Einleitung

Die Haushälterin hatte eben den Nachmittagstee hereingebracht. Nun zog sie die Vorhänge vor den Fenstern zu und zündete die Stehlampe an, die ein warmes Licht über den gedeckten Tisch warf. Das Feuer im Kamin verbreitete eine angenehme Wärme. Doktor Watson saß in einem bequemen Sessel und las, als sich die Türe öffnete und Sherlock Holmes eintrat. »Das ist heute mal wieder ein Nebel!« sagte er und rieb sich die Hände vor dem Feuer warm. »Ein scheußliches Wetter draußen! Keinen Hund möchte man da hinausjagen!« Dann wandte er sich dem Hausgenossen zu: »Was liest du denn da so interessiert, Doktor?«

Watson legte rasch, fast in leichter Verlegenheit, die Blätter beiseite. Es waren eine Anzahl fortlaufender Nummern des »Telegraph«.

»Ach, nichts weiter«, sagte er in offensichtlichem Bemühen, der Sache keine weitere Bedeutung zuzuschreiben. »Komm, setz dich lieber her und trinke gleich einen heißen Tee, wenn du so ausgefroren bist.«

Damit füllte er ihm eine Tasse, rückte einen Sessel zurecht und bot ihm einen Teller mit belegten Broten an. Kaum hatte Holmes sich gesetzt, so klingelte es. Sie stellten beide zugleich, wie auf Verabredung, ihre Tassen nieder und lauschten.

War es ein Besuch oder ein Ruf? Und wem von ihnen beiden mochte er gelten?

Dr. Watson hatte zwar seit seiner Rückkehr aus dem afghanischen Feldzug, an dem er als Militärarzt teilnahm, offiziell noch keine Praxis aufgenommen. Aber es kam doch vor, daß er gelegentlich, etwa bei Unglücksfällen, zur dringenden Hilfeleistung geholt wurde und sie dann selbstverständlich nicht verweigerte.

Die Haushälterin kam herein. »Ein Kind ist überfahren worden, Herr Doktor – –«

»Ich komme«, unterbrach Watson ihren Bericht und stand sofort auf. Ein Mensch in Gefahr – da wurde jede Frage nach Zeit und Wetter gleichgültig für ihn. Er eilte hinaus, und Holmes hörte noch, wie er draußen mit einem Mädchen verhandelte, sich Name und Wohnung sagen ließ, während er alles Nötige zur Hilfeleistung einpackte. Gleich darauf fiel die Haustüre ins Schloß. Frau Hudson kam mit ihrem schweren Schritt die Treppe herauf und verschwand in der Küche.

Es war wieder still geworden im Hause. Nichts war mehr zu hören, als das Aufflackern des Feuers im Kamin. Der Lärm der Straße und der vorbeifahrenden Wagen drang nur gedämpft herauf, wie etwas Fernes, das die Abgeschlossenheit dieses Raumes nicht stören konnte.

Sherlock Holmes hatte seinen Tee getrunken. Nun saß er in behaglicher Entspannung zurückgelehnt in seinem Sessel und blickte gedankenverloren den blauen Wolken seiner Pfeife nach. Da fiel sein Blick auf die Zeitungen, die Watson achtlos liegengelassen hatte und er griff danach. Zuerst blieb sein Blick auf einem Artikel haften, in dem jemand sich weit und breit über die Notwendigkeit frühzeitiger Zahnpflege beim Kleinkind ausließ, dann folgte ein Bericht über den Stand der übertragbaren Krankheiten. Fachsimpelei, die nur Watson angeht, dachte Holmes und war schon im Begriff, den »Telegraph« wieder wegzulegen, als er plötzlich seinen eigenen Namen darin entdeckte. »Aha, Watson scheint mal wieder unter die Schriftsteller gegangen zu sein!« murmelte Holmes vor sich hin. Er überflog einige Spalten, lächelte, legte die Pfeife aus der Hand, setzte sich bequem zurecht, suchte den Anfang und las:

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Das getupfte Band

Das getupfte Band

Wenn ich meine Aufzeichnungen von den vielen absonderlichen Fällen überblicke, an denen ich während der letzten Jahre das Verfahren meines Freundes Sherlock Holmes studiert habe, so finde ich darunter manche von tragischer, einige auch von komischer Art; viele lassen sich einfach nur als merkwürdig bezeichnen, aber keiner als alltäglich; denn da Holmes sich bei seiner Tätigkeit weit mehr von der Liebe zu seinem Beruf als von materiellem Gewinn bestimmen ließ, so lehnte er seine Mitwirkung stets ab, wenn die Nachforschungen sich nicht auf einen ungewöhnlichen oder geradezu rätselhaften Vorgang richteten. Unter all diesen verschiedenartigen Fällen weiß ich mich jedoch keines zu entsinnen, der eine gleiche Fülle merkwürdiger Züge dargeboten hätte, wie der, welcher in der bekannten Familie der Roylotts von Stoke Moran in Surrey spielte. Dieses Ereignis fiel in die erste Zeit unseres gemeinsamen Junggesellenlebens in der Bakerstraße. Ich würde es vielleicht früher schon veröffentlicht haben, wäre mir nicht Stillschweigen darüber auferlegt gewesen – eine Pflicht, von der mich erst jetzt der Tod der Dame entbunden hat, in deren Interesse jenes Versprechen gegeben worden war. Vielleicht ist es ganz gut, daß der wahre Sachverhalt jetzt ans Licht kommt, denn wie ich hörte, haben sich über den Tod des Dr. Grimesby Roylott in weiten Kreisen Gerüchte verbreitet, die jene Ereignisse noch gräßlicher ausmalten, als sie in Wirklichkeit waren.

An einem Aprilmorgen erblickte ich beim Erwachen Holmes vollständig angekleidet an meinem Bett. Er stand sonst gewöhnlich spät auf, und da die Uhr auf dem Kaminsims erst ein Viertel nach sieben zeigte, so blinzelte ich ihn einigermaßen überrascht, vielleicht sogar etwas ärgerlich an, denn ich ließ mich selbst nicht gerne in meinen Gewohnheiten stören.

»Es tut mir sehr leid, daß ich dich wecken muß, Watson,« sagte er, »aber es geht heute morgen keinem im Hause besser. Frau Hudson ist zuerst herausgeklopft worden, sie hat mich aufgeweckt, und jetzt kommt die Reihe an dich.«

»Was gibt es denn? Brennt es?«

»Nein, eine Klientin ist da. Eine junge Dame von auswärts, die mich durchaus sprechen will. Sie soll in großer Aufregung sein. Sie wartet unten im Empfangszimmer. Wenn sich aber eine junge Dame in solcher Morgenfrühe nach London aufmacht und die Leute aus den Federn treibt, so wird sie wohl einen triftigen Grund dafür haben. Einen wirklich interessanten Fall würdest du doch gewiß gern von Anfang an verfolgen. Ich wollte dich deshalb unter allen Umständen wecken, um dich dieser Gelegenheit nicht zu berauben.«

»Das war sehr nett von dir, mein lieber Junge, natürlich möchte ich sie um keinen Preis verpassen.«

Ich kannte keinen größeren Genuß, als Holmes bei den Untersuchungen, die sein Beruf mit sich brachte, Schritt für Schritt zu begleiten und seine kühnen Schlußfolgerungen zu bewundern, die blitzschnell, als entstammten sie höherer Eingebung, und doch stets auf streng logischer Grundlage aufgebaut, Licht in das Dunkel der ihm vorgelegten rätselhaften Fälle brachten. Ich warf mich also rasch in die Kleider und war nach wenigen Minuten so weit, um meinem Freund nach dem Empfangszimmer folgen zu können.

Eine schwarzgekleidete, verschleierte Dame saß am Fenster und erhob sich bei unserem Eintritt.

Holmes stellte sich vor, begrüßte sie freundlich und erklärte ihr, indem er auf mich deutete: »Hier ist mein vertrauter Freund und Kollege Dr. Watson, vor dem Sie Ihre Sache ohne Scheu vorbringen können. – Frau Hudson hat ja Feuer angemacht, wie ich sehe, das war vernünftig von ihr. Bitte, setzen Sie sich nur an den Kamin; ich lasse Ihnen gleich eine Tasse heißen Kaffee bringen, Sie zittern ja ordentlich.«

»Aber nicht vor Kälte,« antwortete die Dame mit leiser Stimme, indem sie der Aufforderung Folge leistete.

»Weshalb denn sonst?«

»Vor Angst, Herr Holmes, vor Schrecken.« Bei diesen Worten schlug sie den Schleier zurück, und wir sahen nun, daß sie sich tatsächlich in einem Zustand starker Erregung befand; ihr Gesicht war ganz verzerrt und aschfahl, und sie blickte angstvoll um sich wie ein gehetztes Wild. Ihren Zügen und ihrer Figur nach mußte man sie für dreißigjährig halten, allein ihr Haar zeigte bereits Spuren von Grau, und es lag etwas Müdes und Abgezehrtes in ihrer ganzen Erscheinung.

Holmes musterte sie mit seinem alles durchdringenden Blick. »Sie müssen keine Angst haben,« sagte er in beruhigendem Tone, indem er sich über sie beugte. »Wir werden gewiß bald alles in Ordnung bringen. Sie sind heute früh mit der Bahn angekommen, wie ich sehe.«

»Kennen Sie mich denn?«

»Nein, ich bemerke nur die eine Hälfte der Rückfahrkarte, die Sie in Ihrem linken Handschuh stecken haben. Sie müssen früh aufgebrochen sein und hatten dann bis zur Bahn eine tüchtige Fahrt in einem Jagdwagen auf schlechten Wegen zu machen.«

Mit dem Ausdruck höchsten Erstaunens starrte die Fremde meinen Freund an.

»Sie brauchen sich nicht zu verwundern,« fuhr Holmes lächelnd fort. »Ich treibe keine Hellseherei. Aber der linke Ärmel Ihrer Jacke ist an nicht weniger als sieben Stellen mit noch ganz nassem Schmutz bespritzt. Kein anderes Fuhrwerk wirft aber so viel Schmutz auf wie ein Jagdwagen, und am allerschlimmsten ist es vollends, wenn man vorne links neben dem Kutscher sitzt.«

»Das mag sein, wie es will, jedenfalls treffen Sie mit Ihren Schlüssen das Richtige,« versetzte sie. »Ich fuhr vor 6 Uhr daheim fort, brauchte 20 Minuten bis nach Leatherhead und traf mit dem ersten Zuge hier an der Waterloo-Station ein. – Es kann nicht länger so fortgehen, ich halte es nicht mehr aus, ich werde wahnsinnig! Ich habe gar niemand, an den ich mich wenden könnte – niemand; nur ein einziger Mensch nimmt Anteil an mir, aber helfen kann er mir auch nicht. Man hat mir von Ihnen erzählt, Herr Holmes. Eine meiner Bekannten, Frau Farintosh, der Sie einmal in ihrer schrecklichen Bedrängnis Beistand leisteten, hat mir Ihre Adresse gegeben. Ach, meinen Sie nicht, Sie könnten mir vielleicht ebenfalls helfen und die furchtbare Finsternis, die mich umgibt, wenigstens durch einen schwachen Schimmer erhellen? Ich habe freilich jetzt kein Geld, aber in sechs Wochen oder einem Monat, wenn ich verheiratet und im Besitz meines Vermögens bin, sollen Sie mich nicht undankbar finden.«

Holmes entnahm seinem Schreibtisch ein kleines Buch mit Aufzeichnungen über frühere Fälle und schlug darin nach.

»Farintosh,« murmelte er, »ach ja, jetzt erinnere ich mich des Falles. Es handelte sich um einen Opalkopfschmuck. Das war noch vor deiner Zeit, Watson. – Ich kann Ihnen die Versicherung geben, daß ich mich Ihres Falles mit demselben Interesse annehmen werde, wie damals der Angelegenheit von Frau Farintosh. Über die Geldfrage möchte ich Sie beruhigen, meine Belohnung finde ich einzig in meiner Tätigkeit selbst; doch steht es Ihnen frei, mir meine etwaigen Auslagen bei gelegener Zeit zu ersetzen. Und nun bitte ich Sie, uns alles mitzuteilen, was für die Beurteilung des Falles irgend von Wert sein kann.«

»Ach«, begann die Fremde, »das Schreckliche an meiner Lage ist gerade, daß meine Befürchtungen so unbestimmter Natur sind und mein Verdacht sich nur auf geringfügige Umstände stützt, die jedem andern bedeutungslos erscheinen. Selbst mein Verlobter betrachtet alle meine Vermutungen nur als Eingebungen meiner überreizten Nerven. Er sagt es nicht gerade heraus, allein ich merke es an seinen beschwichtigenden Antworten und ausweichenden Blicken. Aber Sie, Herr Holmes, sollen ja imstande sein wie nur wenige, das menschliche Herz zu durchschauen. Ihr Rat wird mir gewiß einen Weg durch all die Gefahren zeigen, von denen ich jetzt umgeben bin.« Fragend hob sie den Blick zu Holmes.

»Bitte, fahren Sie ruhig fort«, ermunterte er sie.

»Ich heiße Helene Stoner und wohne zusammen mit meinem Stiefvater an der Westgrenze von Surrey. Er ist der letzte der Roylotts von Stoke Moran, die eine der ältesten Familien Englands waren.«

Sherlock Holmes nickte. »Der Name ist mir bekannt«, sagte er.

»Die Familie gehörte einst zu den reichsten in ganz England und ihre Besitzungen erstreckten sich bis über die Grenzen der benachbarten Grafschaften hinaus. Im vorigen Jahrhundert jedoch kam der Besitz viermal hintereinander in leichtsinnige Hände, und als dann noch einer der Erben sich dem Spiel ergab, war der Ruin der Familie besiegelt. Ein paar Hufen Landes und der zweihundert Jahre alte Familiensitz, auf dem aber hohe Hypotheken lasteten, war alles, was übrig blieb. Der vorige Gutsherr harrte noch bis zu seinem Tode dort aus, indem er das schwere Los eines verarmten Edelmannes trug; sein einziger Sohn dagegen, mein jetziger Stiefvater, sah ein, daß er sich den neuen Verhältnissen anpassen mußte; er verschaffte sich ein Darlehen von einem Verwandten, das ihm das Studium der Medizin ermöglichte. Dann ließ er sich in Kalkutta nieder, wo er sich mit großer Willenskraft und durch seine tüchtigen Kenntnisse eine ausgebreitete Praxis erwarb. Im Jähzorn über einen Diebstahl in seinem Hause erschlug er jedoch einen eingeborenen Diener und entging nur mit Mühe einem Todesurteil. Er erhielt eine lange Freiheitsstrafe, nach deren Verbüßung er verbittert und enttäuscht nach England zurückkehrte. Während seines Aufenthalts in Indien heiratete Dr. Roylott meine Mutter, die junge Witwe des Generalmajors Stoner von der bengalischen Artillerie. Meine Zwillingsschwester Julia und ich waren damals erst zwei Jahre alt. Die Mutter besaß ein Vermögen, das etwa tausend Pfund im Jahr einbrachte und das sie unserem Stiefvater vollständig überließ mit der Bedingung, im Falle unserer Verheiratung jeder von uns beiden eine gewisse Summe jährlich auszuzahlen. Bald nach unserer Rückkehr nach England kam meine Mutter bei einem Eisenbahnunfall ums Leben – es sind jetzt acht Jahre her. Nun gab Dr. Roylott seine Versuche auf, sich in London eine ärztliche Praxis zu gründen, und zog mit uns in das alte Stammschloß in Stoke Moran. Da die Hinterlassenschaft meiner Mutter unsere Bedürfnisse reichlich deckte, so hätten wir ein zufriedenes und glückliches Leben führen können.

Allein mit unserem Stiefvater ging plötzlich eine schreckliche Veränderung vor. Anstatt freundschaftlichen Verkehr mit unseren Nachbarn anzuknüpfen, die anfangs hoch erfreut darüber waren, wieder einen Stoke Moran auf dem alten Familiensitz einziehen zu sehen, schloß er sich in sein Haus ein, und wenn er es jemals verließ, bekam er mit jedem, der ihm in den Weg lief, den heftigsten Streit. Ein förmlich krankhafter Jähzorn war überhaupt ein Erbstück der Männer in der Familie, und bei meinem Stiefvater mochte durch seinen langen Aufenthalt in den Tropen diese Eigenschaft wohl noch verstärkt worden sein. Die Folge war, daß er in eine Reihe häßlicher Streitigkeiten verwickelt wurde, die ihn zweimal vor Gericht brachten, bis er zuletzt der Schrecken des ganzen Dorfes war und alles bei seinem bloßen Anblick die Flucht ergriff, denn er besitzt eine riesige Stärke und kennt in seiner Wut keine Grenzen.

