Fräulein Smith. Ich habe gegenwärtig sehr viel zu tun, werde mir jedoch die Zeit nehmen, in Ihrer Sache Nachforschungen anzustellen. Tun Sie aber inzwischen keinen Schritt, ohne mich vorher zu benachrichtigen. Adieu, hoffentlich haben Sie uns nur Gutes zu berichten.«

»Es ist ganz natürlich, daß ein solches Mädchen umworben wird,« sagte Holmes und tat nachdenklich einen Zug aus der Pfeife, »daß es aber auf dem Rad und auf einsamen Landstraßen geschieht, ist doch auffallend. Zweifellos ist’s ein stiller Liebhaber. Der ganze Fall scheint mir an sich weniger interessant, Watson, er bietet aber eigentümliche Begleitumstände, die allerhand Anregung zum Nachdenken geben.«

»Das Merkwürdigste ist, daß sich der Mann nur an der einzigen Stelle gezeigt hat, nicht wahr?«

»Gewiß. Wir müssen damit beginnen, die Pächter von Charlington Hall ausfindig zu machen. Dann müssen wir auskundschaften, woher die Freundschaft zwischen Carruther und Woodley stammt, sie scheinen doch grundverschiedene Charaktere zu sein. Wie kamen sie beide dazu, sich so sehr um Ralph Smiths Verwandte zu kümmern? Noch eins. Was ist das für ein sonderbarer Hausherr, der für eine Erzieherin das doppelte des üblichen Gehaltes zahlt und sich kein Pferd hält, obwohl er sechs Meilen vom Bahnhof wohnt? Das ist sonderbar, Watson – höchst sonderbar!«

»Du willst also hinunter gehen?«

»Nein, mein Lieber, das kannst du tun. Vielleicht ist es doch nur eine unwichtige Sache, und ich kann meine bedeutungsvolle Untersuchung deswegen jetzt nicht unterbrechen. Montag in der Frühe kannst du in Farnham sein. Du mußt dich dann in der Nähe der Charlingtoner Heide verbergen, aufpassen, was sich ereignet, und nach eigenem Ermessen vorgehen. Wenn du dann noch über die Inhaber von Charlington Erkundigungen eingezogen hast, fährst du zurück und erstattest mir Bericht. Und nun eher kein Wort mehr über die Sache, bis wir einen soliden Untergrund gefunden haben, auf dem wir weiter bauen können.«

Wir wußten, daß die Dame Montag morgen mit dem Zug 9 Uhr 50 von der Waterloobrücke abfahren würde; ich nahm also den früheren Zug um 9 Uhr 13 Minuten. Von Farnham gelangte ich ohne Schwierigkeiten nach der Charlingtoner Heide. Der Schauplatz des Abenteuers der jungen Dame war gar nicht zu verfehlen. Auf der einen Seite des Weges breitete sich weithin die Heide aus, auf der anderen zog sich ein Wäldchen mit stattlichen Bäumen hin, welches von alten Taxussträuchern umgeben war. In diesen großen Park führte ein Haupteingang aus Stein. Die Steine waren von Moos überzogen, und die Pfeiler zeigten noch verwitterten heraldischen Schmuck. Außer dieser Einfahrt bemerkte ich noch mehrere Lücken in dem Heckenzaun und schmale Pfade, auf denen man den Wald erreichen konnte. Die Gebäude selbst waren von der Straße aus nicht zu sehen, aber die ganze Umgebung zeugte von dem Verfall dieses Besitztums.

Das weite Heideland war mit goldenen Ginsterblüten übersäet, die in dem herrlichen Frühlingssonnenschein erglänzten. Hinter einem dieser Büsche stellte ich mich so auf, daß ich den Eingang nach dem Schloß und ein gutes Stück der Landstraße nach beiden Richtungen übersehen konnte. Sie war anfangs vollkommen menschenleer, aber bald gewahrte ich einen Radfahrer. Er fuhr nach der Seite, von der ich gekommen war. Er hatte einen dunklen Anzug an, und ich konnte auch den schwarzen Bart unterscheiden. Als er auf Charlingtoner Gebiet kam, sprang er von seiner Maschine ab, schob sie durch eine Lücke im Zaun und entschwand meinen Blicken.

Nach einer Viertelstunde tauchte wieder ein Radfahrer auf. Ich merkte bald, daß es unsere junge Dame war, die vom Bahnhof kam. Ich sah, wie sie sich umschaute, als sie den Wald erreichte. Im nächsten Moment stürzte der Mann aus seinem Versteck hervor, schwang sich aufs Rad und fuhr hinter ihr her. Weit und breit waren die beiden die einzigen Lebewesen. Das anmutige Weib saß kerzengerade auf ihrem Bycicle, während der Mann hinter ihr sich tief auf die Lenkstange herunterbeugte und sehr unsicher fuhr. Plötzlich machte sie unvermutet kehrt und fuhr beherzt auf ihn los! Er drehte sein Rad jedoch ebenso rasch herum und raste in eiliger Flucht davon. Sofort wandte sie sich wieder um und kam stolz erhobenen Hauptes wieder die Straße herauf, ohne sich weiter um ihren stillen Trabanten zu kümmern. Auch er fuhr wieder zurück und in angemessener Entfernung hinter ihr her. Als sie um die Krümmung herum waren, verlor ich sie aus dem Gesicht.

Ich blieb noch in meinem Versteck, und das war sehr gut, denn kurz darauf fuhr der Mann wieder langsam zurück. Er bog in das Eingangstor ein und stieg dann ab. Ein paar Minuten konnte ich ihn noch sehen. Er hatte die Hände in der Höhe und schien seine Krawatte in Ordnung zu bringen. Alsdann setzte er sich wieder auf, fuhr auf dem Parkweg weiter nach dem Schloß zu und entschwand in dem dichten Unterholz meinen Blicken. Ganz hinten in der Ferne konnte ich die altersgrauen Gebäude mit den schwarzgeräucherten Schornsteinen sehen.

Immerhin glaubte ich, ein ganz gutes Tagewerk getan zu haben und wanderte wohlgemut nach Farnham. Ein Agent am Orte vermochte mir über Charlington Hall keine Auskunft zu geben, sondern verwies mich an eine bekannte Adresse in Pall Mall. Dort sprach ich auf dem Heimweg vor und wurde von dem Vertreter der Firma höflich empfangen. Ich könnte Charlington Hall für diesen Sommer leider nicht mehr vermietet bekommen. Es sei vor ungefähr einem Monat einem gewissen Herrn Williamson überlassen worden, einem ehrwürdigen älteren Herrn. Ueber die Verhältnisse desselben könne er mir zu seinem Bedauern keine nähere Auskunft geben, weil er über die Privatangelegenheiten seiner Kunden nicht sprechen dürfe.

Holmes hörte den langen Bericht, den ich ihm an jenem Abend abstattete, aufmerksam an. Das erwartete Lob blieb indessen aus. Im Gegenteil, sein strenges Gesicht nahm einen noch strengeren Ausdruck an, als er Punkt für Punkt mit mir durchging, was ich getan hatte und was ich nicht getan hatte.

Dein Versteck, mein lieber Watson, war schlecht gewählt, du hättest dich hinter den Taxuszaun stellen müssen, dann würdest du diese interessante Persönlichkeit aus der Nähe gesehen haben. Aber so hast du einige hundert Meter entfernt gestanden und kannst mir nun weniger sagen als Fräulein Smith. Sie glaubt, es ist ein Unbekannter; ich bin fest überzeugt, daß es ein Bekannter ist. Warum sollte er denn sonst so ängstlich darauf bedacht sein, von ihr ja nicht gesehen zu werden? Du sagst, er beugte sich auffallend tief auf die Lenkstange herunter. Das hatte doch auch nur den Zweck, sich nicht erkennen zu lassen. Du hast deine Sache wirklich merkwürdig schlecht gemacht. Du willst ausfindig machen, wer er ist, und läßt ihn ruhig in seine Wohnung zurückkehren und gehst zu einem Häuseragenten in London!«

»Was sollte ich denn tun?« rief ich ziemlich erregt.

»Ins erste beste Wirtshaus gehen. Da erfährt man solche Sachen. Da hättest du alle Namen vom Herrn bis zum Spülmädchen herunter erfahren. Williamson! Das sagt mir gar nichts. Wenn er ein älterer Mann ist, kann er nicht so gewandt vom Rad auf- und abspringen und diesem kräftigen Mädchen entfliehen. Was haben wir nun durch deine Expedition eigentlich gewonnen? Die Ueberzeugung, daß die Erzählung der Dame auf Wahrheit beruht. Die hatte ich auch vorher. Daß zwischen dem Radfahrer und dem Schloß eine Verbindung besteht. Daran habe ich ebensowenig gezweifelt. Daß der Mieter Williamson heißt. Wozu soll uns das nützen? Nun, nun, mein lieber Herr, tu‘ nicht so beleidigt. Bis zum nächsten Sonnabend können wir nicht viel unternehmen, und inzwischen kann ich selbst ein paar Recherchen anstellen.«

Am nächsten Morgen bekamen wir einen Brief von Fräulein Smith, worin sie kurz und klar angab, was ich gesehen hatte. Die Hauptsache war jedoch die Nachschrift: –

»Ich glaube sicher, daß Sie mein Vertrauen rechtfertigen, Herr Holmes. Ich muß Ihnen mitteilen, daß meine Stellung hier sehr schwierig geworden ist. Mein Herr hat mir nämlich tatsächlich einen Heiratsantrag gemacht. Ich bin überzeugt, daß seine Neigung tief und echt ist. Meine Antwort können Sie sich denken. Er nahm meine Weigerung sehr ernst, aber doch auch sehr artig auf. Sie werden sich vorstellen können, daß unser Verhältnis etwas gespannt ist.«

»Unsere junge Freundin befindet sich in einer nicht beneidenswerten Lage,« sagte Holmes, als er den Brief zu Ende gelesen hatte. »Ihr Fall zeigt sich bereits von einer interessanteren Seite und entwickelt sich womöglich noch weiter, als ich ursprünglich annahm. Ich wäre daher nicht abgeneigt, einen gemütlichen Tag auf dem Land zu verleben. Ich will also gleich heute nachmittag hinunterfahren und sehen, ob die eine oder andere meiner Vermutungen sich bestätigt.«

Holmes‘ gemütlicher Tag hatte einen merkwürdigen Abschluß. Er kam spät in der Nacht in der Bakerstraße an und hatte eine geschwollene Lippe und eine blaue Beule auf der Stirn; er war überhaupt so übel zugerichtet, daß sein eigener Zustand eines polizeilichen Eingreifens bedurft hätte. Seine Erlebnisse machten ihm jedoch ungeheuren Spaß, und er lachte herzlich, als er sie erzählte.

»So ’ne kleine körperliche Uebung ist für mich immer ein Hochgenuß,« fing er an. »Du weißt, daß ich eine gewisse Kenntnis des guten alten englischen Sports, des Boxens besitze. Manchmal kommt sie einem zu statten. Zum Beispiel heute. Ohne sie würde ich eine sehr kümmerliche Rolle gespielt haben.«

Ich bat ihn, mir zu erzählen, was vorgefallen sei. regelrechten Kampf gegen einen wüsten Raufbold. Du siehst, wie ich daraus hervorgegangen bin. Herr Woodley mußte in einem Wagen nach Hause gefahren werden. Damit endete meine Landpartie, und ich muß zugeben, daß dieser Tag, so erfreulich er auch sonst für mich war, nicht viel mehr Zweck gehabt hat als der deinige.«

Der Donnerstag brachte uns einen zweiten Brief unseres Schützlings.

»Sie werden nicht weiter überrascht sein, Herr Holmes,« schrieb sie, »wenn ich Ihnen mitteile, daß ich die Stelle bei Herrn Carruther verlasse. Selbst das hohe Gehalt kann mich für meine Leiden nicht entschädigen. Am Sonnabend komme ich hinauf nach London und werde nicht wieder zurückkehren. Herr Carruther hat sein Gefährt bekommen, und somit sind die Gefahren des einsamen Weges, wenn überhaupt je welche bestanden haben, nun vorüber.

»Die besondere Veranlassung zum Aufgeben meines Dienstes ist nicht nur das gespannte Verhältnis mit Herrn Carruther, sondern die Wiederankunft jenes verhaßten Mannes, des Herrn Woodley. Er war immer häßlich, jetzt sieht er aber noch schrecklicher aus, als je, er scheint einen Unfall erlitten zu haben, er ist ganz entstellt. Ich sah ihn am Fenster, glücklicherweise bin ich ihm nicht begegnet. Er hat lange mit Herrn Carruther verhandelt, der danach einen sehr erregten Eindruck machte. Woodley muß sich in der Nachbarschaft aufhalten, denn er hat nicht hier geschlafen, und trotzdem sah ich ihn heute morgen bereits im Garten umherschleichen. Er ist mir widerwärtiger, als ein wildes Tier. Ich verabscheue und fürchte ihn mehr, als ich es in Worten ausdrücken kann. Wie kann Herr Carruther einen solchen Menschen nur eine Minute dulden? Nun, alle meine Bekümmernis wird am Sonnabend aufhören.«

»Ich will’s hoffen, Watson,« sagte Holmes in ernstem Tone. »Das arme Weib wird von Gaunern umlauert, und wir haben die Pflicht, dafür zu sorgen, daß ihr auf ihrer letzten Reise nichts passiert. Wir müssen uns, glaube ich, die Zeit nehmen und Sonnabend morgen zusammen hinunterfahren, damit diese merkwürdige Angelegenheit am Ende nicht noch schief geht.«

Ich muß zugeben, daß ich der Sache bis jetzt kein großes Gewicht beigelegt hatte, sie war mir mehr komisch und töricht als gefährlich vorgekommen. Daß ein Mann auf ein schönes Mädchen wartet und es verfolgt, ist nichts Unerhörtes, und wenn er so wenig Mut hatte, daß er es nicht einmal anzureden wagte, sondern bei seiner Annäherung floh, so war er kein sehr zu fürchtender Angreifer. Der scheußliche Woodley war freilich ein anderer Kerl, immerhin jedoch hatte auch er sie, mit Ausnahme des einen Mals, nicht belästigt, und bei seinem zweiten Besuch im Hause Carruthers ihr gar keine Beachtung geschenkt. Der Radfahrer gehörte zweifelsohne zu jener Gesellschaft, von der der Wirt gesprochen hatte, aber über seine Persönlichkeit und seine Beziehungen wußten wir noch so wenig wie vorher. Erst der Ernst in Holmes‘ Benehmen und die Tatsache, daß er einen Revolver einsteckte, als wir weggingen, rief in mir das Gefühl wach, daß hinter diesen eigentümlichen Vorgängen doch eine Gefahr lauern könnte.

Einer regnerischen Nacht folgte ein heiterer Morgen. Die Heidelandschaft mit dem blühenden Ginster tat unseren Augen, die der grauen schmutzigen Straßen und Häuser Londons müde waren, außerordentlich wohl. Holmes und ich marschierten die breite, sandige Landstraße entlang und schlürften die frische Morgenluft und freuten uns an dem Gesang der Vögel und dem Duft des Frühlings. Von einer Anhöhe aus konnten wir das verfallene Schloß erblicken, das über die alten Eichen hervorragte, die aber trotz ihres hohen Alters noch jünger waren als das Gebäude, welches sie umgaben. Holmes deutete den langen Weg hinunter, der sich wie ein rötlichgelbes Band zwischen der braunen Heide und dem jungen Grün des Waldes dahinschlängelte. Ganz in der Ferne bemerkten wir einen dunklen Fleck, es war ein Fuhrwerk, das sich in der Richtung auf uns zu bewegte, Holmes war sehr unwillig.

»Ich wollte eine halbe Stunde vor ihr ankommen,« rief er aus. »Wenn das ihr Wagen ist, muß sie mit einem früheren Zug fahren wollen. Ich fürchte, Watson, sie wird eher an Charlington vorbeikommen, ehe wir dort sein können.«

Sobald wir den Hügel überschritten hatten, konnten wir das Gefährt nicht mehr sehen. Wir beschleunigten unsere Schritte dermaßen, daß meine sitzende Lebensweise bald dagegen protestierte und mich nötigte zurückzubleiben. Holmes lief jedoch immer voran, er hatte unerschöpfliche Kraftvorräte, von denen er zehren konnte. Seine elastischen Beine machten nicht eher Halt, bis er plötzlich, ungefähr hundert Meter vor mir, stehen blieb und verzweifelt die Hände emporrang. Im selben Augenblick kam ein leerer Wagen um die Krümmung des Weges und rasselte uns entgegen; das Pferd lief einen leichten Galopp, und die Zügel schleiften auf dem Boden.

»Zu spät, Watson; zu spät!« rief Holmes, als ich keuchend an ihn heran kam. »’n Esel war ich, daß ich nicht mit dem früheren Zug rechnete! ’s ist Entführung, Watson – Entführung! Mord! Gott weiß was noch! Versperr‘ den Weg! Halt‘ das Pferd auf! So ist’s recht. Nun spring ’nein, wir wollen sehen, ob ich die Folgen meiner eigenen Dummheit noch gut machen kann.«

»Als wir im Wagen saßen, drehte Holmes um, gab dem Pferd einen Schlag mit der Peitsche, und wir sausten zurück. Als wir um die Kurve herum waren, lag die ganze Strecke offen vor uns. Ich ergriff Holmes beim Arm.

»Dort ist der Mann!« rief ich.

Ein einsamer Radfahrer kam auf uns zu. Der Kopf hing vorn herunter, und der Rücken war so stark gekrümmt, als ob er seine ganze Kraft zum Treten brauchte. Er raste wie ein Rennfahrer. Plötzlich erhob er sein bärtiges Gesicht, erblickte uns in ziemlicher Nähe, sprang vom Rad und blieb stehen. Der pechschwarze Bart stand in eigentümlichem Kontrast zu der Blässe seines Gesichts und seine Augen leuchteten wie bei einem Fieberkranken. Er starrte bald uns an, bald den Wagen. Dann zeigte sich ein Staunen in seinen Zügen.

»He da! Halt!« rief er uns zu und wollte uns mit dem Fahrrad den Weg versperren. »Wo haben Sie den Wagen her? Halten Sie still!« schrie er, und zog eine Pistole hervor. »Halten Sie still, oder, bei Gott, ich schieß‘ Ihr Pferd zusammen.«

Holmes warf mir die Zügel in den Schoß und sprang herunter.

»Sie sind der Mann, den wir suchen. Wo ist Fräulein Violet Smith?« fragte er ruhig und bestimmt.

»Das frage ich Sie auch. Sie sind in ihrem Wagen. Sie müßten wissen, wo sie ist.«

»Der Wagen begegnete uns unterwegs. Es saß aber niemand drin. Wir fuhren zurück, um der jungen Dame Hilfe zu bringen.«

»Barmherziger Himmel! Barmherziger Himmel! was soll ich anfangen?« schrie der Fremde verzweiflungsvoll. »Sie haben sie geraubt, der verdammte Woodley und der elende Pfaffe. Kommen Sie, lieber Mann, kommen Sie mit, wenn Sie wirklich ihr Freund sind. Helfen Sie mir, wir woll’n sie retten, und wenn mich’s das Leben kosten sollte.«

»Er lief wie wahnsinnig, die Pistole in der Hand, nach einer Lücke in dem lebenden Zaun. Holmes rannte hinter ihm her, und ich hinter Holmes – das Pferd ließ ich am Wege grasen.

»Hier sind sie durchgekommen,« sagte mein Freund, indem er auf verschiedene Fußspuren auf dem feuchten Pfade deutete. »Hallo! Halt! Wer liegt dort im Gebüsch?«

Es war ein junger Bursche von ungefähr siebzehn Jahren in der Kleidung eines Stallknechts mit ledernen Hosen und Gamaschen. Er lag auf dem Rücken mit angezogenen Knien und einer klaffenden Kopfwunde. Er war besinnungslos, gab aber noch Lebenszeichen von sich. Ein Blick auf seine Wunde sagte mir, daß der Knochen nicht getroffen war.

»Das ist Peter, mein Stallknecht,« rief der Fremde. »Er hat sie gefahren. Die Halunken haben ihn vom Wagen heruntergerissen und niedergeschlagen. Laßt ihn liegen, ihm können wir doch nicht mehr helfen, aber vielleicht können wir sie noch vor dem Schlimmsten bewahren, was einem Weib passieren kann.«

Wir rasten den Waldpfad hinunter und hatten das Strauchwerk vor dem Haus erreicht, als Holmes anhielt.

»Sie sind nicht ins Haus gegangen. Hier ist ihre Fährte, links hier – an den Lorbeerbüschen entlang! Ich hab‘ mir’s gleich gedacht!«

Während er sprach, drangen aus dem dichten grünen Buschwerk vor uns gellende Angstschreie eines Weibes an unser Ohr – Schreie, aus denen Wut und Schrecken zu hören war. Sie endigten plötzlich auf ihrem Höhepunkt in gurgelnden Lauten, wie wenn jemand gewürgt wird.

»Hierher! Hierher!« rief uns der Fremde zu, »sie sind in der Kegelbahn!« Er stürzte durch die Büsche. »Ah, die feigen Hunde! Folgen Sie mir! Zu spät! zu spät! Bei Gott, zu spät!«

Wir standen plötzlich auf einem hübschen grünen Rasenplatz, der von ehrwürdigen Bäumen eingefaßt Arm in die Seite gestemmt, mit dem anderen eine Reitpeitsche schwingend; seine ganze Haltung zeigte Triumphieren. Dazwischen stand ein älterer Herr mit grauem Bart. Er trug einen schwarzen Priesterrock über einem hellen Sommeranzug und hatte offenbar eben die Trauung vollendet, denn, als wir auf der Bildfläche erschienen, klappte er gerade sein Gebetbuch zu, klopfte den Bräutigam kräftig auf die Schulter und gratulierte ihm in jovialer Weise.

»Sie sind getraut worden!« rief ich.

»Kommen Sie!« schrie unser Führer, »kommen Sie!« Er stürzte über den Rasen, Holmes und ich hinter ihm her. Als wir näher kamen, wankte die Dame an den Baumstamm, um sich daran festzuhalten. Der Expriester Williamson machte eine höhnische Verbeugung, und der Renommist Woodley schritt uns frohlockend entgegen.

»Du kannst deinen Bart abnehmen, Bob,« sagte er zu unserem Verbündeten. »Ich kenne dich zur Genüge. Nun, du und deine Genossen, ihr kommt gerade recht; darf ich euch Frau Woodley vorstellen?«

Die Antwort unseres Führers war sehr merkwürdig. Er riß den schwarzen Bart, womit er sich unkenntlich gemacht hatte, herunter, und warf ihn zur Erde. Darunter kam ein langes, bleiches, glattrasiertes Gesicht zum Vorschein. Dann zog er seinen Revolver hervor und hielt ihn auf den jugendlichen Schurken, der auf ihn zukam und drohend die Reitpeitsche schwang.

»Jawohl,« sagte er, »ich bin Bob Carruther und werde diesem Weibe Recht verschaffen, und wenn ich dafür an den Galgen kommen sollte. Ich hab‘ dir gesagt, was ich tun würde, wenn du Gewalt anwendetest, und, bei Gott, ich halte mein Wort!«

»Du kommst zu spät. Sie ist meine Frau!«

»Nein, deine Witwe.«

Ein Schuß krachte, und durch Woodleys Weste spritzte das Blut hervor. Er drehte sich im Kreis herum und fiel mit einem lauten Aufschrei zur Erde; sein ekelhaftes rotes Gesicht wurde schrecklich blaß. Der Alte im Talar brach in eine Flut von Schimpfreden und Flüchen aus, wie ich sie noch nie gehört hatte. Er zog ebenfalls einen Revolver, aber, bevor er ihn in Schußhöhe brachte, sah er Holmes Waffe auf sich gerichtet.

»Genug,« sagte mein Freund, ganz kaltblütig. »Legen Sie das Ding fort! Heb’s auf, Watson! Setz‘ es ihm auf die Stirn! Danke dir. Sie, Carruther, geben Sie Ihren Revolver auch her. Wir wollen keine Gewalttätigkeiten weiter. Kommen Sie, geben Sie ’n mir!«

»Wer sind Sie denn?«

»Mein Name ist Sherlock Holmes.«

»Heiliger Himmel!«

»Sie haben schon von mir gehört, wie ich merke. Ich will die offizielle Polizei vertreten, bis sie selbst hier ist. Hier, Sie!« rief er einem Knecht zu, der erschreckt auf den Platz geeilt war. »Kommen Sie her, und reiten Sie so schnell wie möglich mit diesem Zettel nach Farnham.« Er kritzelte rasch einige Worte auf ein Blatt aus seinem Notizbuch. »Dieses Papier geben Sie dem Polizeiinspektor. Bis zu seinem Eintreffen bleiben Sie alle unter meiner Bewachung.«

Mit seinem entschlossenen und energischen Auftreten beherrschte Holmes die ganze Szene, und die Menschen waren alle Puppen in seiner Hand. Williamson und Carruther mußten den verwundeten Woodley ins Haus schaffen, und ich reichte dem erschreckten Weibe den Arm. Der Verletzte wurde auf sein Bett gelegt, und ich untersuchte ihn auf Holmes‘ Bitte. Als ich ihm darüber berichten wollte, fand ich ihn in dem alten Speisezimmer, seine beiden Gefangenen saßen vor ihm.

»Er wird durchkommen,« sagte ich.

»Was!« schrie Carruther und sprang vom Stuhl auf. »Dann will ich erst ’nauf und ihm den Rest geben. Soll dieses Mädchen, dieser Engel, sein Lebtag an diesen rohen Woodley gekettet sein?«

»Darüber brauchen Sie sich nicht aufzuregen,« sagte Holmes. »Aus zwei gewichtigen Gründen ist diese Ehe unter allen Umständen ungültig. Erstens dürfen wir wohl die gesetzliche Berechtigung des Herrn Williamson anzweifeln.«

»Ich bin ordiniert,« schrie der alte Schurke.

»Aber auch wieder abgesetzt.«

»Einmal Priester, immer Priester.«

»Ich glaube kaum. Wie steht’s mit der Licenz?«

»Die hatten wir. Ich habe sie hier in der Tasche.«

»Dann haben Sie sie durch List bekommen. Aber auf jeden Fall, eine erzwungene Heirat ist keine Heirat; übrigens ist es ein sehr schweres Verbrechen, wie Sie einsehen werden. Wenn ich nicht irre, werden Sie ungefähr zehn Jahre Zeit haben, über die Sache nachzudenken. Was Sie anbelangt, Carruther, so hätten Sie Ihren Revolver besser in der Tasche gelassen.«

»Das wird mir allmählich auch klar, Herr Holmes, als ich mir aber überlegte, was ich all für Vorsichtsmaßregeln angewandt hatte, um dieses Mädchen zu beschirmen – ich liebte sie, Herr Holmes, und habe erst dieses einzigemal erfahren, was Liebe ist – brachte mich der Gedanke, sie in der Gewalt dieses Mannes zu wissen, ganz von Sinnen, denn er ist der roheste und großsprecherischste Patron in ganz Südafrika, ein Mensch, dessen Name von Kimberley bis nach Johannesburg einen schrecklichen Klang hat. Ja, Herr Holmes, Sie werden es kaum glauben, aber vom ersten Augenblick an, wo diese Dame in meinen Diensten stand, habe ich sie nicht ein einzigesmal dieses Haus, wo diese Schurken auf der Lauer lagen, passieren lassen, ohne ihr auf meinem Rad zu folgen und zu sehen, daß ihr kein Leid geschehe. Ich hielt mich stets in einiger Entfernung und trug einen Bart, damit sie mich nicht erkennen sollte, denn sie ist ein gutes und wohlanständiges Mädchen, das nicht bei mir in Stellung geblieben sein würde, wenn sie gewußt hätte, daß ich ihr auf der Landstraße nachfuhr.«

»Warum sagten Sie ihr nichts von der Gefahr?«

»Weil sie mich dann verlassen haben würde und ich das nicht ertragen zu können glaubte. Wenn sie mich auch nicht lieben konnte, so gereichte es mir doch zur Beruhigung, ihre liebliche Gestalt zu sehen und ihre wohlklingende Stimme zu hören.«

»Sie nennen das Liebe, Herr Carruther,« sagte ich, »ich möchte es Selbstsucht nennen.«

»Mag sein, die beiden Begriffe gehen ineinander über. Wie dem auch sei, ich konnte sie nicht fortlassen. Außerdem war es bei einer solchen Nachbarschaft gut für sie, daß sie einen Menschen hatte, der sich um sie kümmerte. Als dann das Telegramm kam, wußte ich, daß sie nun energisch vorgehen würden.«

»Was für ein Telegramm?«

Carruther zog eine Depesche aus der Tasche.

»Dieses hier,« sagte er.

Es lautete kurz und bündig: – Der Alte ist tot.

»Hm! Jetzt sehe ich,« sagte Holmes, »wie die Gurken hängen, und verstehe, warum sie diese Botschaft zu raschem Handeln anspornte. Aber, während wir warten, erzählen Sie mir, was Sie noch wissen.«

Der alte Kujon im Priesterrock fing wieder furchtbar zu schimpfen an.

»Bei Gott!« rief er, »wenn du uns verrätst, Carruther, werde ich dir dasselbe tun, was du Woodley getan hast. Ueber das Weib kannst du winseln, soviel du willst, das ist deine Sache, wenn du aber gegenüber deinen Helfershelfern hier zu offen wirst, dann kann dir’s sehr übel bekommen.«

»Ehrwürden brauchen sich nicht so aufzuregen,« sagte Holmes und zündete sich eine Zigarette an. »Der Fall liegt ganz klar, und ich frage Sie nur aus privater Neugier nach einigen Einzelheiten. Sollte es Ihnen aber unangenehm sein, mir zu antworten, so will ich Ihnen die Sache aufdecken, und Sie können dann sehen, was Sie von Ihren Geheimnissen noch übrig behalten. Erstens, Sie drei – Sie, Carruther und Woodley – sind zusammen aus Afrika gekommen.«

»Das ist die erste Lüge,« rief der Alte; »ich habe bis vor zwei Monaten keinen von diesen beiden gekannt und bin nie im Leben in Afrika gewesen. Die Einleitung ist also schon falsch, Sie überschlauer Herr!«

»Er sagt die Wahrheit,« bemerkte Carruther.

»Also gut, zwei von Ihnen sind herübergekommen. Seine Ehrwürden ist auf heimatlichem Boden gewachsen. Sie zwei kannten Ralph Smith. Sie wußten, daß er nicht mehr lange leben würde. Sie kundschafteten aus, daß seine Nichte die Erbin seines Vermögens war. Ist’s so – he?«

Carruther nickte und Williamson fluchte.

»Sie war zweifellos die nächste Anverwandte, und Sie wußten, daß er kein Testament machen würde.«

»Er konnte ja weder lesen noch schreiben,« warf Carruther dazwischen.