Vorige Woche erst warf er den Dorfschmied über das Brückengeländer ins Wasser, und ich mußte alles, was ich an Geld hatte, opfern, damit die Angelegenheit nicht vor Gericht gebracht wurde. Mit keinem Menschen hielt er Freundschaft, außer mit den herumziehenden Zigeunern; sie durften auf den paar Morgen Brachland, die von dem ganzen Besitztum noch geblieben sind, ihr Lager aufschlagen. Oft kehrte er in ihren Zelten ein, ja er begleitete sie sogar wochenlang auf ihren Wanderzügen. Eine leidenschaftliche Vorliebe hat er für indische Tiere, die er sich aus Kalkutta kommen läßt; gegenwärtig besitzt er einen Leoparden und einen Pavian, die er in seinem Anwesen frei umherlaufen läßt und die den Dorfbewohnern denselben Schrecken einjagen wie ihr Herr selbst.

Nach dieser Schilderung werden Sie mir sicher glauben, daß meine Schwester und ich kein leichtes Leben geführt haben. Niemand wollte bei uns bleiben, und lange Zeit mußten wir die ganze Hausarbeit allein verrichten. Obgleich Julia erst dreißig Jahre alt war, als sie starb, hatte sie doch bereits graue Haare wie ich auch.«

»Ihre Schwester ist also gestorben?«

»Ja; es ist gerade zwei Jahre her; und von ihrem Tode möchte ich Ihnen eben Genaueres mitteilen. Sie werden es verstehen, daß wir unter diesen Umständen wenig Gelegenheit zum Verkehr mit unseresgleichen hatten. Nur bei unserer Tante Honoria Westphail durften wir von Zeit zu Zeit einen kurzen Besuch machen. Sie ist eine unverheiratete Schwester meiner Mutter und wohnt in der Nähe von Harrow. Vor zwei Jahren lernte Julia bei einem solchen Besuch über Weihnachten einen auf Halbsold gesetzten Major der Marine kennen, mit dem sie sich verlobte. Unser Stiefvater erhob gegen die Verbindung keine Einwendung; allein vierzehn Tage vor der Hochzeit trat das schreckliche Ereignis ein, das mich meiner einzigen Gefährtin beraubte.«

Holmes, der mit geschlossenen Augen in seinen Armstuhl zurückgelehnt, den Kopf im Kissen vergraben, zugehört hatte, schlug nun die Lider ein wenig auf und warf einen Blick auf die Erzählerin.

»Bitte, vergessen Sie auch nicht den kleinsten Umstand«, sagte er.

»Das wird mir nicht schwer fallen, denn alle Vorgänge dieser entsetzlichen Zeit stehen mir unauslöschlich im Gedächtnis. – Das Wohnhaus ist, wie gesagt, sehr alt, auch wird zur Zeit nur der eine Flügel bewohnt. Die Schlafzimmer befinden sich im Erdgeschoß, während die Wohnzimmer im mittleren Stockwerk liegen. Von den Schlafzimmern hatte das erste unser Stiefvater, das zweite meine Schwester und das dritte ich selbst. Eine Verbindung zwischen ihnen besteht nicht, dagegen führen alle drei Türen auf denselben Gang. – Ich spreche doch verständlich?«

»Vollkommen.«

»Die Fenster der drei Zimmer gehen auf den Rasenplatz vor dem Hause. An jenem schrecklichen Abend also zog sich unser Stiefvater zeitig in sein Schlafzimmer zurück; trotzdem wußten wir wohl, daß er sich noch nicht zur Ruhe begeben hatte, denn meine Schwester wurde durch den Geruch der starken indischen Zigarre belästigt, die er zu rauchen pflegte. Sie kam deshalb in mein Zimmer herüber, um noch eine Zeitlang mit mir über ihre bevorstehende Hochzeit zu plaudern. Es war elf Uhr, als sie mich wieder verließ; an der Tür blieb sie jedoch stehen und schaute noch einmal zurück.

›Sag‘ mir, Helene‹, fragte sie, ›hast du jemals ein Pfeifen vernommen, wenn nachts alles totenstill ist?‹

›Nein, niemals.‹

›Ich habe auch schon gedacht, vielleicht seist du es, die nachts im Schlafe pfeift. Aber du glaubst doch auch nicht, daß das sein kann?‹

›Gewiß nicht, warum denn?‹

›In den letzten Nächten ertönte etwa um drei Uhr morgens ein leiser heller Pfiff. Ich habe einen leichten Schlaf und bin daran aufgewacht. Woher der Laut kam, kann ich nicht sagen, – vielleicht aus dem Nebenzimmer, vielleicht auch vom Vorplatz herauf. Ich dachte, ich wollte dich doch fragen, ob du es auch gehört hast.‹

›Nein, ich habe nichts gehört. Das muß von dem Zigeunergesindel unten im Park herkommen.‹

›Höchst wahrscheinlich; aber es wundert mich doch, daß du es nicht auch gehört hast, wenn es wirklich von unten kam.‹

›Ich schlafe eben fester als du.‹

›Nun, es ist ja jedenfalls nichts von Bedeutung‹, versetzte sie lächelnd; damit schloß sie die Tür, und wenige Augenblicke darauf hörte ich, wie sie ihre Türe abschloß.«

»Schlossen Sie sich denn nachts regelmäßig ein?« fragte Holmes.

»Stets.«

»Und warum taten Sie das?«

»Ich glaube, ich habe bereits erwähnt, daß unser Stiefvater eine Tigerkatze und einen Pavian hielt; wir fühlten uns deshalb nicht sicher, wenn unsere Türen nicht verschlossen waren.‹

»Ja freilich. Bitte, fahren Sie nur fort.«

»Ich konnte in jener Nacht keinen Schlaf finden. Ein unbestimmtes Vorgefühl drohenden Unheils bedrückte mich. Sie erinnern sich, daß ich und meine Schwester Zwillinge waren, und Sie wissen sicher auch, wie eng man da miteinander verbunden ist. Es war eine unheimliche Nacht. Draußen heulte der Wind, und der Regen schlug klatschend gegen die Läden. Plötzlich ertönte mitten durch das Tosen des Sturmes ein wilder Angstschrei. Ich erkannte die Stimme meiner Schwester. Rasch sprang ich aus dem Bett und stürzte auf den Gang hinaus. Während ich meine Tür öffnete, war es mir, als hörte ich ein leises Pfeifen, wie meine Schwester es beschrieben hatte, und wenige Augenblicke darauf ein klingendes Geräusch wie vom Fall eines schweren metallenen Gegenstandes. Die Zimmertüre meiner Schwester war schon aufgeklinkt und öffnete sich langsam. Starr vor Angst wartete ich auf den Anblick, der sich mir bieten würde; da sah ich beim Schein der Flurlampe meine Schwester unter der Tür erscheinen; schreckensbleich, die Hände hilfesuchend ausgestreckt, schwankte sie hin und her, als wäre sie berauscht. Ich eilte auf sie zu und schlang die Arme um sie, aber gerade in diesem Augenblick versagten ihr die Knie. Sie stürzte zu Boden, wand und krümmte sich wie in furchtbaren Schmerzen, und ihre Glieder zogen sich krampfhaft zuckend zusammen. Ich meinte zuerst, sie habe mich nicht erkannt, aber als ich mich über sie beugte, stieß sie plötzlich mit einer Stimme, die ich nie vergessen werde, die abgebrochenen, undeutlichen Worte hervor: ›Oh, mein Gott! Helene! Es war . . . Band . .! . . . getupfte Band . . .!‹ Sie machte den Versuch, noch etwas zu sagen, wobei sie in der Richtung nach unseres Stiefvaters Schlafzimmer deutete, als ein neuer gräßlicher Krampfanfall ihr die Worte im Munde erstickte. Ich wollte eben unsern Stiefvater herbeiholen und rief laut nach ihm; da kam er mir bereits im Schlafrock entgegengeeilt. Als er zu meiner Schwester trat, hatte sie das Bewußtsein schon verloren. Er flößte ihr noch Kognak ein und ließ auch ärztliche Hilfe aus dem Dorfe herbeiholen, aber es nützte alles nichts mehr, sie wurde immer schwächer und starb, ohne daß sie noch einmal zu sich gekommen wäre. Dies waren die Umstände, unter denen ich meine geliebte Schwester verloren habe.«

»Einen Augenblick!« unterbrach sie Holmes, »haben Sie das Pfeifen und den metallenen Klang ganz bestimmt wahrgenommen? Könnten Sie darauf schwören?«

»Dasselbe fragte mich auch der Gerichtsarzt bei der Totenschau. Ich habe zwar den durchaus sicheren Eindruck, als hätte ich beides gehört, doch kann ich mich am Ende auch getäuscht haben; bei dem Tosen des Sturmes krachte ja das alte Haus in allen Fugen.«

»War ihre Schwester angekleidet?«

»Nein, sie trug nur ihr Nachtgewand. In der rechten Hand hielt sie noch ein herabgebranntes Lichtstümpfchen und in der linken eine Zündholzschachtel. Sie hatte keinen Lichtschalter am Bett, es war auch kein Steckkontakt vorhanden, um eine Nachttischlampe anzuschließen. Deshalb hielt sie sich immer Kerze und Streichhölzer auf dem Nachttisch bereit.«

»Sie hat also noch Licht gemacht und sich umgeschaut, als das Geräusch entstand. Das ist von Wichtigkeit. Und zu welchem Ergebnis gelangte der Leichenbeschauer?«

»Er untersuchte den Fall sehr sorgfältig, denn das auffallende Treiben unseres Stiefvaters war in der ganzen Grafschaft bekannt; er war jedoch nicht imstande, eine bestimmte Todesursache zu entdecken. Aus meinen Mitteilungen ging hervor, daß die Tür von innen verschlossen gewesen war, und die Fenster waren durch altmodische Läden mit breiten Eisenstäben verrammelt, die jede Nacht vorgelegt wurden. Auch die Wände und der Fußboden wurden untersucht, aber nirgends wurde ein Anhaltspunkt gefunden. Der Kamin ist zwar weit, aber mit vier starken Eisenstäben vergittert. Meine Schwester war also zweifellos ganz allein, als ihr Geschick sie ereilte. Auch von einer Einwirkung äußerer Gewalt war keine Spur an ihr zu entdecken.«

»Und Gift – wie steht es damit?«

»Die Leiche wurde von ärztlicher Seite daraufhin untersucht, aber ohne Erfolg.«

»Was ist nun Ihre Ansicht über die Ursache dieses bedauerlichen Todesfalls?«

»Ich bin der Meinung, daß meine Schwester nur infolge einer durch Schrecken hervorgerufenen Nervenerschütterung starb, obwohl ich von der Ursache dieses Schreckens keine Ahnung habe.«

»Hielten sich zu jener Zeit Zigeuner in der Nähe des Hauses auf?«

»Jawohl; es sind fast immer einige da.«

»Und was glauben Sie, daß Ihre Schwester mit der Andeutung von einem ›getupften Band‹ oder auch einer ›getupften Bande‹ meinte?«

»Das möchte ich fast für eine Ausgeburt des Fieberwahns halten; dann meine ich aber auch wieder, es könnte sich auf eine Bande von Menschen, vielleicht gerade auf die Zigeuner im Park, bezogen haben. Vielleicht haben ihr die getupften Tücher, die viele von ihnen um den Kopf tragen, zu der auffallenden Bezeichnung Anlaß gegeben.«

Holmes schüttelte den Kopf, als sei er ganz und gar nicht befriedigt.

»Wir tappen noch ganz im Dunkeln«, meinte er, »aber bitte, erzählen Sie nun weiter.«

»Zwei Jahre sind seitdem vergangen, und mein Leben wurde einsamer als je. Vor einem Monat jedoch hat ein lieber langjähriger Bekannter namens Percy Armitage um mich angehalten. Mein Stiefvater hat nichts dagegen, und so wollen wir noch in diesem Frühjahr heiraten. Seit zwei Tagen werden an dem westlichen Flügel unseres Wohnhauses Ausbesserungen vorgenommen. Dabei wurde eine Wand meines Schlafzimmers durchbrochen. Ich mußte deshalb das Zimmer, in dem meine Schwester starb, beziehen und in ihrem Bett schlafen. Stellen Sie sich nun meinen wahnsinnigen Schrecken vor, als ich in der letzten Nacht plötzlich ebenfalls das leise Pfeifen vernahm, das ihren Tod vorherverkündet hatte. Ich sprang aus dem Bett und schaltete das Licht an, vermochte aber nichts Beunruhigendes im Zimmer zu entdecken. Zu aufgeregt, um wieder einschlafen zu können, kleidete ich mich an und schlich mich, sobald es dämmerte, aus dem Hause, ließ mir in dem gegenüberliegenden Gasthaus zur Krone einen Wagen anspannen und fuhr nach Leatherhead und von da mit dem Morgenzug weiter nach London, um Sie aufzusuchen und um Ihren Rat zu bitten.«

»Das war das Vernünftigste, was Sie tun konnten«, versetzte Holmes. »Aber haben Sie mir auch alles gesagt?«

»Gewiß, alles.«

»Ich bin nicht ganz überzeugt davon, Fräulein Stoner. Sie schonen Ihren Stiefvater.«

»Warum? Was wollen Sie damit sagen?«

Statt einer Antwort schlug Holmes die Manschette über dem rechten Handgelenk der Erzählerin zurück.

Fünf kleine blaue Male, sichtlich von fünf Fingern herrührend, zeichneten sich auf ihrem Arm ab.

»Sie sind mißhandelt worden,« sagte Holmes.

Tief errötend bedeckte sie die Stelle wieder. »Er ist ein rauher Mann,« sagte sie, »der vielleicht selbst kaum weiß, wie stark er ist.«

Ein langes Schweigen folgte; das Kinn in die Hand stützend, blickte Holmes in das prasselnde Kaminfeuer. »Eine höchst rätselhafte Sache,« sagte er zuletzt. »Ich hätte noch tausenderlei Fragen, ehe ich mich über den Weg schlüssig mache, den wir einschlagen müssen. Und doch dürfen wir keinen Augenblick verlieren. Ließe es sich wohl machen, daß wir die drei Schlafzimmer ohne Wissen Ihres Stiefvaters besichtigen können, wenn wir heute nach Stoke Moran fahren?«

»Er hat zufällig erwähnt, daß er heute in einer sehr wichtigen Angelegenheit hierher fahren werde. Vermutlich wird er den ganzen Tag fort sein, und dann wären Sie völlig ungestört. Wir haben zwar gegenwärtig eine Haushälterin, aber die ist alt und einfältig und ich könnte sie leicht eine Weile entfernen.«

»Ausgezeichnet. Du hast doch nichts gegen diesen Ausflug, Watson?«

»Nicht das geringste.«

»Dann werden wir uns also beide im Laufe des Tages einfinden. Und was tun Sie selbst, jetzt?«

»Ich möchte gerne noch ein paar Sachen besorgen, weil ich gerade hier bin. Doch will ich mit dem Zwölfuhrzug wieder zurück fahren, so daß Sie mich rechtzeitig zu Hause treffen werden.«

»Sie können uns bald nach Mittag schon erwarten. Ich habe selbst zuerst noch einige Angelegenheiten zu erledigen. Wollen Sie nicht noch bleiben und etwas frühstücken?«

»Nein, ich muß gehen. Es ist mir schon leichter ums Herz, seit ich Ihnen anvertraut habe, was mich bedrückt. Auf Wiedersehen also heute nachmittag.« Sie zog den schwarzen Schleier wieder über ihr Gesicht und verließ das Zimmer.

»Nun, was hältst du von der Sache, Watson?« fragte Holmes, sich in seinen Stuhl zurücklehnend.

»Es scheint mir eine dunkle, unheimliche Geschichte.«

»Sehr dunkel und sehr unheimlich sogar.«

»Und doch, wenn tatsächlich Fußboden und Wände ganz in Ordnung sind, und durch Tür, Fenster und Kamin nichts hereinkommen konnte, muß unzweifelhaft die Schwester zur Zeit ihres rätselhaften Todes allein gewesen sein.«

»Wie erklärst du dir dann aber das nächtliche Pfeifen und die eigentümliche Äußerung der Sterbenden?«

»Das kann ich mir nicht denken.«

»Dieses nächtliche Pfeifen, die Anwesenheit einer Zigeunerbande, die mit dem alten Doktor auf vertrautem Fuß stand, und die Tatsache, daß dieser offenbar das größte Interesse daran hatte, eine Heirat seiner Stieftochter zu verhindern, sind starke Verdachtsmomente. Wenn ich sie mit der Andeutung der Sterbenden zusammenhalte und schließlich mit dem metallenen Klang, den Fräulein Stoner gehört hat und der sehr wohl von der Wiederbefestigung der Vorlegestange an einem Fensterladen herrühren konnte, so will es mir doch scheinen, als dürften wir hoffen, von dieser Grundlage aus des Rätsels Lösung zu finden.«

»Aber was sollen denn die Zigeuner getan haben?«

»Davon habe ich allerdings auch keine Ahnung.«

»Ich meine, gegen diese ganze Auffassung ließe sich doch sehr viel einwenden.«

»Das muß ich freilich selbst zugeben; gerade deswegen gehen wir noch heute nach Stoke Moran. Ich muß mich überzeugen, ob die Einwendungen stichhaltig sind oder sich beseitigen lassen. – Aber was ist denn hier eigentlich los!« rief er plötzlich aus.

Mit einemmal war nämlich die Zimmertür aufgeflogen, und eine gewaltige Männergestalt in einem sonderbaren, halb gelehrten, halb bäuerischen Aufzug hatte sich in ihrem Rahmen aufgepflanzt. Der Eindringling trug einen hohen schwarzen Hut und einen Rock mit langen Schößen, dazu Stulpenstiefel, und in den Händen eine Reitpeitsche. Er war so groß, daß er buchstäblich oben am Türbalken anstieß, und so umfangreich, daß er die Öffnung völlig auszufüllen schien. Auf seinem breiten, mit zahllosen Runzeln übersäten, sonnenverbrannten Gesicht spiegelten sich alle schlechten Leidenschaften. Er wandte den Blick bald mir, bald meinem Freunde zu, und dabei gaben ihm seine tiefliegenden, gelb unterlaufenen Augen und die weitvorstehende schmale, fleischlose Nase das Aussehen eines grimmigen alten Raubvogels.

»Welcher von euch beiden ist Holmes?« fragte er in unverschämtem Tone.

»So heiße ich; aber ich habe nicht das Vergnügen …« antwortete mein Freund ruhig.

»Ich bin Dr. Grimesby Roylott von Stoke Moran.«

»Darf ich bitten, daß Sie Platz nehmen, Herr Doktor«, sagte Holmes verbindlich.

»Fällt mir nicht ein. Meine Stieftochter ist dagewesen. Ich bin ihr nachgegangen. Was wollte sie bei Ihnen?«

»Es ist noch etwas kalt für die Jahreszeit!«, gab Holmes zur Antwort.

»Was sie Ihnen gesagt hat, will ich wissen!« schrie der andere wütend.

»Trotzdem soll sich, wie ich höre, die Krokusblüte ganz gut anlassen«, fuhr Holmes unerschütterlich fort.

»Machen Sie nur keine Winkelzüge«, rief jetzt der grobe Kerl, indem er einen Schritt vortrat und die Reitpeitsche schwang. »Ich kenne Sie, Schurke. Habe schon längst von Ihnen gehört. Sie sind Holmes, der Schnüffler!«

Mein Freund lächelte.

»Holmes, der Allerweltslückenbüßer!«

Sein Gesicht erheiterte sich immer mehr.

»Holmes, der General-Kriminalpolizeispitzel!«

Jetzt lachte Holmes hell auf. »Sie sind ja äußerst witzig«, sagte er. »Wenn Sie hinausgehen, machen Sie auch die Tür zu, es zieht ganz entschieden.«

»Erst sage ich meine Sache, und dann gehe ich. Lassen Sie sich nur nicht einfallen, Ihre Nase in meine Angelegenheiten zu stecken. Meine Tochter war da – ich weiß es, ich bin ihr nachgegangen! Ich rate keinem, mir in die Quere zu kommen! Da, sehen Sie her!« Damit trat er rasch auf den Kamin zu, nahm den Schürhaken und bog ihn mit seinen mächtigen braunen Händen vollständig krumm.

»Sehen Sie zu, daß Sie mir nicht unter die Finger kommen!« schrie er Holmes noch zu, warf den verbogenen Schürhaken wieder in den Kamin und schritt hinaus.

»Nun, das ist ja ein recht liebenswürdiger Kumpan«, meinte Holmes lachend. »Ich bin zwar nicht ganz so vierschrötig wie er, aber wenn er noch einen Augenblick dageblieben wäre, hätte ich ihm zeigen können, daß meine Finger an Kraft den seinen nicht viel nachgeben.« Dabei nahm er den stählernen Schürhaken und bog ihn mit einem Ruck wieder gerade.

»Ein selten unverschämter Mensch! Dieser Zwischenfall verleiht übrigens unserem Vorhaben nur noch einen Reiz mehr. Ich hoffe bloß, daß unsere Schutzbefohlene ihre Unvorsichtigkeit nicht zu büßen bekommt. – Aber nun wollen wir frühstücken, Watson, und dann will ich nach der Gerichtsregistratur gehen, wo ich mir einige Daten zu verschaffen hoffe, die uns in dieser Sache vielleicht von Nutzen sein können.«

Es war ungefähr ein Uhr, als Holmes von seinem Ausgang zurückkam. Er hatte ein Blatt Papier in der Hand, das ganz mit Notizen und Zeichnungen bedeckt war.

»Ich habe mir das Testament der Frau Roylott zeigen lassen«, sagte er. »Um ihre Willensmeinung ganz genau festzustellen, mußte ich den heutigen Wert der Anlagepapiere ausrechnen, um die es sich dabei handelt. Der Gesamtertrag, der zur Zeit ihres Todes fast elfhundert Pfund betrug, beläuft sich jetzt infolge des Rückgangs im Werte höchstens noch auf siebenhundertfünfzig Pfund. Nun kann jede der Töchter im Falle ihrer Verehelichung eine Rente von zweihundertfünfzig Pfund ansprechen. Es ist also augenscheinlich, daß, falls beide Töchter sich verheiratet hätten, von der ganzen Herrlichkeit blutwenig übrig geblieben wäre, ja, daß sogar schon die Abfindung einer Tochter dem Doktor eine ganz empfindliche Einbuße verursacht hätte. Mein Vormittag war also gut angewendet; ich habe jetzt den Beweis in Händen, daß ihm alles daran gelegen sein mußte, die Heirat zu hindern. Wir wollen nun in dieser wichtigen Sache keine Zeit mehr verlieren, zumal der Alte Wind davon hat, daß wir uns mit seinen Angelegenheiten beschäftigen. Wenn du also bereit bist, wollen wir uns einen Wagen nach der Waterloostation bestellen. Bitte, stecke auch deinen Revolver ein. Damit kommt man gegenüber Herrschaften, die stählerne Schürhaken krumm biegen, am besten aus. Wenn wir dann noch Kamm und Zahnbürste mitnehmen, so denke ich, daß wir alles haben, was wir brauchen.«

Am Bahnhof hatten wir das Glück, gerade einen Zug nach Leatherhead zu treffen; dort nahmen wir einen Wagen, mit dem wir vier oder fünf Meilen weit durch die freundlichen Gelände von Surrey fuhren. Es war ein herrlicher Tag, klarer Sonnenschein und kaum ein Wölkchen am Himmel. Die Bäume und Hecken am Wege erglänzten im ersten Grün, und die Luft war von dem erfrischenden Geruch des feuchten Erdreichs erfüllt. Lebhaft empfand wenigstens ich für meine Person den eigentümlichen Gegensatz zwischen dem lieblichen Frühlingsbilde und der unheimlichen Aufgabe, die unsrer wartete. Holmes saß, den Hut tief ins Gesicht gedrückt, mit untergeschlagenen Armen und gesenktem Haupte, in tiefes Nachdenken versunken da. Plötzlich fuhr er auf, klopfte mir auf die Schulter und deutete nach rechts. »Sieh dorthin!« rief er.

Ein dichter Park zog sich jenseits der Wiesen einen sanften Abhang hinauf, der oben von einem Wäldchen bekränzt war; mitten aus dem Dickicht ragte der altersgraue Dachfirst eines Herrenhauses hoch hervor.

»Stoke Moran?«, fragte er.

»Jawohl, Herr, das ist Dr. Grimesby Roylotts Haus«, erwiderte der Fahrer.

»Wo der Umbau gemacht wird? Das ist unser Ziel.«

»Dort drüben liegt das Dorf«, fuhr der Mann fort, indem er auf die Dächer deutete, die in einiger Entfernung zur Linken sichtbar wurden; »aber wenn Sie zu Roylotts Hause wollen, so sind Sie früher dort, wenn Sie hier die Steige hinaufgehen und dann den Fußweg über die Felder einschlagen. Dort drüben, wo die Dame geht.«

»Die Dame ist Fräulein Stoner, wie mir scheint«, sagte Holmes und hielt die Hand über die Augen. »Ja, ich glaube, es wird das Einfachste sein, wenn wir Ihrem Rat folgen.«

Wir stiegen aus und bezahlten unser Fahrgeld. Der Wagen wendete und fuhr nach Leatherhead zurück.

»Ich hielt es für zweckmäßig«, meinte Holmes, während wir die Steige hinaufgingen, »den Mann glauben zu lassen, wir seien wegen der Bauarbeit oder zu irgend einem andern geschäftlichen Zweck hergekommen. Das beugt vielleicht unnützem Gerede vor. – Guten Tag, Fräulein Stoner, Sie sehen, wir haben Wort gehalten.«

Mit offener Herzlichkeit kam unsere Schutzbefohlene uns entgegengelaufen. »Ich habe Sie sehnlich erwartet!« rief sie und drückte uns warm die Hand. »Es hat sich alles geschickt gefügt. Der Vater ist nach London gegangen und wird schwerlich vor Abend zurückkommen.«

»Wir haben unterdessen das Vergnügen gehabt, des Herrn Doktors Bekanntschaft zu machen«, entgegnete Holmes und gab ihr mit ein paar Worten eine flüchtige Schilderung unseres Erlebnisses.

Sie wurde bei dieser Kunde weiß bis zu den Lippen. »Er ist mir also nachgegangen?« fragte sie fassungslos.

»So scheint es.«

»Er ist sehr schlau, man ist eigentlich nie sicher vor ihm. Ich habe so Angst, bis er jetzt nach Hause kommt.«

»Seien Sie unbesorgt. Vielleicht sind wir noch schlauer als er. Auf jeden Fall müssen Sie sich heute nacht vor ihm einschließen. Wird er gewalttätig, so bringen wir Sie zu Ihrer Tante nach Harrow. Jetzt müssen wir aber unsere Zeit nach besten Kräften ausnützen, also führen Sie uns bitte gleich in die Zimmer, die wir zu besichtigen haben.«

Das Gebäude mit seinen grauen, moosbewachsenen Quadersteinen bestand aus einem hohen Mittelbau, von dem an jedem Ende ein geschweifter Flügel auslief. An dem linken Flügel waren die zerbrochenen Fenster mit Brettern vernagelt, und das Dach teilweise eingestürzt – ein Bild des Verfalls. Der Mittelbau befand sich schon in etwas besserem Stand, und der rechte Flügel machte einen verhältnismäßig neuen Eindruck; die Vorhänge an den Fenstern und der blaue Rauch, der sich über den Schornsteinen kräuselte, zeigten an, daß hier die Familie wohnte. An der Außenwand war ein Gerüst aufgeschlagen und das Mauerwerk durchgebrochen; von einem Arbeiter war jedoch zur Zeit weit und breit nichts zu sehen. Holmes ging langsam auf dem schlecht gepflegten Rasenplatz auf und ab und untersuchte die Fenster aufs peinlichste von außen.

»Dies hier gehört wohl zu Ihrem früheren Schlafzimmer, das mittlere zu dem Ihrer Schwester, und das letzte zunächst dem Mittelbau zu Dr. Roylotts Schlafzimmer?«

»Ganz richtig. Aber gegenwärtig schlafe ich in dem mittleren.«

»Während der baulichen Arbeiten vermutlich, übrigens kommt es mir nicht gerade vor, als ob hier an der Außenwand die Ausbesserung dringend nötig gewesen wäre.«

»Ganz und gar nicht. Ich glaube, daß es lediglich ein Vorwand war, um mich aus meinem Zimmer zu vertreiben.«

»Möglich. Und an der andern Seite des schmalen Flügels läuft wohl der Gang hin, auf den die drei Zimmer münden? Natürlich hat er auch Fenster.«

»Aber nur ganz kleine, durch die ein Mensch nicht hereinkommen kann.«

»Da Ihre Schwester und Sie Ihre Zimmer nachts ja abschlossen, so waren sie sowieso von dieser Seite her unzugänglich. Und jetzt schließen Sie bitte einmal die Läden in Ihrem Zimmer.«

Nachdem die Läden vorgelegt waren, untersuchte sie Holmes sorgfältig von innen und außen, dann machte er auf jede mögliche Weise den Versuch, sie aufzubrechen, jedoch ohne Erfolg. Nirgends war der geringste Spalt, in dem sich hätte etwa ein Messer ansetzen lassen, um die Stange zu lockern. Dann untersuchte er auch die Angeln, allein sie waren aus starkem Eisen und saßen fest in dem massiven Mauerwerk. »Hm«, meinte er und rieb sich verlegen das Kinn, »meine Annahme stößt allerdings auf Schwierigkeiten. Hier konnte kein Mensch hereinkommen, wenn die Läden geschlossen waren. Nun, wir werden ja sehen, ob die innere Besichtigung vielleicht Licht in die Sache bringt.«

Eine kleine Seitentüre führte in den weißgetünchten Gang, auf den die drei Schlafzimmer mündeten. Das äußerste wollte Holmes nicht sehen, deshalb begaben wir uns sogleich nach dem mittleren, worin Fräulein Stoner gegenwärtig schlief und in dem ihre Schwester gestorben war. Es war ein gemütlicher kleiner Raum mit niederer Decke und großem Kamin, wie man sie in alten Landsitzen oft trifft. Eine braune Kommode stand in der einen Ecke, ein schmales, weiß bezogenes Bett in einer anderen und ein Toilettentisch zur Linken des Fensters. Diese Möbel bildeten zusammen mit zwei geflochtenen Stühlen und einem Teppich in der Mitte die ganze Einrichtung. Das eichene Holzwerk des Bodens und der Wände war alt und wurmstichig, es mochte wohl noch aus der Zeit stammen, als das Haus erbaut wurde. Holmes schob sich einen Stuhl in eine Ecke, ließ von diesem Platz aus den Blick ringsumher laufen und musterte stumm den ganzen Raum mit größter Genauigkeit.

»Wohin geht diese Klingel?« fragte er zuletzt und deutete dabei auf einen dicken Klingelzug, der neben dem Bett herabhing, so daß die Quaste auf dem Kissen ruhte.

»In das Zimmer der Haushälterin.«

»Sie scheint neuer zu sein als die übrige Einrichtung.«

»Ja, sie wurde erst vor ein paar Jahren angebracht.«

»Vermutlich auf Verlangen Ihrer Schwester?«

»Nein, soviel ich weiß, hat Julia sie nie benützt. Wir waren gewohnt, uns alles, was wir brauchten, selbst zu holen.«

»Nun, dann war es wahrhaftig recht überflüssig, einen so schönen Klingelzug anzubringen. Sie erlauben wohl, daß ich mich jetzt ein paar Minuten auf dem Boden umsehe.« Er legte sich mit der Lupe in der Hand nieder und kroch behende vor- und rückwärts, um jede Spalte zwischen den Dielen auf das genaueste zu untersuchen. Hierauf prüfte er die Holztäfelung des Zimmers ebenso sorgfältig. Zuletzt trat er an das Bett und betrachtete es längere Zeit, während er gleichzeitig den Blick an der Wand hinter demselben auf- und abgleiten ließ. Schließlich faßte er den Glockenzug und tat einen tüchtigen Ruck daran.