»Sie reisten also beide herüber und spürten das Mädchen auf. Sie kamen dahin überein, daß sie einer heiraten und der andere einen Anteil von der Beute bekommen sollte. Auf irgend eine Weise wurde Woodley zu ihrem Gatten bestimmt. Wie geschah das?«

»Wir spielten auf der Reise Karten um sie, und er gewann.«

»Ich verstehe. Sie nahmen die junge Dame in Ihre Dienste, und Woodley sollte ihr da den Hof machen. Sie erkannte, daß er ein gemeiner Trunkenbold war, und wollte nichts mit ihm zu tun haben. Mittlerweile verliebten Sie sich selbst in das Mädchen, und ihre Abmachung wurde dadurch über den Haufen geworfen. Sie konnten den Gedanken, daß sie dieser rohe Kerl zur Frau bekommen sollte, nicht länger ertragen.«

»Nein, bei Gott, das konnte ich nicht mehr!«

»Sie gerieten in Streit. Er ging wütend aus Ihrem Hause und beschloß, auf eigene Faust vorzugehen.«

»Es ist verblüffend, Williamson,« rief Carruther dem Rad dahinter herfuhr. Sie hatte jedoch einen großen Vorsprung, und ehe ich sie einholen konnte, war das Unglück bereits geschehen. Ich merkte es erst, als ich Sie beide Herren in ihrem Wagen zurückfahren sah.«

Holmes stand von seinem Stuhl auf und warf den Stummel seiner Zigarette in den Kamin. »Ich bin ganz vernagelt gewesen, Watson,« sagte er dann. »Du berichtetest mir damals, daß du den Radfahrer gesehen hättest, wie er deiner Ansicht nach in dem Gebüsch seine Krawatte in Ordnung gebracht hätte; das allein hätte mir alles sagen müssen. Immerhin können wir uns zu dem merkwürdigen und in mancher Einsicht einzigartigen Falle gratulieren. Dort kommen drei Gendarmen, und der kleine Kutscher ist zu meiner Freude auch dabei; es ist also zu erwarten, daß er sowohl wie der interessierte Bräutigam von den heutigen Abenteuern keinen dauernden Schaden haben wird. Ich denke, Watson, du gehst in deiner Eigenschaft als Arzt zu Fräulein Smith und sagst ihr, daß wir ihr, wenn sie sich soweit erholt hat, gerne das Geleit zu ihrer Mutter geben. Wenn sie sich noch nicht kräftig genug fühlt, wollen wir an den jungen Elektrotechniker bei Midland depeschieren, und du wirst sehen, daß sie dann bald vollständig gesund sein wird. Was Sie betrifft, Herr Carruther, so glaube ich, daß Sie Ihr mögliches getan haben, um Ihre Schuld zu sühnen, die Sie durch Teilnahme an diesem bösen Plan aus sich geladen hatten. Hier haben Sie meine Karte, wenn Ihnen mein Zeugnis bei Gericht von Nutzen sein kann, stehe ich Ihnen gern zur Verfügung.«

*

Im Strudel unseres bewegten Lebens ist es mir oft schwer gefallen – der Leser wird es wahrscheinlich schon bemerkt haben – meine Erzählungen gut abzurunden und am Schluß die nötigen Mitteilungen nicht zu vergessen, die man erwarten kann. Bei der Fülle unserer Fälle sind jedoch bei jedem einzelnen die handelnden Personen, sobald die Entscheidung vorüber ist, schnell aus meinem Gedächtnis entschwunden. Am Ende meiner Aufzeichnungen über diesen Fall finde ich jedoch folgenden Nachtrag: Fräulein Smith hat tatsächlich ein großes Vermögen geerbt und ist jetzt die Gattin Cyril Mortons, des älteren Teilhabers von Morton und Kennedy, der bekannten Elektrizitätsgesellschaft in Westminster. Williamson und Woodley sind wegen Körperverletzung und Entführung angeklagt worden, dieser hat zehn, jener sieben Jahre bekommen. Ueber das Schicksal Carruthers habe ich keine Notiz, aber ich glaube sicher, weil Woodley als gewalttätiger Mensch bekannt war, hat der Gerichtshof sein Vergehen mild beurteilt und einige Monate Gefängnis als ausreichende Sühne angesehen.

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Im leeren Hause.

Im leeren Hause.

Im Frühling des Jahres 1894 war ganz London in Aufregung. Besonders die vornehme Welt war durch die Ermordung des Herrn Ronald Adair tief erschüttert. Dieser junge Baron hatte unter höchst eigentümlichen Umständen und auf ganz unerklärliche Weise das Leben verloren. Das Publikum hat von diesem Verbrechen seinerzeit nur wenig Näheres erfahren, weil die polizeilichen Nachforschungen keinen Erfolg gehabt hatten, und überdies das meiste im Interesse der weiteren Verfolgung des an und für sich schon außerordentlich schwierigen Falles geheim gehalten werden mußte. Erst jetzt nach Verlauf von zehn Jahren bin ich in der Lage, die fehlenden Glieder der Kette sowie den Schluß der Untersuchung bekannt zu geben. Aber trotz dieser langen Zeit empfinde ich noch ein Schaudern, wenn ich an das Verbrechen und seine tragische Aufdeckung denke, fühle aber auch von neuem jene Freude und jene Bewunderung, die mich damals erfüllte, als es endlich gesühnt war. Die Öffentlichkeit möge mir’s zu gut halten, daß ich ihr nicht gleich alles, was ich wußte, mitgeteilt habe, nachdem sie bereits meinen früheren Erzählungen über das Tun und Denken eines merkwürdigen Mannes ein lebhaftes Interesse geschenkt hatte. Ich würde es sicherlich nicht verabsäumt haben, denn ich hielt es für meine vornehmste Pflicht; aber eine Bitte aus dem eigenen Munde eben dieses Mannes verhinderte mich daran, und erst vor ein paar Monaten bin ich von meinem Versprechen entbunden worden.

Wie man sich leicht denken kann, hatte ich infolge meiner intimen Freundschaft mit Sherlock Holmes an dem Verbrechen ein hervorragendes Interesse, und habe, weil er selbst nicht mehr da war, die verschiedenen Fragen, die daran geknüpft wurden, genau verfolgt und geprüft. Zu meiner Beruhigung habe ich sogar seine eigenen Methoden zur Aufklärung angewandt, freilich mit nur geringem Erfolge. Als ich las, daß in dem wegen der Ermordung des Ronald Adair eingeleiteten Verfahren auf Grund der Voruntersuchung die Anklage wegen vorsätzlichen Mordes gegen ›Unbekannt‹ erhoben worden war, kam es mir wieder deutlicher als je zuvor zum Bewußtsein, was die Gesellschaft an Sherlock Holmes verloren hatte. In dieser dunkeln Angelegenheit gab es Punkte klarzustellen, die gerade etwas für ihn gewesen wären, und die Anstrengungen der Polizei würden durch die Beobachtungen, die Gewandtheit und den Scharfsinn dieses ersten Detektivs Europas wesentlich ergänzt und in die richtigen Bahnen gelenkt worden sein. Jeden Tag, wenn ich meine Runde machte, überlegte ich mir den Fall von neuem, ohne jedoch zu einer ausreichenden und vollkommen befriedigenden Erklärung gelangen zu können.

Auf die Gefahr hin, einigen Lesern eine bekannte Geschichte zu erzählen, will ich hier doch die Tatsachen rekapitulieren, soweit sie am Schluß der Vorverhandlung bekannt waren:

Ronald Adair war der zweite Sohn des Grafen Maynooth, des damaligen Gouverneurs in einer australischen Kolonie. Adairs Mutter war von Australien nach England gekommen, um sich hier einer Augenoperation zu unterziehen; sie bewohnte mit ihrem Sohne Adair und ihrer Tochter Hilda das Haus Parkstraße 427 in London. Der junge Mann verkehrte in der besten Gesellschaft und hatte, soviel man wußte, keine Feinde und auch keine besonderen Laster. Er war mit einem Fräulein Edith Woodley aus Carstairs verlobt gewesen; dieses Verhältnis war einige Monate vor seinem Tode mit beiderseitiger Einwilligung gelöst worden, und nichts hatte darauf hingedeutet, daß dadurch ein tieferes Gefühl verletzt worden wäre. Im übrigen spielte sich das Leben des jungen Herrn in einem vornehmen kleinen Kreise ab, denn er war von ruhiger Natur und kein Freund von Extravaganzen.

Trotzdem wurde dieser friedliche junge Edelmann in der Nacht des 30. März 1894 zwischen zehn und elf Uhr zwanzig Minuten auf eine höchst merkwürdige Weise und gänzlich unerwartet vom Tode ereilt.

Ronald Adair spielte gerne Karten, aber nie so hoch, daß ihn Verluste geschmerzt hätten. Er war Mitglied des Baldwin-, des Cavendish- und des Bagatelle-Kartenklubs. Nach dem Abendessen hatte er an jenem Tage nachgewiesenermaßen in dem letztgenannten Klub eine Partie Whist gespielt. Er hatte auch bereits am Nachmittag dort gespielt. Nach Aussage seiner Mitspieler – des Herrn Murray, des Barons Hardy und des Obersten Moran – hatte es sich ebenfalls um Whist gehandelt, und waren die Karten ziemlich gleichmäßig gefallen. Adair konnte höchstens fünf Pfund verloren haben. Er besaß ein beträchtliches Vermögen, sodaß ihn ein derartiger Verlust nicht weiter rühren konnte. Er hatte fast jeden Tag in dem einen oder anderen Klub gespielt, aber er war ein vorsichtiger Spieler und gewann gewöhnlich. Es wurde durch Zeugen festgestellt, daß er einige Wochen vorher an einem einzigen Abend in Gemeinschaft mit dem Obersten Moran tatsächlich gegen 420 Pfund von Godfrey Milner und Lord Balmoral gewonnen hatte. Diese Angaben, die im Laufe der Untersuchung über sein Vorleben gemacht wurden, mögen genügen.

Am Abend des Verbrechens kehrte er Punkt zehn Uhr aus dem Klub zurück. Seine Mutter und Schwester waren zu Besuch bei einer Verwandten. Das Dienstmädchen hat unter Eid ausgesagt, daß sie ihn in das Vorderzimmer im zweiten Stock, wo er sich gewöhnlich aufhielt, hat eintreten hören. Sie hatte dort Feuer angemacht und, weil es rauchte, die Fenster geöffnet. Kein Laut war aus dem Zimmer an ihr Ohr gedrungen. Als um elf Uhr zwanzig Minuten die Gräfin mit ihrer Tochter zurückkehrte, wollte sie ihrem Sohn Gute Nacht sagen. Sie fand jedoch die Türe seines Zimmers von innen verschlossen, und bekam keine Antwort auf ihr Rufen und Klopfen. Sie holte Hilfe und ließ die Türe aufbrechen. Der unglückliche junge Mann lag in der Nähe des Tisches auf dem Boden. Sein Kopf war von einer Revolverkugel zerschmettert, aber in dem ganzen Raum war keine Waffe zu sehen. Auf dem Tische lagen zwei Zehnpfundscheine und siebzehn Pfund zehn Schilling in Gold und Silber; das Geld war in kleine Häufchen von verschiedenen Beträgen abgezählt. Daneben befand sich ein Blatt Papier, worauf einige seiner Klubfreunde gezeichnet waren. Unter jedem Bild stand der Name des Betreffenden; daraus wurde geschlossen, daß er vor seinem Ende die Verluste und Gewinne beim Kartenspiel hatte regeln wollen.

Die genauere Prüfung aller obwaltenden Umstände ließ die Sache nur immer rätselhafter erscheinen. In erster Linie war kein Grund einzusehen, warum der junge Mann von innen abgeriegelt haben sollte. Zwar war die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß es der Mörder getan hatte, und dann durch das Fenster entflohen war. Doch war dieses mindestens zwanzig Fuß über dem Boden, und das Beet mit blühenden Blumen unter dem Fenster zeigte keinerlei Fußspuren; die Blüten, wie der Erdboden selbst waren vollkommen unversehrt. Auch der schmale Rasenstreifen zwischen dem Haus und der Straße wies keine Fährte auf. Demnach mußte der junge Herr selbst die Tür abgeschlossen haben. Wie hatte er aber den Tod gefunden? Kein Mensch konnte durch das Fenster ein- oder ausgestiegen sein, ohne Spuren zu hinterlassen. Angenommen, es habe jemand durch das Fenster geschossen, so mußte es wahrhaftig mit merkwürdigen Dingen zugegangen sein, daß eine Revolverkugel so sicher getroffen hatte. Außerdem ist die Parkstraße sehr belebt, und kaum hundert Meter vom Haus befindet sich ein Droschkenhalteplatz, aber kein Mensch hatte einen Schuß gehört.

Und doch war die Leiche mit der Schußwunde ein untrügliches Zeichen, daß geschossen worden war, und zwar war die Verwundung derart, daß der Tod augenblicklich eingetreten sein mußte. – So lagen die Verhältnisse; sie wurden dadurch noch verwickelter, daß jeder ersichtliche Beweggrund zur Tat fehlte, denn, wie ich erwähnt habe, war der junge Adair ein Mann, der keinen Feind hatte, und außerdem war noch nicht einmal der Versuch gemacht worden, Geld oder Wertgegenstände im Zimmer zu entwenden.

Ich ließ mir den Tatbestand häufiger durch den Kopf gehen und bemühte mich immer wieder, eine Erklärung zu finden, unter welche man alle diese verschiedenen Tatsachen zusammenreimen, und von der aus man einen Ausgangspunkt finden könnte, was nach dem Ausspruch meines armen Freundes die Vorbedingung jeder weiteren Nachforschung bilden mußte. Ich machte jedoch, offen gestanden, nur sehr geringe Fortschritte in der Sache. Eines Abends wanderte ich durch die Parkstraße und befand mich gegen sechs Uhr an der Ecke der Oxfordstraße. Vor dem Hause, das ich mir ansehen wollte, war eine große Menschenmenge versammelt und richtete ihre Blicke auf ein bestimmtes Fenster desselben. Ein schlanker, hagerer Mann mit blauer Brille, in dem ich stark einen Geheimpolizisten vermutete, gab seine Ansicht über den Vorfall zum besten, während die übrigen um ihn herumstanden und seinen Ausführungen lauschten. Ich drängte mich möglichst nahe an den Sprecher heran, aber seine Ausführungen erschienen mir so unsinnig, daß ich bald verstimmt von dannen ging. Dabei stieß ich einen ältlichen Mann an, der hinter mir gestanden hatte, und eine Anzahl Bücher, die er unter dem Arm trug, fielen zu Boden. Ich half sie ihm schnell aufheben, erinnere mich aber trotzdem noch genau eines Bücher, die ich unglücklicherweise so übel behandelt hatte, waren aber offenbar in den Augen ihres Eigentümers unschätzbare Wertobjekte, denn er knurrte nur ein paar unverständliche Worte und drehte mir verächtlich den Rücken zu; und ich sah seinen Buckel und den weißen Backenbart in der Menge verschwinden.

Meine Wahrnehmungen in der Parkstraße 427 waren wenig dazu angetan, in das dunkle Problem, das mich beschäftigte, Licht zu bringen. Das Haus war durch eine niedrige Mauer mit einem Zaun von der Straße getrennt; beide zusammen konnten etwa fünf Fuß hoch sein. Es fiel also nicht besonders schwer, darüber hinweg in den Garten zu steigen, aber das Fenster war vollkommen unerreichbar: es führte weder eine Dachrinne noch sonst etwas hinauf, woran auch der gewandteste Kletterer hätte emporklimmen können. Ratloser als je zuvor, lenkte ich meine Schritte nach Kensington zurück. Ich hatte kaum fünf Minuten in meinem Arbeitszimmer gesessen, als das Dienstmädchen hereintrat und meldete, daß mich jemand zu sprechen wünsche. Zu meinem Erstaunen war es kein anderer als mein merkwürdiger alter Büchersammler. Er hatte ein scharfgeschnittenes, hageres Gesicht, von weißem Haar umrahmt, unter dem rechten Arm trug er seine kostbaren Bände, mindestens ein Dutzend an der Zahl.

»Sie werden sich wundern, mich hier zu sehen, mein Herr,« sagte er mit eigentümlicher, krächzender Stimme.

Ich gab das ohne weiteres zu.

»Nun,« fuhr er fort, »als ich hinter Ihnen her humpelte und Sie in dieses Haus gehen sah, dachte ich als pflichtschuldiger Mann, du willst gleich mal diesen freundlichen Herrn aufsuchen und ihm sagen, daß, wenn du vorhin ein bißchen schroff gewesen bist, es nicht so gemeint war, und ihm für seine Liebenswürdigkeit, daß er die Bücher wieder aufgehoben hat, deinen Dank abstatten.«

»Sie machen zuviel Aufhebens von dieser Kleinigkeit,« antwortete ich ihm. »Darf ich vielleicht fragen, woher Sie mich kennen?«

»Ich bin so frei, Ihnen zu sagen, daß ich Ihr Nachbar bin, mein kleiner Bücherladen liegt an der Ecke der Domstraße, und es würde mir eine große Ehre sein, wenn Sie mich mal besuchten. Vielleicht sind Sie auch ein Liebhaber interessanter Bücher. Ich habe die ›Britischen Vögel‹, den ›Catullus‹ und den ›Heiligen Krieg‹, Werke, von denen jedes einzelne ein kostbarer Schatz ist. Mit fünf solchen Bänden würden Sie jenes leere Fach dort in Ihrem Bücherschrank gerade ausfüllen können. Es sieht so nicht hübsch aus, nicht wahr?«

Ich drehte mich nach dem Bücherspind um. Als ich mich wieder zurückwandte, stand am Schreibtisch mir gegenüber mit lächelnder Miene Sherlock Holmes. Ich sprang auf, sah ihm ein paar Sekunden verwundert ins Gesicht, und bin dann allem Anschein nach zum ersten- und letztenmal in meinem Leben in Ohnmacht gefallen. Ich weiß nur noch so viel, daß mein Auge umnebelt wurde, und ich beim Erwachen meinen Kragen aufgeknöpft fand, und den brennenden Nachgeschmack von Branntwein auf den Lippen spürte. Holmes war über meinen Stuhl gebeugt und hielt das Fläschchen noch in der Hand.

»Mein lieber Watson,« erklang die wohlbekannte Stimme, »ich bitte dich tausendmal um Entschuldigung. Ich hatte keine Ahnung, daß du so nervenschwach geworden seist.«

Ich ergriff seine Hand.

»Holmes!« rief ich. »Bist du’s wirklich? Ist’s möglich, daß du noch lebst? Ist’s möglich, daß du aus jenem fürchterlichen Abgrund herausgeklettert bist?« [Fußnote]

»Einen Augenblick,« sagte er. »Fühlst du dich auch tatsächlich kräftig genug, um meiner Erzählung folgen zu können? Ich habe dich durch mein überflüssiges dramatisches Auftreten ernstlich erschreckt.«

»Ich bin wieder ganz auf dem Damm, aber wahrhaftig, Holmes, ich kann kaum meinen Augen trauen. Weiß Gott, ich kann mir gar nicht vorstellen, daß du – du in aller Welt – in meinem Studierzimmer stehen sollst!« Ich erfaßte wiederum den Aermel seines Rockes und fühlte den mageren sehnigen Arm hindurch »Wirklich, du bist kein Geist,« sagte ich. »Lieber Junge, ich freue mich über alle Maßen, dich wiederzusehen. Setz‘ dich und erzähl mir, wie du aus dem schrecklichen Abgrund lebend herausgekommen bist.«

Er nahm mir gegenüber Platz und zündete sich mit der ihm eigenen Gemütsruhe eine Zigarre an. Den langen Gehrock des Buchhändlers hatte er anbehalten, dagegen die übrige Kostümierung, das weiße Haar, den Bart und auch die Bücher auf den Tisch gelegt. Er sah noch hagerer und scharfsinniger aus als ehedem, aber sein Adlergesicht war so leichenblaß, als ob er in der letzten Zeit eine Krankheit durchgemacht hatte.

»Ich bin froh, daß ich mich wieder ordentlich ausstrecken kann,« begann er dann. »Für einen großen Mann ist es kein Vergnügen, wenn er stundenlang seine Körperlänge um einen Fuß verkürzen muß. Im übrigen, mein Lieber, mußt du mir zuerst sagen, ob du bei meiner Sache heute nacht mitwirken willst; es handelt sich um eine harte und gefährliche Arbeit. Es würde überhaupt am besten sein, wenn ich dir erst nach getaner Arbeit alles auseinandersetzte.«

»Ich bin äußerst gespannt und möchte es lieber jetzt gleich erfahren.«

»Du willst also heute nacht mitkommen?«

»Wann und wohin du willst.«

»Du bist wahrhaftig noch der Alte. Ehe wir zu gehen brauchen, können wir einen kleinen Imbiß nehmen. Also, was den Abgrund betrifft, war es nicht allzu schwer, herauszukommen, aus dem einfachen Grunde, weil ich gar nie drin war.«

»Du warst nie drin?«

»Nein, Watson, ich war niemals drin. Mein Schreiben an dich beruhte zwar vollständig auf Wahrheit. Ich zweifelte selbst nicht im geringsten daran, daß ich bald aufgehoben sein würde, als ich in einiger Entfernung die verdächtige Gestalt des ehemaligen Professors Mariarty auftauchen sah. Ich las in seinen grauen Augen einen unabänderlichen Entschluß. Ich wechselte ein paar Worte mit ihm und erhielt die gütige Erlaubnis, dir jene kurze Notiz zukommen zu lassen, die du später gefunden hast. Ich legte sie samt Zigarettentasche und Spazierstock auf den schmalen Pfad und wanderte weiter, während mir Mariarty immer auf den Fersen folgte. Als ich am Ende des engen und steilen Weges angelangt war, blieb ich stehen und leistete ihm Widerstand. Da er keine Waffe bei sich hatte, stürzte er einfach auf mich los und umschlang mich mit seinen langen Armen. Er war sich bewußt, was für ihn auf dem Spiel stand, und versuchte mit aller Gewalt, an mir Rache zu nehmen. Wir gerieten zusammen an den Rand des Wasserfalls. Ich besitze stürzte unter einem entsetzlichen Aufschrei hintenüber. Ich sah, wie er in die Tiefe fiel, an einen Felsenvorsprung aufschlug und unten ins Wasser plumpste.«

Staunend hörte ich Holmes‘ Schilderung, er selbst rauchte gemächlich seine Zigarre dabei.

»Aber zum Teufel!« warf ich ein, »ich habe doch mit eigenen Augen gesehen, daß zwei Fußspuren hinführten, aber keine zurück.«

»Das ging so zu: Im selben Moment, als der Professor verschwand, kam mir meine eigene Lage klar zum Bewußtsein. Sie war nicht ungünstig. Einerseits wußte ich allerdings, daß nicht Mariarty allein mir den Tod geschworen hatte; es blieben wenigstens noch drei andere, deren Rachebedürfnis nach dem Tode ihres Anführers sicher nicht abnehmen würde; lauter gefährliche Kunden, von denen mich der eine oder der andere gewiß einmal erwischen würde. Andererseits unterlag es für mich keinem Zweifel, daß sie freier und offener auftreten würden, wenn mich alle Welt für tot hielt. Sobald sich dann eine günstige Gelegenheit bieten würde, sie unschädlich zu machen, wollte ich wieder auftauchen und der Menschheit zeigen, daß ich doch noch am Leben wäre. Dies alles hatte ich, glaube ich, eher überdacht, als der Professor auf dem Grunde des Reichenbachfalles angekommen war; so schnell arbeitete damals mein Gehirn.

bequem verbergen konnte. Dort lag ich ganz behaglich ausgestreckt, lieber Watson, als ihr herbeikamet, um die näheren Umstände meines Todes festzustellen.

»Nachdem ihr endlich die unvermeidlichen, aber sehr irrigen Schlüsse gezogen hattet, begabt ihr euch ins Hotel zurück, während ich in meinem Versteck blieb. Ich hatte mir eingebildet, am Ende meiner Fährnisse angekommen zu sein, aber ein gänzlich unerwartetes Ereignis machte mir klar, daß mir noch mancherlei Ueberraschungen bevorstanden. Ein riesiger Felsblock kam plötzlich von oben herunter, sauste an mir vorüber und fiel donnernd hinab in die Tiefe. Im ersten Augenblick wähnte ich, es wäre ein Zufall, aber im nächsten erkannte ich bereits den wahren Sachverhalt. Als ich aufblickte, gewahrte ich nämlich das Gesicht eines Mannes, und ein zweiter Stein traf gerade meine Lagerstätte, kaum einen Fuß von meinem Kopf entfernt. Ich wußte nun, woran ich war. Mariarty hatte Helfershelfer gehabt, von denen einer – ich hatte auf einen Blick erkannt, was für ein gefährlicher Bursche es war – Wache gestanden hatte, während der Professor den Angriff ausgeführt hatte. Aus einer gewissen Entfernung, ohne daß ich ihn hatte sehen können, war er Zeuge vom Tode seines Freundes und von meiner Rettung gewesen. Er hatte gewartet, bis ihr weg waret, Watson, und war dann auf die Felswand geklettert, um womöglich das zu vollbringen, was seinem Gefährten nicht gelungen war.

»Es blieb mir nicht viel Zeit zum Besinnen, mein Lieber. Ich sah das grimmige Gesicht wieder über die Klippe lugen und merkte daraus, daß bald noch mehr Steinblöcke folgen würden. Ich kroch rückwärts die steile Wand hinunter. Ich glaube kaum, daß ich mit kühler Ueberlegung die Rückreise angetreten habe, denn sie war tausendmal schwieriger, als das Hinaufklettern. Doch hatte ich keine Muße, lange über die Gefahr nachzudenken, ein neuer Stein rollte an mir vorbei, als ich an der Kante des Vorsprungs hing. In der Mitte des Weges rutschte ich aus und kam durch ein gnädiges Geschick, wenn auch zerschunden und blutend, glücklich unten auf dem Pfade an. Ich machte mich gleich auf die Beine, marschierte in der Nacht noch zehn Meilen weit durch das Gebirge und befand mich eine Woche später, in dem sicheren Bewußtsein, daß kein Mensch in der Welt wisse, was aus mir geworden sei, in Florenz.

»Ich hatte nur einen einzigen Vertrauten – meinen Bruder Mycroft. Ich bitte dich vielmals um Verzeihung, lieber Watson, aber es war unbedingt notwendig, daß ich für tot gehalten wurde, und du würdest keine so überzeugende Schilderung meines unglücklichen Endes geschrieben haben, wenn du nicht selbst daran geglaubt hättest. Verschiedene Male in dem Studium der Steinkohlenteerverbindungen oblag. Nachdem ich meine Untersuchungen zu einem befriedigenden Abschluß gebracht und erfahren hatte, daß nur noch einer meiner Feinde in London sei, wollte ich zurückkommen. Das mysteriöse Verbrechen in der Parkstraße hat meine Rückkehr noch beschleunigt. Es interessierte mich nicht nur an sich, sondern schien mir auch eine günstige Gelegenheit zur Ausführung meines Vorhabens zu sein. Ich fuhr also schleunigst nach London, begab mich nach der Bakerstraße, versetzte Frau Hudson in heftige Krämpfe und fand, daß Mycroft meine Zimmer und meine Sachen genau in derselben Ordnung gelassen hatte, wie ich sie verlassen. So saß ich denn, mein lieber Watson, heute nachmittag um zwei Uhr in meinem alten Lehnstuhl, in meinem alten Zimmer, und hatte weiter keinen Wunsch, als meinen alten Freund Watson in dem anderen Stuhl zu sehen, den er so oft geziert hatte.«

Das war die merkwürdige Erzählung, die ich an jenem April-Abend zu hören bekam – eine Erzählung, die ich nie geglaubt haben würde, wenn ich nicht die lange, hagere Gestalt und das scharfe, lebhafte Gesicht vor mir gesehen hätte, das ich nie wiederzuschauen gemeint hatte. Auf irgend eine Weise mußte mein Freund auch von meinem eigenen Mißgeschick gehört haben. Sein Mitleid zeigte sich mehr in seinem Benehmen als in Worten. »Arbeit ist das beste Mittel gegen Kummer und Verdruß,« sagte er nur, »und ich habe für heute nacht ein Stück Arbeit, das allein, wenn wir’s glücklich vollenden, für einen Mann das Leben wertvoll macht.« Meine Bitte um näheren Aufschluß darüber war vergeblich. »Bis morgen wirst du genug erfahren,« antwortete er. »Jetzt haben wir uns noch über die letzten drei Jahre zu unterhalten. Dieser Gesprächsstoff wird bis halb zehn genügen und dann wird’s Zeit, daß wir zu unserem vielverheißenden Abenteuer nach dem leeren Hause aufbrechen.«

Es war tatsächlich wieder wie in den alten Zeiten, als ich um die angegebene Zeit neben ihm in der Droschke saß, den Revolver in der Tasche und gespannt auf die kommenden Dinge. Holmes war ernst und schweigsam. Im Schein der Straßenlaternen sah ich, wie er nachdenklich die Stirn in Falten gelegt und die Lippen fest aufeinander gepreßt hatte. Ich wußte nicht, was für Wild wir in den dunkeln Revieren des Londoner Verbrecherviertels jagen wollten, aber an dem Gesicht dieses ausgezeichneten Jägers erkannte ich wohl, daß es sich um eine sehr gefährliche Art handeln müsse, und das gelegentliche Lächeln auf seinem sonst unbeweglichen, finsteren Antlitz war wenig glückverheißend für unsere Feinde.

Ich glaubte, wir würden nach der Bakerstraße fahren, aber an der Ecke des Cavendish-Platzes ließ Holmes halten. Ich bemerkte, wie er sich beim Aussteigen nach allen Seiten umschaute, und auch ferner an jeder Straßenecke vergewisserte, daß ihm niemand folgte. Wir schritten durch die dunkelsten Straßen und Gassen. Holmes hatte eine erstaunliche Ortskenntnis, und er führte mich mit größter Sicherheit und in eiligem Tempo durch ein wahres Labyrinth von Remisen, Ställen und Lagerräumen, von deren Existenz ich noch nicht einmal eine Ahnung hatte. Endlich gelangten wir durch eine enge Gasse, die von alten düsteren Gebäuden eingeschlossen war, in die Manchester- und in die Blandfordstraße. Hier bog er rasch in einen schmalen Gang ein, ging durch ein großes hölzernes Tor über einen öden Hof und schloß dann mit einem Schlüssel die hintere Türe eines Hauses auf. Wir traten zusammen ein, und hinter uns schloß er wieder zu.

Obwohl es stockdunkel war, merkte ich doch gleich, daß das Haus leer war. Der Fußboden knarrte, und an der Wand fühlte ich mit meiner tastenden Hand herabhängende Tapetenfetzen. Holmes faßte mich mit seinen kalten dünnen Fingern bei der Hand und führte mich in dem langen Gang weiter, bis ich den trüben Lichtschimmer von einem Fenster über einer Tür gewahrte. In dieser Ecke wandte er sich nach rechts, und wir kamen in einen großen leeren Raum. Es war ganz dunkel darin, nur in der Mitte war ein matter Lichtschein, der von der Straße her kam. Die Laterne war aber so weit entfernt und das Fenster so verstaubt und schmutzig, daß wir mit knapper Not gerade erkennen konnten, wo wir standen. Mein Gefährte klopfte mich leise auf die Schulter und flüsterte mir ins Ohr:

»Weißt du, wo wir sind, Watson?«

»Das ist sicher die Bakerstraße,« antwortete ich, während ich durch das matte Fenster blickte.

»Allerdings. Wir sind im Camden House, unserer alten Wohnung gegenüber.«

»Aber was wollen wir hier?«

»Wir haben von hier eine ausgezeichnete Aussicht auf jenen malerischen Pfeiler dort drüben. Komm‘, bitte, etwas näher ans Fenster, lieber Watson, nimm dich aber in acht, daß du nicht gesehen wirst, und guck‘ mal nach unserem alten Heim hinüber – dem Ausgangspunkt von so manchem unserer kleinen Erlebnisse. Ich will sehen, ob ich dich nach dreijähriger Abwesenheit noch überraschen kann.«

Ich schlich mich vor und sah nach dem wohlbekannten Fenster. Ein Ausruf der Verwunderung und des Erstaunens entfuhr meinen Lippen. Die Rolljalousien waren heruntergelassen, das Zimmer war hell erleuchtet und auf dem Fenstervorhang war der Schatten eines Mannes auf einem Stuhl in scharfen Umrissen deutlich wahrnehmbar. Man konnte den eckigen Kopf, die breiten Schultern und das scharfgeschnittene Gesicht genau erkennen. Das Bild sah wie eine große schwarze Silhouette aus der Zeit unserer Großeltern aus. Es war ein getreues Konterfei von Holmes. Ich war dermaßen erstaunt, daß ich meine Hand ausstreckte, um mich zu überzeugen, ob er selbst wirklich noch neben mir stände. Er barst bald vor verhaltenem Lachen.

»Gut so?« fragte er.

»Bei Gott!« rief ich aus, »wunderbar!«

»Ich hoffe, daß ich in der Zwischenzeit meine Erfindungskraft nicht eingebüßt habe,« sagte er in jenem Tone der Freude und des Stolzes, den der Künstler beim Anblick seiner eigenen Schöpfung empfindet. »Es sieht mir tatsächlich ähnlich, nicht wahr?«

»Ich hätte geschworen, du wärst’s.«

»Das Verdienst der Ausführung gebührt dem Herrn Oskar Meunier in Grenoble, der ein paar Tage auf die Anfertigung des Modells verwandt hat. Es ist eine Wachsbüste. Die Aufstellung und alles übrige habe ich heute nachmittag während meines Aufenthaltes in der Bakerstraße selbst besorgt.«

»Aber wozu das alles?«

»Aus sehr gewichtigen Gründen, lieber Watson, weil ich gewisse Leute glauben machen will, ich sei zu Hause, während ich in Wirklichkeit anderswo bin.«

»Du denkst also, die Zimmer werden beobachtet?«

»Ich weiß, daß sie beobachtet werden.«

»Von wem?«

»Von meinen alten Feinden, Watson, von der reizenden Gesellschaft, deren Vorstand im Reichenbachfall ruht. Du mußt bedenken, daß ihnen, und nur ihnen allein, bekannt ist, daß ich noch lebe. Sie haben vermutet, daß ich früher oder später doch wieder in meine Wohnung zurückkehren würde, sie daher fortwährend beobachten lassen und meine Ankunft heute früh erfahren.«

»Woher weißt du das?«

»Weil ich ihre Wache wiedererkannte, als ich zum Fenster hinaussah. Es ist ein ungefährlicher Mensch, Namens Parker, ein armer Drehorgelspieler. Ich schere mich den Teufel um ihn, kümmere mich aber um so mehr um seinen gefährlichen Auftraggeber, den Busenfreund Mariartys, den Mann, der die Steine geschleudert hat, den schlauesten und verwegensten Verbrecher Londons. Dieser Bursche ist heute nacht hinter mir, Watson, und hat keine Ahnung, daß wir hinter ihm sind.«

Auf diese Weise erfuhr ich allmählich, was mein Freund vorhatte. Von diesem stillen Platze aus sollte den Aufpassern aufgepaßt und sollten die Verfolger verfolgt werden. Jener Schatten drüben war der Köder, und wir waren die Jäger. Lautlos standen wir in der Dunkelheit und beobachteten die Vorübergehenden. Holmes rührte und regte sich nicht, aber er war zweifellos auf seiner Hut und richtete ein wachsames Auge auf alle Passanten. Es war kaltes, stürmisches Wetter, der Wind pfiff durch die lange Straße. Die meisten Leute trugen Ueberzieher und hatten den Kragen in die Höhe geschlagen. Ein paarmal hatte ich den Eindruck, als ob dieselbe Person wiederholt vorbeikäme, und besonders fielen mir zwei Männer auf, die vor dem Sturm im Torweg eines ein paar Häuser weiter oben liegenden Gebäudes Zuflucht zu suchen schienen. Ich machte meinen Freund darauf aufmerksam. Er zeigte jedoch nur einen gewissen Unwillen und blickte unausgesetzt auf die Straße hinaus. Er stampfte zuweilen mit den Füßen auf den Boden und trommelte mit den Händen an die Wand, ein Zeichen, daß er ungehalten war, weil seine Voraussetzungen nicht so ganz in der gehofften Weise eintrafen. Als die Straße allmählich leer geworden war, ging er unruhig auf und ab. Ich wollte gerade eine Bemerkung machen, als mein Blick zufällig auf das bekannte Fenster hinüberfiel und ich eine fast ebenso große Ueberraschung sah wie vorher.

»Der Schatten hat sich bewegt!« rief ich ihm zu. In der Tat war uns nicht mehr das Profil, sondern der Rücken zugekehrt.

»Natürlich hat er sich bewegt,« antwortete Holmes. »Hältst du mich für einen solchen Stümper, Watson, daß ich eine offenkundige Vogelscheuche aufstelle und damit die geriebensten Verbrecher Europas täuschen will? Wir sind seit zwei Stunden hier und Frau Hudson hat die Figur alle Viertelstunde etwas gedreht, also in der ganzen Zeit vielleicht achtmal. Sie macht es selbstverständlich so, daß ihr eigener Schatten nicht gesehen werden kann. »Ha!« stieß er aus und hielt dann den Atem an. In dem trüben Licht sah ich, wie er den Kopf in die Höhe richtete und sich in der stärksten Spannung befand. Die Straße war jedoch vollkommen menschenleer. Jene beiden Männer mochten sich noch in dem Torweg verborgen halten, ich konnte sie jedenfalls nicht mehr sehen. Alles war ruhig und dunkel. Nur der Fenstervorhang mit dem schwarzen Schatten in der Mitte war noch erleuchtet. In dem tiefen Schweigen vernahm ich wieder Laute von Holmes, aus denen ich seine furchtbare, unterdrückte Erregung hörte. Im nächsten Augenblick zog er mich in die finsterste Ecke des Zimmers und hielt mir warnend die Hand auf den Mund. Ich fühlte, wie seine Finger zitterten. Ich hatte meinen Freund niemals in einer solchen Aufregung gesehen, und doch konnte ich auf der Straße durchaus nichts Verdächtiges entdecken.

Aber auf einmal merkte ich, was er mit seinen schärferen Sinnen wohl schon früher gehört hatte. Ein schwaches, unheimliches Geräusch drang an mein Ohr, freilich nicht von der Bakerstraße, sondern von der Hofseite des Hauses her, in dem wir uns verborgen hielten. Eine Türe wurde auf- und wieder zugemacht. einspringt. Er kniete noch immer auf dem Fußboden und mühte sich mit aller Kraft an irgend einem Hebel oder dergleichen ab, bis man wieder ein ähnliches, aber stärkeres Einschnappen hörte, wie vorher. Nun richtete er sich auf, und ich sah, daß das Werkzeug in seiner Hand eine besondere Art Schießgewehr vorstellte. Er öffnete es hinten, steckte etwas hinein und ließ den Bolzen wieder einschlagen. Dann kauerte er sich nieder, legte den Lauf auf die Fensterbrüstung und nahm, indem sein mächtiger Schnurrbart auf den Schaft herunterhing, mit blitzenden Augen das Visier. Er atmete tief auf, als er angelegt hatte. Einen Augenblick war er mäuschenstill und zuckte mit keiner Wimper. Endlich drückte er ab. Ein eigentümliches ›Ptsch‹ und der charakteristische Ton beim Aufschlagen eines Geschosses! Im selben Moment sprang ihm Holmes in den Nacken und warf ihn flach auf den Boden, mit dem Gesicht nach unten. Doch mit übermenschlicher Kraft arbeitete sich der Schurke herum und erwischte Holmes an der Kehle. Da schlug ich ihn mit dem Revolvergriff auf den Schädel, warf mich auf ihn und hielt ihn fest. Mein Gefährte ließ einen schrillen Pfiff ertönen. Gleich wurden Schritte auf dem Pflaster draußen hörbar, und zwei Schutzleute und ein Geheimpolizist stürzten durch den Vordereingang ins Zimmer.

»Sind Sie’s, Herr Lestrade?« sagte Holmes.

»Jawohl, Herr Holmes. Ich habe diese Arbeit selbst übernommen. Es ist gut, daß Sie wieder in London sind.«

»Ich glaube wohl, daß Ihnen ein bißchen Mithilfe nicht unwillkommen sein wird. Drei unaufgeklärte Morde in einem Jahre ist des Guten etwas zuviel, Lestrade. Aber in der Moleseyschen Sache sind Sie geschickter zu Werke gegangen als sonst – ich meine, die haben Sie wirklich gut gemacht.«

Wir waren alle auf den Beinen. Unser Gefangener befand sich wutschnaubend zwischen zwei handfesten Polizisten. Auf der Straße hatten sich natürlich einige Gaffer versammelt. Holmes schloß das Fenster und ließ die Rolladen herunter. Lestrade zündete zwei Kerzen an, und die Schutzleute machten ihre verhängten Laternen frei. Endlich konnte ich mir unseren Mann genauer bei Licht betrachten.

Ich sah ein sehr männliches, aber auch sehr bösartiges Gesicht. Die Stirne war diejenige des Philosophen, die Kiefer verrieten den Genußmenschen; dieser Mann war mit großen Anlagen ausgestattet, zum Guten wie zum Bösen. Die trotzigen blauen Augen mit den hündischen Brauen und Wimpern, die starke gebogene Nase und die drohende tiefgefurchte Stirn zeigten den geborenen Verbrecher an. Er nahm von niemandem Notiz, sondern starrte unausgesetzt auf Holmes. Haß und Bewunderung lagen in seinem Ausdruck. »Sie Teufelskerl! Sie ganz geriebener Teufel!« knirschte er immer wieder zwischen den Zähnen.

»Ja, ja, Herr Oberst,« sagte Holmes, während er seinen Kragen in Ordnung brachte, »der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht. Ich glaube, seitdem Sie mir am Reichenbachfall jene Aufmerksamkeit erwiesen, habe ich nicht wieder das Vergnügen gehabt, Sie zu sehen.«

Der Oberst stierte meinen Freund noch immer mit haßerfüllten Blicken an. »Sie verfluchter, ganz verfluchter Teufel!« war alles, was er herausbringen konnte.

»Ich habe Sie noch nicht miteinander bekannt gemacht,« sagte Holmes. »Dies, meine Herren, ist der Oberst Sebastian Moran, ehemaliger Offizier Ihrer Majestät im britischen Heer in Indien und der beste Schütze, den es je dort gegeben hat. Ich glaube, die Behauptung ist nicht übertrieben, Herr Oberst, daß Sie als Tigerjäger unerreicht waren.«

Der wütende Graubart erwiderte kein Wort, sondern blickte meinen Gefährten noch immer unverwandt an. Mit den leuchtenden Augen und dem sich sträubenden Schnurrbart sah er selbst wie ein Tiger aus.

»Es wundert mich eigentlich,« fuhr Holmes fort, »daß ein so alter Schikari auf meinen einfachen Trick hineingefallen ist. Er mußte Ihnen doch bekannt sein. Sie haben doch schon selbst, mit einem Zicklein als Köder und das Gewehr in der Hand, unter einem Baume gelegen und auf den Tiger gelauert? Nun, dieses leere Haus ist mein Baum, und Sie sind mein Tiger. Sie haben wohl auch Reservegewehre mitgenommen für den Fall, daß mehrere Tiger kommen, oder, was kaum anzunehmen war, daß Sie fehlschießen sollten? Diese hier,« er zeigte auf die Umstehenden, »sind meine Reservegewehre. Paßt der Vergleich nicht sehr schön?«

Oberst Moran tat einen Satz nach vorne, auf Holmes zu, und knurrte wie ein wildes Tier, aber die Polizisten rissen ihn wieder zurück. Sein wütendes Gesicht war schrecklich anzusehen, es war ganz verzerrt.

»Ich gebe allerdings zu, daß Sie mir eine kleine Ueberraschung bereitet haben,« sagte Holmes weiter. »Ich hatte nicht damit gerechnet, daß Sie selbst auch dieses Haus und dieses Fenster zu Ihrer Operation ausersehen hätten. Ich hatte geglaubt, Sie würden von der Straße aus vorgehen. Deshalb ließ ich meinen Freund Lestrade mit seinen Leuten dort Wache halten. Aber von dieser Kleinigkeit abgesehen, ist alles meinen Erwartungen entsprechend eingetroffen.«

Jetzt wandte sich der Oberst an den offiziellen Detektiv.

»Sie mögen mich nun zu recht oder unrecht verhaftet haben,« sagte er, »jedenfalls habe ich keine Lust, mir die Sticheleien dieses Menschen länger gefallen zu lassen. Ich befinde mich in der Gewalt der Justiz und kann verlangen, daß die Dinge ihren gesetzlichen Verlauf nehmen.«

»Dagegen läßt sich nichts einwenden,« antwortete Lestrade. »Haben Sie noch etwas zu sagen, Herr Holmes, ehe wir aufbrechen?«

Holmes hatte die mächtige Windbüchse vom Boden aufgehoben und prüfte ihren Mechanismus.

»Eine wunderbare und eigenartige Waffe,« sagte er, »schießt geräuschlos und hat eine furchtbare Durchschlagskraft. Ich habe Herder, den blinden deutschen Mechaniker, der sie auf Bestellung des seligen Professors Mariarty konstruiert hat, persönlich gekannt. Ihre Existenz war mir schon jahrelang kein Geheimnis mehr, aber ich hatte noch nie die Gelegenheit, sie in die Hand zu bekommen. Ich empfehle sie Ihrer besonderen Beachtung, Herr Lestrade, und die zugehörigen Kugeln ebenfalls.«

»Sie können sich darauf verlassen, Herr Holmes, daß wir beiden unsere Aufmerksamkeit schenken werden,« erwiderte Lestrade, als wir alle zusammen nach der Türe zugingen. »Noch etwas?«

»Ich möchte Sie noch fragen, was Sie als Grund zur Festnahme angeben wollen?«

»Was? Nun selbstverständlich den Mordanschlag auf Sherlock Holmes.«

»Ach nein, Lestrade. Ich möchte mit meiner Person ganz aus dem Spiel bleiben. Ihnen, und Ihnen ganz allein, soll das Verdienst der denkwürdigen Verhaftung zugeschrieben werden, die Sie eben ausgeführt haben. Jawohl, Herr Lestrade, ich gratuliere Ihnen! Mit Ihrer gewohnten glücklichen Mischung von Schlauheit und Kühnheit haben Sie ihn gefangen.«

»Ihn gefangen! Wen gefangen, Herr Holmes?«

»Den Mann, den die ganze Polizei vergeblich gesucht hat – den Oberst Sebastian Moran, der den Baron Ronald Adair im zweiten Stock des Hauses Parkstraße 427 am 30. des vergangenen Monats durch das offene Fenster mit einer Büchsenkugel erschossen hat. Um dieses Verbrechen handelt es sich, Herr Lestrade. Und nun, mein lieber Watson, können wir uns in meinem Arbeitszimmer bei einer Zigarre noch ein Plauderstündchen gönnen.«

*

Unsere alten Räumlichkeiten waren dank der Aufsicht Mycrofts und der Fürsorglichkeit der Frau Hudson vollkommen unverändert geblieben. Beim Eintreten fiel mir zwar die ungewohnte Ordnung auf, aber es stand noch alles an seinem alten Platz. Die chemische Ecke mit dem Tisch aus Tannenholz und den Säureflecken war noch vorhanden. Das Regal mit den Büchern, worin sich viele Aufzeichnungen befanden, die wohl viele unserer Mitbürger gerne in Flammen hätten aufgehen sehen, stand noch auf dem alten Fleck. Die Pläne und Karten, den Geigenkasten und den Pfeifenhalter – ja selbst den persischen Pantoffel mit dem Tabak – alles sah ich wieder, als ich mich umschaute. Neu im Zimmer war nur die merkwürdige Figur, die eine so bedeutende Rolle bei unserem nächtlichen Abenteuer gespielt hatte. Es war eine Nachbildung meines Freundes aus Wachs, so wunderbar ausgeführt, daß sie ihm täuschend ähnlich sah. Sie stand auf einem Tischchen und war mit einem alten Arbeitsrock von Holmes so angetan, daß die Täuschung von der Straße aus vollkommen sein mußte.

Frau Hudson war uns freudestrahlend entgegengeeilt, als wir eingetreten waren.

»Ich hoffe, Sie haben keine Vorsichtsmaßregel außer acht gelassen, Frau Hudson?« fragte Holmes.

»Ich bin auf den Knien hingerutscht, genau wie Sie mir befohlen hatten, Herr Holmes.«

»Ausgezeichnet. Sie haben Ihre Sache vorzüglich gemacht. Haben Sie gesehen, wo die Kugel hingeflogen ist?«

»Jawohl. Ich fürchte, sie hat die schöne Büste verdorben; sie ist nämlich gerade durch den Kopf gegangen und an der Wand abgeprallt. Ich hab‘ sie vom Teppich aufgehoben. Hier ist sie.«

Holmes reichte sie mir hin. »Eine richtige Revolverkugel, wie du siehst. In dieser Sache steckt eine feine Ueberlegung, Watson, denn kein Mensch konnte glauben, daß ein solches Ding aus einer Büchse kommt. Ich danke Ihnen schön, Frau Hudson, für Ihre freundliche Mitwirkung. Und nun setz‘ dich wieder auf deinen alten Stuhl, Watson, ich muß dir noch manches erzählen.«

Er hatte den langen Schoßrock ausgezogen und war in seinem mausgrauen Schlafrock wieder der alte Holmes von ehedem.

»Des alten Schikaris Nerven sind noch gut und ruhig,« sagte er lachend, als er den zerschmetterten Schädel seiner Büste in Augenschein nahm.

»Gerade mitten durchs Gehirn. Er war der beste Schütze in Indien, und er wird auch in London schwerlich seinesgleichen haben. Ist er dir dem Namen nach bekannt?«

»Nein, ich kenne ihn nicht.«

»Ei, ei, das ist merkwürdig! Aber, wenn ich nicht irre, hattest du ja auch den Namen des Professors Mariarty, eines der feinsten Köpfe des Jahrhunderts, vorher nicht gehört. Du kannst mir mal das Buch mit den Biographien herreichen.«

Er blätterte gemächlich, während er in seinen Stuhl zurückgelehnt lag und riesige Rauchwolken aus der Zigarre von sich blies.

»Ich habe eine niedliche Sammlung von Namen, die mit ›M‹ anfangen,« sagte er endlich. »Da ist Mariarty selbst, ein Mann, über den man ein ganzes Buch schreiben könnte, ferner Morgan, der Giftmischer, dann kommt Merridew schrecklichen Angedenkens und mein Freund Mathews vom Wartesaal in Charing Croß und hier endlich Herr Moran. Er gab mir das Buch, und ich las:

»Moran, Sebastian, Oberst a. D. Früherer Offizier beim ersten Pionierregiment in Bengalore. Im Jahre 1840 in London geboren, als Sohn des Abgeordneten und ehemaligen britischen Gesandten in Persien, August Moran. Besuchte die Hochschulen in Eton und Oxford. Machte die Feldzüge in Jowaki und Afghanistan mit und stand in Charasiab, Scherpur und Kabul. Verfasser von: ›Hochjagden im westlichen Himalaja‹, 1881; ›Drei Monate im Dschungel‹, 1884. Adresse: Conduitstraße. Mitglied des Anglo-indischen, des Tankerville- und des Bagatellespielklubs.«

Am Rande hatte Holmes selbst bemerkt: »Der zweitgefährlichste Mann in London.«

»Sonderbar!« sagte ich, als ich ihm den Band zurückgab. »Der Mann hat eine sehr achtbare Soldatenlaufbahn hinter sich.«

»Das ist richtig,« versetzte Holmes. »Bis zu einem gewissen Zeitpunkt war er anständig. Er hatte stets eiserne Nerven. Man erzählt jetzt noch die Geschichte, wie er in Indien in einem Graben sich an einen Tiger heranschlich, der einen Menschen verzehrte, und ihm die Beute abjagte. Es gibt Wesen, Watson, die sich bis zu einem bestimmten Punkte normal entwickeln und sich dann mit einem Male vollkommen verändern. Man kann das öfter beobachten. Meiner Ansicht nach spiegelt sich in der Entwickelung jedes Einzelwesens diejenige der ganzen Vorfahrenkette wieder, und ein plötzlicher Umschlag zum Guten oder zum Bösen stellt den Ausfluß aus der Reihe seiner Ahnen dar. Das Individuum wiederholt gewissermaßen die Geschichte seiner Familie.«

»Diese Theorie erscheint mir etwas phantastisch.«

»Nun, ich will nicht näher darauf eingehen, wie ihm aber auch sei, Oberst Moran geriet allmählich auf Abwege. Wenn es auch nicht zum öffentlichen Skandal gekommen ist, in Indien wurde ihm der Boden doch zu heiß unter den Füßen, er konnte sich nicht mehr länger dort halten. Er kam also nach London und erfreute sich auch hier nicht lange eines guten Rufes. Damals nahm sich Professor Mariarty seiner an, er war eine Zeitlang seine rechte Hand. Mariarty unterstützte ihn reichlich mit Geldmitteln und verwandte ihn nur ein oder zwei Male bei ganz großen Sachen, die kein gewöhnlicher Verbrecher hätte durchführen können. Kannst du dich vielleicht noch auf den Tod der Frau Stewart in Lander im Jahre 1887 besinnen? Ich bin fest überzeugt, daß Moran der Hauptbeteiligte dabei war, wenn ihm auch nichts nachgewiesen werden konnte. Auch als die Mariartysche Bande ergriffen wurde, verstand er sich so geschickt aus der Schlinge zu ziehen, daß wir ihm nichts ans Zeug flicken konnten. Erinnerst du dich noch, wie ich dazumal, als ich in deiner Wohnung war, aus Furcht vor der Windbüchse die Fensterladen schloß? Du hieltst mich sicher für krankhaft erregt und übermäßig ängstlich. Ich wußte jedoch wohl was ich tat, denn ich kannte die Existenz dieses eigentümlichen Gewehrs und wußte auch, daß einer der besten Schützen dahinter stand. Als wir in die Schweiz gingen, folgte er uns mit Mariarty, und es war kein anderer als er, der mich am Reichenbachfall fünf Minuten lang bombardierte.

»Du kannst dir vorstellen, daß ich während meines Aufenthaltes in Frankreich die Zeitungen sehr aufmerksam studierte, um ihn bei irgend einer Gelegenheit fassen zu können. So lange er sich auf freiem Fuß befand, würde ich in London keinen Augenblick meines Lebens sicher gewesen sein. Tag und Nacht hätte ich keine Ruhe gehabt, und früher oder später wäre ich ihm doch zum Opfer gefallen. Was hätte ich dagegen tun können? Ich konnte ihn nicht erschießen, wollte ich mich nicht selbst in Ungelegenheiten bringen. Mich an die Behörde zu wenden, hätte keinen Zweck gehabt, denn auf bloßen Verdacht hin darf sie nicht einschreiten. Ich war also vollständig machtlos. Ich verfolgte daher die Kriminalnachrichten, weil ich überzeugt war, ihn doch einmal erwischen zu können. Da kam die Meldung von der Ermordung des jungen Adair. Meine Stunde war endlich gekommen! Nach dem, was ich wußte, war es da nicht sicher, daß Moran der Mörder sein mußte? Er hatte mit dem jungen Manne Karten gespielt, er war ihm vom Klub nach Hause gefolgt und hatte ihn durch das offene Fenster erschossen. Das unterlag für mich keinem Zweifel. Die Kugeln allein werden zu seiner Ueberführung genügen. Ich kehrte rasch zurück. Seine Wache sah mich und setzte ihn selbstverständlich sofort von meiner Anwesenheit in Kenntnis. Er mußte meine schleunige Rückkehr unbedingt mit seinem Verbrechen in Zusammenhang bringen und darüber stark beunruhigt sein. Es war mir daher klar, daß er sofort mich aus dem Wege zu schaffen versuchen, und zu diesem Zweck sein Mordgewehr mitbringen würde. Ich hinterließ ihm am Fenster ein ausgezeichnetes Ziel. Ich unterrichtete die Polizei – du wirst, nebenbei bemerkt, ihre Anwesenheit in jenem Torweg gewiß nicht vermutet haben – und nahm jenen Beobachtungsposten ein, der mir dazu besonders geeignet erschien; freilich, ließ ich mir nicht träumen, daß er denselben Fleck zu seinem Angriff wählen würde. Ist dir die Sache nun klar, mein Lieber?«

»Nicht ganz,« antwortete ich. »Du hast mir nicht erklärt, warum er den jungen Ronald Adair getötet hat.«

»Ach so! Damit kommen wir auf das Gebiet, wo auch ein streng logisch denkender Mensch irren kann. Darüber mag sich jeder auf Grund der Tatsachen seine eigene Meinung bilden, und dabei gilt die eine so viel wie die andere.«

»Hast du dir deine schon gebildet?«

»Mir erscheint es nicht allzu schwer, ein Motiv zu finden. Es ist nachgewiesen, daß Moran und Adair nicht unbedeutende Summen im Spiel umgesetzt haben. Nun hat Moran zweifellos falsch gespielt – davon war ich schon lange überzeugt. Ich glaube, daß Adair am Tage der Ermordung den Betrug entdeckt und ihm höchstwahrscheinlich die vertrauliche Mitteilung gemacht hatte, daß er seine Ausschließung aus dem Klub veranlassen würde, wenn er nicht freiwillig austräte und vom Kartenspiel wegbliebe. Es ist kaum anzunehmen, daß ein junger Mann wie Adair sofort einen riesigen Skandal machen und einen bekannten und viel älteren Herrn in dieser Weise bloßstellen wollte. Meine Vermutung hat insofern viel für sich. Die Ausstoßung aus dem Klub bedeutete aber für Moran, der von den Erträgnissen des falschen Spielens lebte, zugleich den materiellen Ruin. Aus diesem Grunde ermordete er Adair, als dieser gerade ausrechnete, wieviel Geld er selbst zurückzahlen müßte, um an dem Falschspiel seines Partners keinen Anteil zu haben. Er verschloß die Türe, um von den Damen nicht überrascht und gefragt zu werden, was alle die Namen und Geldhäufchen bedeuten sollten. Leuchtet dir’s ein?«

»Ich zweifle nicht, daß du das richtige getroffen hast.«

»Bei der Verhandlung wird sich herausstellen, ob ich recht habe oder nicht. Im übrigen, es mag damit werden wie’s will, Oberst Moran wird uns nicht mehr beunruhigen, die berühmte Büchse, System Herder, wird das Kriminalmuseum zieren, und Herr Sherlock Holmes kann sich wieder frei und ungestört dem Studium jener interessanten kleinen Probleme widmen, an denen im Londoner Leben wahrhaftig kein Mangel ist.«

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Der Baumeister von Norwood.

Der Baumeister von Norwood.

»Vom Standpunkt des Kriminalisten,« sagte Sherlock Holmes eines Tages, »ist London seit dem Tode des Professors Mariarty seligen Angedenkens die uninteressanteste Stadt geworden.«

»Ich kann mir kaum denken, daß viele ehrbare Bürger deine Ansicht teilen,« gab ich ihm zur Antwort.

»Nun – ja, ich will nicht selbstsüchtig sein,« sagte er lächelnd und schob seinen Stuhl vom Tisch zurück, an dem wir eben gefrühstückt hatten. »Die Allgemeinheit hat immerhin den Vorteil, nur der arme Fachmann ist zu bedauern, weil er Beschäftigung und Brot verliert. Dem Manne von Beruf brachte oft die Zeitung eines Morgens alle möglichen guten Aussichten. Oft war es nur eine ganz schwache Spur, Watson, eine ganz zarte Andeutung, und doch zeigte sie mir, daß etwas für den Detektiv im Anzug war, ebenso wie die leiseste Schwingung am Rande des Netzes die in der Mitte lauernde Spinne auf die nahende Beute aufmerksam macht. Unbedeutende Diebstähle, leichte Ueberfälle, kleinliche Beleidigungen – alle diese Vergehen konnten von einem Manne, der die Fäden in der Hand hatte, in Zusammenhang gebracht und auf einen gemeinsamen Ursprung zurückgeführt werden. Für das Studium der feineren Verbrecherwelt bot keine Stadt Europas ein solch‘ gutes Material wie das damalige London. Aber jetzt –« er zuckte mit den Achseln, betrübt über den Stand der Dinge, an dem er selbst treulich mitgearbeitet hatte.

Zu der in Rede stehenden Zeit war Holmes einige Monate von seiner Reise zurück, und ich hatte auf sein Anraten meine Praxis verkauft und wohnte wieder mit ihm zusammen in unserem alten Heim in der Bakerstraße. Meine kleine Kundschaft hatte ein junger Arzt, Namens Berner, für einen so auffallend hohen Preis übernommen, wie ich ihn kaum zu fordern gewagt hätte – ein Umstand, der mir erst nach Jahren klar wurde, als ich erfuhr, daß Berner ein entfernter Verwandter von Holmes, und mein Freund der Vermittler war.

Diese Monate unserer Partnerschaft waren jedoch nicht so ereignislos, wie er gesagt hatte. Nach meinen Notizen fällt in diese Zeit der Fall des Präsidenten Murillo und der erschütternde Vorgang auf dem holländischen Dampfer ›Friesland‹, wobei wir beide beinahe das Leben verloren hätten. Seine kalte, stolze Natur war aber jeglichem öffentlichem Beifall abhold, und darum bat er mich dringend, nichts darüber zu veröffentlichen – dieses Hindernis ist, wie ich bereits in einer früheren Erzählung erwähnt habe, erst jetzt beseitigt.

Holmes saß nach seinem sonderbaren Protest behaglich in seinen Stuhl zurückgelehnt und las die Morgenblätter, als es plötzlich heftig klingelte und ungestüm an der Haustür pochte. Nachdem aufgemacht worden war, kam jemand rasch die Treppe heraufgestürzt und stand im nächsten Augenblick in unserem Zimmer. Es war ein junger Mann in der höchsten Erregung, mit verstörten Blicken und zerzaustem Haar, bleich und zitternd. Er sah uns, einen nach dem anderen, verdutzt an und mußte aus unseren fragenden Gesichtern entnehmen, daß wir auf eine Entschuldigung wegen seines taktlosen Eintretens warteten.

»Es tut mir leid, Herr Holmes,« sagte er hastig. »Nehmen Sie mir’s nicht übel. Ich bin fast von Sinnen. Ich bin der unglückliche John Hektor Farlane.«

Er brachte das so heraus, als ob der Name allein seinen Besuch und sein Benehmen erklären müßte; aber ans meines Freundes Gesicht konnte ich ersehen, daß er so wenig damit anzufangen vermochte wie ich.

»Nehmen Sie eine Zigarette, Herr Farlane,« sagte er und schob ihm seine Schachtel hinüber. »Bei Ihrem Zustand würde Ihnen mein Freund Dr. Watson hier ein Beruhigungsmittel verordnen. Es war in den letzten Tagen außergewöhnlich heiß. Nun, wenn Sie sich etwas beruhigt haben, nehmen Sie dann auf jenem Stuhl dort Platz und erzählen Sie uns langsam und ruhig, wer Sie sind und was Sie wünschen. Sie nannten Ihren Namen, als ob ich Sie kennen müßte, ich kann Ihnen jedoch versichern, daß ich aus den Umständen nur schließe, daß Sie Junggeselle, Anwalt, Freimaurer und Asthmatiker sind, weiter weiß ich nichts.«

Bei meiner Bekanntschaft mit der Art, wie mein Freund seine Schlüsse zog, war es für mich nicht schwer, zu erkennen, woraus er gefolgert hatte. Ich bemerkte eine gewisse Nachlässigkeit in der Kleidung, ein Aktenbündel, das aus der Tasche herausguckte, einen Schmuckgegenstand an der Uhrkette und das beschwerliche Atmen. Unser Klient war jedoch sehr erstaunt.