»Das ist ja nur eine Scheinklingel!« sagte er.

»Läutet sie nicht?«

»Nein, es ist nicht einmal ein Draht daran befestigt. Das ist höchst interessant. Sehen Sie nur, sie ist gerade über dem kleinen Luftloch an einem Haken festgemacht.«

»Wie seltsam! Das ist mir noch nie aufgefallen.«

»Höchst wunderlich!« murmelte Holmes, indem er nochmals an der Klingel zog. »Einiges in diesem Zimmer ist wirklich ganz merkwürdig. Zum Beispiel muß ja der Baumeister ein vollkommener Narr gewesen sein, daß er ein Luftloch ins Nebenzimmer gemacht hat, während es gerade so gut ins Freie hinausgehen konnte.«

»Es stammt ebenfalls erst aus neuerer Zeit«, bemerkte Fräulein Stoner.

»Es wurde wohl zugleich mit dem Glockenzug angebracht?«

»Ja, damals hat man verschiedene kleine Änderungen vorgenommen.«

»Die recht interessanter Art sind – Scheinklingeln und Luftlöcher, die keine frische Luft zuführen. Mit Ihrer Erlaubnis, Fräulein Stoner, wollen wir jetzt unsere Besichtigung in Dr. Roylotts Zimmer fortsetzen.«

Dieses war größer, aber ebenso einfach eingerichtet. Ein Feldbett, ein kleines Gestell mit Büchern, zumeist medizinischen Inhalts, ein Lehnstuhl neben dem Bett, ein einfacher Holzstuhl an der Wand, ein runder Tisch und ein großer eiserner Geldschrank fielen zunächst ins Auge. Holmes ging langsam durch das Zimmer und besichtigte ein Stück um das andere mit der schärfsten Aufmerksamkeit.

»Was ist hier drinnen?« fragte er, an den Eisenschrank klopfend.

»Meines Stiefvaters Geschäftspapiere.«

»So! – Sie haben also schon hineingesehen?«

»Nur ein einziges Mal, vor Jahren. Es war nichts darin als Papiere, soviel ich mich erinnere.«

»Ist nicht vielleicht eine Katze drinnen?«

»Eine Katze? Nein! Wie kommen Sie auf den sonderbaren Einfall?«

»Sehen Sie mal hierher!« Er nahm eine kleine Untertasse voll Milch von dem Schrank herunter, die oben gestanden hatte.

»Nein; wir halten keine Katze. Aber ein Leopard und ein Pavian sind im Hause.«

»Ja – so! Nun, ein Leopard ist ja eben nichts als eine große Katze, allerdings dürfte eine Untertasse voll Milch für seine Bedürfnisse nicht weit reichen. Nun möchte ich nur noch eines ergründen.« Damit kniete er vor den Holzstuhl hin und prüfte den Sitz mit größter Aufmerksamkeit.

»Danke. Das wäre also festgestellt«, sagte er, indem er aufstand und seine Lupe einsteckte. »Hallo! Da sehe ich noch etwas Interessantes!«

Der Gegenstand, der seinen Blick auf sich gezogen hatte, war eine kleine Hundepeitsche, die an der einen Ecke des Bettes hing und deren Schnur so zusammengeknüpft war, daß sie eine runde Schleife bildete.

»Was hältst du davon, Watson?«

»Das ist eine ganz gewöhnliche Hundepeitsche. Nur kann ich mir nicht denken, wozu die Schleife daran dienen soll.«

»Also ist sie doch nicht so ganz gewöhnlicher Art, nicht wahr? Ach ja, es ist eine schlechte Welt! Und am allerschlimmsten ist es, wenn ein fähiger Kopf seine Gaben zu verbrecherischen Gedanken gebraucht. – Ich glaube, ich habe jetzt genug gesehen, Fräulein Stoner; wir wollen jetzt wieder auf den Rasenplatz hinausgehen.«

Noch nie hatte ich meinen Freund mit so grimmiger Miene und so finster zusammengezogenen Brauen gesehen, als nun, da wir den Schauplatz der Untersuchung verließen. Mehrmals gingen wir auf dem Rasen auf und ab, aber weder ich noch Fräulein Stoner mochten ihn durch eine Frage in seinen Gedanken stören, bis er selbst sich dem tiefen Nachsinnen entriß.

»Es ist unbedingt nötig, Fräulein Stoner«, begann er endlich, »daß Sie meinem Rat in jeder Hinsicht strengstens Folge leisten.«

»Sie können sich darauf verlassen.«

»Der Fall ist zu ernst, um die geringste Unschlüssigkeit zu gestatten. Ihr Leben hängt möglicherweise von Ihrem unbedingten Gehorsam ab.«

»Ich verspreche Ihnen, daß ich alle Ihre Anweisungen genau befolgen werde.«

»Vor allem muß ich mit meinem Freund diese Nacht in Ihrem Zimmer verbringen.«

Ganz verwundert starrten wir ihn beide an.

»Jawohl, das muß sein. Sie sollen gleich das Nähere darüber hören. Das Haus dort drüben ist doch das Dorfwirtshaus?«

»Jawohl, das ist die ›Krone‹.«

»Sehr gut. Sieht man Ihre Fenster von dort aus?«

»Ja.«

»Wenn Ihr Stiefvater heimkommt, müssen Sie Kopfweh vorschützen und sich in Ihr Zimmer einschließen. Sobald Sie dann hören, daß er sich zur Ruhe begeben hat, öffnen Sie die Riegel am Fenster und den Laden, stellen ein Windlicht – so etwas werden Sie ja wohl im Hause haben – zum Zeichen für uns ans Fenster und ziehen sich dann in aller Stille nach Ihrem früheren Schlafzimmer zurück. Sie können sich doch sicher trotz der Bauarbeiten für eine Nacht darin einrichten.«

»O ja, ganz gut.«

»Das Weitere überlassen Sie uns.«

»Was haben Sie vor?«

»Wir werden die Nacht in Ihrem Zimmer verbringen, um dem Geräusch, das Sie so erschreckt hat, auf die Spur zu kommen.«

»Ich habe das Gefühl, Herr Holmes, als hätten Sie schon einen bestimmten Verdacht, als wüßten Sie mehr, als Sie mir zugeben wollen«, sagte Fräulein Stoner und legte ihm die Hand auf den Arm.

»Das kann wohl sein.«

»Dann sagen Sie mir ums Himmels willen, was an dem Tod meiner Schwester schuld war.«

»Ich möchte gern erst noch sichere Beweise haben.«

»Könnte ich nicht wenigstens erfahren, ob meine Ansicht zutrifft, daß sie an einem plötzlichen Schrecken gestorben ist.«

»Nein, das glaube ich nicht. Nach meiner Überzeugung lag wohl eine greifbare Ursache vor. Nun aber, Fräulein Stoner, müssen wir gehen; denn wenn Dr. Roylott zurückkäme und uns sähe, wäre unser ganzer Besuch umsonst gewesen. Leben Sie wohl und halten Sie sich tapfer; wenn Sie meinen Anweisungen pünktlich nachkommen, dürfen Sie versichert sein, daß wir Ihnen alle Gefahren bald aus dem Wege geräumt haben werden.«

Drüben in der »Krone« verschafften wir uns im oberen Stockwerk zwei Zimmer, deren Fenster gerade nach dem Parktor und dem bewohnten Flügel des Herrenhauses hinüberschauten. In der Dämmerung kam Dr. Roylott angefahren; seine Riesengestalt ragte hoch empor neben dem schmächtigen Burschen, der den Wagen lenkte. Als dieser das Gittertor nicht ohne weiteres aufbrachte, hörten wir den Doktor mit seiner heiseren Stimme wütend auf ihn einschreien, am liebsten wäre er mit den geballten Fäusten auf ihn losgegangen. Einige Minuten später blitzte plötzlich aus einem der Wohnzimmer das Licht einer Lampe durch das Laubwerk herüber.

»Weißt du, Watson«, sagte Holmes, als wir in der zunehmenden Dunkelheit beisammen saßen, »es ist mir wirklich nicht ganz wohl dabei, daß ich dich heute nacht mitnehmen soll. Die Sache ist durchaus nicht ohne ernstliche Gefahr.«

»Aber du glaubst, daß ich dir dabei von Nutzen sein kann?«

»Deine Gegenwart ist möglicherweise von ganz unbezahlbarem Werte.«

»Dann werde ich selbstverständlich mitgehen.«

»Das ist sehr freundlich von dir.«

»Du sprichst von Gefahr. Offenbar hast du in den Zimmern mehr gesehen, als ich entdecken konnte.«

»Nein, ich habe wahrscheinlich nur mehr Schlüsse daraus abgeleitet. Gesehen hast du wohl gerade so viel wie ich.«

»Außer dem Klingelzug habe ich nichts Bemerkenswertes wahrgenommen. Zu welchem Zweck der aber dienen sollte, kann ich mir nicht vorstellen, das gestehe ich ehrlich.«

»Hast du auch das Luftloch gesehen?«

»Ja, aber ich meine, eine kleine Öffnung, die aus einem Zimmer ins andere führt, ist doch nichts so ganz Ungewöhnliches. Sie ist ja so klein, daß kaum eine Ratte durchschlüpfen kann.«

»Ich wußte schon, ehe wir hierher kamen, daß wir ein solches Luftloch finden würden.«

»Aber, bester Holmes – –!«

»Du erinnerst dich gewiß, daß uns Fräulein Stoner berichtete, ihre Schwester habe Dr. Roylotts Zigarre gerochen. Nun, das brachte mich sogleich auf den Gedanken, daß zwischen den beiden Zimmern eine Verbindung bestehen muß; natürlich konnte sie nur klein sein, sonst wäre sie bei der gerichtlichen Untersuchung bemerkt worden; so kam ich zu dem Schluß, daß es sich um ein Luftloch handeln werde.«

»Aber was kann denn dabei Schlimmes sein?«

»Es ist doch zum mindesten ein merkwürdiges Zusammentreffen, daß das Mädchen, das in seinem Bett schläft, plötzlich stirbt, gerade nachdem man über demselben ein Luftloch angebracht und daneben einen Klingelzug befestigt hat. Kommt dir das nicht auch auffallend vor?«

»Ich vermag noch immer nicht einzusehen, wie das alles zusammenhängen soll.«

»Hast du vielleicht etwas Besonderes an dem Bett bemerkt?«

»Nein.«

»Es ist am Fußboden angenagelt. Ist dir das sonst schon jemals vorgekommen?«

»Nein, das ist allerdings sonst nicht gerade üblich.«

»Fräulein Stoner konnte also ihr Bett nicht von der Stelle rücken. Es muß gerade unter dem Luftloch und dem Seil stehen bleiben – ein Seil müssen wir es doch eigentlich nennen, da es auf einen Klingelzug offenbar überhaupt nicht abgesehen war.«

»Holmes!« rief ich aus, »ich glaube, mir dämmert allmählich eine Ahnung auf, wohin deine Andeutungen zielen. Wir sind wohl gerade zur rechten Zeit gekommen, um ein raffiniert ausgedachtes Verbrechen zu verhindern.«

»Jawohl, raffiniert ausgedacht! Wenn ein Arzt zum Verbrecher wird, so tut er es allen andern zuvor; denn er besitzt die nötigen Kenntnisse und hat starke Nerven. So war es zu allen Zeiten. Der Mensch, mit dem wir es zu tun haben, stellt zwar selbst berüchtigte Vorbilder in den Schatten, aber wir werden es trotzdem wagen, den Kampf mit ihm aufzunehmen. Es warten unsrer noch Aufregungen genug, bevor die Nacht um ist; deshalb laß uns jetzt in aller Ruhe und Gemütlichkeit eine Pfeife zusammen rauchen und ein paar Stunden an etwas Heiteres denken.«

Etwa um neun Uhr erlosch der Lichtschein zwischen den Bäumen, und das Herrenhaus lag nun in tiefem Dunkel. Zwei Stunden waren langsam dahingeschlichen, als plötzlich, mit dem Schlag elf Uhr, ein einzelnes Licht gerade uns gegenüber aufblitzte.

»Es ist das Zeichen für uns«, sagte Holmes aufspringend; »es kommt aus dem Mittelfenster.«

Beim Verlassen des Hauses erklärten wir dem Wirt mit ein paar Worten, daß wir noch einen späten Besuch bei einem Bekannten machen wollten, wo wir möglicherweise auch die Nacht zubringen würden. Im nächsten Augenblick blies uns bereits der kalte Wind auf der finsteren Landstraße ins Gesicht, und der kleine Lichtschein vom Herrenhause war nun unser einziger Leitstern auf dem dunkeln, unheimlichen Pfade.

In den Park hineinzukommen kostete uns wenig Mühe, denn in der alten Umfassungsmauer gähnten an mehreren Stellen weite Lücken. Wir hielten uns unter den Bäumen, bis wir auf dem Rasenplatz waren. Als wir ihn eben überschritten hatten und im Begriff waren, durch das Fenster einzusteigen, schoß aus dem dichten Lorbeergebüsch ein Wesen hervor, das einem häßlichen, mißgestalteten Kinde ähnlich sah. Zuerst ließ es sich unter allerlei Gliederverrenkungen ins Gras niederfallen, dann rannte es eilig über den Rasen davon und verschwand wieder in der Dunkelheit.

Entsetzt waren wir beide stehengeblieben. Holmes war im ersten Augenblick nicht weniger erschrocken als ich selbst. In seiner Aufregung preßte er mir das Handgelenk zusammen, daß ich hätte aufschreien mögen. Dann aber brach er in ein unterdrücktes Lachen aus und legte seine Lippen an mein Ohr.

»Diesmal haben wir uns schön anführen lassen«, flüsterte er, »das ist ja der Pavian.«

Ich hatte die ausgefallenen Liebhabereien des Hausherrn ganz vergessen. Ein Leopard war überdies ja auch noch da und konnte uns jeden Augenblick auf den Schultern sitzen. Ich gestehe, daß ich mich erst etwas erleichtert fühlte, als ich mich im Innern des Schlafzimmers befand, nachdem ich zuvor, dem Beispiel meines Freundes folgend, die Schuhe ausgezogen hatte. Holmes schloß nun geräuschlos die Läden, stellte das Windlicht auf den Tisch und ließ dann seinen Blick im Zimmer umherschweifen. Es war noch alles genau so, wie wir es am Tage gesehen hatten. Durch die hohle Hand flüsterte mir Holmes so leise zu, daß ich ihn eben noch verstehen konnte:

»Das geringste Geräusch kann uns alles verderben.«

Ich nickte, zum Zeichen, daß ich verstanden habe.

»Wir dürfen das Licht nicht brennen lassen. Er würde den Schein durch das Luftloch sofort bemerken.«

Ich nickte wieder.

»Schlafe nur nicht ein; es könnte dich das Leben kosten. Halte deine Pistole für den Notfall bereit; ich will mich auf das Bett setzen, und du nimmst den Stuhl dort.«

Ich zog meinen Revolver aus der Tasche und legte ihn auf den Tischrand.

Holmes hatte eine lange dünne Gerte mit hereingebracht, die er nun samt einer Taschenlampe neben sich auf das Bett legte. Dann löschte er den kleinen Docht zwischen den Fingern aus und wir saßen im Dunkeln.

Niemals werde ich diese entsetzliche Wache je vergessen können. Kein Laut, nicht der leiseste Atemzug war vernehmbar, und doch wußte ich, daß mein Begleiter kaum ein paar Schritte von mir mit offenen Augen in derselben Erregung und Spannung aller Nerven dasaß, wie ich selbst. Die Läden ließen nicht die kleinste Nachthelle herein, und die Finsternis, die uns umgab, war undurchdringlich. Draußen ließ sich von Zeit zu Zeit der Schrei eines Nachtvogels und einmal auch, gerade vor unserem Fenster, ein langgezogenes katzenartiges Wimmern hören, das uns bewies, daß der Leopard wirklich frei umherlief. Aus weiter Ferne klangen die tiefen Töne der Kirchenuhr herüber, die alle Viertelstunden schlug. Wie lang wurden sie uns, diese Viertelstunden! Es schlug zwölf, eins, zwei, drei – und noch immer saßen wir da und harrten stumm der Dinge, die da kommen sollten.