»Jawohl, Herr Holmes, das stimmt alles, und außerdem bin ich in dieser Stunde der unglücklichste Mensch in ganz London. Versagen Sie mir um Gottes willen Ihre Hilfe nicht, Herr Holmes! Wenn man, ehe ich mit meiner Erzählung fertig bin, kommt, um mich zu verhaften, so sorgen Sie dafür, daß man mir Zeit läßt, bis ich zu Ende bin und Ihnen die volle Wahrheit gesagt habe. Ich würde mich glücklich schätzen, wenn ich das Bewußtsein mit ins Gefängnis nehmen könnte, daß Sie draußen für mich tätig wären.«

»Sie verhaften!« warf Holmes hier ein. »Das klingt ja gefährlich – äußerst interessant. Auf welchen Verdacht hin fürchten Sie denn, verhaftet zu werden?«

»Auf den Verdacht, den Herrn Jonas Oldacre in Lower Norwood ermordet zu haben.«

Das Gesicht meines Freundes zeigte ein gewisses Mitleid, das mir jedoch, wie ich nicht verschweigen will, nicht ganz frei von einer Beimischung der Befriedigung zu sein schien.

»Alle Wetter!« meinte er, »erst jetzt beim Frühstück klagte ich meinem Freund Dr. Watson, daß die Zeitungen gar keine interessanten Kriminalfälle mehr brächten.«

Unser Besucher hob mit zitternder Hand von Holmes Knien den noch ungelesenen ›Daily Telegraph‹ auf.

»Sie haben noch nicht hineingesehen, sonst würden Sie auf den ersten Blick gefunden haben, was mich zu Ihnen führt. Es ist mir, als ob mein Name und mein Mißgeschick schon in aller Mund sein müßte.« Er blätterte in der Zeitung, um uns die Seite zu zeigen, »Hier steht’s. Wenn Sie erlauben, will ich’s Ihnen vorlesen. Hören Sie zu, Herr Holmes. Die fettgedruckte Ueberschrift lautet: »Das Geheimnis in Lower Norwood. Verschwinden eines bekannten Bauunternehmers. Mordverdacht und Brandstiftung. Dem Verbrecher ist man auf der Spur.« Diese Spur hat man bereits, Herr Holmes, sie führt mit großer Bestimmtheit auf mich. Von der Station London-Bridge hat man mich schon verfolgt, und man wartet nur auf die richterliche Vollmacht, um mich festnehmen zu können. Es wird meiner Mutter das Herz brechen – es wird ihr das Herz brechen!« Er rang vor Verzweiflung die Hände und rutschte entsetzt auf seinem Stuhl hin und her.

Ich betrachtete den Mann, der einen solchen Gewaltakt ausgeführt haben sollte, mit lebhaftem Interesse. Er hatte kein unschönes Gesicht, flachsfarbiges Haar, blaue Augen, und war bartlos; der Mund war klein und sinnlich. Er mochte ungefähr siebenundzwanzig Jahre alt sein. Anzug und Manieren zeugten davon, daß er ein gebildeter Mann war.

»Wir haben keine Zeit zu verlieren,« sagte Holmes. »Willst du so gut sein, Watson, und mir den fraglichen Bericht aus der Zeitung vorlesen?«

Unter der Ueberschrift, die unser Klient vorgelesen hatte, standen folgende näheren Angaben:

»In der vergangenen Nacht hat sich in Lower Norwood in später Nacht- oder in früher Morgenstunde ein Ereignis zugetragen, das auf ein schreckliches Verbrechen schließen läßt. Herr Jonas Oldacre ist ein allgemein bekannter Bürger in dem genannten Vorort, wo er lange Jahre als Bauherr tätig gewesen ist. Herr Oldacre ist Junggeselle, zweiundfünfzig Jahre alt, und bewohnt ein eigenes Haus in Deep Dene am Ende der Sydenhamstraße. Seit ein paar Jahren hatte er seine Tätigkeit, die ihm ein ansehnliches Vermögen eingebracht haben soll, aufgegeben. Er galt als exzentrischer Mann und lebte ganz zurückgezogen. Hinter dem Wohnhaus im Hof befindet sich noch Holz aufgestapelt, und in der vergangenen Nacht entstand plötzlich Lärm, weil einer der Haufen in Flammen stand. Die Feuerwehr war bald zur Stelle, aber das dürre Holz bot dem Feuer eine so vorzügliche Nahrung, daß es nicht bewältigt werden konnte, bis der ganze Stoß niedergebrannt war. Bis dahin schien es sich nur um einen gewöhnlichen Brand zu handeln, aber die späteren Nachforschungen deuten auf ein furchtbares Verbrechen hin. Es fiel auf, daß der Besitzer des Grundstücks nicht aufzufinden und aus dem Hause verschwunden war. Die Untersuchung seines Schlafzimmers ergab, daß sein Bett unbenutzt, daß der hier stehende Geldschrank geöffnet war und zahlreiche Papiere auf dem Fußboden umherlagen, außerdem wiesen Blutspuren im Zimmer und ein mit Blut befleckter eichener Stock auf einen Kampf mit einem Mörder hin. Ferner weiß man, daß Herr Oldacre spät in der Nacht einen Besucher im Schlafzimmer hatte, und der Stock hat sich nachträglich als dieser Person gehörig herausgestellt; es ist ein junger Londoner Advokat, Namens John Hektor Farlane, Greshamstraße 426. Die Polizei erblickt darin einen wichtigen Anhaltspunkt, und man kann auf sensationelle Enthüllungen gefaßt sein.

»Nachtrag. – Während des Drucks geht uns die Nachricht zu, daß Herr Hektor Farlane eben wegen Verdachtes der Täterschaft verhaftet werden soll. Der Verhaftungsbefehl ist bereits ergangen. Die Polizei hat weitere Nachforschungen über den traurigen Fall am Tatort angestellt. Außer den Anzeichen des blutigen Ringens im Schlafzimmer, hat man jetzt auch gefunden, daß das Balkonfenster offen war, und auch eine Fährte, als ob ein schwerer Gegenstand nach dem Holzhaufen geschleift worden wäre; endlich ist in letzter Stunde festgestellt worden, daß die Asche verkohlte Leichenteile enthält. Die Polizei neigt zu der Ansicht, daß man es mit einem außergewöhnlichen Verbrechen zu tun hat, daß das Opfer in seinem Schlafzimmer ermordet, die Wertpapiere geraubt, und die Leiche dann nach dem Holzstoß geschleppt worden ist, den der Mörder in Brand gesteckt hat, um auf diese Weise jede Spur seines Verbrechens zu verwischen. Die Leitung der polizeilichen Untersuchungen ist dem erfahrenen Inspektor Lestrade von Scotland Yard übertragen worden, der die Spuren mit der bekannten Energie und dem ihm eigenen Scharfsinn verfolgen wird.«

Holmes hatte diesen merkwürdigen Bericht mit geschlossenen Augen angehört.

»Der Fall bietet entschieden einige interessante Punkte,« sagte er in seinem gleichgültigen, geschäftsmäßigen Ton. »Darf ich vielleicht fragen, Herr Farlane, wieso Sie sich noch auf freiem Fuß befinden, obwohl scheinbar triftige Gründe zu Ihrer Verhaftung vorliegen?«

»Ich wohne in Blackheath bei meinen Eltern, Herr Holmes, da ich aber gestern abend sehr spät bei Herrn Oldacre zu tun hatte, übernachtete ich in einem Hotel in Norwood und wollte von dort ins Bureau fahren. Ich habe den Vorfall erst im Zuge erfahren, als ich die Zeitung las. Ich erkannte sofort die schreckliche Gefahr, in der ich schwebte, und beeilte mich, Ihnen die Sache vorzutragen. Ich zweifle keinen Augenblick, daß man mich zu Hause oder im Bureau schon arretiert haben würde. Vom Bahnhof London-Bridge ist ein Mann hinter mir hergegangen und würde mich sicher – Herr des Himmels, jetzt kommen sie –.«

Es klingelte, und auf der Treppe wurden alsbald schwere Tritte hörbar. Im nächsten Augenblick machte unser alter Freund Lestrade die Tür auf. Hinter ihm erblickte ich die Uniformen zweier Schutzleute, die draußen blieben und warteten.

»Herr John Hektor Farlane?« fragte Lestrade.

Unser unglücklicher Schützling fuhr entsetzt von seinem Stuhl auf.

»Ich verhafte Sie wegen der Ermordung des Herrn Jonas Oldacre in Lower Norwood.«

Farlane warf uns verzweifelte Blicke zu und sank, wie vom Schlag getroffen, wieder auf seinen Stuhl nieder.

»Einen Augenblick, Herr Lestrade,« sagte Holmes. »Eine halbe Stunde früher oder später macht keinen Unterschied. Der Herr war gerade dabei, uns eine Darstellung seiner höchst interessanten Angelegenheit zu geben. Sie kann uns bei ihrer Aufklärung vielleicht viel nützen.«

»Diese Aufklärung wird, glaube ich, nicht sehr schwierig werden,« antwortete Lestrade ironisch.

»Immerhin möchte ich, wenn Sie nichts dagegen haben, seine Aussagen gerne hören.«

»Ich schlage Ihnen ungern etwas ab, Herr Holmes, denn Sie haben der Polizei schon verschiedentlich gute Dienste geleistet, und wir verdanken Ihnen manches in Scotland Yard,« [Fußnote] erwiderte Lestrade. »Trotzdem muß ich meinen Gefangenen festhalten, und ich bin verpflichtet, ihn vor offenbar unwahren Angaben zu warnen.«

»Ich wünsche nur die Wahrheit zu sagen,« fiel unser Klient ein: »Ich bitte nur, mich anzuhören, damit Sie die reine Wahrheit erfahren.«

Lestrade sah nach der Uhr. »Ich will Ihnen eine halbe Stunde Zeit lassen.«

»Ich muß vorausschicken,« begann Farlane, »daß ich Herrn Oldacres Verhältnisse absolut nicht gekannt habe. Sein Name war mir allerdings bekannt, weil meine Eltern vor vielen Jahren mit ihm verkehrt hatten, sich später aber von ihm zurückgezogen haben. Ich war daher gestern nachmittag nicht wenig überrascht, als er in meinem Bureau erschien. Aber ich war noch mehr überrascht, als er mir den Grund seines Besuches mitteilte. Er hatte mehrere beschriebene Blätter aus einem Notizbuch in der Hand – hier sind sie.« Er legte sie vor uns auf den Tisch.

»›Das ist mein Testament,‹ sagte er. ›Ich bedarf Ihrer Hilfe, Herr Farlane, damit es in die vorschriftsmäßige gesetzliche Form gebracht wird. Ich will mich unterdessen setzen!‹

»Ich nahm die Abschrift vor, und Sie können sich mein Erstaunen vorstellen, als ich merkte, daß er mir unter einigen Vorbehalten sein ganzes Vermögen vermachte. Er war ein eigenartiger, kleiner, zappeliger Mann mit grauem Haar und weißen Augenwimpern, und als ich zu ihm aufblickte, sah er mich vergnügt an. Ich traute meinen Sinnen kaum, als ich seine Bestimmungen Die Zettel enthalten, wie ich schon gesagt habe, nur den Entwurf des Herrn Oldacre. Er teilte mir dann weiter mit, daß er noch verschiedene Schriftstücke – Mietskontrakte, Eigentumsurkunden, Hypotheken und sonstige Papiere, in die ich Einsicht nehmen müsse, zu Hause in seiner Wohnung habe. Er bat mich, zu diesem Zwecke gleich am Abend zu ihm nach Norwood hinauszukommen und das Testament mitzubringen, damit alles geordnet würde; er könnte eher keine Ruhe finden. ›Sagen Sie Ihren Eltern kein Wort, mein Lieber, bis die Angelegenheit ganz geregelt ist. Wir wollen ihnen dann eine kleine Ueberraschung bereiten.‹ Auf dieser Forderung bestand er sehr hartnäckig und nahm mir mein Wort ab.

»Sie können sich denken, Herr Holmes, daß ich keine Lust hatte, ihm seine Bitten abzuschlagen. Er wollte mir wohl, und ich hatte daher nur das Bestreben, seinen Wünschen bis ins kleinste zu entsprechen. Ich telegraphierte nach Hause, daß ich am Abend ein wichtiges Geschäft vorhabe und nicht wüßte, ob ich kommen könnte. Herr Oldacre hatte mich für neun Uhr zum Essen eingeladen, weil er kaum vor dieser Stunde zu Haus sein würde. Es war nicht ganz leicht, seine Wohnung zu finden, sodaß es gegen halb zehn wurde, ehe ich sie erreichte. Ich traf –«

»Einen Augenblick!« unterbrach ihn Holmes. »Wer öffnete Ihnen die Tür?«

»Eine Frau in mittleren Jahren, vermutlich seine Haushälterin.«

»Dieselbe hat wahrscheinlich der Polizei auch Ihren Namen angegeben?«

»Doch wohl,« antwortete Farlane.

»Bitte, weiter.«

Unser Klient wischte sich den Schweiß von der Stirne und fuhr dann fort: –

»Diese Frauensperson führte mich in ein Empfangszimmer, wo ein frugales Abendbrot aufgetragen war. Nach dem Essen nahm mich Herr Oldacre mit in sein Schlafzimmer, wo ein schwerer Geldschrank stand. Er schloß auf und nahm eine Menge Papiere heraus, die wir zusammen durchgingen. Es dauerte bis zwischen elf und zwölf Uhr, ehe wir fertig wurden. Er sagte dann zu mir, wir dürften die Wirtschafterin nicht stören, und geleitete mich an das Balkonfenster, das während der ganzen Zeit offen gestanden hatte.«

»War die Jalousie heruntergelassen?« fragte Holmes.

»Ich bin nicht ganz sicher, glaube aber, daß sie nur halb unten war. Jawohl, ich entsinne mich, wie er sie aufzog, um das Fenster aufmachen zu können. Ich hatte meinen Stock noch nicht. Er fügte jedoch: ›Schadet nichts, mein Lieber; ich werde Sie hoffentlich in der nächsten Zeit häufiger bei mir sehen, ich heb‘ ihn auf, bis Sie wiederkommen‹. Ich ließ ihn also zurück. Der Schrank stand noch offen und die Papiere lagen, in Bündel zusammengeschnürt, auf dem Tische, als ich das Zimmer verließ. Es war so spät, daß ich nicht mehr nach Blackheath zurück konnte. Ich blieb daher die Nacht in einem nahen Hotel und ahnte nichts Böses, bis ich heute früh die schreckliche Geschichte in der Zeitung las.«

»Wollen Sie noch einige Fragen stellen, Herr Holmes?« sagte Lestrade, der während der merkwürdigen Erzählung ein paarmal den Kopf geschüttelt hatte.

»Eher nicht, bis ich in Blackheath gewesen bin.«

»Sie meinen in Norwood,« verbesserte Lestrade.

»Jawohl; das meinte ich,« erwiderte Holmes mit seinem rätselhaften Lächeln. Lestrade hatte schon häufiger erfahren müssen, als ihm lieb sein mochte, daß dieser scharfe Verstand noch vieles zu durchschauen vermochte, was ihm undurchdringlich erschienen war. Er sah meinen Gefährten neugierig an.

»Ich möchte gleich noch ein paar Worte mit Ihnen sprechen, Herr Holmes,« sagte er. »Nun, Herr Farlane, vor der Tür stehen zwei von meinen Leuten und warten auf Sie, der Wagen ist draußen vor dem Haus.« Der unglückliche junge Mensch erhob sich und ging mit einem letzten flehentlichen Blick zur Türe hinaus. Die Schutzleute stiegen mit ihm in die Droschke, während der Inspektor zurückblieb.

Holmes hob die losen Blätter, die den Entwurf des Testaments enthielten, vom Tische auf und betrachtete sie mit zunehmendem Interesse.

»Dieses Schriftstück gibt uns einige Anhaltspunkte, Herr Lestrade,« sagte er endlich. »Sehen Sie es sich einmal genauer an.« Er schob ihm die Blätter hinüber.

Der also Angeredete sah ihn erstaunt an.

»Ich kann nur die ersten Zeilen, die in der Mitte der zweiten Seite und ein paar am Schluß lesen; die sind ganz deutlich geschrieben,« sagte er, »aber sonst ist die Schrift sehr schlecht, und an drei Stellen vollständig unleserlich.«

»Was schließen Sie daraus?« sagte Holmes.

»Ja, was schließen Sie denn daraus?«

»Daß es in einem Eisenbahnzug geschrieben ist; die gute Schrift bedeutet die Stationen, die schlechte die Fahrt und die sehr schlechte die Durchfahrt durch Kreuzungsstellen. Ein gewandter Sachverständiger würde sofort erkennen, daß der Schreiber auf einer Vorortlinie gefahren ist, weil nur in der unmittelbaren Nähe einer Großstadt die Haltestellen so schnell aufeinander folgen. Wenn man annimmt, daß er auf der ganzen Strecke geschrieben hat, so muß er einen Schnellzug benutzt haben, der zwischen Norwood und London-Bridge nur einmal hält.«

Lestrade fing an zu lachen.

»Sie gehen mir zu weit zurück, wenn Sie Ihre Theorien entwickeln, Herr Holmes. Was hat das mit der Sache zu tun?«

»Nun, es bestätigt und ergänzt die Aussage des jungen Herrn, daß Oldacre das Testament gestern unterwegs aufgesetzt hat. Es ist immerhin auffallend – nicht wahr? – daß jemand ein so wichtiges Schriftstück im Eisenbahncoupé niederschreibt. Es geht daraus hervor, daß er der Sache keinen besonderen praktischen Wert beilegt. Das kann nur ein Mann tun, der nicht daran denkt, diesen Willen jemals zu verwirklichen.«

»Und doch hat er zu gleicher Zeit damit sein eigenes Todesurteil niedergeschrieben,« versetzte Lestrade.

»Aha, das ist Ihre Ansicht?«

»Meinen Sie das denn nicht auch?«

»Es ist nicht unmöglich; mir ist der ganze Fall aber noch nicht klar.«

»Nicht klar? Na, aber wenn das nicht klar ist, was ist dann überhaupt klar? Hier ist ein junger Mensch, der plötzlich erfährt, daß ihm ein großes Vermögen zufällt, wenn ein bejahrter Mann mit dem Tod abgeht. Was tut er? Er sagt keinem Menschen was, sondern begibt sich eines schönen Abends unter irgend einem Vorwand zu seinem Gönner. Er wartet, bis die einzige Person, die noch im Hause wohnt, zu Bett gegangen ist, ermordet den alten Mann in seinem einsamen Schlafzimmer, verbrennt die Leiche in einem Holzhaufen und geht dann in ein nahegelegenes Hotel. Die Blutspuren im Zimmer und auch am Stock sind nur unbedeutend. Er hat also vielleicht gar nicht gemerkt, daß Blut geflossen ist, und gehofft, daß nach der Einäscherung des Leichnams jede Spur von der Art des Todes verwischt wäre – Spuren, die aus sprechenden Gründen auf ihn führen mußten. Ist das nicht alles sonnenklar?«

»Ihre Beweisführung, mein lieber Lestrade, kommt mir etwas zu klar vor,« erwiderte Holmes. »Bei Ihren sonstigen vorzüglichen Eigenschaften vermisse ich die nötige Einbildungskraft. Wenn Sie sich nur einen Augenblick in die Lage dieses jungen Mannes versetzen wollten! Würden Sie gerade die Nacht nach der Aufstellung des Testamentes wählen, um das Verbrechen zu begehen? Würde es Ihnen nicht gefährlich erscheinen, eine so enge Verbindung zwischen diesen beiden Ereignissen herzustellen? Ferner, würden Sie das Verbrechen in der Nacht ausführen, wo Ihre Anwesenheit im Hause bekannt ist, wo Ihnen eine Bedienstete die Türe aufgemacht hat? Und endlich, würden Sie, nachdem Sie sich der schweren Mühe unterzogen hätten, den Leichnam durch Feuer zu zerstören, dann so unvorsichtig sein und Ihren eigenen Stock zum Zeichen, daß Sie der Täter sind, im Hause zurücklassen? Geben Sie nicht zu, Lestrade, daß dies alles recht unwahrscheinlich ist?«

»Was den Stock betrifft, Herr Holmes, so wissen Sie so gut wie ich, daß Verbrecher oft bestürzt sind und Handlungen begehen, die ein besonnener Mensch nicht unternehmen würde. Er fürchtete sich wahrscheinlich, wieder umzukehren, um ihn zu holen. – Geben Sie mir eine andere plausible Erklärung.«

»Ich könnte Ihnen leicht ein halbes Dutzend geben,« sagte Holmes. »Wie denken Sie z. B. über folgende, die wohl möglich, ja gar nicht unwahrscheinlich ist? – ich stelle Ihnen gern anheim, davon Gebrauch zu machen –. Der alte Baumeister zeigte seinem Besucher wertvolle Papiere. Ein Landstreicher geht draußen vorbei und sieht es; die Jalousie war ja nur halb heruntergelassen. Der Anwalt geht dann fort. Der Landstreicher steigt ein! Er ergreift einen Stock, den er gerade stehen sieht, schlägt Oldacre tot und verschwindet, nachdem er die Leiche auf den Holzhaufen geschleppt und ihn angezündet hat.«

»Warum sollte der Landstreicher die Leiche verbrennen?«

»Aus demselben Grunde, aus dem es Farlane getan haben soll.«

»Und warum hat der Kerl nichts mitgenommen?«

»Weil es Papiere waren, die er nicht verwerten konnte.«

Lestrade schüttelte den Kopf. Es schien mir aber doch, als ob er von der Richtigkeit seiner eigenen Theorie schon nicht mehr so fest überzeugt wäre wie vorher. »Nun, Herr Holmes, suchen Sie Ihren Landstreicher, aber solange Sie ihn nicht gefunden haben, will ich mich an meinen Gefangenen halten. Die Zukunft wird ja zeigen, wer recht behält. Bedenken Sie besonders den Umstand, daß nach unserer bisherigen Kenntnis keinerlei Papiere entwendet sind und Farlane der einzige Mensch auf Gottes Erde ist, der an ihrer Entfernung kein Interesse hatte, weil er gesetzlicher Erbe war, und sie ihm also unter allen Umständen später zufallen mußten.«

Gegen diese Bemerkung konnte mein Freund nichts einwenden.

»Ich will nicht leugnen, daß Ihre Beweisführung in verschiedener Hinsicht glaubwürdig klingt,« antwortete er. »Ich behaupte nur, daß es auch andere Erklärungen gibt. Wie Sie selbst sagen, wird die Zukunft entscheiden. Guten Morgen! Ich werde übrigens im Laufe des Tages nach Norwood hinunter kommen und sehen, wie weit Sie sind.«

Als der Detektiv hinaus war, stand mein Freund auf und traf seine Vorbereitungen für die nächsten Unternehmungen; er zeigte die frohe Miene eines Mannes, der sich einer seinen Fähigkeiten entsprechenden Aufgabe gegenüber gestellt sieht.

»Mein erster Gang, Watson,« sagte er, indem er in seinen Rock schlüpfte, »ist, wie erwähnt, nach Blackheath.«

»Und warum nicht nach Norwood?«

»Weil in diesem Falle zwei eigentümliche Ereignisse kurz aufeinander gefolgt sind. Die Polizei begeht den Irrtum, ihre ganze Aufmerksamkeit auf das zweite zu lenken, weil dieses zufällig das Verbrechen vorstellt. Mir ist es jedoch klar, daß der richtige Weg zum Verständnis der zweiten Begebenheit, des Verbrechens, von der ersten, dem auffallenden Testament, seinen Ausgang nehmen muß. Ich will also versuchen, zunächst etwas Licht in den ersten Teil zu bringen, in das so urplötzlich und zu gunsten eines so eigentümlichen Erben gemachte Testament. Darnach werden wir den zweiten Teil leichter verstehen.«

»Soll ich mitkommen?«

»Nein, mein Lieber, ich glaube deine Begleitung heute nicht nötig zu haben. Diese Untersuchung ist gewiß nicht gefährlich, sonst würde ich mich wohl hüten, allein zu gehen. Ich hoffe, dir bei meiner Rückkehr heute abend die frohe Botschaft bringen zu können, daß ich für den unglücklichen jungen Herrn, der sich meinem Schutze anvertraut hat, etwas ausgerichtet habe.«

Es war spät, als mein Freund wiederkam, und ein einziger Blick auf sein bekümmertes Gesicht zeigte mir, daß die Hoffnungen, mit denen er weggegangen war, sich nicht erfüllt hatten. Ziemlich eine Stunde lang beschäftigte er sich mit seiner Geige, um sein unruhiges Gemüt zu besänftigen. Endlich warf er das Instrument beiseite und gab mir einen ausführlichen Bericht über seine Mißerfolge.

»Es geht alles schief, Watson – so schief, wie’s nur gehen kann. Ich habe mir zwar Lestrade gegenüber keine Schwäche anmerken lassen, aber, meiner Seele, ich glaube, diesmal hat er recht, und wir sind auf dem Holzweg. Die Tatsachen widersprechen meinem Gedankengang und meinen Ahnungen vollständig, und ich fürchte stark, daß sich die englischen Gerichte noch nicht zu der idealen Auffassung emporgeschwungen haben, daß sie meinen Theorien den Vorzug vor Lestrades Tatsachenmaterial geben.«

»Warst du in Blackheath?«

»Jawohl, ich war dort und überzeugte mich bald, daß der selige Oldacre ein ziemlich gemeiner Charakter war. Farlanes Vater war auf der Suche nach seinem Sohne. Die Mutter traf ich zu Hause. Sie ist eine kleine, leicht erregbare Frau mit blauen Augen; sie zitterte vor Schrecken und Entrüstung. Selbstverständlich gab sie nicht einmal die Möglichkeit der Schuld ihres Sohnes zu. Aber über das Schicksal des alten Oldacre drückte sie weder Ueberraschung noch Bedauern aus. Im Gegenteil, sie sprach mit einer solchen Bitterkeit von ihm, daß sie, ohne es zu wissen, die Annahme der Polizei förderte. Denn natürlich mußte der Sohn, wenn er solche Sprache über den Mann gehört hatte, von Haß und Widerwillen gegen ihn erfüllt sein. »Er glich einem bösartigen, hinterlistigen Affen mehr als einem Menschen,« sagte sie, »und das war von jeher so, schon als junger Mensch war er so.«

»›Haben Sie ihn denn damals schon gekannt?‹ fragte ich sie.

»›Jawohl, sehr gut; er war ja ’n alter Freier von mir. Gott sei Dank, daß ich so vernünftig war, mich von ihm loszusagen und einen besseren, wenn auch ärmeren Mann zu heiraten. Ich war mit ihm verlobt, Herr Holmes, als ich erfuhr, wie er eine Katze in ein Vogelbauer gesperrt hatte, und ich war so empört über diese Grausamkeit, daß ich nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte.‹ Sie suchte in einer Schublade herum und brachte die Photographie einer jungen Dame zum Vorschein. Das Bild war furchtbar verunstaltet und mit einem Messer zerschnitten. ›Das ist meine eigene Photographie,‹ sagte sie. ›In diesem Zustand hat er sie mir mit einem Fluch am Morgen meines Hochzeitstages zugeschickt.‹

»›Nun,‹ sagte ich, ›er scheint sich doch allmählich mit Ihnen ausgesöhnt zu haben, insofern er Ihrem Sohn sein ganzes Vermögen vermacht hat.‹

»›Weder mein Sohn, noch ich brauchen etwas von Jonas Oldacre, weder bei seinen Lebzeiten noch nach seinem Tode,‹ rief sie ganz erregt. ›Es lebt ein Gott im Himmel, Herr Holmes, und dieser Gott, der den Bösen gestraft hat, wird auch offenbaren, daß die Hände meines Sohnes unschuldig sind an diesem Blute.‹

»Ich versuchte noch durch List, etwas Bestimmtes aus ihr herauszubringen, das unsere Annahme hätte stützen können, bekam aber nur solche Dinge zu hören, die eher das Gegenteil bewiesen hätten. So steckte ich’s schließlich auf und ging nach Norwood.

»Das Deep Dene House ist ein großer Backsteinbau in modernem Villenstil. Es steht etwas zurück, und davor ist ein Garten mit Lorbeergebüsch. Hinter dem Haus befindet sich der Hof, wo das Holz liegt, der Schauplatz des Schadenfeuers. Ich habe hier in meinem Notizbuch eine flüchtige Skizze. Das Fenster links ist das einzige in Oldacres Schlafzimmer. Man kann von der Straße aus hineinsehen, wie du erkennen wirst – das ist ungefähr der einzige Trost, der mir geblieben ist. Lestrade war nicht da, er wurde durch seinen Wachtmeister vertreten. Sie hatten gerade einen wichtigen Fund gemacht. Beim Durchsuchen der Asche des verbrannten Holzhaufens hatten sie verkohlte Knochenreste und ein paar Metallstückchen zutage gefördert. Ich habe die letzteren sorgfältig untersucht und zweifellos festgestellt, daß es Hosenknöpfe waren. Ich habe an einem derselben sogar den Namen »Hyams« erkennen können, der Firma von Oldacres Schneider. Ich habe dann den Garten und den Rasen um das Haus herum genau nach irgendwelchen Spuren und Fährten durchforscht. Es war aber infolge der großen Trockenheit weiter nichts zu sehen, als daß ein größerer Gegenstand durch eine niedrige, in der Richtung nach dem Holzhaufen liegende Rainweidenhecke geschleift worden war. Dies alles bestätigt natürlich nur die Auffassung der Polizei! Ich bin lange trotz der brennenden Augustsonne auf dem Rasen umhergekrochen; ich war aber am Ende nicht schlauer als am Anfang.

»Nach diesem Fiasko begab ich mich ins Schlafzimmer und unterwarf es einer ebenso gründlichen Untersuchung wie den Hof und den Garten. Die Blutspuren waren äußerst geringfügig, fast farblos und wie umhergeschmiert, aber sicher frisch. Den Stock hatte die Polizei schon in Beschlag genommen, aber auch diese Blutflecken waren nur unbedeutend. Daß der Stock unserem Klienten gehört, unterliegt keinem Zweifel, er gibt es selbst zu. Die Fußspuren der beiden Männer waren auf dem Teppich zu erkennen, aber keine einer dritten Person, was wieder Wasser auf die Mühle der Gegenpartei ist, die ihrerseits die Verdachtsmomente zusammenreiht, während wir auf dem toten Punkt sind.

»Nur ein Hoffnungsschimmer dämmerte in mir auf – aber auch er ist nur sehr, sehr schwach. Ich prüfte den Schrank; sein Inhalt war größtenteils herausgenommen und lag auf dem Tische. Die Papiere waren geordnet und in große Kuverts gesteckt, die dann zugesiegelt worden waren. Die Polizei hatte einige geöffnet. So weit ich es beurteilen kann, hatten die darin befindlichen Papiere keinen großen Wert, auch das Bankbuch des Herrn Oldacre ließ die Vermögensverhältnisse nicht sehr glänzend erscheinen. Es kam mir aber vor, als ob Papiere fehlen müßten – vielleicht waren das gerade die wichtigsten – aber ich konnte sie, trotzdem ich alles danach durchsuchte, nicht finden. Dieser Umstand würde natürlich, wenn uns der Nachweis wirklich gelänge, von der größten Bedeutung sein, indem er Lestrades Begründung direkt widerspräche; denn wer wird Wertpapiere stehlen, die er bald erbt?