Plötzlich blitzte an dem Luftloch ein flüchtiger Lichtschein auf, der sofort wieder verschwand, während sich nun ein starker Geruch von brennendem Öl und erhitztem Metall bemerkbar machte. Im Nebenzimmer war eine Blendlaterne angezündet worden. Ich hörte, daß sich etwas leise bewegte. Dann war wieder alles still, während der Geruch sich immer mehr ausbreitete. Eine halbe Stunde saßen wir so und lauschten mit allen Sinnen. Nun ließ sich mit einemmal ein anderer Laut vernehmen – ein ganz leises, sanftes Zischen, wie wenn ein dünner Dampfstrahl längere Zeit aus einem Kessel ausströmt. Augenblicklich sprang Holmes vom Bette auf, knipste seine Taschenlampe an und hieb mit seiner Gerte wütend auf den Klingelzug los.

»Du siehst es doch, Watson?« rief er, »siehst du es?«

Aber ich sah nichts. In dem Augenblick, als Holmes Licht machte, vernahm ich zwar ein sanftes helles Pfeifen, aber bei der plötzlichen Helle, die meine müden Augen traf, war ich nicht imstande, zu unterscheiden, auf was mein Freund so grimmig hineinschlug. Doch bemerkte ich wohl, daß er totenblaß war, und daß sich Entsetzen und Abscheu in seinen Zügen malten.

Jetzt hatte er aufgehört zu schlagen und blickte noch zu dem Luftloch empor, als plötzlich aus der nächtlichen Stille der schauerlichste Schrei hervordrang, den ich je vernommen habe. Er schwoll immer lauter und lauter an; Schmerz, Angst und Wut – das alles klang vereint aus diesem gräßlichen, unbeschreiblichen Laut an unser Ohr. Später erfuhren wir, daß drunten im Dorf, ja sogar in dem entlegenen Pfarrhause bei diesem Schrei die Schläfer aufgefahren waren. Uns stockte vor Entsetzen der Atem, und starr blickten wir einer den andern an, bis auch der letzte Widerhall in der tiefen Stille erstorben war.

»Was mag das bedeuten?« brachte ich mühsam hervor.

»Das bedeutet, daß alles vorüber ist«, gab Holmes zur Antwort, »und vielleicht ist es schließlich am besten so. Nimm deine Pistole zur Hand, dann wollen wir in Dr. Roylotts Zimmer hinübergehen.«

Mit leichenblassem Gesicht schritt er voran auf den Gang hinaus. Zweimal klopfte er an des Doktors Zimmertür, ohne daß von drinnen eine Antwort kam. Nun drückte er die Klinke auf und trat ein, ich mit gespannter Pistole dicht hinter ihm.

Ein eigentümlicher Anblick bot sich unseren Augen. Auf dem Tische stand eine Blendlaterne, aus deren halbgeöffnetem Türchen ein greller Lichtstrahl auf den Eisenschrank fiel, dessen Türe weit offen stand. Neben dem Tisch auf dem Holzstuhl saß Dr. Roylott in einem langen grauen Schlafrock, aus dem unten seine bloßen Knöchel hervorschauten, während seine Füße in roten türkischen Pantoffeln steckten. Auf seinem Schoße lag die Hundepeitsche mit der langen Schleife, die uns am Tage zuvor in die Augen gefallen war. Sein Kinn war aufwärts gezogen, und seine glasigen Augen starrten schauerlich nach einer Ecke der Stubendecke empor. Um die Stirne hatte er ein eigentümliches gelbes Band mit bräunlichen Tupfen, das anscheinend fest um seinen Kopf gewunden war. Bei unserem Eintreten gab er keinen Laut von sich und rührte sich nicht.

»Das Band! Das getupfte Band!« flüsterte Holmes.

Ich machte einen Schritt vorwärts. Auf einmal begann der eigentümliche Kopfschmuck sich zu bewegen, und mitten aus den Haaren des Dasitzenden erhob sich der platte, spitzige Kopf und der aufgeblasene Hals einer Schlange.

»Es ist eine Sumpfotter!« rief Holmes aus, »die giftigste aller indischen Schlangen. Zehn Sekunden nach ihrem Biß lebte er schon nicht mehr. Hier ist in Wahrheit das Böse auf seinen Urheber zurückgefallen, und der Verbrecher stürzte selbst in die Grube, die er andern gegraben. Wir wollen das Tier vor allem wieder in seinen Behälter befördern; dann können wir Fräulein Stoner wegbringen und die Behörde von dem Vorgefallenen in Kenntnis setzen.«

Bei diesen Worten nahm er dem Toten rasch die Peitsche vom Schoß, warf die Schleife um den Hals der Schlange und zog sie von ihrem struppigen Lager weg. Dann trug er sie auf Armeslänge vor sich her nach dem Schrank, legte sie hinein und verschloß ihn wieder.

*

Dies ist der wahre Hergang beim Tode des Dr. Grimesby Roylott von Stoke Moran. Meine Erzählung ist bereits sehr lang geworden; ich will es mir deshalb ersparen, noch ausführlich zu berichten, wie wir die traurige Kunde Fräulein Stoner mitteilten, als wir sie mit dem Frühzug in die Obhut ihrer Tante nach Harrow brachten, und wie die Behörde auf dem Wege ihres langsamen Verfahrens endlich zu dem Schlusse gelangte, daß der Doktor sein plötzliches Lebensende durch unvorsichtiges Spielen mit einem gefährlichen Lieblingstier verschuldet habe. Das wenige, was ich über den Fall noch weiter erfuhr, teilte mir Holmes unterwegs auf der Heimfahrt am nächsten Tage mit.

»Ich war«, erklärte er mir, »zu einer gänzlich irrigen Schlußfolgerung gelangt, woraus du siehst, mein lieber Watson, wie gefährlich es stets ist, seine Schlüsse auf ungenügender Grundlage aufzubauen. Die Anwesenheit der Zigeuner und die doppelsinnige Äußerung der unglücklichen Julia, durch die sie zweifellos den Eindruck bezeichnen wollte, den die Gestalt der Schlange im Scheine des Zündhölzchens auf sie gemacht hatte, genügten, um mich auf eine völlig falsche Spur zu bringen. Ich kann nur das Verdienst für mich in Anspruch nehmen, daß ich augenblicklich davon abging, als es mir klar wurde, daß jede Gefahr, welcher Art sie auch sei, die der Bewohnerin des Zimmers drohte, weder durch die Tür noch durch das Fenster nahen könne. Sofort fiel mir nun das Luftloch auf mit dem Klingelzug daneben, der auf das Bett herabhing. Als ich dann entdeckte, daß es gar keine Klingel war, und ich überdies das Bett am Boden befestigt fand, erwachte in mir augenblicklich der Verdacht, daß das Seil nur dazu diene, um irgend etwas an ihm durch das Luftloch auf das Bett herunterzulassen. Sofort dachte ich an eine Schlange; hielt ich mir dazu weiter vor Augen, daß der Doktor sich beständig Tiere aus Indien schicken ließ, so glaubte ich wirklich annehmen zu dürfen, daß ich mich nun auf der richtigen Spur befinde. Der Gedanke, sich einer Art von Gift zu bedienen, das sich durch keinerlei chemische Untersuchung nachweisen ließ, war einem Menschen mit den Kenntnissen und der Gewissenlosigkeit des Doktors, der lange im Orient gelebt hatte, ganz besonders zuzutrauen. Die rasche Wirkung eines solchen Giftes mußte ihm von seinem Standpunkt aus ebenfalls sehr erwünscht sein. Der Leichenbeschauer hätte wirklich ein scharfes Auge haben müssen, um die zwei winzigen dunklen Pünktchen wahrzunehmen, die einzige Spur, die der Biß der Giftzähne hinterließ. Dann dachte ich über das Pfeifen nach. Er mußte natürlich die Schlange wieder zurückrufen, ehe es hell wurde, damit das Opfer sie nicht erblicken konnte. Deshalb hatte er sie, wahrscheinlich mittels der Milch, die wir bei ihm vorfanden, so abgerichtet, daß sie auf seinen Pfiff zu ihm kam. Zur geeigneten Zeit ließ er sie allemal durch das Luftloch hinüberschlüpfen; er konnte sich darauf verlassen, daß sie an dem Klingelzug auf das Bett hinunterkroch. Ob sie die Schlafende sofort beißen würde, war allerdings nicht sicher; möglich, daß diese eine ganze Woche lang der Gefahr Nacht für Nacht entging; aber früher oder später mußte sie doch zum Opfer fallen.

Zu diesen Schlußfolgerungen war ich bereits gelangt, ehe ich überhaupt des Doktors Zimmer betreten hatte. An seinem Stuhl sah ich dann, daß er sich regelmäßig darauf zu stellen pflegte; natürlich, denn er hätte ja sonst nicht zu dem Luftloch hinaufzureichen vermocht. Der Anblick des eisernen Schrankes, der Untertasse mit Milch und der Schlinge an der Peitschenschnur genügten dann vollends, um jeden Zweifel bei mir zu verscheuchen. Der metallene Klang, den Fräulein Stoner hörte, rührte offenbar von der Tür des Schrankes her, den ihr Vater hinter seiner grausigen Bewohnerin hastig zuschlug. Welche Schritte ich dann tat, und wie sehr sich die Richtigkeit meiner Auffassung bestätigt hat, ist dir ja bekannt. Sobald ich die Schlange zischen hörte, was du ohne Zweifel gleichfalls gehört hast, machte ich augenblicklich Licht und ging auf sie los …«

»Was zur Folge hatte, daß sie sich schleunigst durch das Luftloch davon machte.«

»Und zur weiteren Folge, daß sie sich drüben auf ihren Herrn stürzte. Ein paar von den Hieben mit meiner Gerte saßen ganz gehörig; dadurch erwachte bei der Schlange ihre natürliche Bösartigkeit, so daß sie auf den nächsten besten losging. In dieser Beziehung trage ich zweifellos mittelbar die Schuld an des Doktors Tode, aber ich glaube kaum, daß sie mein Gewissen sonderlich schwer bedrücken wird.«

*

Als der einsame Leser in dem stillen Raum bis hierher gekommen war, sagte er plötzlich laut mitten ins Zimmer hinein:

»Nein, an dieser Schuld hab ich wahrhaftig noch nie schwer getragen.« Seine Hand ließ das Blatt sinken und sein Blick ging weit in die Ferne. Das altersgraue, verwahrloste Gemäuer von Stoke Moran wuchs noch einmal für eine Weile vor ihm auf mit allen Einzelheiten jener Schreckensnacht. Dann zerflatterte es wieder wie ein Nebelgebilde und nichts blieb zurück als die innere Gewißheit, daß er die Verantwortung für diesen Ausgang der Tragödie auf Stoke Moran mit gutem Gewissen tragen konnte.

Mit ruhiger Miene griff Holmes nach der nächsten Nummer des »Telegraph«. »Sieh da«, sagte er vor sich hin, »das ist ja diese merkwürdige Geschichte mit der hydraulischen Presse:

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Der Daumen des Ingenieurs

Der Daumen des Ingenieurs

Von all den schwierigen Kriminalfällen, die meinem Freunde Sherlock Holmes zur Lösung übertragen wurden, erhielt er nur zwei durch meine Vermittlung. Einer davon betraf Hatherleys Daumen. Wenn sich auch das großartige Kombinationstalent meines Freundes, dem er so wunderbare Erfolge zu verdanken hatte, hier weniger dabei entfalten konnte, so fing diese Aufgabe doch so toll an und verlief so dramatisch, daß sie mir wohl der Aufzeichnung wert erscheint. Jedenfalls hat sich der tiefe Eindruck, den ich damals erhielt, noch heute, nach zwei Jahren, kaum abgeschwächt.

*

Es war an einem Sommertag. Ein Bahnbeamter, den ich bei einem Unfall behandelt hatte, verkündete mein Lob in allen Tonarten und hätte mir am liebsten jeden Patienten geschickt, dessen er nur habhaft werden konnte.

Eines Morgens, kurz vor sieben, wurde mir gemeldet, daß eben jener Bahnbeamte mit einem andern, offenbar verletzten Herrn gekommen wäre, um mich zu sprechen. Ich eilte die Treppe hinunter, da ich vermutete, es könne sich wieder um einen Eisenbahnunfall handeln, bei dem rasche Hilfe notwendig sei. Mein alter Freund kam mir vor dem Zimmer schon entgegen.

»Ich hab‘ ihn hergebracht«, flüsterte er, mit dem Daumen über die Schulter deutend, »den hätten wir sicher.«

»Was fehlt ihm denn?« fragte ich, denn das sonderbare Benehmen des Bahnbeamten verriet mir, daß es eine ganz besondere Bewandtnis mit dem Verletzten haben mußte, den er so sorglich in mein Zimmer gesperrt hatte. »Es ist ’n neuer Patient«, raunte er mir in seiner treuherzigen Art leise zu. »Ich hielt es für schlauer, ihn gleich selbst herzubringen, so konnte er mir nicht mehr entwischen. Nun kann er nicht mehr weg. Aber jetzt muß ich gehen, Doktor, die Pflicht ruft.« Und fort war er, ehe ich noch Zeit gefunden hatte, ihm für diese gutgemeinte Belebung meiner garnicht beabsichtigten Praxis zu danken.

Im Empfangszimmer fand ich einen Herrn am Tische sitzen, der einen schlichten, bräunlichen Anzug trug, seine einfache Tuchmütze hatte er auf die dort aufgelegten Bücher gelegt. Eine seiner Hände war in ein völlig mit Blut durchtränktes Taschentuch gewickelt. Er war vielleicht 25 Jahre alt; sein Gesicht war ernst und männlich, aber so bleich, daß es mir den Eindruck machte, als wenn er eben eine schwere Nervenerschütterung durchgemacht hätte, die er trotz aller Anstrengung noch nicht überwinden konnte.

»Verzeihen Sie die frühe Störung, Herr Doktor«, sagte er, »ich habe in dieser Nacht einen ernsten Unfall gehabt. Ich kam heute morgen mit dem Zuge hier an und erkundigte mich bei einem Bahnbeamten, wo ich einen Arzt finden könnte. Dieser Herr hatte die Güte, mich hierher zu begleiten. Ich übergab dem Mädchen meine Karte, doch wie ich sehe, liegt sie noch dort auf dem Tischchen.«

Ich nahm sie auf und las: Victor Hatherley, Ingenieur, Victoriastraße 16a III. Das war also Namen, Beruf und Wohnung meines Morgenbesuches. Dann setzte ich mich zu ihm. »Sie sind also die Nacht durchgefahren?« fragte ich. »Das ist gewöhnlich recht ermüdend und langweilig.«

»Oh, in diesem Falle trifft das nicht zu«, sagte er und dann lachte er, so laut und gellend, daß er sich im Stuhl zurückwarf und sich die Seiten halten mußte. Es lag etwas Krankhaftes in dieser übertriebenen Heiterkeit, das erkannte ich sofort. »Hören Sie auf«, rief ich, »nehmen Sie sich doch zusammen!« Er hatte einen regelrechten hysterischen Anfall, wie er zuweilen bei sehr starken Naturen vorkommt, die eine große Aufregung hinter sich haben.

Erst allmählich beruhigte er sich und nun wurde er dunkelrot vor Verlegenheit.

»Ich habe mich schön lächerlich gemacht vor Ihnen«, keuchte er.

»Durchaus nicht. Bitte, nehmen Sie.« Ich gab ihm etwas Kognak mit Wasser zu trinken.

»Das tut wohl«, sagte er. »Und nun haben Sie vielleicht die Güte, Herr Doktor, und sehen sich einmal meinen Daumen an oder vielmehr die Stelle, wo er gesessen hat.« Er band das Tuch ab und hielt mir die Hand entgegen, deren Anblick selbst mich erschütterte. Neben den vier ausgestreckten Fingern war statt des Daumens nur eine fürchterlich rote, schwammige Fläche. Er mußte bis zur Wurzel abgehackt oder abgerissen worden sein.