»Am Ende, nachdem ich alles vergeblich durchgesehen hatte, versuchte ich mein Glück mit der Haushälterin. Ihr Name ist Lexington, sie ist ein kleines, dunkles Weib, verschwiegen und argwöhnisch. Sie könnte uns manches sagen, wenn sie wollte, davon bin ich fest überzeugt. Aber sie war stumm wie eine Wachsfigur. Sie habe Herrn Farlane um halb zehn die Tür geöffnet. Sie wünsche, daß ihr lieber vorher die Hand verdorrt wäre. Sie sei um halb elf zu Bett gegangen. Ihr Zimmer liege nach der entgegengesetzten Seite, sodaß sie nichts hätte hören können. Erst vom Feuerlärm wäre sie munter geworden. Herr Farlane habe Hut und Stock im Hausflur gelassen, dessen erinnere sie sich ganz bestimmt.

Ihr armer guter Herr wäre sicherlich ermordet worden. ›Hatte er Feinde?‹ Nun, Privatangelegenheiten des Herrn Oldacre überhaupt, hätte sie keinerlei Kenntnis.

»So, mein lieber Watson, das ist der erschöpfende Bericht meines Mißerfolges. Und doch – und doch –« – er rang die mageren Hände in voller Ueberzeugung – »ich weiß, daß alles erlogen und falsch ist, ich fühl’s in allen Knochen. Es steckt etwas dahinter, was noch nicht ans Licht gekommen ist und was diese Wirtschafterin weiß. Es lag ein gewisser Trotz in ihrem Auge, wie man ihn nur bei Leuten findet, die eine tiefere Kenntnis von einer Sache haben, die sie aber verschweigen. Aber all dies Denken und Fühlen hilft nichts, Watson; wenn wir nicht noch besonderes Glück haben, befürchte ich, wird der Norwooder Fall im Tagebuch unserer Erfolge, dessen Inhalt, wie ich voraussehe, ein geduldiges Publikum früher oder später doch vorgesetzt bekommen wird, keine Stätte haben.«

»Der Mann sieht aber keinesfalls wie ein Verbrecher aus,« bemerkte ich.

»Das ist ein bedenkliches Beweismittel, lieber Watson. Erinnerst du dich noch an den gefährlichen Mörder Bernt Steven, der im Jahre 1887 unsere Hilfe in Anspruch nahm? Gab es einen kindlicher und harmloser aussehenden Menschen als den?«

»Das stimmt.«

»Wenn es uns nicht gelingt, seine Unschuld durch triftigere Beweise darzutun, ist unser Mann verloren.

Die Lestradesche Argumentation ist durch alle späteren Nachforschungen gestützt worden, keine einzige Tatsache steht mit ihr in Widerspruch. Nur die fehlenden Papiere würden dagegen sprechen. Das ist der einzige wunde Punkt, und von dem aus muß eine neue Untersuchung von unserer Seite ihren Ausgang nehmen. Bei Durchsicht des Bankbuches habe ich gefunden, daß der ungünstige Stand am Schlusse hauptsächlich von großen Wechselforderungen herrührt, die im letzten Jahre an einen Herrn Cornelius ausgezahlt worden sind. Ich möchte nun zu gern wissen, wer dieser Herr Cornelius ist, mit dem ein Architekt, der sich zur Ruhe gesetzt hat, so große Geldgeschäfte treibt. Es ist nicht unmöglich, daß er bei der ganzen Sache die Hand im Spiel hat. Er ist vielleicht ein Agent oder Kommissionär, aber wir haben keine Spur von einer Korrespondenz über diese großen Zahlungen gefunden. Aus Mangel an besseren Angriffspunkten müssen meine Nachforschungen zunächst mit einer Nachfrage an der Bank nach jenem Herrn beginnen, der die Wechsel einkassiert hat. Immerhin glaube ich eher, mein lieber Junge, daß dieser Fall unseren Ruhm nicht erhöhen wird. Lestrade wird wohl unseren Klienten aufknüpfen lassen, und Scotland Yard wird triumphieren.«

Ich weiß nicht, ob und wie Holmes in jener Nacht geschlafen hat, aber als ich zum Frühstück kam, fand ich ihn blaß und müde aussehend; seine klaren Augen erschienen infolge der dunkeln Ringe noch klarer als sonst. Auf dem Teppich unter seinem Stuhl lagen Zigarettenstummel und die ersten Ausgaben der Morgenblätter. Auf dem Tisch lag ein geöffnetes Telegramm.

»Was sagst du dazu, Watson?« fragte er, indem er mir die Depesche zuwarf.

Sie kam von Norwood und lautete folgendermaßen:

»Wichtigen neuen Beweis gefunden, Farlanes Schuld endgültig festgestellt. Rate Ihnen, den Fall aufzugeben. –

Lestrade.«

»Das klingt ernst,« sagte ich.

»Es ist Lestrades Siegesnachricht,« meinte Holmes, bitter lächelnd. »Und doch würde es zu früh sein, die Sache verloren zu geben. Ein frischer Beweis ist wie ein zweischneidiges Schwert; er kann leicht das Gegenteil dessen beweisen, was Lestrade denkt. Frühstücke rasch; wir wollen dann zusammen hinausfahren und sehen, was sich tun läßt. Ich habe das Gefühl, als ob ich heute deine Gesellschaft und deine moralische Unterstützung brauchte.«

Mein Freund hatte nichts gegessen. Es war eine seiner Eigenarten, in besonderen Momenten keine Nahrung zu sich zu nehmen, und ich habe Fälle mitgemacht, wo er sich auf seine eiserne Natur verließ, bis er vor Hunger ohnmächtig wurde. »Gegenwärtig habe ich keine Kraft zum Verdauen übrig,« pflegte er mir auf meine ärztlichen Vorhaltungen zu antworten. Es fiel mir daher nicht weiter auf, als er auch heute das Frühstück nicht anrührte und nüchtern mit mir nach Norwood aufbrach.

Um Deep Dene House waren noch eine Menge Neugieriger versammelt. Das Haus und seine Lage hatte ich mir ganz richtig vorgestellt. In der Türe kam uns Lestrade mit der Miene des Siegers entgegen.

»Nun, Herr Holmes, wer hat recht? Haben Sie Ihren Landstreicher schon?« rief er uns zu.

»Ich habe mir noch kein endgültiges Urteil gebildet,« erwiderte mein Freund.

»Aber wir haben uns gestern unseres schon gebildet und heute hat es sich als richtig erwiesen. Sie müssen also zugeben, daß wir Ihnen diesmal etwas voraus sind, Herr Holmes.«

»Sie tun so, als ob Sie etwas Besonderes gefunden hätten, als ob ein unerwartetes Moment eingetreten wäre,« sagte Holmes.

Lestrade lachte laut auf.

»Ich glaub‘ Ihnen schon, daß Sie sich ebenso ungern schlagen lassen, wie die meisten von uns auch. Man kann jedoch nicht erwarten, daß man stets recht behält, nicht wahr, Herr Doktor? Kommen Sie mit mir, meine Herren, ich glaube, Sie jetzt von der Schuld des jungen Farlane definitiv überzeugen zu können.«

Er führte uns durch einen Gang in einen ziemlich dunklen Vorsaal.

»Hier muß Farlane nach Verübung des Verbrechens durchgekommen sein und seinen Hut geholt haben,« sagte er weiter. »Nun, sehen Sie hier.« Mit theatralischem Gebahren zündete er ein Streichholz an und zeigte uns einen Blutflecken an der weißgetünchten Wand. Als er das Streichholz näher hielt, sah ich, daß es kein bloßer Spritzer, sondern ein deutlicher Daumenabdruck war.

»Nehmen Sie mal die Lupe, Herr Holmes.«

»Jawohl, ich bin schon im Begriff.«

»Es ist Ihnen wohl bekannt, daß zwei Daumen niemals denselben Abdruck geben?«

»Ich habe schon davon gehört.«

»Dann vergleichen Sie ihn, bitte, mit diesem Wachsabdruck hier, den ich heute morgen vom Daumen des jungen Farlane habe nehmen lassen.«

Als er den Wachsabdruck neben den Blutflecken hielt, bedurfte es keines Vergrößerungsglases, um zweifellos zu erkennen, daß beide von demselben Daumen herrührten. Ich sah ein, daß unser unglücklicher Klient verloren war.

»Das ist das Schlußglied der Beweiskette,« sagte Lestrade.

»Ja, das ist das Schlußglied,« wiederholte ich mechanisch.

»Das ist die Entscheidung,« sagte Holmes.

In seiner Stimme fiel mir etwas auf. Ich drehte mich um und sah ihn an. Sein Ausdruck war vollständig verändert. Er verriet innere Freude. Die Augen glänzten wie Sterne. Mir schien es, als ob er gewaltsam das Lachen unterdrücken müßte.

»Herr des Himmels!« rief er endlich aus. »Wer hätte so was gedacht? Wie einen das Aussehen eines Menschen doch täuschen kann, wahrhaftig! Allem Anschein nach war er so ’n netter Mann! Es wird eine Lehre für uns sein, unserem eigenen Urteil nicht allzusehr zu vertrauen, nicht wahr Lestrade?«

»Allerdings, Herr Holmes; es gibt Leute, die ein bißchen zu selbstbewußt, von der Richtigkeit ihrer Auffassung zu sehr eingenommen sind,« antwortete Lestrade. »Der trat so unverfroren und scheinheilig auf, daß man’s ihm wirklich nicht zugetraut hätte.«

»Und wie fürsorglich er gehandelt hat, indem er seinen rechten Daumen an die Wand drückte, als er den Hut vom Haken nahm! Und wie natürlich das außerdem ist, wenn man genauer darüber nachdenkt!« Holmes war äußerlich ruhig, während er so sprach, aber einem genauen Kenner wie mir konnte die unterdrückte Erregung nicht verborgen bleiben. »Uebrigens, Herr Lestrade, wer hat denn diese großartige Entdeckung eigentlich gemacht?«

»Die Haushälterin hat den Polizisten, der die Nachtwache hatte, darauf aufmerksam gemacht.«

»Wo befand er sich während der Nacht?«

»Er wachte im Schlafzimmer, wo das Verbrechen begangen worden ist, und paßte auf, daß alles unberührt liegen blieb.«

»Aber warum ist dieses Zeichen nicht schon gestern bemerkt worden?«

»Weil wir keinen besonderen Grund hatten, dieses Vorzimmer eingehender zu untersuchen. Außerdem ist es an keiner auffallenden Stelle, wie Sie sehen.«

»Nein, nein, allerdings nicht. Und es besteht vermutlich doch kein Zweifel, daß es gestern schon dort war?«

Lestrade sah Holmes an, als ob er ihn für nicht ganz zurechnungsfähig hielt. Ich muß gestehen, daß ich selbst über seinen guten Mut und über seine Bemerkungen erstaunt war.

»Es scheint mir beinahe, als ob Sie glaubten, daß Farlane im Dunkel der Nacht aus dem Gefängnis hierher geeilt sei, um sich selbst zu bezichtigen,« antwortete Lestrade nach einiger Zeit auf Holmes‘ merkwürdige Frage. »Ich überlasse jedem Sachverständigen die Entscheidung, ob das sein Daumenabdruck ist oder nicht.«

»Zweifelsohne ist es sein Daumenabdruck.«

»Nun, das genügt mir,« sagte Lestrade. »Ich bin kein Theoretiker, Herr Holmes, ich bin ein Praktiker, und wenn ich die Beweismittel habe, ziehe ich meine Schlüsse daraus. Sollten Sie mir später noch etwas mitzuteilen haben, so finden Sie mich im Empfangszimmer; ich will dort meinen Bericht niederschreiben.«

Holmes hatte seinen seelischen Gleichmut wiedergefunden, aber ich sah ihm an, daß er doch noch gutgelaunt war.

»In der Tat, die Sache hat eine sehr schlimme Wendung genommen, nicht wahr, Watson?« sagte er zu mir, als wir allein waren. »Und doch gibt es einzelne Punkte, von denen noch Hoffnungsstrahlen für unseren Klienten ausgehen.«

»Das freut mich ungemein,« antwortete ich von Herzensgrunde. »Ich fürchtete, es sei ganz aus mit ihm.«

»Das möchte ich noch nicht sagen, mein lieber Watson, denn Lestrades Beweis hat tatsächlich eine Lücke, die für unseren Freund von größter Wichtigkeit ist.«

»Wirklich, Holmes?! Die wäre?«

»Das ist der Umstand, daß ich weiß, daß dieser Flecken noch nicht dort war, als ich gestern diesen Vorraum untersuchte – komm Watson, wir wollen jetzt einen kleinen Spaziergang draußen in der Sonne machen.«

Ich begleitete ihn. Im Kopfe war ich ziemlich wirr, aber im Herzen hatte ich neue Hoffnung. Wir gingen im Garten umher. Holmes nahm das Haus von allen Seiten genau in Augenschein und zeigte ein auffallendes Interesse an der Bauart. Dann ging er hinein und untersuchte das ganze Gebäude vom Grund bis zum Dach. Die meisten Räume waren unmöbliert, aber Holmes besah sie sich doch. Endlich auf dem obersten Treppenflur, auf den drei unbenutzte Zimmer mündeten, zeigte er eine grenzenlose Freude.

»Dieser Fall ist wirklich einzig in seiner Art, Watson,« sagte er. »Ich glaube, es ist nun an der Zeit, daß wir den guten Lestrade ins Vertrauen ziehen. Er hat sich auf unsere Kosten ein bißchen lustig gemacht, nun, wenn meine Ansicht sich als richtig erweist, können wir’s ihm jetzt heimzahlen. Oh ja, ich sehe, wir kommen der Sache auf den Grund.«

Der Polizeiinspektor saß noch im Empfangszimmer und schrieb.

»Sie machen Ihren Bericht?« unterbrach ihn Holmes.

»Jawohl, das tue ich.«

»Meiner Meinung nach ist es noch etwas zu früh; ich kann mir nicht helfen, aber ich glaube, Ihr Beweis hat eine Lücke.«

Lestrade kannte meinen Freund zu gut, um seine Worte nicht zu beachten. Er legte die Feder beiseite und blickte ihn gespannt an.

»Was wollen Sie damit sagen, Herr Holmes?«

»Ich meine nur, daß Sie einen wichtigen Zeugen noch nicht vernommen haben.«

»Können Sie ihn beibringen?«

»Ich glaube, ich kann’s.«

»Dann tun Sie’s doch!«

»Ich will’s versuchen. Wieviele Polizisten haben Sie hier?«

»Drei stehen Ihnen zur Verfügung.«

»Schön,« sagte Holmes. »Darf ich fragen, ob es kräftige Männer mit guten Lungen sind?«

»Ich zweifle nicht daran; aber ich sehe vorläufig nicht ein, was die Beschaffenheit ihrer Lungen mit der Sache zu tun hat.«

»Das werden Sie bald erfahren, und hoffentlich noch viel mehr,« antwortete Holmes. »Rufen Sie, bitte, Ihre Leute. Ich will das Experiment beginnen.«

Nach fünf Minuten waren die drei Schutzleute zur Stelle.

»Im Nebengebäude werden Sie eine größere Menge Stroh vorfinden. Wollen Sie, bitte, zwei Bund davon hierherbringen,« sagte Holmes. »Ich glaube, es wird uns zur Herbeischaffung des fehlenden Zeugen vortreffliche Dienste leisten. – Recht so. Ich danke Ihnen bestens. Hast du Streichhölzer, Watson? Nun, Herr Lestrade, bitte ich Sie und Ihre Leute, mit mir auf den oberen Korridor zu kommen.«

Wie ich erwähnt habe, mündeten auf diesen geräumigen Vorplatz drei leere Kammern. Holmes gebot uns, recht still zu sein, und dirigierte uns alle an das eine Ende. Die Polizisten grinsten, und Lestrade starrte meinen Freund erstaunt an. In seinem Gesicht wechselten der Ausdruck der Verwunderung, der Erwartung und des Spottes miteinander ab. Holmes stand vor uns wie ein Zauberer, der ein Kunststück zeigen will.

»Wollen Sie so gut sein und einen Mann zwei Gießkannen voll Wasser holen lassen? Legen Sie das Stroh hier mitten auf den Boden, sodaß es die Wand nicht berührt. Nun sind wir mit den Vorbereitungen wohl fertig.«

Lestrade fing an, ärgerlich zu werden.

»Ich weiß nicht, ob Sie sich einen Scherz mit mir erlauben wollen, Herr Holmes,« sagte er. »Wenn Sie etwas wissen, so können Sie es auch ohne diesen Hokuspokus sagen.«

»Ich kann Ihnen die Versicherung geben, mein lieber Lestrade, daß ich für alles, was ich tue, meine guten Gründe habe. Sie können sich vielleicht entsinnen, daß Sie mich vor ein paar Stunden, als Ihnen das Glück zu lächeln schien, auch ein wenig uzten, nun dürfen Sie mir das bißchen Zeremoniell aber auch nicht gleich übelnehmen. Willst du nun das Fenster dort aufmachen, Watson, und das Stroh anzünden?

Ich tat, was er mich geheißen hatte. Infolge des Zuges erhob sich bald eine dicke graue Rauchwolke, das trockene Stroh prasselte, und die hellen Flammen schlugen empor.

»Nun müssen wir sehen, ob Ihr Zeuge herauskommt, Lestrade. Darf ich Sie bitten, gleichzeitig mit mir in den Ruf ›Feuer!‹ auszubrechen? Also: eins, zwei, drei –«

»Feuer!« schrien wir alle.

»Danke Ihnen. Ich muß Sie noch einmal bemühen.«

»Feuer!«

»Nun zum drittenmal, meine Herren, so laut Sie können –«

»Feuer!« Ganz Norwood muß es gehört haben.

Der Ruf war kaum verhallt, als etwas Ungeahntes eintrat. An der scheinbar soliden Wand am Ende des Korridors tat sich plötzlich eine Tür auf, und hervorstürzte, wie ein Kaninchen aus seinem Loch, ein kleines, schmächtiges Männlein mit grauem Haar und weißen Wimpern.

»Ausgezeichnet!« rief Holmes. »Watson, einen Eimer Wasser aufs Stroh! Gut so! – Herr Lestrade, erlauben Sie, daß ich Ihnen den fehlenden Hauptzeugen vorstelle, Herrn Jonas Oldacre.«

Das kleine Männchen blinzelte, geblendet von dem hellen Tageslicht, unaufhörlich mit den Augen, und guckte bald uns an, bald das qualmende Stroh. Er hatte ein widerwärtiges Gesicht – verschmitzt und bösartig – und hellgraue, listige Augen.

Der Detektiv starrte die geisterhafte Erscheinung sprachlos an. Nach, einer Weile fand er endlich wieder Worte.

»Was soll denn das heißen?« sagte er. »Wo haben Sie denn die ganze Zeit gesteckt, he?«

Oldacre fuhr zurück vor dem zorngeröteten Gesicht des Inspektors und erwiderte dann mit erzwungenem Lächeln:

»Ich hab‘ nichts Böses getan.«

»Nichts Böses? Sie wollten einen unschuldigen Mann an den Galgen bringen. Wenn dieser Herr nicht gewesen wäre, würde es Ihnen wahrscheinlich auch gelungen sein.«

Das traurige Geschöpf fing an zu winseln.

»Sicher, Herr, es war nur ’n Spaß.«

»Ein eigentümlicher Spaß! Sie sollen nicht darüber zu lachen haben, dafür bin ich Ihnen gut. Nehmt ihn mit hinunter und haltet ihn im Wohnzimmer fest, bis ich komme. – Herr Holmes,« fuhr er fort, als die Schutzleute hinunter gegangen waren, »ich konnte in Gegenwart der Leute nicht sprechen, aber im Beisein des Herrn Dr. Watson erkläre ich frei heraus: das ist der feinste Streich, den Sie je ausgeführt haben – es ist mir freilich noch ein Rätsel, wie Sie’s angefangen haben – Sie haben einen Unschuldigen gerettet und einen großen Skandal verhütet, der meinen Ruf bei der Polizei untergraben haben würde.«

Holmes lächelte und klopfte Lestrade auf die Schulter. »Ihr Renommee in Scotland Yard soll durch diesen Fall bedeutend gehoben werden, mein guter Herr. Sie brauchen nur ein paar Stellen in Ihrem Bericht zu ändern, und alle Welt wird sagen, daß es schier unmöglich ist, dem Inspektor Lestrade Sand in die Augen zu streuen.«

»Wünschen Sie denn gar nicht, daß Ihr Name erwähnt wird?« fragte Lestrade verwundert.

»Durchaus nicht. Diese Tat birgt ihren Lohn in sich selbst. Vielleicht werde ich eines Tages, wenn ich meinem eifrigen Geschichtsschreiber die Erlaubnis erteile, die Genugtuung haben, sie gedruckt zu sehen – wie, Watson? Nun wollen wir uns mal das Nest ansehen, in dem die Ratte gesteckt hat.«

Es war ein sechs Fuß langer Bretterverschlag, von der Breite des Flurs; er war genau wie die übrigen Wände tapeziert und hatte einen unsichtbaren Zugang. Durch einige Ritze unter der Dachrinne drang spärliches Licht hinein. Darin befanden sich ein paar kümmerliche Möbelstücke, eine Anzahl Bücher und Papiere und ein Vorrat von Nahrungsmitteln und Wasser.

»Das ist der Vorteil, wenn man Baumeister ist,« sagte Holmes beim Heraustreten. »Er war imstande, sein Versteck ohne fremde Beihilfe herzurichten – natürlich abgesehen von der prächtigen Wirtschafterin, die ich gleichfalls Ihrer Obhut anempfehlen möchte, Lestrade.«

»Sie soll entschieden ihrem Herrn das Geleite geben, Herr Holmes. Aber vor allen Dingen sagen Sie mir: Wie haben Sie Kenntnis von diesem Raum erlangt?«

»Ich kam zu dem Schluß, daß der Besitzer noch im Hause sein müßte. Als ich nun die Korridore abschritt und fand, daß der obere sechs Fuß kürzer war als der entsprechende untere, war es mir ganz klar, wo er steckte. Wir hätten natürlich ebensogut gleich hineingehen und ihn festnehmen können, aber es machte mir mehr Vergnügen, ihn selbst herauskommen zu lassen; außerdem wollte ich mich durch die Geheimnistuerei für Ihre Spöttelei von heute morgen etwas entschädigen, Herr Lestrade.«

»Na, die haben Sie redlich wettgemacht. Aber, wie in aller Welt kamen Sie auf den Gedanken, daß er überhaupt im Hause verborgen sei?«

»Der Daumenabdruck sagte mir’s, Lestrade. Sie meinten, er wäre das Endglied der Kette; das war er auch, nur in einem ganz anderen Sinne. Ich wußte nämlich, daß er am Tage vorher noch nicht dort gewesen war. Ich schenke allen Einzelheiten eine weitgehende Beachtung, wie Sie wohl schon bemerkt haben werden, und ich hatte den Vorraum gründlich besichtigt und keinen Flecken an der Wand gefunden. Er mußte also ohne Zweifel erst wahrend der Nacht hingekommen sein.«

»Aber wie?«

»Sehr einfach. Als die Briefschaften versiegelt wurden, hat der junge Farlane einmal seinen Daumen als Petschaft benutzt. Es ist vielleicht in der Eile und ganz zufällig geschehen, sodaß sich der junge Herr wohl selbst nicht mehr daran erinnern kann. Sehr wahrscheinlich ist es so unabsichtlich gewesen, daß auch Oldacre nicht gleich bedacht hat, wozu es ihm später nützen sollte. Als er in seinem Bau den Fall genauer überlegt hat, wird ihm erst eingefallen sein, was für ein absolut zuverlässiges Beweismittel er durch Benutzung dieses Abdrucks der Polizei liefern könnte. Auf die einfachste Art von der Welt konnte er einen Wachsabdruck davon machen, ihn mit einem Tropfen Blut von einem Stecknadelstich benetzen und über Nacht den Flecken an der Wand erzeugen. Ob er es nun selbst getan hat oder die Haushälterin, das weiß ich nicht, ist auch ziemlich gleichgültig. Dagegen gehe ich jede Wette mit Ihnen ein, daß Sie das Siegel mit dem Daumen finden, wenn Sie die Briefschaften durchsehen, die er in sein Versteck mitgenommen hatte.«

»Großartig!« rief Lestrade. »Großartig! Wie Sie es auseinandersetzen, ist alles klar wie Kristall. Was aber ist der Grund dieses ganzen Betrugs?«

Es amüsierte mich, wie das hochmütige Verhalten des Inspektors von heute früh sich so sehr geändert hatte, und wie er sich nun gleich einem Kinde gebärdete, das Fragen an seinen Lehrer stellt.

»Ich halte es für nicht sehr schwer, diese Handlungsweise zu erklären. Der Herr, der jetzt unten wartet, ist eine sehr tiefgründige, bösartige und rachsüchtige Natur. Sie wissen doch, daß er einst von Farlanes Mutter den Laufpaß bekommen hat? Sie wissen’s nicht! Ich sagte Ihnen gleich, daß man zuerst nach Blackheath und dann nach Norwood gehen müßte. Also, diese Kränkung, wie er es auffaßte, hat ihm sein ganzes Leben lang keine Ruhe gelassen, er hat stets auf Rache gesonnen, ohne je eine günstige Gelegenheit zu finden. In den letzten ein oder zwei Jahren hat er Geldverluste gehabt – ich denke mir durch heimliche Spekulationen – und es geht rückwärts mit ihm. Er sucht seine Gläubiger zu beschwindeln und stellt hohe Wechsel aus, zahlbar an einen gewissen Cornelius, was meiner Meinung nach nur ein falscher Name seiner eigenen Person ist. Wenn ich die Spur dieser Wechsel auch noch nicht verfolgt habe, so unterliegt es für mich doch schon jetzt keinem Zweifel, daß sie nach einer Provinzialbank führt, wo Oldacre von Zeit zu Zeit unter diesem Namen aufgetaucht ist. Er hat die Absicht gehabt, dann überhaupt seinen Namen zu wechseln, das Geld einzuziehen und irgendwo ein neues Leben zu beginnen.«

»Das klingt nicht unwahrscheinlich.«

»Durch sein Verschwinden glaubte er, seine Spur vollkommen zu verwischen und gleichzeitig an seiner ehemaligen Braut die schwerste Rache nehmen zu können, indem er auf ihr einziges Kind den Verdacht lenkte, ihn ermordet zu haben. Es war ein Meisterstück der Schurkerei, und er hatte es meisterhaft ausgeführt. Die Geschichte mit dem Testament, das ein treffliches Motiv zur Tat abgeben mußte, der heimliche nächtliche Besuch ohne Wissen der eigenen Eltern, die Zurückbehaltung des Stockes, das Blut, die tierischen Ueberreste und die Knöpfe in der Asche, alles war erstaunlich geschickt gemacht. Es war ein Netzwerk, aus dem zu entschlüpfen, ich für das unschuldige Opfer noch vor ein paar Stunden keine Möglichkeit sah. Aber es fehlte ihm die höchste Gabe des Künstlers, die Mäßigung, die Beschränkung. Er wollte was schon vollkommen war, noch vollkommener machen, – den Strick am Halse seines Opfers noch fester ziehen – und dadurch verdarb er das Ganze. Wir wollen nun zu ihm hinuntergehen, Lestrade. Ich möchte noch ein paar Fragen an ihn richten.«

Die elende Kreatur saß im eigenen Empfangszimmer, mit einem Schutzmann an jeder Seite.

»Es war nur ’n Scherz, mein guter Herr, weiter nichts als ’n Scherz,« winselte er unaufhörlich. »Ich versichere Ihnen, mein Herr, daß ich mich nur verborgen hatte, um die Wirkung meines Verschwindens zu beobachten. Sie werden doch nicht so unrecht von mir denken und glauben, daß ich dem jungen Herrn Farlane auch nur das geringste Leid hätte antun lassen.«

»Darüber hat das Gericht zu entscheiden,« antwortete Lestrade. »Vorläufig werden Sie sich wegen Verschwörung, wenn nicht wegen versuchten Mordes zu verantworten haben.«

»Und außerdem werden Sie die schmerzliche Erfahrung machen müssen, daß Ihre Gläubiger das Bankguthaben des Herrn Cornelius mit Beschlag belegen,« sagte Holmes.

Das schmächtige Männchen sprang vom Stuhl auf und warf meinem Freund wütende Blicke zu.

»Ihnen habe ich das meiste zu danken,« erwiderte er haßerfüllt; »vielleicht kann ich Ihnen meine Schuld eines Tages heimzahlen.«

Holmes lächelte nachsichtig.

»Die nächsten paar Jahre werden Sie, glaube ich, kaum die nötige Zeit dazu finden,« erwiderte er ruhig. »Aber vielleicht beantworten Sie mir jetzt noch eine Frage: was haben Sie außer Ihren alten Hosen noch in den Holzhaufen geworfen? Einen toten Hund, ein paar Kaninchen oder was sonst? Sie wollen mir’s nicht sagen? Ei, ei, sind Sie unhöflich! Nun, ein paar Kaninchen genügten, um das Blut zu liefern und die verkohlten Knochenreste. – Falls du jemals diese Geschichte niederschreiben solltest, Watson, so denke an die Kaninchen!«

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Das gelbe Gesicht.

Das gelbe Gesicht.

Bei der Veröffentlichung dieser kurzen Skizzen über einige von den zahlreichen Fällen, in denen die glänzende Begabung meines Freundes sich offenbarte, weile ich naturgemäß mehr bei seinen Erfolgen als bei seinen Mißerfolgen. Und dabei leitet mich nicht sowohl die Rücksicht auf seinen Ruf – denn tatsächlich erscheinen seine Tatkraft und seine Findigkeit nie bewundernswerter als wenn er sich selbst in eine Sackgasse verrannt hatte –, sondern es bestimmt mich zu meiner Auswahl auch der Umstand, daß, wo er erfolglos blieb, auch sonst niemand das Ziel erreichte und den Schleier lüftete. Immerhin ist es ein paarmal vorgekommen, daß sich in solchen Fällen doch noch nachträglich das Rätsel gelöst hat. In meinen Notizen findet sich etwa ein halbes Nutzend von Fällen dieser Art, worunter die Geschichte von dem zweiten Tüpfel und die, welche ich eben erzählen will, bei weitem am interessantesten sind.

Sherlock Holmes war an sich kein Freund gymnastischer Uebungen. Uebertrafen ihn auch nur wenige an Muskelkraft, und war er auch zweifellos einer der besten Boxer, die mir je vorgekommen sind, so erschien ihm doch zwecklose körperliche Anstrengung als Kraftvergeudung, und er warf sich nur ins Geschirr, wenn ihn ein bestimmtes Ziel lockte. Dann war er einfach unermüdlich, und seine Spannkraft unerschöpflich. Es ist eigentlich sonderbar, daß sein Körper unter diesen Umständen beständig so leistungsfähig blieb; aber das lag wohl daran, daß er stets sehr mäßig lebte. Von gelegentlichem Genuß von Kokain abgesehen, fröhnte er keinerlei Leidenschaft, und auch zu diesem Mittel griff er nur, wenn gar kein Fall und keine interessante Zeitungsnachricht die öde Gleichförmigkeit der Tage unterbrechen wollte.

Eines schönen Frühlingstages hatte er sich endlich dazu bewegen lassen, mit mir einen Spaziergang im Park zu machen, wo eben das erste zarte Grün an den Ulmen sproßte, und die Kastanien anfingen, ihre Knospen zu öffnen und ihre fünf Blattfinger auszuspreizen. Zwei Stunden lang strichen wir umher, fast ohne ein Wort zu reden, wie es sich für zwei Busenfreunde geziemt. Als wir wieder in die Bakerstraße kamen, war es fast fünf Uhr geworden.