»Das ist ja eine furchtbare Wunde, Sie müssen einen bedeutenden Blutverlust gehabt haben.«

»O ja«, antwortete er. »Ich wurde sofort ohnmächtig, nachdem es geschehen war, und muß wohl längere Zeit besinnungslos gelegen haben. Ich blutete noch, als ich wieder zu mir kam, und umschnürte deshalb mein Handgelenk mit dem Taschentuch, das ich mit einem Holzpflock möglichst fest drehte.«

»Das war sehr richtig. – Die Wunde wurde jedenfalls durch ein schweres und scharfes Instrument verursacht?«

»Durch eine Art Schlächterbeil.«

»Vermutlich ein unglücklicher Zufall?«

»O nein, ganz und gar nicht.«

»Also ist es mit Absicht geschehen?«

»Sehr richtig geraten.«

»Aber das ist ja fürchterlich!«

Ich wusch die Wunde aus und legte dann einen antiseptischen Verband an. Er zuckte nicht mit der Wimper und biß sich nur zuweilen auf die Lippen.

»Wie fühlen Sie sich jetzt?« fragte ich nach beendeter Arbeit.

»Es ist mir jetzt wieder viel besser. Ich war wirklich dem Umsinken nahe, aber ich habe auch recht viel durchgemacht.«

»Vielleicht wäre es richtiger, Sie würden jetzt nicht davon sprechen. Es greift Sie sicher sehr an.«

»Jetzt durchaus nicht mehr. Ich muß die Sache so bald wie möglich der Polizei melden, aber wenn meine Wunde nicht einen sehr deutlichen Beweis lieferte, würde ich wahrscheinlich mit meiner Erzählung dort wenig Glauben finden, besonders da ich so gut wie keine sicheren Anhaltspunkte geben kann.«

»Oho!« rief ich, »falls die Geschichte etwas rätselhafter Natur ist und einer Lösung bedarf, dann würde ich Ihnen eigentlich raten, zuerst mit meinem Freund Holmes zu sprechen, ehe Sie auf die Polizei gehen.«

»Von diesem Herrn habe ich schon gehört«, sagte mein Patient, »und ich würde ihm nur zu gern meine Angelegenheit übergeben, obgleich die Polizei natürlich auch benachrichtigt werden muß. Würden Sie so freundlich sein und mir einige Empfehlungsworte mitgeben?«

»Herr Holmes wohnt hier im Hause, ich kann Sie gleich zu ihm führen«, antwortete ich.

Wir gingen nach oben. Sherlock Holmes saß noch im Schlafanzug im Wohnzimmer, las die Polizeiberichte in der »Times« und rauchte seine Morgenpfeife, die er mit allen Stummeln und Endchen der Zigarren stopfte, welche er tags zuvor geraucht hatte und sorgfältig zu sammeln und auf dem Kaminsims zu trocknen pflegte. Er empfing uns in seiner urgemütlichen Art und Weise und ließ frisch gerösteten Speck und Eier bringen, so daß wir uns bald recht behaglich fühlten. Als wir fertig waren, mußte unser neuer Freund in einem bequemen Liegestuhl Platz nehmen, Holmes unterstützte seinen Kopf mit einem Kissen und stellte ihm ein Glas Wasser und Kognak in die Nähe.

»Es scheint mir, Herr Hatherley, als wäre Ihre Angelegenheit nicht ganz gewöhnlicher Natur«, sagte er. »Bitte, machen Sie es sich vollständig bequem und betrachten Sie sich ganz wie zu Hause. Erzählen Sie uns alles so genau wie möglich, aber halten Sie bei der geringsten Ermüdung ein und gebrauchen Sie ab und zu dies kleine Stärkungsmittel.«

»Besten Dank«, sagte mein Patient. »Nachdem Doktor Watson mir den Verband angelegt hat, fühle ich mich wieder ganz gut, und Ihr Frühstück hat die Kur vollendet. Ich will mich so kurz wie möglich fassen, um Ihre Zeit nicht übermäßig in Anspruch zu nehmen.«

Holmes saß in seinem Lehnstuhl; sein gleichgültiges Gesicht mit den halb geschlossenen Augen verriet nichts von seiner scharfsinnigen Forschernatur. Ich saß ihm gegenüber, und wir hörten beide stillschweigend dem seltsamen Bericht des Fremden zu.

»Zuerst muß ich Ihnen sagen«, begann er, »daß ich alleinstehender Junggeselle bin und in einer Mietwohnung in London lebe. Von Beruf bin ich Ingenieur und habe während der sieben Jahre, die ich bei der Ihnen sicher bekannten Firma Venner & Matheson in Grennwich beschäftigt war, mir gute Kenntnisse angeeignet.

Als vor zwei Jahren meine Ausbildung beendet war, und ich durch meines Vaters Tod in den Besitz seines Vermögens kam, entschloß ich mich, selbständig zu werden, und ließ mich in der Victoriastraße nieder. Vermutlich wird jeder Mensch bei diesem ersten Schritt auf die Bahn der Unabhängigkeit ziemlich trübselige Erfahrungen machen; mir ging es jedenfalls nicht anders. In zwei Jahren wurde mein Rat im ganzen dreimal begehrt, und nur einmal wurde mir ein sehr unbedeutender Auftrag erteilt, das war alles! Meine Gesamteinnahmen beliefen sich auf 27 Pfund 10 Schillinge. Von neun Uhr morgens bis vier Uhr nachmittags lag ich täglich auf der Lauer, bis ich wirklich mutlos wurde und sich der Gedanke in mir festsetzte, daß ich es in einem selbständigen Geschäft nie zu etwas bringen würde. Gestern jedoch, als ich eben im Begriff stand, das Büro zu verlassen, meldete man mir, es wäre ein Herr draußen, der mich zu sprechen wünschte. Ich sah mir seine Karte an, sie trug den Namen Oberst Lysander Stark. Ich ließ den Oberst hereinbitten. Er war etwas über Mittelgröße und von erschreckender Magerkeit, ich entsinne mich nicht, jemals einen so hageren Menschen gesehen zu haben. Sein Gesicht bestand eigentlich nur aus Nase und Kinn, und die Haut war straff über die Backenknochen gespannt. Und doch sah er eigentlich nicht krank aus, denn seine Augen blickten völlig klar, sein Schritt war sicher und sein ganzes Benehmen sehr selbstbewußt. Seine Kleidung war ziemlich einfach, aber sauber; er mochte ungefähr vierzig Jahre zählen.

›Herr Hatherley?‹ fragte er mit deutschem Akzent. ›Sie sind mir als ein Mann empfohlen worden, der nicht nur in seinem Berufe sehr tüchtig ist, sondern auf dessen Verschwiegenheit man sich verlassen kann.‹

Ich verbeugte mich. ›Darf ich fragen, wem ich dieses günstige Zeugnis zu verdanken habe?‹

›Vielleicht ist es richtiger, ich teile es Ihnen nicht sofort mit. Aus derselben Quelle erfuhr ich auch, daß Sie ohne Angehörige und Junggeselle sind und allein in London wohnen.‹

›Das stimmt. Aber ich begreife nicht, was das mit meiner Tüchtigkeit als Fachmann zu tun hat, denn ich muß doch annehmen, daß Sie mich in einer geschäftlichen Angelegenheit zu sprechen wünschen.‹

›Ihre Vermutung ist ganz richtig, und Sie werden gleich sehen, wie sehr meine Fragen damit zusammenhängen. Ich habe allerdings einen Auftrag für Sie, doch er erfordert absolutes, unverbrüchliches Stillschweigen, und Sie werden wohl begreifen, daß solch ein Geheimnis bei einem alleinstehenden Manne besser aufgehoben ist, als bei einem, der eine große Familie hat.‹

›Wenn ich Ihnen etwas verspreche, können Sie sich völlig auf meine Verschwiegenheit verlassen.‹

Ich erinnere mich nicht, je in meinem Leben einem so scharfen, argwöhnischen Blick begegnet zu sein, wie ihn mein Besucher jetzt auf mich warf.

›Ich habe also Ihr Wort?‹ fragte er.

›Sie haben es.‹

›Sie werden über die ganze Sache jetzt und für immer tiefstes Stillschweigen bewahren?‹

›Ich versprach das schon.‹

›Gut‹, sagte er, sprang dann plötzlich auf, war wie der Blitz an der Tür und riß sie auf. Der Vorraum war leer.

›Alles in Ordnung!‹ sagte er zurückkehrend, ›die Angestellten interessieren sich oft mehr als nötig für die Angelegenheiten ihrer Chefs. Nun können wir in Ruhe weiter verhandeln.‹

Er rückte seinen Stuhl dicht an den meinen, und wieder ruhte sein Blick so forschend und lauernd auf mir wie vorhin. Ein abstoßendes Gefühl, ja fast Furcht, stieg in mir auf bei dem seltsamen Gebaren der klapperdürren Gestalt. Selbst auf die Gefahr hin, meinen Auftraggeber wieder zu verlieren, konnte ich meine Ungeduld nicht länger bezwingen.

›Dürfte ich Sie jetzt bitten, mein Herr, Ihre geschäftliche Angelegenheit zur Sprache zu bringen‹, sagte ich. ›Meine Zeit ist kostbar.‹ Der Himmel möge mir diese Lüge vergeben, aber die Worte traten mir unwillkürlich auf die Lippen.

›Würden Ihnen 50 Guineen für die Arbeit einer Nacht genügen?‹

›Selbstverständlich.‹

›Das heißt, ich sage die Arbeit einer Nacht, obgleich es wohl richtiger wäre, von einer Stunde zu sprechen. Wir möchten Sie nur bitten, Ihr Gutachten über eine hydraulische Presse abzugeben, die nicht mehr tadellos funktioniert. Wenn Sie uns zeigen wollten, wo der Fehler steckt, könnten wir die Sache leicht in Ordnung bringen. Wie denken Sie über diesen Auftrag?‹

›Im Vergleich zu der Vergütung erscheint er mir sehr unbedeutend.‹

›Das ist er auch. Nur wünschen wir, daß Sie erst abends mit dem letzten Zuge kommen.‹

›Und wohin?‹

›Nach Eyford in Berkshire. Es ist ein kleiner Ort an der Grenze von Oxfordshire, ungefähr sieben Meilen von Reading. Sie treffen mit dem Auge von Paddington um 11.15 ein.‹

›Das würde ja sehr gut passen.‹

›Ich werde Sie mit dem Wagen abholen, denn unsere Besitzung liegt abseits in ländlicher Einsamkeit. Sie ist stark sieben Meilen von der Station Eyford entfernt.‹

›Aber dann können wir ja kaum vor Mitternacht dort eintreffen und vermutlich ist mir damit jede Gelegenheit zur Rückfahrt abgeschnitten, so daß ich übernachten müßte?‹

›Darüber machen Sie sich keine Sorgen. Ein Nachtlager finden Sie auch bei uns.‹

›Das wäre doch eigentlich sehr umständlich. Könnte ich nicht zu einer besser gelegenen Zeit kommen?‹

›Wir halten gerade diese Stunde für die geeignetste. Für die kleine Unbequemlichkeit, die damit verbunden ist, erhalten Sie als junger, unbekannter Mann ja ein Honorar, wie es Ihre gesuchtesten Kollegen kaum für ihre Gutachten fordern würden. Wenn Sie jedoch mein Anerbieten noch überlegen wollen, so haben Sie ja noch reichlich Zeit.‹

Ich dachte daran, wie gut ich augenblicklich die 50 Guineen brauchen könnte, und erwiderte deshalb: ›Durchaus nicht, ich werde mich sehr gern Ihren Wünschen anpassen; nur möchte ich Sie bitten, mir ein wenig genauer auseinanderzusetzen, um was es sich handelt.‹

›Natürlich. Es ist mir durchaus begreiflich, daß die Verpflichtung, über alles zu schweigen, Ihre Neugierde erregt. Ehe wir Ihnen daher ein bindendes Versprechen abfordern, sollen Sie vollständig klar sehen. Hoffentlich ist hier kein Lauscher zu befürchten?‹

›Das ist ausgeschlossen.‹

›Dann will ich Ihnen alles erklären: Sie wissen wahrscheinlich, daß Walkererde ein sehr kostbarer Artikel ist, den man in England nur an ein bis zwei Orten findet.‹

›Ich habe davon gehört.‹

›Vor einiger Zeit kaufte ich eine sehr kleine Besitzung ungefähr zehn Meilen von Reading. Ich hatte das Glück, auf einem Feld ein Lager von Walkererde zu entdecken. Bei näherer Untersuchung stellte es sich indessen heraus, daß der Fund nur sehr unbedeutend war, daß er eigentlich nur die Verbindung zwischen zwei größeren Lagern bildete, die sich rechts und links davon ausdehnten und meinen beiden nächsten Nachbarn gehörten. Die guten Leute hatten natürlich keine blasse Ahnung, daß ihre Grundstücke so viel wie eine Goldmine enthielten, und es lag daher in meinem Interesse, ihnen das Land abzukaufen, ehe sie seinen wahren Wert kennen lernten. Leider fehlten mir die Mittel zum Kauf. Einige Freunde, denen ich meine Entdeckung mitgeteilt hatte, rieten mir, mein eigenes Lager im geheimen auszunutzen, um auf diese Weise die Mittel zur Erwerbung der Nachbarbesitzungen zu bekommen. Diesen Rat habe ich nun seit längerer Zeit befolgt und bei meinem Unternehmen eine hydraulische Presse benutzt. Wie gesagt, funktioniert diese nun nicht mehr richtig, und ich möchte Sie daher um Ihr Gutachten in dieser Angelegenheit bitten. Jetzt werden Sie sich aber denken können, wie sehr ich auf die Wahrung meines Geheimnisses bedacht sein muß. Käme es jemand zu Ohren, daß ein Ingenieur mein kleines Grundstück besichtigt, so würde das selbstverständlich die Neugierde meiner Nachbarn erregen, und falls die Sache bekannt würde, könnte ich bestimmt jede Hoffnung aufgeben, die Felder zu erwerben und meine Pläne zur Ausführung zu bringen. Aus diesem Grunde habe ich Sie um die größte Diskretion gebeten. Hoffentlich habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?‹

›Ich bin völlig orientiert‹, sagte ich. ›Nur das eine bleibt mir unverständlich, wie Sie die Walkererde vermittels einer hydraulischen Presse gewinnen wollen, man muß sie doch ausgraben wie den Kies aus einer Grube.‹

›Ach‹, sagte er leichthin, ›dabei haben wir unser eigenes Verfahren. Wir pressen Ziegel aus der Erde, um sie leichter und ohne Verdacht zu erregen, fortschaffen zu können. Doch das gehört nicht hierher. Sie sehen, Herr Hatherley, ich habe Ihnen mein ganzes Vertrauen geschenkt und verlasse mich fest auf Sie.‹ Er erhob sich bei diesen Worten.

›Ich erwarte Sie also in Eyford um 11.15.‹

›Ich werde pünktlich erscheinen.‹

›Und Sie sagen bestimmt zu keinem Menschen ein Wort.‹

Noch einmal traf mich ein letzter argwöhnischer, mißtrauischer Blick, und fort war er.

Als ich mir dann später alles in Ruhe überlegte, war ich doch, wie Sie sich wohl denken können, etwas erstaunt über diesen Auftrag, der mir so ganz unerwartet anvertraut worden war. Einerseits stimmte mich das hohe Honorar natürlich sehr froh, denn es überstieg mindestens das Zehnfache dessen, was ich dafür gefordert hätte, auch konnte dieser Auftrag leicht andere nach sich ziehen. Andererseits erschienen mir Gesicht und Benehmen meines neuen Auftraggebers wenig vertrauenerweckend, ebensowenig wie seine Erklärung die Notwendigkeit meines Kommens um Mitternacht rechtfertigte, und seine Angst, ich könnte mein Schweigen brechen, glaubhaft erscheinen ließ. Aber ich verscheuchte all die Gedanken, machte mich nach einem kräftigen Abendessen auf den Weg und fuhr von Paddington ab, ohne einem Menschen von meinem Vorhaben erzählt zu haben.

In Reading hatte ich nicht nur den Zug, sondern auch den Bahnhof zu wechseln, doch ich erreichte gerade noch den Anschluß nach Eyford und langte kurz nach elf auf der kleinen, schlecht beleuchteten Station an. Ich war der einzige Reisende, der hier ausstieg, und außer einem schläfrigen Stationsbeamten mit einer Laterne war kein Mensch weiter zu erblicken. Ich hatte jedoch kaum den Bahnhof verlassen, so fand ich auch meinen Bekannten vom Morgen, er wartete auf der andern Seite des Bahnhofs, die in tiefster Dunkelheit lag. Ohne ein Wort ergriff er meinen Arm und schob mich durch die offenstehende Tür eines Wagens. Dann zog er beide Fenster in die Höhe, ließ die Vorhänge herunter, und fort ging es, so schnell das Pferd laufen konnte.«

»Ein Pferd?« unterbrach Holmes.

»Ja, nur eins.«

»Konnten Sie die Farbe erkennen?«

»Ja, das Licht der Wagenlaterne fiel darauf, als ich einstieg. Es war ein Brauner.«

»War das Tier ermüdet oder frisch?«

»Vollständig frisch.«

»Danke sehr. Entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbrach, und fahren Sie bitte in Ihrer höchst interessanten Erzählung fort.«

»Es ging also los, und zwar fuhren wir mindestens eine Stunde. Oberst Stark hatte nur von sieben Meilen gesprochen, aber meiner Ansicht nach waren es wohl zwölf. Während der ganzen Zeit saß er schweigend neben mir, doch ich war mir bewußt, und ein rascher Seitenblick überzeugte mich davon, daß er mich scharf beobachtete. Die dortigen Landwege schienen in ziemlich traurigem Zustande zu sein, wir wurden furchtbar hin und her geschüttelt. Zuweilen versuchte ich aus dem Fenster zu sehen, doch sie bestanden aus Eisglas, und ich gewahrte nur gelegentlich den hellen Schein eines vorüberfliegenden Lichtes. Hin und wieder versuchte ich auch durch eine Bemerkung die Einförmigkeit der Fahrt zu unterbrechen, aber der Oberst anwortete nur sehr einsilbig, und bald stockte die Unterhaltung wieder. Schließlich hörte das Stoßen des Wagens auf, wir rollten auf einem knirschenden Kiesweg dahin und hielten plötzlich. Oberst Lysander sprang heraus und zog mich, als ich mich anschickte, ihm zu folgen, blitzschnell in einen offenstehenden Torweg. Der Wagen hielt so dicht vor dem Hause, daß es mir nicht gelang, auch nur einen flüchtigen Blick auf die Außenseite des Gebäudes zu werfen. Wir hatten kaum die Schwelle überschritten, so hörte ich schon die Tür schwer hinter uns ins Schloß fallen und konnte kaum noch das Geräusch der davonrollenden Räder vernehmen. Im Hause war es stockfinster, der Oberst tappte nach dem Lichtschalter und murrte halblaut vor sich hin. Plötzlich wurde am Ende des Ganges eine Tür geöffnet, und ein langer, goldener Lichtstrahl fiel auf uns. Bei dem hellen Schein gewahrte ich eine Frauengestalt unter der Türe, mit vorgebeugtem Gesicht starrte sie uns an. Ich konnte deshalb ihre schönen Züge erkennen und ebenso den kostbaren Stoff ihres dunklen Kleides. Sie richtete an meinen Gefährten einige Worte in fremder Sprache, die fast wie eine Frage klangen. Bei seiner rauhen, kurzen Antwort schrak sie heftig zusammen. Der Oberst trat rasch auf sie zu, flüsterte ihr etwas ins Ohr und schob sie wieder ins Zimmer zurück, dann kehrte er zu mir zurück. ›Würden Sie so freundlich sein, hier einige Minuten zu warten‹, sagte er, eine andere Tür öffnend. Es war ein kleines, einfach ausgestattetes Gemach mit einem runden Tisch in der Mitte, auf dem mehrere deutsche Bücher verstreut lagen. Ein Harmonium stand neben der Tür. ›Ich werde Sie keine Minute warten lassen‹, sagte er und verschwand in der Dunkelheit.

Ich betrachtete die Bücher auf dem Tisch und sah trotz meiner Unkenntnis des Deutschen, daß zwei von ihnen wissenschaftlichen und die andern poetischen Inhalts waren. Dann schritt ich zum Fenster, um einen Blick hinauszuwerfen, aber die schweren eisernen Läden waren geschlossen und fest verriegelt. Es war ein wunderbar stilles Haus. Im Gange hörte man eine alte Uhr laut ticken, sonst herrschte Todesschweigen rings umher. Ein unbestimmtes, unbehagliches Gefühl ergriff mich. Wer waren diese Deutschen, und was taten sie an diesem seltsamen, weltverlorenen Ort? Und wo befand sich dieser Ort überhaupt? Ich war mindestens zwölf Meilen von Eyford entfernt, doch das war auch alles, was ich wußte, ob es nördlich, südlich, westlich oder östlich davon war, entzog sich meiner Vermutung. Die große Stille ringsumher aber machte es mir zur Gewißheit, daß wir uns auf dem Lande befanden. Ich schritt auf und nieder, leise eine Melodie summend, um mich munter zu erhalten.

Plötzlich, ohne daß vorher ein Laut die unheimliche Stille unterbrochen hätte, öffnete sich langsam die Tür meines Zimmers. In der Öffnung stand die Frau, deren schönes, erregtes Gesicht hell von dem Licht meiner Lampe bestrahlt wurde, hinter ihr lag die Halle in tiefer Dunkelheit. Sie schien mir vor Angst halb ohnmächtig zu sein, und dieser Anblick ließ mein eigenes Herz erstarren. Warnend hielt sie einen Finger empor, um mir Schweigen anzudeuten, und flüsterte mir in gebrochenem Englisch einige Worte zu, wobei sie öfter mit scheuem Blick in die Dunkelheit hinter sich spähte.

›Ich würde gehen‹, sagte sie, sich gewaltsam zur Ruhe zwingend, ›ich würde gehen und nicht hier bleiben. Sie tun gut daran.‹

›Aber, gnädige Frau‹, erwiderte ich, ›meine Aufgabe ist noch nicht erfüllt. Ich kann mich doch unmöglich entfernen, ehe ich nicht die Maschine gesehen habe‹.

›Es verlohnt sich nicht der Mühe, hier länger zu warten‹, fuhr sie fort. ›Sie können ruhig durch die Haustür gehen, niemand wird Sie hindern‹. Und dann, als sie sah, daß ich nur lächelnd den Kopf schüttelte, verließ sie plötzlich ihre Selbstbeherrschung, und sie trat, die Hände ringend, auf mich zu. ›Um Gottes willen, fliehen Sie, fliehen Sie, bevor es zu spät ist.‹

Doch ich bin eine sehr hartnäckige Natur, und je mehr Schwierigkeiten sich mir in den Weg stellen, je größeren Reiz bekommt eine Sache für mich. Außerdem dachte ich auch an mein Honorar von 50 Guineen, an die anstrengende Reise und daran, daß ich in dieser Gegend doch ganz fremd war und nicht gewußt hätte, wo ich die Nacht verbringen sollte. Warum sollte ich mich davonstehlen, ohne meinen Auftrag ausgeführt zu haben und ohne die mir zustehende Bezahlung bekommen zu haben? Konnte die Frau nicht eine Wahnsinnige sein? Entschlossen schüttelte ich deshalb den Kopf, trotzdem sie mich stärker erschüttert hatte, als ich zugeben wollte und erklärte fest, daß ich auf jeden Fall bleiben würde. Sie wollte noch weiter in mich dringen, doch über uns wurde eine Tür zugeschlagen, und man hörte deutlich zwei Menschen die Treppe herabkommen. Sie blieb einen Augenblick lauschend stehen, rang nochmals verzweifelnd die Hände und verschwand dann plötzlich und geräuschlos, wie sie gekommen war.

Bald darauf trat Oberst Lysander Stark und ein kleiner, dicker Herr bei mir ein, dessen spärlicher Bart aus den Falten seines Doppelkinns herauswuchs, und der mir als Herr Ferguson vorgestellt wurde.

›Dies ist mein Sekretär und Geschäftsführer‹, sagte der Oberst. ›übrigens glaubte ich bestimmt, diese Tür vorhin fest geschlossen zu haben. Es ist mir leid, es hat Ihnen sicher sehr hereingezogen?‹

›Im Gegenteil‹, antwortete ich, ›ich selbst habe die Tür geöffnet, weil mir die Luft hier im Zimmer etwas dumpf vorkam.‹

Er warf mir einen unruhigen Seitenblick zu. ›Wir wollen nun gleich an das Geschäft gehen. Herr Ferguson und ich werde Ihnen jetzt die Maschine zeigen.‹

Ich griff nach meinem Hut, um ihn aufzusetzen.

›Oh, das ist nicht nötig‹, wehrte der Oberst ab, ›sie befindet sich im Hause.‹

›Wie, Sie bohren im Hause nach Walkererde?‹

›Das nicht, wir pressen sie nur im Hause. Doch das gehört nicht zur Sache. Wir möchten Sie nur bitten, die Maschine zu untersuchen und uns auseinanderzusetzen, wo der Fehler steckt.‹

Wir gingen zusammen nach oben, zuerst der Oberst, dann der korpulente Geschäftsführer und zuletzt ich. Das alte Haus war ein wahres Labyrinth von Winkeln und Gängen, engen Wendeltreppen und kleinen, niedrigen Türen, deren Schwellen im Laufe der Zeit von ganzen Generationen tief ausgetreten waren. Nirgends eine Spur von Tapeten oder Möbeln, von den Wänden war die Bekleidung teilweise abgebröckelt, während sich die Feuchtigkeit in grünlich schillernden Stellen darauf niedergeschlagen hatte. Ich bemühte mich, so unbefangen wie möglich auszusehen, aber mir klangen noch immer die unbeachtet gelassenen Warnungen der Dame im Ohr, und ich behielt meine beiden Gefährten scharf im Auge.

Ferguson schien mir ein mürrischer, schweigsamer Mann, doch aus seinen wenigen Äußerungen entnahm ich, daß er mein Landsmann sei. Oberst Lysander Stark hielt jetzt vor einer niedrigen Tür, die er aufschloß. Sie führte in einen kleinen, rechtwinkligen Raum, in welchem wir drei kaum zu gleicher Zeit Platz hatten. Eine Lichtleitung schien nicht darin, denn der Oberst entzündete eine Petroleumlampe, die vor der Tür an einem Haken gehängt hatte. Ferguson blieb draußen, und der Oberst forderte mich auf, einzutreten.

›Wir befinden uns jetzt in der hydraulischen Presse‹, sagte er, ›und es könnte für uns sehr unangenehm werden, wenn sie plötzlich jemand in Bewegung setzen wollte. Die Decke dieser kleinen Kammer wird nämlich von dem Ende des niedergehenden Kolbens gebildet, der mit ungeheurer Gewalt auf den metallenen Fußboden schlägt. Außen sind seitlich enge Wasserröhren angebracht, durch welche die Kraft aufgenommen und in der Ihnen bekannten Weise verstärkt und fortgepflanzt wird. Die Maschine funktioniert sonst tadellos, aber jetzt scheint ein Hemmnis den Gang zu erschweren und die Kraft zu vermindern. Vielleicht haben Sie die Güte, einmal nachzusehen, wie die Sache wieder in Ordnung gebracht werden könnte.‹

Ich nahm ihm die Lampe ab und untersuchte die Maschine sehr sorgfältig. Sie hatte geradezu riesige Dimensionen und mußte einen enormen Druck erzeugen. Doch als ich draußen die Hebel niederdrückte, welche sie in Gang setzten, belehrte mich sofort der eigentümlich zischelnde Ton, daß sich irgendwo ein Leck gebildet haben mußte, das ein Wiederausströmen des Wassers durch einen der Seitenzylinder verursachte. Eine genauere Prüfung bestätigte dies auch bald; einer der Kautschukreifen am oberen Ende der Triebstange war schadhaft geworden und konnte deshalb den Zylinder, in dem sie auf- und niederging, nicht mehr luftdicht abschließen. Dadurch ließ sich die Verminderung der Kraft leicht erklären; ich setzte dies meinen beiden aufmerksamen Zuhörern auseinander und belehrte sie zugleich eingehend über die Abstellung dieses Übelstandes. Darauf kehrte ich noch einmal in den Hauptraum zurück, hauptsächlich um meine eigene Neugierde zu befriedigen. Daß die Erzählung von dem Pressen der Walkererde nur ein Märchen war, hatte ich auf den ersten Blick gesehen; es wäre ja unvernünftig gewesen, für einen so unbedeutenden Zweck solche Riesenmaschine zu verwenden. Die Wände bestanden aus Holz, doch den Boden bildete eine große, eiserne Platte, die völlig mit einer Kruste von metallischen Abfällen bedeckt war. Ich kniete nieder und versuchte, ein wenig davon abzukratzen, um mich genauer von dem Bestand zu überzeugen, als ich hinter mir einen Ausruf hörte und das gespensterhafte Antlitz des Obersten sich zu mir herabbeugen sah.

›Was machen Sie denn da?‹ fragte er.

Ich fühlte einen heftigen Groll in mir aufsteigen, daß man es versucht hatte, mich so hinters Licht zu führen. ›Ich bewundere nur Ihre Walkererde‹, antwortete ich, ›wahrscheinlich wäre es mir leichter geworden, Ihnen einen Rat wegen Ihrer Maschine zu erteilen, wenn ich ihren wirklichen Zweck gekannt hätte.‹

Augenblicklich bereute ich, daß mir diese Worte entschlüpft waren. Sein Gesicht versteinerte sich förmlich, seine grauen Augen funkelten mich unheilverkündend an.

›Dann tue ich wohl besser daran, Sie in alles einzuweihen,‹ sagte er. Er machte einen Schritt rückwärts, schlug die kleine Tür zu und drehte den Schlüssel um. Ich stürzte mich darauf und rüttelte an dem Griff, aber das Schloß rührte sich nicht und gab nicht im geringsten meinen verzweifelten Anstrengungen nach. ›Hallo!‹ schrie ich gellend, ›hallo! Oberst Stark! Öffnen Sie sofort!‹

Plötzlich aber klang durch die Stille ein Ton, der mein Herz vor Schrecken stillstehen ließ. Es war das Geklirr der Hebel und das Zischen des schadhaften Zylinders. Großer Gott! Er hatte die Maschine in Gang gesetzt! Die Lampe stand noch auf dem Boden, den ich hatte untersuchen wollen. Bei ihrem Licht konnte ich deutlich erkennen, wie sich die schwarze Decke über mir senkte, langsam, ruckweise, aber keiner wußte besser als ich, mit wie furchtbarer Kraft; in der nächsten Minute mußte ich zu einem formlosen Brei zerstampft sein. Ich warf mich stöhnend gegen die Tür und zerrte mit meinen Nägeln am Schloß. Ich beschwor den Obersten, mir zu öffnen, doch mein Flehen wurde durch das erbarmungslose Rasseln draußen übertönt. Jetzt befand sich die Decke nur noch ein bis zwei Fuß über meinem Kopf, mit ausgestreckter Hand konnte ich ihre harte, rauhe Oberfläche fühlen. Und wie ein Blitz durchzuckte mich der Gedanke, daß ich mir den Todeskampf vielleicht durch meine Lage erleichtern könnte. Würde ich mich auf das Gesicht legen, so würde mir zuerst das Rückgrat zerbrochen werden. Bei dem Gedanken daran überliefen mich kalte Schauer. Legte ich mich aber auf den Rücken, würde ich dann die Kraft haben, diesen tödlichen, schwarzen Koloß auf mich herabkommen zu sehen? Schon war es mir unmöglich geworden, aufrecht zu stehen, da wurde mein Herz plötzlich von neuer Hoffnung erfüllt. Wie schon erwähnt, bestanden nur Decke und Boden aus Eisen, die Wände waren aus Holz. Als ich mich noch einmal verzweifelt nach Rettung umschaute, bemerkte ich zwischen zwei Brettern einen kleinen, gelben Lichtschimmer, der sich schnell verbreiterte, indem eines der Bretter zurückgeschoben wurde. Ich vermochte es zuerst kaum zu fassen, daß ich durch diese kleine Öffnung wirklich dem Tode entrinnen könnte. Doch schon im nächsten Augenblick war ich hindurchgekrochen und lag nun halb ohnmächtig auf der anderen Seite. Die Öffnung hatte sich wieder hinter mir geschlossen, ich hörte nur noch das Klirren der zerbrechenden Lampe und kurz darauf das Aufschlagen der beiden Metallplatten, das mir deutlich bewies, mit wie knapper Not ich dem Tode entronnen war. Als ich wieder zum Bewußtsein erwachte, lag ich auf dem mit Fliesen ausgelegten Boden eines schmalen Ganges. Eine Frau beugte sich über mich und versuchte mich durch heftiges Schütteln mit der linken Hand aus meiner Betäubung zu erwecken, in der rechten hielt sie eine Taschenlampe. Es war jene Frau, deren Warnungen ich törichterweise unbeachtet gelassen hatte.