»Entschuldigen Sie!« sagte unser Laufbursche, als er uns die Tür aufmachte. »Es ist ein Herr hier gewesen und hat nach Ihnen gefragt.«

Holmes warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu.

»Einen Nachmittagsbummel und keinen mehr!« sagte er. »Der Herr ist also wieder gegangen?«

»Ja.«

»Hast du ihn nicht ersucht, einzutreten?«

»Ja, er hat auch gewartet.«

»Wie lange denn?«

»Eine halbe Stunde. Es war ein sehr aufgeregter Herr. Immer ist er herumgegangen und hat auf den Boden gestampft. Ich habe draußen an der Tür gestanden und ihn gehört. Am Ende kommt er heraus und schreit: ›Wird der Mann denn gar nicht nach Hause kommen?‹ So hat er gesagt, Herr Holmes! ›Sie brauchen bloß ein bißchen länger zu warten,‹ sag‘ ich. ›Dann will ich lieber im Freien warten, denn hier erstick‘ ich fast‹ sagte er. ›Ich bin bald wieder hier.‹ Und damit ging er auf und davon, und was ich auch redete, alles war umsonst.«

»Gut, gut, du kannst nichts dafür,« sagte Holmes, als wir ins Zimmer gingen, »’s ist doch recht unangenehm, Watson! Mir tat ein neuer Fall blutnot, und nach der Ungeduld, die der Mann zeigte, scheint es keine kleine Sache zu sein. Hallo! Das ist doch nicht deine Tabakpfeife auf dem Tisch! Er muß seine hier gelassen haben. Ein schöner alter Kopf mit einem langen Mundstück von Bernstein. Ich möchte wissen, wieviel echte Bernsteinspitzen es in London gibt. Die Leute denken, wenn eine Fliege drin ist, müsse er echt sein. Dabei gibt es eine eigene Industrie, unechte Fliegen in unechten Bernstein zu setzen. Jedenfalls ist der Mann sehr aufgeregt gewesen, daß er eine Pfeife liegen läßt, auf die er offenbar große Stücke hält.«

»Woher weißt du, daß er viel auf sie hält?« fragte ich.

»Nun, meiner Schätzung nach hat die Pfeife neu sieben und einen halben Schilling gekostet. Sie ist aber, wie du siehst, zweimal ausgebessert worden, einmal am Holz und einmal am Bernstein. Jedesmal hat man bei der Reparatur ein Band von Silber herumgelegt, das mehr gekostet hat als die ganze Pfeife. Dem Manne muß also die Pfeife sehr teuer sein, wenn er sie lieber flicken läßt, statt um den gleichen Preis eine neue zu kaufen.«

»Noch was?« fragte ich, denn Holmes drehte die Pfeife in seiner Hand hin und her und betrachtete sie in der ihm eigenen nachdenklichen Weise.

Er hielt sie in die Höhe und betippte sie mit seinem langen, dünnen Mittelfinger, wie etwa ein Professor der Osteologie, der einen Knochen demonstriert.

»Pfeifen sind manchmal außerordentlich interessant,« sagte er. »Nichts besitzt mehr Individualität, ausgenommen etwa Uhren und Schuhsenkel. Was sich aber hier zeigt, ist weder sehr ausgesprochen, noch sehr bedeutungsvoll. Der Eigentümer ist offenbar ein kräftiger Mann, linkshändig, mit wohlerhaltenen Zähnen, nicht sehr ordnungsliebend und in guten Verhältnissen.«

Mein Freund äußerte dies so obenhin; ich sah aber, daß er mich dabei fixierte, um zu erkennen, ob mir seine Schlußfolgerungen klar seien.

»Du denkst, wer aus einer Pfeife für sieben Schilling raucht, muß wohlhabend sein?« sagte ich.

»Das ist Grosvenor-Mischung zu acht Pence die Unze,« antwortete Holmes, indem er ein paar Krümel in seine offene Hand klopfte. »Da er schon für den halben Preis ein ausgezeichnetes Kraut haben kann, so muß er in guten Verhältnissen leben.«

»Und die anderen Punkte?«

»Er pflegt seine Pfeife an Lampen und Gasbrennern anzuzünden. Du siehst, sie ist auf einer Seite ganz versengt. Natürlich, das kann nicht von Streichhölzern herrühren. Warum sollte einer auch ein Streichholz an die Seite seiner Pfeife halten? An der Lampe kann man sie aber nicht anzünden, ohne daß dabei der Kopf angesengt wird. Und es trifft die rechte Seite der Pfeife. Daraus entnehme ich, daß er linkshändig ist. Halte deine eigene Pfeife an die Lampe und du wirst sehen, daß es für dich als Rechtshändigen natürlich ist, die linke Seite an die Flamme zu bringen. Du machst es vielleicht auch einmal umgekehrt, aber sicher nicht in der Regel. Die hier ist immer so gehalten worden. Dann hat er seinen Bernstein durchgebissen. Dazu gehört ein muskulöser, energischer Mann mit gutem Gebiß. Doch wenn ich mich nicht irre, höre ich ihn auf der Treppe; so werden wir bald etwas Interessanteres als seine Pfeife zu ergründen haben.«

Einen Augenblick darauf öffnete sich die Tür und ein großer jüngerer Mann trat ins Zimmer. Er war gut, aber einfach gekleidet, trug einen dunkelgrauen Anzug und hielt in der Hand einen neuen Kastor. Ich hätte ihn auf etwa dreißig Jahre geschätzt, obwohl er in Wirklichkeit ein paar Jahre älter war.

»Entschuldigen Sie!« sagte er etwas verlegen. »Ich hätte wohl anklopfen sollen. Ja, natürlich hatte ich anklopfen sollen. Die Sache ist die, ich bin etwas außer mir, und davon kommt das alles.« Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn, wie einer, der schwindlig werden will, und ließ sich dann in einen Stuhl niederfallen.

»Ich sehe, Sie haben eine, zwei Nächte nicht geschlafen,« sagte Holmes in seiner leichten, genialen Weise. »Das bringt einem die Nerven mehr herunter als die Arbeit, ja noch mehr als der Genuß. Erlauben Sie nur die Frage: Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Ich brauche Ihren Rat. Ich weiß nicht, was ich tun soll, und mein ganzes Lebensglück scheint mir aus den Fugen zu gehen.«

»Sie wollen meinen Rat als Detektiv?«

»Nicht nur das. Sie sollen mir Rat geben als scharfsinniger, als welterfahrener Mann. Ich will wissen, was ich zunächst tun muß. Ich hoffe zu Gott, Sie sind imstande, es mir zu sagen.«

Er brachte das alles kurz, scharf, stoßweise hervor, und es machte mir den Eindruck, als wäre es für ihn außerordentlich peinlich, vor uns zu reden, und als müßte er seiner eigentlichen Neigung Gewalt antun.

»Es ist eine sehr delikate Sache,« fuhr er fort. »Man spricht nicht gern vor Fremden von Familiensachen. Es ist entsetzlich, über das Verhalten seiner Frau zu zwei Männern zu reden, die man zum erstenmal im Leben sieht. Es ist fürchterlich, wenn man das tun muß. Aber mein Witz ist zu Ende, und ich muß Rat haben.«

»Mein lieber Herr Grant Munro –« fing Holmes an.

Unser Besucher sprang von seinem Stuhle auf.

»Wie,« rief er, »Sie kennen meinen Namen?«

»Wenn Sie Ihr Inkognito bewahren wollen,« sagte Holmes lächelnd, »würde ich Ihnen vorschlagen, nicht mehr Ihren Namen auf Ihr Hutfutter zu schreiben, oder wenigstens der Person, mit der Sie sprechen, nicht gerade das Innere des Hutes zuzuwenden. Ich wollte Ihnen eben sagen, daß wir, mein Freund und ich, viele ungewöhnliche Geheimnisse in diesem Zimmer angehört haben, und daß uns so oft das Glück zuteil wurde, beunruhigten Herzen wieder Frieden zu bringen. Ich hoffe zuversichtlich, wir können für Sie dasselbe tun. Darf ich Sie bitten, da vielleicht Eile nottut, mir unverzüglich den Tatbestand Ihres Falles mitzuteilen?«

Wieder fuhr sich unser Gast mit der Hand über die Stirn, als komme es ihm recht sauer an. Aus jeder Bewegung und jeder Miene konnte man erkennen, daß er ein verschlossener, selbstbewußter Mann war, mit einem Anflug von Stolz in seiner Natur, der ihn empfangene Wunden eher verbergen als zur Schau tragen ließ. Plötzlich machte er mit der geschlossenen Hand eine energische Bewegung, wie einer, der alle Bedenken beiseite wirft, und fing an:

»Die Sache ist die, Herr Holmes! Ich bin verheiratet, und zwar seit drei Jahren. In dieser ganzen Zeit haben wir beide uns so herzlich geliebt und so glücklich zusammen gelebt wie nur je ein Paar. Wir waren ein Herz und eine Seele im Denken wie im Handeln. Und nun, seit letztem Montag, ist auf einmal ein Riß entstanden, und ich sehe, es muß irgend etwas in ihr vorgehen, das ich nicht enträtseln kann. Wir sind einander entfremdet, und ich will der Sache auf den Grund kommen.

»Nun dürfen Sie vor allem eines nicht vergessen, Herr Holmes! Effie liebt mich. Daran ist gar kein Zweifel. Sie liebt mich von ganzem Herzen und ganzer Seele, und das gerade jetzt mehr als je. Ich weiß es, ich fühle es. Hierüber brauchen wir kein Wort zu verlieren. Aber es trennt uns ein Geheimnis, und ehe dies nicht aufgeklärt ist, können wir nicht wieder dieselben zueinander sein, wie vorher.«

»Seien Sie so freundlich und teilen Sie mir den Tatbestand mit, Herr Munro!« sagte Holmes etwas ungeduldig.

»Ich will Ihnen erzählen, was ich von Effies Leben weiß. Sie war Witwe, als ich sie zum ersten Male sah, obwohl noch ganz jung – erst einundzwanzig. Sie hieß damals Frau Hebron. Sie kam als ganz kleines Kind nach Amerika und lebte in der Stadt Atlanta, wo sie diesen Hebron, einen gesuchten Anwalt, heiratete. Sie hatten ein einziges Kind, aber das gelbe Fieber brach dort aus, und Mann und Kind wurden beide von der Seuche hinweggerafft. Ich habe selbst seine Sterbeurkunde gesehen. Das verleidete ihr den weiteren Aufenthalt in Amerika, und sie kam wieder herüber und lebte bei einer unverheirateten Tante in Pinner in Middlesex. Es bleibt noch zu erwähnen, daß ihr Mann für sie gut gesorgt hatte, und daß sie ein Kapital von viertausendfünfhundert Pfund besaß, das von ihm so vorteilhaft angelegt war, daß es durchschnittlich sieben Prozent abwarf. Sie war erst sechs Monate in Pinner, als ich mit ihr zusammentraf; wir verliebten uns ineinander, und nach wenigen Wochen fand die Hochzeit statt.

»Ich für meine Person bin Hopfenhändler, und da ich ein Einkommen von siebenhundert oder achthundert Pfund hatte, so litten wir keine Not, und ich mietete uns für jährlich achtzig Pfund eine Villa in Norbury. Unser kleines Heim sieht sehr ländlich aus, wenn man bedenkt, daß es so nahe an der Stadt liegt. Weiter oben, nicht fern von uns, lagen nur eine Wirtschaft und zwei Häuser, und dann stand noch ein einzelnes Landhaus jenseits des Feldes uns gegenüber; außerdem gab es keine Häuser bis halbwegs zur Station. Zu manchen Jahreszeiten mußte ich wegen des Geschäftes in die Stadt; im Sommer aber gab’s weniger zu tun, und dann lebte ich in unserem Landhause mit meiner Frau so glücklich, wie man nur wünschen kann. Ich wiederhole, es war niemals auch nur ein Schatten zwischen uns, bis diese verfluchte Geschichte kam.

»Eins muß ich Ihnen noch sagen, ehe ich fortfahre. Als wir heirateten, übertrug meine Frau ihr ganzes Eigentum auf mich – eigentlich gegen meinen Willen, denn ich dachte, was für eine üble Geschichte das gäbe, wenn mein Geschäft schlecht ginge. Jedoch sie wollte es so haben, und so machten wir’s. Gut, vor sechs Wochen etwa kam sie zu mir.

»›Jack!‹ sagte sie. ›Als du mein Geld nahmst, sagtest du, wenn ich je etwas haben wollte, solle ich es dir nur sagen.‹

»›Gewiß,‹ sagte ich, ›’s ist alles dein.‹

»›Gut,‹ sagte sie, ›ich brauche hundert Pfund.‹

»Ich war ein bißchen verblüfft, denn ich hatte gedacht, ’s wär‘ nur ein neues Kleid oder dergleichen, was ihr im Kopfe steckte.

»›Wozu, in aller Welt?‹ fragte ich.

»›O,‹ sagte sie in ihrer scherzenden Weise, ›du hast gesagt, du wärest nur mein Bankier, und Bankiers fragen einen niemals, wozu, wie du weißt.‹

»›Wenn es wirklich dein Ernst ist, so sollst du natürlich das Geld haben,‹ sagte ich.

»›Ja doch, es ist wirklich mein Ernst.‹

»›Und du willst mir nicht sagen, wozu du es brauchst?‹

»›Später vielleicht, Jack, jetzt aber nicht.‹

»Damit mußte ich mich zufrieden geben, obwohl es das erstemal war, daß wir eine Heimlichkeit vor einander hatten. Ich gab ihr eine Anweisung und dachte nicht mehr an die Geschichte. Vielleicht hat das auch gar nichts mit dem, was nachher kam, zu tun, aber ich glaubte, es wäre besser, ich teilte es Ihnen mit.

»Ich sagte Ihnen vorhin, es liegt ein Landhaus nicht weit von unserem Hause. Dazwischen liegt ein Feld; aber wenn man hin will, muß man die Straße ein Stückchen heruntergehen und dann in einen schmalen Weg zwischen zwei Hecken einbiegen. Gerade hinter diesem Landhaus fängt ein hübsches Tannenwäldchen an, und da trieb ich mich besonders gerne herum, denn Bäume ziehen einen immer an. Das kleine Landhaus hatte ganze acht Monate leer gestanden, und das war schade, denn es war ein nettes, zweistöckiges Ding mit einem altmodischen Säulengang, von Geißblatt umrankt. Ich habe manchmal dagestanden und gedacht, was das für ein herziges Daheim geben müßte.

»Letzten Montag gehe ich wieder einmal da hinunter, als mir auf dem Heckenwege ein leerer Möbelwagen entgegenkommt und ich einen Haufen Teppiche und Zeugs auf dem Rasenplatze bei dem alten Portikus liegen sehe. Es war klar, das Häuschen war endlich doch vermietet worden. Ich ging vorbei, blieb dann stehen, wie man’s macht, wenn man nichts zu tun hat, und guckte nochmals hin und dachte, was das wohl für Leute wären, die unsere nächsten Nachbarn sein sollten. Und wie ich so hinsehe, merke ich auf einmal, daß mich ein Gesicht aus einem der oberen Fenster beobachtet. Ich weiß nicht, was mit dem Gesichte los war, Herr Holmes, aber mir lief’s bei seinem Anblicke eiskalt den Rücken herunter. Ich war ein Stück weg und konnte also die Züge nicht sehen, aber ich sage Ihnen, das Gesicht hatte etwas Unnatürliches und Gespensterhaftes. So kam mir’s vor, und ich machte schnell ein paar Schritte vorwärts, um die Person, die mich beobachtete, besser ins Auge zu fassen.

Aber da verschwand das Gesicht plötzlich, so daß es schien, als wäre es in die Dunkelheit des Zimmers zurückgerissen worden. Ich blieb wohl fünf Minuten regungslos stehen, überlegte mir die Sache und suchte mir über die Erscheinung möglichst klar zu werden. Ich konnte nicht sagen, ob’s ein Männer- oder ein Frauengesicht war. Aber die Farbe hatte mir’s vor allem angetan. Es war ein fahles, totes Gelb, und drum und dran etwas so Unbewegliches, Starres, was mir ganz unheimlich und unnatürlich vorkam. Die Sache ging mir so nahe, daß ich mich entschloß, mir die neuen Mieter etwas genauer anzusehen. Ich ging hin und klopfte an die Tür, die sofort von einer großen, hageren Frauensperson mit rauhem, abweisendem Gesichtsausdruck geöffnet wurde.

»Was wollen Sie denn?« fragte sie mich mit nördlichem Akzent.

»Ich bin Ihr Nachbar von da drüben,« sagte ich und nickte nach meinem Hause zu. »Ich sehe, Sie sind eben eingezogen; so dachte ich, ich könnte Ihnen vielleicht irgendwie …«

»›Ach was, wir werden’s schon sagen, wenn wir was brauchen!‹ sagte sie und schlug mir die Tür vor der Nase zu. Aergerlich über die grobe Abweisung, drehte ich mich um und ging heim. Den ganzen Abend mußte ich, ich mochte tun, was ich wollte, immer wieder an die Fenstererscheinung und an das rohe Weib denken. Von der ersten wollte ich lieber meiner Frau nichts sagen, denn sie ist ein nervöses, zartbesaitetes Wesen, und ich wollte ihr die unangenehme Empfindung, die ich selbst hatte, ersparen. Ich erwähnte aber vor dem Einschlafen, das Häuschen sei nun bewohnt, worauf sie nichts erwiderte.

»Ich habe einen ungewöhnlich festen Schlaf. Zum Spaß wurde bei uns oft gesagt, mich könnte überhaupt nichts aufwecken. Und doch, gerade in dieser Nacht, mochte es nun die leichte Aufregung durch mein kleines Abenteuer oder sonst was gewesen sein, ich weiß es nicht, aber mein Schlaf war in dieser Nacht weit weniger fest als gewöhnlich. Noch halb traumbefangen, hatte ich das Bewußtsein, daß etwas im Zimmer vor sich ging, und allmählich ward mir klar, daß sich meine Frau angezogen hatte und schnell den Mantel umwarf. Meine Lippen bewegten sich schon, um ein paar schläfrige Worte des Erstaunens oder des Vorwurfes über diese nächtlichen Vorbereitungen zu murmeln, als plötzlich mein halb geöffnetes Auge auf ihr vom Mondlicht erhelltes Gesicht fiel und die Ueberraschung mich verstummen ließ. Sie zeigte einen Ausdruck, wie ich ihn vorher nie an ihr bemerkt hatte, und wie ich ihn bei ihr für unmöglich gehalten hätte. Sie war totenbleich, ihr Atem ging schnell, und verstohlen blickte sie nach dem Bett, als sie ihren Mantel zuknöpfte, um zu sehen, ob sie mich gestört hätte. Dann, in der Meinung, ich schliefe noch, glitt sie geräuschlos aus dem Zimmer, und einen Augenblick später vernahm ich einen scharfen, quietschenden Ton, der nur von den Angeln der Vordertür herrühren konnte. Ich setzte mich im Bett zurecht und stieß meine Knöchel gegen die Bettpfosten, um mich zu überzeugen, daß ich nicht träumte. Dann zog ich meine Uhr unterm Kopfkissen vor: es war drei Uhr morgens. Was in aller Welt konnte meine Frau um drei Uhr morgens auf der Landstraße zu tun haben?

Ich saß etwa zwanzig Minuten und ließ mir die Sache durch den Kopf gehen, um irgend eine denkbare Erklärung zu finden. Je mehr ich aber nachdachte, desto sonderbarer und unerklärlicher kam mir die Geschichte vor. Während ich noch über das Rätsel nachgrübelte, hörte ich die Tür wieder leise zumachen und ihre Schritte die Treppe heraufkommen.

»Wo in aller Welt bist du gewesen, Effie?« fragte ich, als sie hereintrat.

Bei meinen Worten fuhr sie heftig zusammen und stieß einen halb unterdrückten Schrei aus, und dieser Schrei und dieser Schreck beunruhigten mich mehr als alles übrige, denn aus ihnen sprach unverkennbar ein Schuldbewußtsein. Meine Frau war immer eine freie, offene Natur gewesen, und es schauderte mich, sie in ihr eigenes Zimmer schleichen und bei der Stimme ihres Mannes zusammenschrecken zu sehen.

»Du wach, Jack?« rief sie mit nervösem Lachen. »Ich dachte, dich könnte nichts aufwecken.«

»Wo bist du gewesen?« fragte ich in strengerem Tone.

»›Ich wundere mich nicht, daß du erstaunt bist,‹ sagte sie, und ich konnte sehen, wie ihre Finger zitterten, als sie ihren Mantel aufknöpfte. ›Ich glaube auch nicht, daß ich jemals im Leben schon so etwas getan habe. Die Sache ist die: mir war, als müßte ich ersticken, und es drängte mich unwiderstehlich, etwas frische Luft zu schöpfen. Ich wäre, glaube ich, ohnmächtig geworden, wäre ich nicht hinausgegangen. Ich habe ein paar Minuten an der Tür gestanden, und jetzt ist mir wieder ganz wohl.‹

»Während sie das vorbrachte, sah sie mich nicht einmal an, und ihre Stimme klang ganz anders als gewöhnlich. Für mich stand es fest, daß sie die Unwahrheit gesagt hatte. Ich erwiderte kein Wort, sondern wandte mein Gesicht der Wand zu, mit einem verwundeten, von Zweifel und Argwohn erfüllten Herzen. Was verhehlte meine Frau vor mir? Was war das Ziel ihrer nächtlichen Wanderung gewesen? Ich fühlte, ich könnte keine Ruhe mehr finden, bis ich’s wüßte, und doch wollte ich sie nicht noch einmal fragen, nachdem sie mir etwas vorgelogen hatte. Den ganzen Rest der Nacht zermarterte ich mein Gehirn und konstruierte immer neue Theorien, eine immer unwahrscheinlicher als die andere.

»Am nächsten Tage hatte ich eigentlich in der Stadt zu tun, aber ich war in meinem Sinn zu verstört, um Gedanken für Geschäftssachen übrig zu haben. Meine Frau schien ebenso unruhig zu sein wie ich, und aus den schnellen prüfenden Blicken, die sie mir von Zeit zu Zeit zuwarf, konnte ich sehen, sie merkte wohl, daß ich ihr nicht glaubte, und sie war ratlos, was sie tun sollte. Beim Frühstück wechselten wir kaum ein Wort, und kurz danach ging ich fort, um die Sache in der frischen Morgenluft von neuem zu überdenken.

»Ich kam bis zum Kristallpalast, hielt mich eine Stunde im Park auf und war so um ein Uhr wieder in Norbury. Mehr zufällig wählte ich von der Station heimwärts einen Weg, der mich bei dem Häuschen vorüberführte, und blieb einen Augenblick stehen und sah nach den Fenstern, ob etwa wieder das sonderbare Gesicht da wäre, das mich am Tage vorher so angestarrt hatte. Wie ich dastand – denken Sie sich meine Ueberraschung, Herr Holmes! – ging auf einmal die Tür auf und meine Frau kam heraus!

»Bei ihrem Anblick war ich starr vor Erstaunen, aber meine Erregung war nichts im Vergleiche mit der, die sich in ihrem Gesichte malte, als unsere Augen sich begegneten. Einen Augenblick schien sie in das Haus zurückfahren zu wollen; dann aber, als sie sah, jedes Verhehlen sei unnütz, kam sie mit kreideweißem Gesichte und schreckerfüllten Augen, die das Lächeln auf ihren Lippen Lügen straften, auf mich zu.

»›O, Jack!‹ sagte sie. ›Ich war eben drin, um zu sehen, ob ich unseren neuen Nachbarn mit irgend etwas behilflich sein könnte. Was siehst du mich so an, Jack? Du bist mir doch nicht böse?‹

»›So!‹ sagte ich. ›Also hieher bist du in der Nacht, gegangen?‹

»›Was willst du damit sagen?‹ rief sie.

»›Du bist hier gewesen. Das ist gewiß. Wer sind die Leute, daß du sie nächtlicherweile aufsuchst?‹

»›Ich bin nicht hier gewesen.‹

»›Wie kannst du das sagen, wenn du doch selbst weißt, daß es nicht wahr ist?‹ rief ich. ›Schon deine veränderte Stimme verrät dich. Wann habe ich je ein Geheimnis vor dir gehabt? Ich werde jetzt in das Haus hineingehen und der Sache auf den Grund kommen.‹

»›Nein, nein Jack, um Gottes willen!‹ stöhnte sie, außer stande, ihre furchtbare Aufregung länger zu bemeistern, und als ich auf die Tür losschritt, ergriff sie mich am Aermel und zerrte mich mit krampfhafter Anstrengung zurück.

»›Ich flehe dich an, Jack, tu‘ das nicht!‹ rief sie. ›Ich schwöre dir, du wirst eines Tages alles erfahren; aber nichts als Jammer kann herauskommen, gehst du jetzt in das Haus.‹ Und als ich sie abzuschütteln versuchte, hing sie sich an mich und beschwor mich mit wahnsinnigem Flehen.

»›Vertrau mir, Jack!‹ rief sie. ›Vertrau mir nur dies einemal! Du wirst es nie zu bereuen haben. Du weißt, ich würde dir nichts verhehlen, wäre es nicht um deiner selbst willen. Unser ganzes Lebensglück hängt daran. Gehst du mit mir heim, so wird alles wieder gut werden. Dringst du aber mit Gewalt in das Haus da, so ist alles aus.‹

»Solch ein Ernst, solch eine Verzweiflung lag in ihrer Art, daß ich mich von ihren Worten an die Stelle bannen ließ und unentschlossen vor der Tür stand.

»›Ich will dir vertrauen unter einer Bedingung und nur unter dieser Bedingung,‹ sagte ich schließlich. ›Diese Geheimnistuerei muß von nun an ein Ende haben. Du magst meinetwegen deine Heimlichkeit für dich behalten, aber du mußt mir versprechen, daß von nun an die nächtlichen Besuche aufhören und überhaupt alles Getue hinter meinem Rücken. Ich will das Geschehene vergessen, wenn du mir versprichst, daß nichts dergleichen in Zukunft mehr vorkommen soll.‹

»›Ich war überzeugt, du würdest mir vertrauen!‹ rief sie mit einem großen Seufzer der Erleichterung. ›Ich werde ’s lassen, ganz wie du willst. Komm fort, o komm fort nach Hause!‹

»Noch immer an meinem Aermel zupfend, führte sie mich von dem Häuschen weg. Als wir uns entfernten, warf ich noch einen Blick zurück und wirklich, da war wieder an einem der oberen Fenster das gelbe, fahle Gesicht und beobachtete uns. Was für ein Zusammenhang konnte zwischen diesem Wesen und meiner Frau bestehen? Oder was verband sie mit dem rohen Weib, das ich am Tage vorher gesehen hatte? Es war ein sonderbares Rätsel, und doch fühlte ich, für mich gab’s keinen Frieden mehr, bis seine Lösung gefunden war.

»Die beiden folgenden Tage blieb ich daheim, und meine Frau hielt ihr Versprechen gewissenhaft, denn meines Wissens ging sie nicht aus dem Hause. Am dritten Tage aber konnte ich nicht zweifeln, daß ihr feierliches Gelöbnis sie dem geheimen Einfluß nicht zu entziehen vermochte, der sie von ihrem Gatten und ihrer Pflicht ablenkte.

»Ich war an dem Tage in die Stadt gefahren, kehrte aber mit dem Zug 2 Uhr 40 Minuten statt mit meinem gewöhnlichen 3 Uhr 36 Minuten zurück. Als ich ins Haus trat, kam das Mädchen mit bestürztem Gesicht in den Hausflur gelaufen.

»›Wo ist meine Frau?‹ fragte ich.

»›Ich glaube, sie ist ausgegangen,‹ antwortete sie.

»Sofort regte sich mein Verdacht. Ich sprang die Treppe hinauf, um mich zu überzeugen, ob sie im Hause sei. Dabei fiel mein Blick zufällig durch eines der oberen Fenster, und ich sah das Mädchen, mit dem ich eben gesprochen hatte, quer über das Feld auf das Unglückshaus zulaufen. Da ward mir natürlich sofort alles klar. Meine Frau war hinübergegangen und hatte dem Mädchen gesagt, es solle sie rufen, wenn ich zurückkäme.

»Außer mir vor Zorn, stürzte ich hinunter und querfeldein, entschlossen, die Sache ein- für allemal zu Ende zu bringen. Ich sah meine Frau und das Mädchen zusammen auf dem engen Heckenwege zurücklaufen, ließ mich aber dadurch nicht aufhalten. In dem Häuschen barg sich das Geheimnis, das einen Schatten auf mein Lebensglück warf. Ich schwor mir zu, mochte kommen, was da wollte, es sollte länger kein Geheimnis sein. Ich setzte nicht einmal den Klopfer in Bewegung, sondern drückte die Klinke nieder und stürzte in den Hausflur.

»Im unteren Stock war alles still und ruhig. In der Küche brodelte ein Kessel über dem Feuer, und eine große schwarze Katze lag zusammengerollt in einem Korbe; aber von der Frau, die ich gesehen hatte, keine Spur. Ich lief in das zweite Gelaß, aber das war ebenso menschenleer. Dann eilte ich die Treppe hinauf, fand aber auch hier nur zwei ganz verlassene Zimmer. Im ganzen Hause keine Menschenseele. Möbel und Wandschmuck waren von der denkbar einfachsten, billigsten Sorte, außer in der einen Stube, an deren Fenster ich das sonderbare Gesicht gesehen hatte. Die war gut und mit Geschmack ausgestattet, und aller heiße Argwohn, der mich erfüllte, kochte schäumend auf, als ich auf dem Kaminsims eine Vollphotographie meiner Frau bemerkte, die erst vor einem Vierteljahr auf meinen Wunsch aufgenommen worden war.

»Als ich mich zweifellos überzeugt hatte, daß das Haus leer war, verließ ich es mit einem Zentnergewicht auf dem Herzen, wie ich es nie in meinem Leben gefühlt hatte. Meine Frau kam mir in der Vorhalle entgegen, als ich wieder in mein Haus zurückkam, aber ich war zu sehr verletzt und zu zornig, um ein Wort an sie zu richten. Ich ging an ihr vorbei und begab mich in meine Arbeitsstube. Sie kam mir jedoch nach, ehe ich die Tür hatte zumachen können.

»›Es tut mir leid, daß ich mein Versprechen gebrochen habe, Jack,‹ sagte sie; ›aber wenn du alle Umstände wüßtest, würdest du mir, das glaube ich ganz gewiß, verzeihen.‹

»›Dann sage mir alles!‹

»›Ich kann nicht, Jack, ich kann nicht!‹ rief sie.

»›Ehe du mir nicht sagst, wer in dem Hause drüben gewohnt hat, und wem du die Photographie gegeben hast, kann von Vertrauen zwischen uns keine Rede mehr sein.‹ sagte ich, riß mich von ihr los und verließ das Haus.

»Das war gestern, Herr Holmes, und seitdem habe ich sie nicht wiedergesehen, und das ist auch alles, was ich von der ganzen seltsamen Geschichte weiß. Es ist der erste Schatten, der zwischen uns gefallen ist, und ich bin so erschüttert davon, daß ich nicht mehr aus und ein weiß. Da fuhr mir’s plötzlich heute morgen durch den Sinn, Sie seien der Mann, der mich beraten könnte in meiner Not; so bin ich hierher geeilt und gebe mich unbedenklich in Ihre Hände. Habe ich Ihnen irgend einen Punkt nicht deutlich genug beschrieben, so fragen Sie mich, bitte! Aber vor allem sagen Sie mir schnell, was ich tun soll! Denn dieses Elend ist mehr, als ich tragen kann.« – –

Holmes und ich hatten mit größtem Interesse dem ungewöhnlichen Bericht gelauscht, der stoßweise und abgebrochen erstattet wurde, wie von einem Manne, der unter dem Einflusse der höchsten Aufregung steht. Jetzt saß mein Freund eine Weile schweigend, in Gedanken verloren, das Kinn auf die Hand stützend, da.

»Wie ist es,« sagte er endlich, »können Sie beschwören, daß es ein Männergesicht war, das Sie am Fenster gesehen haben?«

»Jedesmal, wenn ich es gesehen habe, war ich ziemlich weit weg, so daß ich es unmöglich sagen kann.«

»Es hat aber einen unangenehmen Eindruck auf Sie gemacht?«

»Es schien mir eine unnatürliche Farbe und sonderbare starre Züge zu haben. Trat ich näher, so verschwand es mit einem Ruck.«

»Wie lange ist es her, daß Ihre Frau die hundert Pfund haben wollte?«

»Fast zwei Monate.«

»Haben Sie je ein Bild von ihrem ersten Gatten gesehen?«

»Nein, kurz nach seinem Tode ist in Atlanta Feuer ausgebrochen, und alle ihre Papiere sind verbrannt.«

»Und doch hatte sie eine Sterbeurkunde. Sie sagen, Sie haben sie gesehen?«

»Ja, sie hat sich nach dem Brand ein Duplikat ausstellen lassen.«

»Haben Sie einmal mit jemand gesprochen, der sie in Amerika gekannt hat?«

»Nein.«

»Hat sie selbst einmal davon geredet, daß sie ihren früheren Wohnplatz wiedersehen möchte?«

»Nein.«

»Kamen Briefe an sie von dort?«

»Nicht, daß ich wüßte.«

»Danke Ihnen. Jetzt möchte ich die Sache ein wenig überdenken. Bleibt das Häuschen dauernd verlassen, so wird es einiges Kopfzerbrechen kosten. Sind aber, was mir wahrscheinlicher dünkt, die Bewohner gestern von Ihrem Kommen verständigt worden und infolge dieser Warnung ausgerückt, dann sind sie jetzt vielleicht wieder da, und das Geheimnis läßt sich unschwer aufdecken. Ich gebe Ihnen daher den Rat, Sie kehren nach Norbury zurück und erkunden, ob an den Fenstern des Häuschens wieder etwas zu sehen ist. Haben Sie Grund zu der Annahme, es sei bewohnt, so dringen Sie nicht gewaltsam hinein, sondern drahten meinem Freunde und mir. Eine Stunde später sind wir bei Ihnen und werden dann bald sehen, was der ganzen Geschichte zugrunde liegt.«

»Und wenn noch niemand drin ist?«

»In diesem Falle komme ich morgen zu Ihnen und wir besprechen, was weiter in der Angelegenheit zu tun ist. Leben Sie wohl, und vor allem grämen Sie sich nicht, bevor Sie nicht wissen, daß Sie wirklich Ursache dazu haben!«

»Ich fürchte, das ist ein schlimmer Handel, Watson!« sagte mein Gefährte, als er Herrn Grant Munro hinausbegleitet hatte und wieder zurückgekommen war. »Was machst du daraus?«

»Es klingt nicht schön,« antwortete ich.

»Ja. Es handelt sich um Erpressung, wenn ich mich nicht sehr irre.«

»Und wer übt Erpressung?«

»Nun, das kann einzig und allein das Wesen sein, das in dem einzigen gut ausgestatteten Zimmer dort wohnt und die Photographie der Frau auf dem Kaminsims stehen hat. Auf mein Wort, Watson, das fahle Gesicht am Fenster hat für mich etwas sehr Anziehendes, und ich würde den Fall nicht um alle Welt hingeben.«

»Hast du eine Theorie?«

»Ja, soweit dies meine bisherige Kenntnis der Tatsachen zuläßt. Aber es sollte mich wundern, wenn sie sich nicht als richtig erwiese. Der erste Ehemann von der Frau befindet sich in dem Häuschen.«

»Warum denkst du das?«

»Wie können wir uns sonst ihre wahnsinnige Angst erklären, als ihr zweiter Mann in das Haus dringen wollte? Wie ich die Sache auffasse, ist der Tatbestand etwa folgender: Die Frau war in Amerika verheiratet. Sie entdeckte an ihrem Mann irgendwelche verabscheuungswerten Angewohnheiten oder, sagen wir, wahrscheinlich von ihr verlangt hatte, mitnimmt. Während sie noch miteinander verhandeln, stürzt das Mädchen herein mit der Meldung, der Herr sei heimgekommen, worauf die Frau, welche weiß, ihr Mann werde sofort am Platze erscheinen, die Insassen augenblicklich zur Hintertüre hinausgehen heißt, in das Kiefernwäldchen wahrscheinlich, das dicht dabei stehen soll. So findet er das Haus verlassen. Es sollte mich aber sehr wundern, wenn er es heute abend noch ebenso fände. Was denkst du von meiner Theorie?«

»Das ist alles bloße Vermutung.«

»Aber es stimmt doch mit den uns bekannten Tatsachen. Werden uns neue bekannt, mit denen sich meine Theorie nicht vereinigen läßt, dann, aber nur dann, müssen wir sie eben einer Revision unterziehen. Zur Zeit können wir nichts weiter tun, bis wir von unserem Freunde in Norbury eine neue Botschaft erhalten.«

Wir brauchten nicht lange zu warten. Die Nachricht kam, als wir gerade mit dem Tee fertig waren. Sie lautete:

»Die Mieter sind wieder da. Habe das Gesicht nochmals am Fenster gesehen. Erwarte Sie mit dem Siebenuhrzug und tue keinen Schritt, bis Sie kommen.«

Wir trafen ihn auf dem Bahnsteig, als wir ausstiegen, und konnten beim Scheine her Stationslampe sehen, daß er sehr bleich war und vor Aufregung zitterte. »Sie sind noch da, Herr Holmes!« sagte er und legte seine Hand auf die Schulter meines Freundes. »Ich habe Licht im Hause gesehen, als ich vorbeikam. Wir müssen’s jetzt ein- für allemal ausmachen.«

»Wie ist also Ihr Plan?« fragte Holmes, als wir die dunkle, baumbepflanzte Straße hinuntergingen.

»Ich will mir gewaltsam Eingang verschaffen und selbst sehen, wer im Hause ist. Sie beide wünsche ich als Zeugen dabei zu haben.«

»Sie sind hierzu entschlossen trotz der Warnung Ihrer Frau, es sei besser, Sie drängen nicht in das Geheimnis?«

»Ja, ich bin entschlossen.«

»Gut. Ich denke, Sie haben recht. Jede Wahrheit ist besser als quälender Zweifel ohne Ende. Es ist besser, wir gehen sofort daran. Freilich, daß wir dabei gesetzwidrig handeln, ist nur allzu klar. Aber ich denke, unter den Umständen können wir’s riskieren.«

Es war eine sehr finstere Nacht, und ein leichter Regen setzte ein, als wir von der Landstraße in den enorm tief ausgefahrenen Heckenweg einbogen. Herr Grant Munro drängte jedoch ungeduldig vorwärts, und wir stolperten hinter ihm drein, so gut wir eben konnten.

»Dort sind die Lichter meines Hauses,« murmelte er, auf einen Schimmer zwischen den Bäumen weisend, »und das hier ist das Landhaus, in das ich hinein will.« Während er dies sagte, bog sich der Weg, und das Gebäude lag dicht neben uns. Ein gelber Lichtschein, der über den dunklen Vordergrund lief, ließ uns erkennen, daß die Tür nicht völlig geschlossen war, und ein Fenster im oberen Stockwerk war hell erleuchtet. Als wir hinschauten, sahen wir durch die Fensterblenden einen schwarzen Fleck sich bewegen.

»Das ist das Geschöpf!« rief Grant Munro. »Sie können selbst sehen, daß sich dort jemand befindet. Jetzt mir nach, und wir werden bald alles wissen!«

Wir näherten uns der Tür, aber plötzlich trat aus dem Schatten eine Frau hervor und stand vor uns, vom goldigen Schimmer des Lichtes übergossen. Ihr vom Lichtschein abgewandtes Gesicht konnte ich nicht erkennen, aber ich sah, wie sie ihre Arme flehend erhob.

»Um Gottes willen, Jack, tu es nicht!« rief sie mit trauervoller Stimme.

»Lass‘ mich gehen! Ich muß vorbei. Meine Freunde und ich wollen diese Geschichte ein- für allemal zu Ende bringen.« Er schob sie beiseite, und wir folgten ihm unmittelbar. Als er die Tür weit aufriß, stellte sich ihm eine ältliche Frauensperson in den Weg, aber er stieß sie zurück, und einen Augenblick später waren wir alle auf der Treppe. Grant Munro stürzte in das erleuchtete Zimmer im oberen Stockwerk, und wir folgten ihm auf den Fersen.

Es war ein trauliches, hübsch ausgestattetes Zimmer, von zwei Kerzen auf dem Tisch und zwei anderen auf dem Kaminsims erhellt. Vor einem Sekretär an der Wand, an einen Polsterstuhl gelehnt, stand allem Anschein nach ein kleines Mädchen. Sein Gesicht war abgewandt, als wir eintraten, aber wir konnten sehen, daß es einen roten Rock anhatte und lange weiße Handschuhe trug. Als sie sich uns zukehrte, stieß ich einen Schrei der Ueberraschung und des Entsetzens aus. Das Gesicht, das sie uns zuwandte, zeigte eine höchst sonderbare fahle Farbe, und die Züge waren völlig ausdrucksleer. Einen Augenblick später war das Geheimnis enthüllt. Holmes fuhr lachend mit der Hand hinter das Ohr des Kindes, eine Maske schälte sich von seinem Angesicht und vor uns stand … ein kleines kohlschwarzes Negermädchen, das vor Vergnügen über unsere verdutzten Gesichter alle seine weißen Zähne blitzen ließ. Ich mußte in ihr lustiges Lachen einstimmen, aber Grant Munro starrte sie sprachlos an und fuhr sich mit der Hand an die Kehle.

»Mein Gott,« schrie er endlich, »was hat das zu bedeuten?«

»Ich will dir sagen, was es zu bedeuten hat,« rief Frau Munro, indem sie mit entschlossenem, gefaßtem Gesichtsausdruck ins Zimmer trat. »Du hast mich gegen meinen Wunsch zum Reden gezwungen, und nun müssen wir uns beide, so gut es gehen will, damit abfinden. Mein Mann ist in Atlanta gestorben, mein Kind aber ist am Leben geblieben.«

»Dein Kind?«

Sie zog ein silbernes Medaillon aus ihrem Busen. »Du hast dies niemals offen gesehen.«

»Ich dachte, es ginge nicht auf.«

Sie drückte auf eine Feder, und die Vorderseite sprang auf. Es wurde das Porträt eines Mannes sichtbar, der ausnehmend schöne und intelligente Züge besah, aber die unverkennbaren Merkmale afrikanischer Abstammung aufwies.

»Das ist John Hebron aus Atlanta,« sagte die Dame, »und keiner übertraf ihn an Adel der Gesinnung. Ich zerfiel mit allen Angehörigen meiner Rasse wegen meiner Heirat mit ihm, bereute es aber, solange er am Leben blieb, keinen Augenblick. Es war unser Unglück, daß unser einziges Kind mehr seinem Volke als meinem nachschlug. Das kommt oft in solchen Ehen vor, und unsere kleine Lucy ist weit dunkler, als ihr Vater je war. Aber dunkel oder hell, sie ist ein liebes kleines Mädel und ihrer Mutter Liebling.«

Bei diesen Worten sprang die Kleine auf, lief auf die Dame zu und verbarg ihr Gesicht in deren Kleide.

»Daß ich sie in Amerika ließ,« fuhr Frau Munro fort, »geschah nur, weil sie von zarter Gesundheit war und der Wechsel ihr hätte schaden können. Sie war der Obhut einer treuen Schottin anvertraut, die vorher vorsichtig gewesen, so hätte ich vielleicht klüger gehandelt, aber ich war halb wahnsinnig vor Angst, du könntest die Wahrheit erfahren.

»Du hast mir zuerst mitgeteilt, daß das Häuschen wieder bezogen sei. Nun hätte ich bis zum Morgen warten sollen, aber ich konnte vor Aufregung nicht schlafen, und so schlich ich mich endlich davon, da ich ja wußte, wie schwer du aufzuwecken warst. Aber du sahst mich gehen, und damit fing meine Not an. Am nächsten Tage hattest du es in der Hand, meinem Geheimnis auf die Spur zu kommen, aber du warst großmütig genug, deinen Vorteil nicht zu verfolgen. Drei Tage später waren Kind und Pflegerin kaum zur Hintertür hinaus, als du zur vorderen hereinstürztest. Und heute weißt du nun alles, und ich frage dich: Was soll aus uns, meinem Kinde und mir, werden?« Sie schlug ihre Hände zusammen und wartete auf Antwort.

Es dauerte lange zwei Minuten, ehe Grant Munro das Schweigen brach; aber die Antwort, die er gab, war so, daß ich mich ihrer immer mit Vergnügen erinnere. Er hob die Kleine auf, küßte sie, streckte dann, das Kind auf dem Arme behaltend, der Mutter die Hand hin und wandte sich der Tür zu.

»Wir können die Sache gemütlicher daheim besprechen,« sagte er. »Ich bin kein sehr guter Mann, Effie, aber ich denke doch, ich bin besser, als du mich geschätzt hast.«

Holmes und ich folgten ihnen auf dem Heckenweg. Als wir auf die Straße kamen, zupfte mich mein Freund am Aermel und flüsterte mir zu: »Ich denke, wir können uns in London nützlicher machen als in Norbury.«

Nicht ein Wort äußerte er weiter über den Fall, bis er sich spät abends mit einer brennenden Kerze in der Hand in sein Schlafzimmer begab.

»Watson!« sagte er. »Sollte es dir einmal so vorkommen, als würde ich etwas zu selbstbewußt oder verwendete weniger Mühe auf einen Fall, als er verdient, so flüstere mir, bitte, nur das eine Wort: Norbury ins Ohr, und du wirst mich dir sehr zu Dank verpflichten!«

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Der griechische Dolmetscher

Der griechische Dolmetscher

Während meiner langen und innigen Bekanntschaft mit Sherlock Holmes hatte ich ihn höchst selten auf seine Verwandten Bezug nehmen hören und kaum jemals auf seine eigene Jugend. Dieser Mangel an Mitteilsamkeit hatte den über das allgemein Menschliche hinausgehenden Eindruck, den er auf mich machte, noch gesteigert, und er erschien mir manchmal als einsamer Fels im Meer, als Verstandsmensch ohne Herz, ebenso bar menschlicher Sympathie wie hervorragend durch seine Intelligenz. Seine Abneigung gegen das weibliche Geschlecht und gegen die Anknüpfung neuer Freundschaftsbande war bezeichnend für seinen etwas ungemütlichen Charakter, nicht minder bezeichnend dafür war aber diese geflissentliche Unterlassung der Bezugnahme auf Verwandte. Da überraschte er mich eines Tages umsomehr, als er anfing, mir ausführlicher von seinem Bruder zu erzählen.

Es war an einem Sommerabend nach dem Tee, und die Unterhaltung, die sich sprunghaft bewegt hatte von den Golfklubs zu den Ursachen der Veränderung in der schrägen Stellung der Ekliptik, kam schließlich auf die Frage des Atavismus und der hereditären Anpassung.

Wir sprachen gerade darüber, wie weit eine besondere Gabe eines Individuums der Abstammung zuzuschreiben sei und wie weit der eigenen Ausbildung.

»In deinem eigenen Falle,« sagte ich, »scheint es mir nach allem, was du mir erzählt hast, ganz klar, daß dein Beobachtungsvermögen und deine eigentümliche Fähigkeit, Schlüsse zu ziehen, nur deiner eigenen systematischen Uebung zu danken sind.«

»In gewissem Grade,« sagte er nachdenklich. »Meine Vorfahren waren Landedelleute, die, wie es scheint, ganz das Leben geführt haben, wie es in ihrem Stande üblich ist. Nichtsdestoweniger liegt mir die Richtung, die ich genommen habe, im Blute, und es mag sein, sie rührt von meiner Großmutter her, die eine Schwester des französischen Malers Vernet war. Künstlerblut kann sich in der allerverschiedensten Weise zum Ausdruck bringen.«

»Wie weißt du aber, daß Vererbung vorliegt?«

»Weil mein Bruder Mycroft die gleiche Gabe in höherem Grade besitzt als ich.«

Das war in der Tat etwas Neues für mich. Wenn es noch einen so eigentümlich veranlagten Mann in England gab, warum hatten weder Polizei noch Publikum etwas von ihm gehört? So fragte ich und fügte andeutend hinzu, es sei nur die Bescheidenheit meines Freundes, die ihn die Überlegenheit seines Bruders anerkennen lasse. Holmes lachte über diese Vermutung.

»Mein lieber Watson,« sagte er. »Ich protestiere dagegen, daß man die Bescheidenheit zu den Tugenden rechnet. Dem strengen Denker sollte alles genau so erscheinen, wie es in Wirklichkeit ist, und die Selbstunterschätzung ist ebenso eine Abweichung von der Wahrheit, wie die Uebertreibung des eigenen Könnens. Wenn ich also sage, Mycroft besitzt ein besseres Beobachtungsvermögen als ich, so kannst du ruhig annehmen, ich rede die genaue und buchstäbliche Wahrheit.«

»Ist er jünger als du?«

»Sieben Jahre älter.«

»Wie kommt es, daß man ihn nicht kennt?«

»O, er ist in seinem eigenen Kreise sehr gut bekannt.«

»Wo also?«

»Nun, zum Beispiel im Diogenesklub.«

Ich hatte von diesem Verein noch nie etwas gehört, und das muß sich auf meinem Gesichte ausgedrückt haben, denn Sherlock Holmes zog seine Uhr und sagte:

»Der Diogenesklub ist der wunderlichste Klub in London, und Mycroft ist eines seiner wunderlichsten Mitglieder. Er hält sich dort regelmäßig auf von dreiviertel fünf bis zwanzig Minuten vor acht Uhr.

Jetzt ist es sechs Uhr: wenn du also an diesem schönen Abende einen Spaziergang machen willst, so werde ich dich sehr gerne mit zwei Sehenswürdigkeiten bekannt machen.«

Nach fünf Minuten befanden wir uns auf der Straße und wandten uns dem Regentenzirkus zu.

»Du wunderst dich,« sagte mein Gefährte, »warum Mycroft seine Gaben nicht als Detektiv verwertet? Dazu ist er nicht imstande.«

»Aber ich dachte, du sagtest …«

»Ich sagte, er sei mir in der Beobachtung und in der Schlußfolgerung überlegen. Bestände die Detektivkunst nur darin, daß man im Lehnstuhl sitzt und scharfe Denkarbeit verrichtet, so würde mein Bruder der größte Kriminalagent sein, der jemals gelebt hat. Aber er ist ohne Ehrgeiz und Tatkraft. Er würde zur Bestätigung seiner eigenen Lösungen nicht einmal einen Umweg machen wollen und lieber sich des Irrtums zeihen lassen, als sich der Mühe des Wahrheitsbeweises unterziehen. Wie oft bin ich mit einem Problem vor ihn getreten und habe eine Erklärung erhalten, die sich nachher als zutreffend erwiesen hat. Und doch war er gänzlich unfähig, die unerläßlichen Vorarbeiten zu erledigen, ohne die der Fall gar nicht vor den Richter oder die Geschworenen hätte gebracht werden können.«

»Es ist also nicht sein Beruf?«

»Nein, kein Gedanke! Was mir zur Gewinnung des Lebensunterhaltes dient, ist für ihn nicht mehr als das Steckenpferd eines Dilettanten. Er ist ein vorzüglicher Rechner und daher Bücherkontrolleur bei einigen Behörden. Mycroft wohnt in Pall Mall und geht jeden Morgen um die Ecke nach Whitehall und jeden Abend zurück. Jahraus, jahrein ist das seine einzige Körperbewegung; nirgendwo ist er sonst anzutreffen, außer eben im Diogenesklub, der seiner Wohnung gerade gegenüberliegt.«

»Ich kann mich an diesen Namen nicht erinnern.«

»Das glaub‘ ich wohl. Du weißt, in London gibt es Leute genug, die, sei es aus Liebe zur Einsamkeit, sei es aus Menschenscheu, mit ihren Mitbürgern keinen Umgang pflegen wollen. Einen bequemen Stuhl und die neuesten Zeitschriften verachten sie darum doch nicht. Ihren Wünschen gerecht zu werden, wurde der Diogenesklub gegründet, der nun die ungeselligsten und am wenigsten in einen Klub passenden Einwohner Londons umfaßt. Kein Mitglied darf von den anderen auch nur die geringste Notiz nehmen. Außer im Fremdenzimmer darf unter keinen Umständen ein Wort gesprochen werden, und drei Verstöße hiegegen genügen, wenn sie zur Kenntnis des Vorstandes gelangen, den Schwätzer aus dem Klub auszustoßen. Mein Bruder war einer der Gründer, und ich selbst habe gefunden, daß dort eine die Nerven ungemein beruhigende Atmosphäre herrscht.«

Unter diesen Gesprächen hatten wir Pall Mall erreicht. Unweit des Carltontheaters blieb Sherlock Holmes vor einer Tür stehen und ging mit der Warnung, ich solle schweigen, in den Hausflur voran. Durch eine Glastür konnte ich einen schnellen Blick in ein großes, üppig ausgestattetes Zimmer werfen, in dem eine beträchtliche Anzahl von Männern saß und Zeitungen las, jeder für sich in seinem Winkel. Holmes führte mich in ein kleines Zimmer nach der Straße zu, verließ mich dann auf eine Minute und kam in Begleitung eines Mannes zurück, der niemand anders sein konnte als sein Bruder.

Mycroft Holmes war viel größer und stämmiger als Sherlock. Man mußte ihn geradezu dick nennen, aber sein Gesicht hatte trotz seines massiven Aussehens doch noch etwas von der Schärfe des Ausdrucks bewahrt, die in den Zügen seines Bruders so bemerkenswert war. Seine Augen, die eine eigentümliche, verschwommen hellgraue Färbung besaßen, schienen beständig jenen in weite Ferne schweifenden, innerlichen Blick auszusenden, den ich bei Sherlock nur in Augenblicken der höchsten Kraftanstrengung bemerkt hatte.

»Es ist mir angenehm, Ihre Bekanntschaft zu machen,« sagte er und streckte seine breite, flache, einer Seehundsflosse nicht unähnliche Hand aus. »Seit Sie angefangen haben, von meinem Bruder zu schreiben, ist sein Name in aller Mund.«

Die beiden Brüder saßen zusammen im Bogenfenster des Klubs und warfen hin und wieder einen Blick hinaus auf die belebte Pall-Mall-Straße.

»Wer den Menschen studieren will, der muß hieher kommen,« sagte Mycroft. »Sieh‘ nur diese prächtigen Typen! Betracht‘ nur zum Beispiel die beiden Männer, die auf uns zukommen!«

»Der Billardmarkör und der andere?«

»Ganz recht. Was machst du aus dem anderen?«

Die beiden Beobachteten waren dem Fenster gegenüber stehen geblieben. Leichte Kreidestriche über der Westentasche waren das einzige, das für meine Augen bei dem einen an das Billard erinnerte. Der andere, von kleiner Gestalt und dunkler Hautfarbe, hatte seinen Hut nach hinten geschoben und trug verschiedene Pakete unter dem Arm.

»Ein alter Militär, sehe ich recht,« sagte Sherlock.

»Und erst vor kurzem entlassen,« bemerkte der Bruder.

»Hat in Indien gedient.«

»Und zwar als Unteroffizier.«

»Artillerie, denk‘ ich mir,« sagte Sherlock.

»Und Witwer.«

»Aber mit einem Kinde.«

»Kindern, mein lieber Junge!«

»Halt,« sagte ich lachend, »das ist etwas zu viel!«

»Sicher,« erwiderte Sherlock, »kann man unschwer erkennen, daß ein Mann mit solcher Haltung, so sichtlichem Autoritätsbewußtsein und sonnverbrannter Haut ein Militär ist, und zwar einer, der über dem Gemeinen stand, und daß er Indien vor kurzem verlassen hat.«

»Daß er noch nicht lange aus dem Dienst geschieden ist, sieht man daraus, daß er noch seine Kommißstiefel trägt,« bemerkte Mycroft.

»Den Kavalleriestreifen hat er nicht, aber er hat seinen Hut auf einer Seite getragen, wie sich aus dem helleren Teint über der einen Braue ergibt. Sein Körpergewicht spricht gegen den Pionier; also war er Artillerist.«

»Seine tiefe Trauer zeigt, daß er eine ihm sehr nahestehende Person verloren hat, und der Umstand, daß er selbst einkaufen geht, läßt vermuten, daß es seine Frau war. Was er gekauft hat, ist für Kinder, wie Sie sehen. Da eine Klapper darunter ist, muß eines noch sehr jung sein. Wahrscheinlich ist die Frau im Kindbett gestorben. Das Bilderbuch unter seinem Arm läßt darauf schließen, daß er noch ein zweites Kind zu bedenken hat.«

Es dämmerte mir das Verständnis für meines Freundes Bemerkung auf, sein Bruder besitze noch schärferen Spürsinn als er selbst. Lächelnd warf er mir einen bezeichnenden Blick zu. Mycroft nahm eine Prise aus seiner Schildkrötdose und strich sich mit einem großen rotseidenen Taschentuch die verstreuten Krümel von seinem Rock.

»Nebenbei bemerkt, Sherlock,« sagte er, »man hat mir da einen Fall vorgelegt, der ganz nach deinem Sinne wäre, ein sehr hübsches Problem. Ich habe mich wirklich nicht dazu aufraffen können, der Sache auf den Grund zu gehen, aber sie hat mir wenigstens Anlaß zu einigen recht netten Spekulationen gegeben. Wenn dir mit den Tatsachen gedient ist …«

»Mein lieber Mycroft, du würdest mir das größte Vergnügen bereiten!«

Der Bruder kritzelte ein paar Worte auf ein Blatt seines Notizbuches, klingelte dem Kellner und gab es ihm.

»Ich habe Herrn Melas gebeten, herüberzukommen,« sagte er. »Er wohnt über mir und, da wir ein bißchen bekannt miteinander sind, so kam er in seiner Verlegenheit zu mir. Herr Melas ist von Geburt ein Grieche, soviel ich weiß, und ein hervorragender Sprachenkenner. Seinen Lebensunterhalt verdient er zum Teil als Dolmetscher vor Gericht, sodann dient er reichen Reisenden aus dem Orient, die Gäste der Hotels in der Northumberland-Avenue sind, als Führer. Ich denke, ich lasse ihn selbst sein sehr merkwürdiges Erlebnis in seiner eigenen Weise erzählen.«

Nach einigen Minuten trat ein kleiner, untersetzter Mann ins Zimmer, dessen olivenfarbenes Gesicht und kohlschwarzes Haar die südliche Herkunft verrieten, obwohl seine Sprache die eines gebildeten Engländers war. Lebhaft trat er auf Sherlock Holmes zu, tauschte einen Händedruck mit ihm, und seine dunklen Augen funkelten vor Vergnügen, als er erfuhr, der berühmte Fachmann wünsche seine Geschichte zu hören.

»Es scheint mir, die Polizei will mir nicht Glauben schenken; es ist so, Sie können sich darauf verlassen!« begann er klagend. »Nur weil sie vorher niemals etwas davon gehört haben, denken sie, so etwas sei nicht möglich. Aber ich weiß, ich werde nie wieder ruhig, bis ich erfahren habe, was aus diesem armen Manne mit dem Heftpflaster im Gesichte geworden ist.«

»Ich bin ganz Ohr,« sagte Sherlock Holmes.

»Heute ist Mittwoch abend,« sagte Herr Melas; »gut, dann war es also am Montag abend, erst vor zwei Tagen, als die Geschichte passierte. Ich bin Dolmetscher, wie Ihnen mein Nachbar vielleicht schon mitgeteilt hat. Ich übersetze alle Sprachen – oder fast alle – aber da ich von Geburt Grieche bin und einen griechischen Namen trage, so gibt mir diese Sprache auch die Hauptarbeit. Lange Zeit bin ich der erste griechische Dolmetscher in London gewesen, und man kennt mich in den Hotels sehr gut.

»Es kommt nicht selten vor, daß man mich zu ungewohnter Stunde kommen läßt, sei es, daß Fremde irgendwo in eine schwierige Lage geraten sind, aus machte mir bemerklich, sein Haus liege etwas ab, in Kensington, auch schien er es sehr eilig zu haben, denn er beförderte mich schnellstens in die Droschke, sobald wir auf der Straße waren.

»Ich sage, in die Droschke, aber sehr bald kam es mir vor, als sei es eher eine Kutsche, in der ich mich befand. Jedenfalls war der Raum größer als in dem gewöhnlichen vierräderigen Londoner Straßenschänder, und die Ausstattung, wenn auch nicht mehr neu, so doch kostbar. Herr Latimer setzte sich mir gegenüber, und wir fuhren durch Charing Croß, und die Shaftesbury-Avenue hinauf. Wir waren in die Oxfordstraße gelangt, und ich erlaubte mir die Bemerkung zu machen, das sei doch ein Umweg nach Kensington, als meine Worte plötzlich durch das unerwartete Verhalten meines Begleiters unterbrochen wurden.

»Er zog nämlich zuerst aus seiner Tasche einen ganz schrecklichen Knüttel mit einer großen Bleikugel und schwang ihn mehrmals vor- und rückwärts, als wollte er seine Wucht probieren. Dann legte er die gräßliche Waffe, ohne einen Ton zu reden, neben sich auf den Sitz. Hierauf zog er an beiden Seiten die Fenster in die Höhe, und ich sah zu meinem Erstaunen, daß sie mit Papier bedeckt waren, so daß man nicht durchsehen konnte.

»›Ich bedaure, daß ich Ihnen die Aussicht nehmen muß, Herr Melas!‹ sagte er. ›Die Sache ist die: ich wünsche nicht, daß Sie sehen, wohin wir fahren. Es könnte für mich vielleicht unangenehm werden, sollten Sie in der Lage sein, den Weg dahin wiederzufinden.‹

»Wie Sie sich vorstellen können, kam mir diese Anrede wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Mein Gefährte war ein kräftiger, breitschultriger, junger Bursche, und von der Waffe ganz abgesehen, waren meine Aussichten in einem Kampfe mit ihm gleich Null.

»›Das ist ein sehr ungewöhnliches Verfahren, Herr Latimer!‹ stotterte ich. ›Sie können doch nicht verkennen, daß Sie ungesetzlich handeln!‹

»›Es ist ein wenig frei, gewiß,‹ sagte er, ›aber wir wollen es wettmachen. Noch muß ich Sie warnen, Herr Melas; wenn Sie heute nacht, mag geschehen, was da wolle, versuchen, Lärm zu schlagen, oder irgend etwas tun, das gegen meine Interessen ist, so wird Ihnen etwas sehr Ernstliches widerfahren. Vergessen Sie gefälligst nicht, daß niemand weiß, wo Sie sind, und daß Sie hier so gut wie in meinem Hause sich in meiner Gewalt befinden!‹

»Er sprach diese Worte ziemlich leise, aber die Art, wie er sie hervorbrachte, jagte mir doch keinen kleinen Schreck ein. Schweigend saß ich da und wunderte mich, was in aller Welt nur der Grund wäre, mich in dieser ungewöhnlichen Art zu entführen. Was es aber auch sein mochte, so viel war mir vollkommen klar, daß mir Widerstand nichts nützen könnte, und daß ich ruhig die weitere Entwicklung der Sache abwarten müßte.

»Fast zwei Stunden fuhren wir, ohne daß ich auch nur den geringsten Anhalt hatte, wohin es ging. Manchmal sagte mir das Rasseln über Steine, daß wir uns über Straßenpflaster bewegten, dann wieder schloß ich aus der glatten, geräuschlosen Fahrt, daß wir Asphalt unter uns hatten. Aber von dieser Abwechslung abgesehen, ließ mich nichts auch nur von fern ahnen, wo wir uns befanden. Durch das Papier über den Seitenfenstern war nichts zu erkennen, und vor das Vorderfenster war ein blauer Vorhang gezogen. Es war ein viertel auf acht Uhr, als wir von Pall Mall wegfuhren, und meine Uhr zeigte zehn Minuten vor neun, als wir endlich hielten. Mein Begleiter öffnete die Wagentür, und ich sah eine niedrige, bogenförmige Toröffnung vor mir, über der eine Lampe brannte. Im Augenblick war ich aus dem Wagen und durch das Tor und die offene Tür eines Hauses befördert, und ich stand innerhalb dieses Gebäudes mit dem unbestimmten Eindruck, daß sich davor auf beiden Seiten Rasen und Bäume befunden hätten. Ob diese aber zum Grundstück gehörten oder außerhalb der Einzäunung lagen, hätte ich beim besten Willen nicht sagen können.

»Im Hausflur war eine Lampe mit farbiger Glocke, die so schwaches Licht verbreitete, daß ich nichts weiter sehen konnte, als daß ich mich in einem ziemlich großen Raume befand, an dessen Wänden Bilder hingen. Bei dem trüben Schein konnte ich wahrnehmen, daß die Person, welche die Tür geöffnet hatte, ein kleiner, etwa vierzigjähriger Mann mit gemeinen Zügen und runden Schultern war. Als er sich uns zuwandte, erkannte ich aus der Rückstrahlung des Lichtes, daß er eine Brille trug.

»›Ist das Herr Melas, Harald?‹ sagte er.

»›Ja.‹

»›Gut gemacht! Gut gemacht! Nicht böse, Herr Melas, hoffe ich; aber wir konnten ohne Sie nicht zum Ziele kommen. Wenn Sie sich anständig gegen uns verhalten, soll es Ihr Schade nicht sein, aber Gott helf‘ Ihnen, wenn Sie Geschichten machen!‹

»Seine krampfhafte, nervöse, von unangenehmem Kichern unterbrochene Redeweise und seine ganze Erscheinung waren mir unheimlich und jagten mir mehr Furcht ein, als vorher mein Gefährte in der Droschke mit seiner drohenden Waffe.

»›Was wollen Sie von mir?‹ fragte ich.

»›Nur ein paar Fragen sollen Sie an einen Griechen richten, der bei uns zu Besuch ist, und uns die Antworten wissen lassen. Aber sagen Sie kein Wort mehr, als man Sie sagen heißt, oder‹ – und hier hörte ich wieder sein nervöses Kichern – ›es wäre für Sie besser, Sie wären nie geboren!‹

»Bei diesen Worten öffnete er eine Tür und lud mich ein, ihm in ein anderes, anscheinend reich möbliertes, aber ebenfalls nur durch eine einzige, schwach brennende Lampe matt erleuchtetes Zimmer zu folgen. Jedenfalls war es ein großer Raum, und der Teppich, in den meine Füße versanken, zeugte von seiner prächtigen Ausstattung. Meine Blicke fielen auf Plüschstühle, auf einen hohen Kaminsims von weißem Marmor und, wenn ich mich nicht irre, darüber an der Wand hängende japanische Waffenstücke. Gerade unter der Lampe stand ein Stuhl, und der ältere von den beiden machte mir bemerklich, ich sollte dort Platz nehmen. Der Jüngere hatte uns verlassen, aber sehr bald kam er durch eine andere Tür zurück; er führte einen Herrn in einer Art weiten Ueberrocks herein, der sich langsam auf uns zu bewegte. Als er in den schwachen Lichtkreis trat, der mich ihn deutlicher erkennen ließ, überlief mich ein Schauder bei seinem Anblick. Leichenblaß und entsetzlich abgemagert, besaß er die durchdringenden Augen eines Mannes, in dem der Geist mächtiger ist als der Körper. Was mich aber mehr erschreckte als die sichtlichen Zeichen physischer Erschöpfung, war der Umstand, daß sein Gesicht in grotesker Weise kreuz und quer mit Heftpflasterstücken beklebt war, von denen eines gerade über seinen Mund lief.

»›Hast du die Tafel, Harald?‹ rief der Brillenträger, als die sonderbare Erscheinung in einen Stuhl mehr niedersank, als sich setzte. ›Sind seine Hände frei? Nun also, gib ihm den Griffel!‹ – ›Sie haben die Fragen zu stellen, und er wird die Antworten niederschreiben. Fragen Sie ihn zu allererst, ob er die Papiere unterzeichnen will!‹

»Die Augen des Griechen blitzten Feuer.

»›Niemals!‹ schrieb er in griechischer Sprache auf die Tafel.

»›Unter keinen Bedingungen?‹ fragte ich auf Geheiß unseres Tyrannen.

»›Nur wenn ihre Vermählung in meiner Gegenwart durch einen mir bekannten griechischen Priester erfolgt.‹

»Der Mann kicherte in seiner giftigen Weise und sagte:

»›Sie wissen, was Ihrer dann wartet!‹

»›Was mit mir geschieht, ist mir gleich.‹

»Derart waren die Fragen und Antworten unserer sonderbaren, halb gesprochenen, halb geschriebenen Unterhaltung. Immer wieder mußte ich ihn fragen, ob er nachgeben und die Urkunde unterzeichnen wolle. Immer wieder erhielt ich die gleiche entrüstete Antwort. Bald aber kam mir ein glücklicher Gedanke. Ich fing an, jeder Frage kurze Sätze eigener Erfindung anzufügen – zuerst harmlose, um zu probieren, ob einer von den beiden die Sache durchschaute; als ich dann aber sicher zu sein glaubte, daß sie nichts merkten, spielte ich ein gefährlicheres Spiel. Unser Zwiegespräch verlief nun folgendermaßen:

»›Was wird die Folge dieser Hartnäckigkeit sein? Wer sind Sie?‹

»›Mir gleich. – Ich bin fremd in dieser Stadt.‹

»›Sie haben sich selbst Ihr Schicksal zuzuschreiben. Wie lange sind Sie hier?‹

»›Meinetwegen. Drei Wochen.‹

»›Das Geld kann niemals Ihr Eigentum sein. Was fehlt Ihnen?‹

»›Ich will keine Gemeinschaft mit Elenden. Sie lassen mich verhungern.‹

»›Sie können gehen, wohin Sie wollen, wenn Sie unterzeichnen. Was ist dies für ein Haus?‹

»›Niemals werde ich unterzeichnen. Ich weiß nicht.‹

»›Sie erweisen ihr gar keinen Dienst. Wie heißen Sie?‹

»›Das muß ich von ihr selbst hören. Kratides.‹

»›Sie werden sie sehen, wenn Sie unterzeichnen. Wo kommen Sie her?‹

»›Dann werde ich sie nie sehen. Athen.‹

»Noch fünf Minuten länger, Herr Holmes, und ich hätte die ganze Geschichte vor ihren Augen aus ihm herausgezogen. Schon meine nächste Frage hätte vielleicht das Dunkel gelichtet, aber in diesem Augenblicke öffnete sich die Tür, und eine Frau trat herein. Ich konnte sie nicht deutlich genug sehen, nur so viel bemerkte ich, daß sie groß und schlank war, schwarze Haare hatte und eine Art weiten, weißen Schlepprock trug.

»›Harald!‹ sagte sie englisch mit fremdem Akzent.

›Ich konnte es nicht länger aushalten. Es ist so einsam da oben allein mit – o Gott, es ist Paul!‹

»Diese letzten Worte waren griechisch gesprochen, und im selben Augenblick riß Kratides mit einem krampfhaften Ruck das Pflaster von seinen Lippen und stürzte mit dem Aufschrei ›Sophie, Sophie!‹ in ihre Arme. Ihre Umarmung dauerte jedoch nur kurze Zeit, denn der jüngere Mann ergriff sie und schob sie aus dem Zimmer, während der andere ohne Anstrengung sein ausgemergeltes Opfer überwältigte und es ebenfalls fortzog. Einen Augenblick blieb ich allein zurück und sprang sofort von meinem Sitz auf mit der unbestimmten Absicht, irgend einen Anhaltspunkt dafür zu finden, was für ein Haus das sei, in dem ich mich befand. Glücklicherweise tat ich aber nichts weiter, denn als ich aufblickte, sah ich den Aelteren in der Türöffnung stehen und seine Augen auf mich heften.

»›Das wird genügen, Herr Melas!‹ sagte er. ›Sie verstehen, daß wir Sie in einer durchaus privaten Sache zu unserem Vertrauten gemacht haben. Wir hätten Sie nicht bemüht, wenn unser Freund, der griechisch kann und der diese Unterhandlungen zuerst geführt hat, nicht hätte nach dem Osten zurückkehren müssen. Wir bedurften unbedingt eines Stellvertreters und waren sehr froh, als wir von Ihren sprachlichen Fertigkeiten hörten.‹

»Ich verbeugte mich.

»›Hier sind fünf Pfund,‹ sagte mein sonderbarer Wirt, auf mich zuschreitend. ›Ich denke, das wird ein genügendes Entgelt sein. Aber vergessen Sie nicht,‹ fügte er hinzu, indem er mir leicht auf die Brust tippte und dabei kicherte, ›wenn sie zu einem lebenden Wesen hiervon reden – zu einem einzigen lebenden Wesen – nun, so sei Gott Ihrer Seele gnädig!‹

»Ich kann gar nicht sagen, welchen Ekel und Schauder mir dieser Mann mit seinem gemeinen Gesicht einflößte. Ich konnte ihn jetzt, als das Lampenlicht auf ihn fiel, besser sehen. Seine abstoßenden, spitzigen Züge bedeckte eine fahle Blässe, und sein kleiner Spitzbart war struppig und schlecht gepflegt. Beim Sprechen stieß er seinen Kopf vorwärts, und die Lippen und Augenlider zuckten beständig, als hätte er den Veitstanz. Auch sein aufregendes Kichern konnte ich mir nur als Symptom einer Nervenkrankheit erklären. Das Schrecklichste an seinem Gesicht waren aber die stahlgrauen Augen mit ihrem kalten Schimmer, in deren Tiefen eine boshafte, erbarmungslose Grausamkeit schlummerte.

»›Wir werden es erfahren, wenn Sie davon sprechen,‹ sagte er. ›Wir haben unsere eigenen Ermittlungsquellen. Jetzt werden Sie den Wagen vor der Tür bereit finden, und mein Freund wird Sie auf den Weg bringen.‹

»Schnell schob man mich durch den Flur und in die Kutsche, wobei ich wieder einen flüchtigen Blick auf Bäume und einen Garten werfen konnte. Herr Latimer folgte mir auf den Fersen und setzte sich, ohne ein Wort zu sprechen, mir gegenüber. Schweigend fuhren wir nun wieder, ich weiß nicht wie lange, bei aufgezogenen Fenstern, bis endlich, es war eben Mitternacht vorbei, der Wagen anhielt.

»›Hier steigen Sie aus, Herr Melas!‹ sagte mein Gefährte. ›Ich bedaure, Sie so fern von Ihrem Hause absetzen zu müssen, aber es bleibt keine Wahl. Jeder Versuch Ihrerseits, dem Wagen zu folgen, kann nur zu Ihrem eigenen Unheil ausschlagen.‹

»Während er so sprach, machte er die Tür auf, und ich hatte kaum Zeit abzuspringen, als der Kutscher auf die Pferde lospeitschte und der Wagen davonrasselte. Erstaunt sah ich mich um. Ich schien mich auf freier Heide zu befinden, von der sich hie und da gespensterhaft aussehende Ginsterbüsche abhoben. In ziemlicher Ferne lag eine Häuserreihe, aus deren oberen Stockwerken vereinzelte Lichtschimmer drangen. Auf der anderen Seite bemerkte ich rote Eisenbahnsignallichter.

»Der Wagen, der mich hergebracht hatte, war bereits verschwunden. Ich stand da, stierte nach allen Seiten in die Nacht hinaus und fragte mich neugierig, wo in aller Welt ich nur sein könnte, als ich in der Dunkelheit jemanden auf mich zukommen sah. Als er nahe bei mir war, erkannte ich, daß es ein Gepäckträger war.

»›Können Sie mir sagen, was für ein Ort das ist?‹ fragte ich.

»›Gemeinde Wandsworth,‹ sagte er.

»›Kann ich noch einen Zug zur Stadt erreichen?‹

»›Wenn Sie so etwa ein halbes Stündchen bis nach Clapham Junction gehen,‹ sagte er, ›werden Sie gerade noch den letzten Zug nach Victoria fassen.‹ – –

»So endete mein Abenteuer, Herr Holmes. Ich weiß nicht, wo ich gewesen bin und mit wem ich gesprochen habe, und überhaupt nichts, als was ich Ihnen soeben erzählte. Aber das weiß ich, daß dort ein Verbrechen vor sich geht, und ich will dem Armen helfen, wenn ich kann. Ich habe am nächsten Morgen die ganze Geschichte Herrn Mycroft Holmes erzählt und dann auch der Polizei gemeldet.«

Eine kurze Weile saßen wir unter dem Eindruck dieses höchst absonderlichen Berichtes stillschweigend da. Dann warf Sherlock seinem Bruder einen Blick zu und fragte:

»Schritte getan?«

Mycroft langte nach den Daily News, die auf einem Nachbartische lagen.

»Belohnung zugesichert für jede Auskunft über das Verbleiben eines Griechen namens Paul Kratides, der des Englischen nicht mächtig ist, ebenso für jede Auskunft über eine Griechin mit Vornamen Sophie. Mitteilungen unter X. 2473.«

Dies stand in allen Tagesblättern. Keine Antwort.

»Wie ist’s mit der griechischen Gesandtschaft?«

»Ich habe nachgefragt. Sie wissen nichts.«

»Dann also Depesche an die Athenische Polizei.«

»In Sherlock konzentriert sich die Tatkraft der ganzen Familie,« sagte Mycroft, zu mir gewendet. »Gut, fasse du den Fall von allen Enden an und sage mir’s dann, wenn du etwas herausgebracht hast!«

»Gewiß,« antwortete mein Freund und stand auf. »Du sollst es hören und Herr Melas auch. Uebrigens, Herr Melas, wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich auf meiner Hut sein; denn sie müssen natürlich durch diese Anzeigen erfahren, daß Sie nicht reinen Mund gehalten haben.«

Als wir heimgingen, trat Holmes in ein Postamt, an dem wir vorüberkamen, und schickte mehrere Telegramme ab.

»Du siehst, Watson,« bemerkte er, »das war kein verlorener Abend. Meine interessantesten Fälle sind mir zum Teil in dieser Weise durch Mycroft zugetragen worden. Das Problem, von dem wir eben hörten, läßt zwar nur eine Erklärung zu, bietet aber immerhin einiges Besondere.«

»Hast du Hoffnung, es zu lösen?«

»Nun, da wir schon so viel wissen, müßte es merkwürdig zugehen, wenn wir nicht auch noch das übrige aufdeckten. Du mußt dir doch selbst irgend eine Theorie zur Erklärung der mitgeteilten Tatsachen gebildet haben.«

»So ungefähr, ja.«

»Wie hast du dir also die Sache gedacht?«

»Es scheint mir klar, daß diese Griechin von dem jungen Engländer namens Latimer entführt worden ist.«

»Entführt, von wo? Aus Athen vielleicht?«

Sherlock Holmes schüttelte den Kopf. »Dieser junge Mann sprach kein Wort Griechisch. Die Dame redete ziemlich gut Englisch. Also ist sie kurze Zeit in England gewesen, aber er nicht in Griechenland.«

»Gut, also wir wollen annehmen, daß sie nach England zu Besuch gekommen war und daß dieser Harald sie überredet hat, mit ihm zu fliehen.«

»Das ist sehr wahrscheinlich.«

»Dann kommt der Bruder – denn in diesem Verwandtschaftsverhältnis, denke ich mir, stehen sie zueinander – aus Griechenland her, um dazwischenzutreten. Unvorsichtigerweise gibt er sich in die Gewalt des jungen Mannes und seines älteren Genossen. Sie halten ihn fest und wollen ihn zwingen, Papiere zu unterzeichnen und so das Vermögen des Mädchens, dessen Vormund er ist, herauszugeben. Er weigert sich. Um mit ihm zu verhandeln, brauchen sie einen Dolmetscher und suchen sich diesen Melas aus, nachdem sie sich vorher eines anderen bedient haben. Dem Mädchen hat man von der Ankunft des Bruders gar nichts gesagt, und sie trifft ihn durch bloßen Zufall.«

»Ausgezeichnet, Watson!« rief Holmes. »Ich glaube wahrhaftig, du hast nicht weit daneben geschossen. Du siehst, wir halten alle Karten in der Hand und haben höchstens eine plötzliche Gewalttat ihrerseits zu fürchten. Geben sie uns Zeit, so haben wir sie.«

»Aber wie können wir die Lage des Hauses ausfindig machen?«

»Nun, ist unsere Annahme richtig und heißt oder hieß die Schwester Kratides, so sollte es uns nicht schwer fallen, ihre Spur aufzufinden. Das muß unsere erste Hoffnung sein, denn der Bruder ist natürlich hier ganz unbekannt. Offenbar hat der junge Engländer schon vor einiger Zeit das Verhältnis mit dem Mädchen angeknüpft – wenigstens vor einigen Wochen, da der Bruder erst davon hören und dann von Griechenland herkommen mußte. Haben sie während dieser ganzen Zeit an derselben Stelle gewohnt, so wird sich schon jemand auf Mycrofts Anzeige melden.«

Unter diesen Gesprächen hatten wir unser Haus in der Bakerstraße erreicht. Holmes ging die Treppenstufen voran, und als er die Tür zu seinem Zimmer öffnete, wollte er kaum seinen Augen trauen. Als ich ihm über die Schulter blickte, war ich nicht minder überrascht. Sein Bruder Mycroft saß mit einer Zigarre im Munde im Lehnstuhl.

»Komm‘ herein, Sherlock! Kommen Sie herein!« sagte er, über unsere erstaunten Gesichter lächelnd. »Du traust mir so viel Energie nicht zu, Sherlock? Aber dieser Fall hat mir’s angetan.«

»Wie bist du hierher gekommen?«

»Ich überholte euch in einer Droschke.«

»Hat sich etwas Neues herausgestellt?«

»Ich habe eine Antwort auf meine Anzeige.«

»Ah!«

»Ja, sie kam wenige Minuten nach eurem Weggange.«

»Und was besagt sie?«

Mycroft Holmes zog ein Blatt Papier hervor. »Hier ist sie,« sagte er, »mit einer I-Feder auf holzfreies Adlerpapier von einem schwächlichen Manne in mittlerem Lebensalter geschrieben. Sie lautet:

»Auf Ihre Anzeige vom heutigen gestatte ich mir, Ihnen mitzuteilen, daß ich die fragliche Dame recht gut kenne. Wenn Sie mich aufsuchen wollten, könnte ich Ihnen Genaueres über ihre traurige Lebensgeschichte mitteilen. Zur Zeit wohnt sie in The Myrtles in Beckenham.

Ihr ergebener J. Dawenport.«

»Sein Brief kommt von Unter-Brixton,« sagte Mycroft Holmes. »Meinst du nicht, Sherlock, wir fahren jetzt zu ihm und lassen uns von ihm das Genauere erzählen?«

»Mein lieber Mycroft! Das Leben des Bruders ist wertvoller als die Geschichte der Schwester. Ich meine, wir gehen nach Scotland Yard ins Hauptpolizeiamt, nehmen dort Inspektor Gregson mit und wenden uns unverzüglich nach Beckenham. Wir wissen, daß das Leben eines Menschen auf dem Spiele steht, und jede Stunde Verzögerung kann für ihn den Tod bedeuten.«

»Wollen wir unterwegs nicht auch Herrn Melas abholen?« schlug ich vor; »wir brauchen vielleicht einen Dolmetscher.«

»Ausgezeichnet!« sagte Sherlock Holmes. »Schicke den Jungen nach einer Droschke, und es kann sofort losgehen!« Während er sprach, zog er eine Schublade seines Schreibtisches auf und ließ einen Revolver in die Tasche gleiten. »Ja,« sagte er auf einen fragenden Blick von mir, »nach dem, was wir gehört, haben wir es mit ganz verzweifelten Burschen zu tun.«

Es war bereits ziemlich dunkel, als wir Pall Mall und Herrn Melas‘ Wohnung erreichten. Er war fort. Ein Herr hätte ihn soeben aufgesucht, und beide hätten sich dann entfernt, sagte man uns.

»Können Sie mir sagen, wohin?« fragte Sherlock Holmes.

»Ich weiß nicht,« sagte die Frau, welche uns aufgemacht hatte. »Ich weiß nur, daß er mit dem Herrn in einem Wagen weggefahren ist.«

»Nannte der Herr, als er sich anmelden ließ, seinen Namen?«

»Nein.«

»War es nicht ein großer, schöner Mann mit schwarzem Haar?«

»O nein, es war ein kleiner Herr mit einer Brille, einem spitzen Gesicht, aber sehr manierlich, denn er lachte die ganze Zeit, während er sprach.«

»Vorwärts!« rief Sherlock Holmes, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. »Das wird ernst,« bemerkte er, als wir wieder eingestiegen waren. »Sie haben Melas wieder in ihre Gewalt gebracht. Er besitzt keinen physischen Mut, wie er durch sein Benehmen in der letzten Nacht bewiesen hat. Dieser Schurke hat es fertig gebracht, ihn wieder vom ersten Moment an völlig einzuschüchtern. Zweifellos bedürfen sie seiner Dienste als Dolmetscher; aber dann werden sie ihn für seinen ›Verrat‹, wie sie es nennen, züchtigen wollen.«

Wir hatten gehofft, mit dem Zuge ebenso schnell oder noch schneller als der Wagen nach Beckenham zu kommen. Aber im Hauptpolizeiamt dauerte es länger als eine Stunde, bis wir den Inspektor gefunden und die Formalitäten erledigt hatten, ohne die wir in das Haus nicht hätten eindringen dürfen. Es war dreiviertel auf zehn, ehe wir London Bridge erreichten, und halb elf, ehe wir vier in Beckenham ausstiegen. Eine Droschkenfahrt von fünf Minuten brachte uns nach The Myrtles – ein großes, düsteres Gebäude, das etwas abseits von der Straße in einem dazu gehörigen Garten stand.

Wir schickten die Droschke fort und schritten auf das Haus zu.

»Die Fenster sind sämtlich dunkel,« bemerkte der Inspektor. »Das Haus scheint unbewohnt zu sein.«

»Unsere Vögel sind ausgeflogen, und das Nest ist leer,« sagte Sherlock.

»Warum meinen Sie das?«

»Ein schwer beladener Lastwagen ist während der letzten Stunde herausgefahren.«

Der Inspektor lachte. »Ich habe die Räderspuren im Scheine der Hoftorlampe gesehen. Aber wo kommt der Lastwagen her?«

»Sie haben vielleicht dieselben Räderspuren in der umgekehrten Richtung, das heißt von der Einfahrt des Wagens gesehen. Aber die nach außen führenden waren weit tiefer – in dem Maße, daß wir getrost sagen können, der Wagen muß schwer beladen gewesen sein.«

»Nach der Richtung sind Sie mir ein bißchen über,« sagte der Inspektor achselzuckend. »Die Tür wird sich nicht leicht aufbrechen lassen. Doch wir wollen sehen, ob wir uns nicht Gehör verschaffen können.«

Er hämmerte mit dem Klopfer und zog an der Klingel, aber ohne allen Erfolg. Holmes hatte sich leise entfernt, kam aber in wenigen Minuten wieder.

»Ich habe ein Fenster offen,« sagte er.

»Gott sei Dank, daß Sie für die Polizei sind und nicht gegen sie, Herr Holmes!« bemerkte der Inspektor, als er wahrnahm, wie findig und geschickt mein Freund den Fensterriegel zurückgeschoben hatte. »Nun, ich denke, unter den Umständen können wir eintreten, ohne eine Einladung abzuwarten.«

Einer nach dem anderen gelangten wir in ein geräumiges Gemach, offenbar dasselbe, in dem Herr Melas gewesen war. Der Inspektor hatte seine Laterne angezündet, und bei ihrem Scheine konnten wir die beiden Türen, die Plüschstühle, die Lampe und die japanischen Waffen erkennen, wie sie uns der Dolmetscher beschrieben hatte. Auf einem Tische standen zwei Gläser, eine leere Brandyflasche und die Reste einer Mahlzeit.

»Was ist das?« fragte Holmes plötzlich.

Wir standen alle still und horchten. Ein leises Stöhnen ließ sich irgendwo über unseren Häuptern vernehmen. Holmes stürzte zur Tür und in den Hausflur hinaus. Der gräßliche Ton kam vom oberen Stockwerk. Er sprang die Treppe hinauf, der Inspektor und ich folgten ihm auf den Fersen, während sein Bruder Mycroft so schnell, wie es ihm seine Körpermasse erlaubte, hinterdrein keuchte.

Drei Türen sahen wir im oberen Stockwerk vor uns, und aus der mittleren kamen die unheilvollen Laute, die bald in dumpfes Gemurmel sich verloren, bald sich zu schrillem Heulen steigerten. Die Tür war verschlossen, aber der Schlüssel steckte außen. Holmes riß sie auf und stürzte hinein, doch im nächsten Augenblick war er wieder bei uns, mit der Hand an der Kehle.

»Es ist Teerkohle!« rief er. »Nur ein wenig Zeit, es wird sich klären!«

Wir spähten hinein, konnten aber nur bemerken, daß der Lichtschein im Zimmer ausschließlich von einer matten blauen Flamme ausging, die aus einem kleinen Messingbecken in der Mitte des Zimmers aufflackerte. Sie warf einen bleichen, unheimlichen Lichtkreis auf den Boden, während wir in dem Dämmerschatten, der den Rest des Zimmers erfüllte, den unbestimmten Umriß zweier an die Wand gelehnten Gestalten gewahrten. Durch die offene Tür drang ein schauerlicher giftiger Dunst, der uns nach Luft schnappen und husten ließ. Holmes sprang zurück an die Treppenöffnung, um frische Luft einzuziehen, dann war er wieder in zwei Sätzen im Zimmer, riß das Fenster auf und schleuderte das Kohlenbecken hinaus in den Garten.

»In einer Minute können wir hinein,« keuchte er, wieder zu uns zurückeilend. »Wo ist eine Kerze? Ich zweifle, ob wir in dieser Atmosphäre ein Streichholz zum Brennen bringen können. Halte das Licht an den Türeingang, und wir kriegen sie heraus, Mycroft! Vorwärts!«

Auf dieses Wort stürzten wir hinein, packten die Vergifteten und zogen sie hinaus auf den Treppenflur. Beide waren besinnungslos, ihre Lippen blau, die Gesichter geschwollen, die Augen hervorgequollen. Kaum konnten wir in den verzerrten Zügen des einen Opfers den Dolmetscher wiedererkennen, mit dem wir vor wenigen Stunden im Diogenesklub zusammengewesen waren. Seine Hände und Füße waren mit Stricken gebunden, und über einem Auge konnten wir die Spur eines heftigen Schlages bemerken. Der andere, den man ebenfalls gebunden hatte, war ein hochgewachsener, fast zum Skelett abgemagerter Mann, dessen Gesicht durch aufgeklebte Streifen von Heftpflaster ein groteskes Muster zeigte. Er hatte aufgehört zu stöhnen, als wir ihn niederlegten, und ein Blick auf ihn sagte mir, daß wir für ihn wenigstens zu spät gekommen waren. Dagegen war Herr Melas noch am Leben. Nach knapp einer Stunde war es uns mit Hilfe von Ammoniak und Brandy zu meiner Genugtuung als Arzt gelungen, ihn dahin zu bringen, daß er die Augen aufschlug, und ich konnte mich des Bewußtseins freuen, ihn mit meiner Hand vom Rande des dunklen Tales weggezogen zu haben, in das alle irdischen Pfade münden.

Was er uns zu erzählen hatte, war sehr einfach und bestätigte nur unsere Diagnose des Falles. Sein Besucher hatte, kaum daß er ins Zimmer getreten war, unter seinem Rock einen ›Totschläger‹ hervorgezogen und ihn durch die Angst vor augenblicklichem, unentrinnbarem Tode dermaßen eingeschüchtert, daß er ihn zum zweiten Male entführen konnte. In der Tat hatte der kichernde Schurke fast einen mesmerischen Einfluß auf den unglücklichen Sprachkundigen ausgeübt, denn er konnte nur mit bebenden Gliedern und fahlen Wangen von ihm sprechen. In Beckenham, wohin die Fahrt wie das erstemal gegangen war, hatte er nochmals als Dolmetscher dienen müssen. Diese zweite Verhandlung war noch dramatischer verlaufen als die erste, denn die beiden Engländer hatten ihren Gefangenen bei erneuter Weigerung, ihrem Verlangen nachzukommen, mit sofortigem Tode bedroht. Als sie ihn aber gegen jede Drohung unempfindlich fanden, hatten sie ihn in sein Gefängnis zurückgeschleppt. Sodann hielten sie Melas seinen Verrat vor, den sie richtig aus den Anzeigen in den Tagesblättern erfahren hatten, und betäubten ihn unversehens durch einen heftigen Stockschlag. Das erste, dessen er sich weiter erinnern konnte, waren unsere sich besorgt über ihn beugenden Gesichter. – – –

Das war also der merkwürdige Fall des griechischen Dolmetschers, dessen Erklärung noch manchen dunklen Punkt enthält. Von dem Herrn, der sich auf die Anzeige gemeldet hatte, brachten wir in Erfahrung, daß die unglückliche junge Dame einer reichen griechischen Familie entstammte und zum Besuch einer befreundeten Familie nach England gekommen war. Dort hatte sie einen jungen Mann namens Harald Latimer kennen gelernt, der einen übermächtigen Einfluß über sie gewann und sie schließlich zur Flucht mit ihm überredete. Ihre Wirte hatten sich damit begnügt, und ihr Gefangener sich auf keine Weise zur Unterschrift zwingen ließ, waren sie mit dem Mädchen unter Mitnahme des wertvollsten Hausrats entflohen, nachdem sie erst ihrer Meinung nach ihre Rache gekühlt hatten sowohl an dem, der ihnen Trotz geboten, wie an dem, der sie verraten.

*

Nach Monaten kam ein Zeitungsausschnitt aus einem Budapester Blatte mit einer sonderbaren Mitteilung in unsere Hände. Es war darin von dem tragischen Ende zweier Engländer, die in Begleitung einer Frau reisten, erzählt. Beide hatten, hieß es, tödliche Dolchstiche erhalten, und die ungarische Polizei nahm an, die beiden hätten Streit miteinander bekommen und sich gegenseitig verletzt. Holmes scheint mir aber die Sache anders anzusehen und ist noch heute der Meinung, daß man von der Griechin, wenn man sie auffände, hören könnte, wie das ihr und ihrem Bruder angetane Unrecht gerächt worden ist.

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