›Kommen Sie rasch, rasch!‹ rief sie atemlos. ›Sie werden sofort Ihr Verschwinden entdecken. Oh, so beeilen Sie sich doch, es ist keine Sekunde zu verlieren.‹

Diesmal war ihr Rat nicht vergebens. Ich richtete mich taumelnd empor und eilte mit ihr den Gang entlang und dann eine Wendeltreppe hinunter. Die Treppe führte wiederum auf einen breiten Gang. Wir hatten ihn kaum erreicht, als wir schon den Ton von eiligen Schritten und den Klang von zwei Stimmen hörten; die eine sprach dicht in unserer Nähe, die andere antwortete aus der Entfernung. Die Frau stand einen Augenblick völlig fassungslos. Plötzlich stieß sie eine Tür auf; wir standen in einem Schlafzimmer, durch dessen Fenster heller Mondschein flutete.

›Es bleibt kein andrer Weg übrig. Es ist hoch, aber Sie müssen es versuchen.‹

Während sie noch sprach, tauchte am Ende des Ganges ein Licht auf, ich sah die dürre Gestalt des Obersten herbeistürzen, in der Hand hielt er ein großes Beil. Ich flog zum Fenster, öffnete es und schaute hinunter. Wie ruhig und friedlich lag der Garten im Mondlicht! Die Höhe konnte nicht mehr als dreißig Fuß betragen. Ich schwang mich auf das Fensterbrett, aber ich zögerte noch mit dem Sprung. Ich wollte wissen, was zwischen meiner Retterin und meinem Verfolger vorgehen würde. Wenn dieser Schuft sie mißhandelte, war ich unter allen Umständen entschlossen, ihr beizustehen. Im selben Augenblick schon erschien er in der Tür und wollte an ihr vorüberstürzen, sie warf sich ihm jedoch entgegen und klammerte sich fest an ihn.

›Fritz, Fritz!‹ rief sie in englischer Sprache, ›vergiß nicht, was du mir beim letzten Mal geschworen hast. Es sollte nie, nie wieder geschehen. Er wird schweigen, glaub‘ mir, er wird schweigen.‹

Er versuchte sich mit aller Kraft freizumachen. ›Bist du von Sinnen, Elise?‹ rief er. ›Willst du uns an den Galgen bringen? Laß mich los, sag‘ ich dir.‹ Er stieß sie beiseite und stürzte mit erhobenem Beil zum Fenster. Ich hatte mich hinausgeschwungen und hielt mich nur noch mit den Händen an der Fensterbank, als der Schlag niedersauste. Ein heftiger Schmerz durchzuckte mich, ich verlor den Halt und fiel in den Garten hinab.

Ich war bis auf eine heftige Erschütterung unverletzt geblieben, und sobald ich mich einigermaßen erholt hatte, stand ich auf und versuchte, so schnell als möglich hinter einem Gebüsch zu verschwinden; die Gefahr war ja noch nicht vorüber. Aber plötzlich überkam mich eine tödliche Schwäche und Mattigkeit. Meine Hand schmerzte mich furchtbar, und ich bemerkte erst jetzt, daß mein Daumen fehlte und das Blut aus der Wunde strömte. Ich versuchte, mir das Taschentuch umzubinden, dann fühlte ich nur noch ein heftiges Sausen in den Ohren und fiel ohnmächtig im Gebüsch nieder.

Wie lange ich dort gelegen habe, weiß ich nicht. Bis zu meinem Erwachen müssen wohl viele Stunden vergangen sein, denn der Mond war untergegangen, und der Morgen dämmerte herauf. Meine Kleider waren vom Tau durchnäßt, und mein Rockärmel war völlig durchtränkt von Blut. Im Augenblick standen alle Einzelheiten der Nacht vor mir, und ich sprang sofort in die Höhe, weil ich das Gefühl hatte, auch jetzt noch im Bereich meiner Verfolger zu sein. Doch als ich mich umblickte, waren zu meinem Erstaunen weder Haus noch Garten zu entdecken. Ich hatte an der Hecke einer Landstraße gelegen, und gerade vor mir dehnte sich ein längliches Gebäude aus. Beim Näherkommen erkannte ich die Bahnstation, auf der ich gestern angekommen war. Würde mich mein schmerzender Daumen nicht vom Gegenteil überzeugt haben, so hätte ich alle Vorgänge der letzten Nacht nur für einen Traum gehalten. Halb betäubt erkundigte ich mich nach dem Morgenzug und erfuhr, daß in einer knappen Stunde einer nach Reading abgehe. Ich fragte den diensttuenden Stationsbeamten, den ich schon am vorigen Abend gesehen hatte, ob er einen Obersten Stark kenne. Der Name war ihm gänzlich fremd, ebensowenig hatte er gestern einen Wagen bemerkt.

Das nächste Polizeiamt war ungefähr drei Meilen entfernt. Das war für mich zu weit, denn ich fühlte mich krank und schwach. So wollte ich mit einer Anzeige warten, bis ich in die Stadt käme. Kurz nach sechs traf ich ein und ein freundlicher Bahnbeamter führte mich sofort zu Ihnen, um meine Wunde verbinden zu lassen. Es wäre mir lieb, Herr Holmes, wenn ich die ganze Angelegenheit in Ihre Hände legen könnte.«

*

Wir saßen noch eine ganze Weile in tiefem Schweigen, als die Erzählung beendet war. Dann holte Sherlock Holmes einen der riesigen Ordner vom Bücherbrett, in welchem er alle ihm bemerkenswerten Notizen und Zeitungsausschnitte sammelte.

»Diese Anzeige wird Sie wohl interessieren«, sagte er. »Vor ungefähr einem Jahr machte sie die Runde durch alle Zeitungen. Ich will sie Ihnen vorlesen: Verschwunden seit dem 9. d. M. der 26jährige Ingenieur Jeremias Hayling. Er verließ am angegebenen Tage um zehn Uhr abends seine Wohnung, seitdem fehlt jede Spur von ihm. Er war bekleidet u.s.w. Damals ließ der Oberst vermutlich zum letztenmal seine Maschine untersuchen.«

»Großer Gott!« rief Hatherley aus, »jetzt begreife ich erst, was die Frau mit ihrer Äußerung sagen wollte!«

»Ja, es unterliegt gar keinem Zweifel, daß dieser Oberst ein sehr kaltblütiger, zu allem entschlossener Mensch war und genau so handelt wie Piraten, die auch auf dem geenterten Schiff keinen Überlebenden dulden. Doch jetzt ist keine Minute zu verlieren, und wenn es Ihr Zustand erlaubt, müssen wir sofort nach Scotland Yard und dann weiter nach Eyford.«

Ungefähr drei Stunden später saßen wir im Zug, der uns über Reading nach Eyford bringen sollte. Die Gesellschaft bestand aus Sherlock Holmes, dem Ingenieur, Polizeiinspektor Bradstreet nebst einem sehr einfach gekleideten Manne und mir. Inspektor Bradstreet hatte eine Vermessungskarte der Umgegend auf seinem Sitz ausgebreitet und bemühte sich mit seinem Zirkel einen Kreis zu ziehen, dessen Mittelpunkt Eyford bildete.

»Hier liegt Eyford«, sagte er. »Diese Linie umgibt das Dorf in einem Umkreis von ungefähr zwölf Meilen. Der betreffende Ort muß also in der Nähe dieser Linie sein. Sie sprachen doch von zwölf Meilen, Herr Hatherley?«

»Es war jedenfalls eine Fahrt von einer guten Stunde.«

»Und Sie vermuten, daß Sie während Ihrer Bewußtlosigkeit den ganzen Weg zurückgebracht worden sind?«

»Wahrscheinlich. Ich erinnere mich auch dunkel, aufgehoben und getragen worden zu sein.«

»Ich verstehe nur nicht, was die Leute zu dieser Schonung bewogen haben könnte, als sie Sie ohnmächtig im Garten fanden.«

»Vielleicht ließ sich der Schuft durch die Bitten der Frau besänftigen«, meinte ich.

»Das kommt mir unwahrscheinlich vor«, fiel der Ingenieur ein. »Ich habe niemals ein Gesicht gesehen, das so mit Haß erfüllt war wie das seine.«

»Nun, wir werden bald Klarheit hineinbringen«, sagte Bradstreet. »Ich habe also meinen Kreis gezogen und möchte jetzt nur wissen, in welcher Richtung wir das Gesindel zu suchen haben.«

»Ich glaube, ich kann meinen Finger darauf legen«, äußerte Holmes ruhig.

»Wirklich?« rief der Inspektor. »Sie haben schon eine bestimmte Meinung gefaßt? Na, wir wollen mal sehen, wer mit Ihnen übereinstimmt. Ich behaupte, es ist im Süden, da das Land dort wenig bevölkert ist.«

»Ich bin für Osten«, sagte mein Patient.

»Ich stimme für Norden«, sagte ich, »dort ist das Land flach, und Herr Hatherley meinte, der Wagen wäre niemals bergan gefahren.«

»Und ich bin für Westen«, bemerkte der einfach aussehende Mann. »Da liegen mehrere einsame kleine Dörfer.«

»Hallo!« rief der Inspektor lachend. »Unter uns herrscht ja eine nette Meinungsverschiedenheit. Wir haben den Kompaß zwischen uns geteilt. Auf wessen Seite schlagen Sie sich, Herr Holmes?«

»Sie irren sich alle.«

»Aber das ist doch unmöglich!«

»O doch. Dies ist mein Punkt.« Holmes legte den Finger in die Mitte des Kreises. »Hier werden wir sie finden.«

»Und die Fahrt von zwölf Meilen?« warf Hatherley ein.

»Sechs hin und sechs zurück. Das ist sonnenklar. Sie sagten selbst, das Pferd wäre vollständig frisch gewesen, als Sie einstiegen. Wie wäre das möglich, wenn es eine anstrengende Fahrt von zwölf Meilen hinter sich gehabt hätte?«

»Hm, der Kunstgriff ist nicht unwahrscheinlich«, gab Bradstreet nachdenklich zu. »Jetzt müssen wir uns nur noch über den Zweck dieser Bande klar werden.«

»Darüber kann kaum ein Zweifel herrschen«, sagte Holmes. »Es sind Falschmünzer im großen Maßstabe. Die Maschine brauchten sie, um die Metallmischung zu erzeugen, welche die Stelle des Silbers vertreten sollte.«

»Falschmünzer!« rief Bradstreet aus. »Ja – ich erinnere mich: Wir bekamen schon vor längerer Zeit Wind von einer solchen Sache. Diese gefährliche Gesellschaft hat zu Tausenden halbe Kronen in Umlauf gesetzt, und es gelang uns nicht, sie weiter als bis Reading zu verfolgen. Dort hatten sie ihre Spur in einer Weise verwischt, die uns zeigte, daß wir es mit sehr geriebenen, alten Füchsen zu tun hatten. Na, jetzt werden sie uns wohl nicht mehr entwischen.«

Aber der Inspektor irrte sich. Die Verbrecher sollten der Gerechtigkeit nicht überliefert werden. Als wir in den Bahnhof einfuhren, sahen wir ganz in der Nähe eine ungeheure Rauchwolke hinter einer kleinen Baumgruppe aufsteigen, wie eine riesige Straußfeder hing sie über der Landschaft.

»Brennt hier ein Haus?« fragte Bradstreet, nachdem wir den Zug verlassen hatten.

»Jawohl«, antwortete der Stationsvorsteher.

»Wann brach das Feuer aus?«

»Wahrscheinlich schon in der Nacht, doch hat es scheints jetzt weiter um sich gegriffen, die ganze Gegend ist in Rauch gehüllt.«

»Wem gehört die Besitzung?«

»Doktor Becher.«

»Bitte, sagen Sie mir«, fiel der Ingenieur ein, »ist dieser Doktor Becher ein Deutscher, sehr hager, mit langer, scharfer Nase?«

Der Stationsvorsteher lachte herzlich. »Nein, mein Herr, Doktor Becher ist ein Engländer, und Sie werden wahrscheinlich im ganzen Kirchspiel nicht leicht einen wohlbeleibteren Menschen finden. Doch lebt ein Herr bei ihm, ich glaube einer seiner Patienten, der erinnerte eher an die sieben mageren Jahre.«

Er hatte kaum ausgesprochen, so liefen wir auch schon eilig der Richtung des Feuers zu. Wir hatten einen sanft ansteigenden Hügel überschritten und sahen jetzt ein großes, weißes Gebäude vor uns liegen. Es war in ein Flammenmeer eingehüllt, aus jeder Ritze und jeder Fensteröffnung brach die rote Lohe.

Vergeblich bemühte sich die Feuerwehr, mit drei Spritzen des entfesselten Elementes Herr zu werden.

»Hier ist es!« rief Hatherley in fieberhafter Erregung. »Dort ist der Kiesweg, und dort unter dem Gebüsch hab‘ ich gelegen. Aus dem zweiten Fenster sprang ich heraus.«

»Nun«, meinte Holmes, »wenigstens sind Sie an ihnen gerächt. Die hölzernen Wände im Maschinenraum sind sicher durch das Zerbrechen Ihrer Lampe in Brand geraten, und in der Aufregung hat man das wohl nicht sofort bemerkt. Bitte, achten Sie jetzt scharf darauf, ob Sie unter der Zuschauermenge die Frau oder einen der beiden Männer entdecken können. Es ist freilich eher anzunehmen, daß zwischen ihnen und uns schon ein paar hundert Meilen liegen.« Holmes Befürchtung war nur zu sehr begründet. Die drei waren und blieben verschwunden bis heute.

Ein Bauer erzählte, er habe an jenem Morgen in aller Frühe einen Wagen gesehen mit mehreren Personen und großen Kisten beladen, der eilig in der Richtung nach Reading gefahren wäre. Das blieb auch die einzige Spur von den Flüchtlingen; selbst Holmes gelang es nicht, das Rätsel weiter zu lösen.

Die Feuerwehrleute waren nicht wenig über die seltsamen Einrichtungen im Innern des Hauses erstaunt und ihre Verwunderung erreichte den Höhepunkt, als sie auf einer Fensterbank einen abgehackten Daumen fanden. Gegen Abend war endlich das Feuer gelöscht. Das Dach war jedoch schon eingestürzt und das ganze Gebäude so vollständig zerstört, daß nur einige verbogene Zylinder und eiserne Röhren an die Maschine erinnerten, die so viel Unheil verursacht hatte. In einem kleinen, zu dem Anwesen gehörenden Haus entdeckte man große Mengen Nickel und Zinn, dagegen wurde nicht ein einziger Prägestock gefunden, das machte uns die Mitnahme der schon erwähnten großen Kisten erklärlich.

Auf welche Weise unser Ingenieur aus dem Garten fortgeschafft worden war, wäre wohl für ewig ein Geheimnis geblieben, wenn uns nicht die weiche Gartenerde eine sehr einfache Geschichte erzählt hätte. Zwei Personen mußten ihn getragen haben, die eine mit besonders kleinen Füßen, während die andere Fußspur auffallend groß war. Wahrscheinlich hatte der Engländer, weniger rücksichtslos und grausam als sein Gefährte, der Frau geholfen, den bewußtlosen Mann aus der Gefahr zu bringen.

»Ja«, sagte unser Ingenieur kläglich, als wir wieder im Zuge saßen, »das war wirklich ein einträgliches Geschäft. Meinen Daumen hab‘ ich verloren, die Aussicht auf meine Fünfzigpfundnote ist ebenfalls fort, und was hab‘ ich dafür eingetauscht?«

»Erfahrung«, sagte Holmes lachend, »und die kann Ihnen indirekt wieder von Nutzen sein. Sie brauchen die Geschichte nur mit fließenden Worten vorzutragen, um bis zum Ende Ihrer Tage den Ruf eines großartigen Gesellschafters zu genießen.«

Holmes lachte, als er diesen letzten Satz gelesen hatte. »Nun, das wird er wohl auch befolgt haben, der gute Herr Hatherley«, sagte er vor sich hin und griff nach dem nächsten Blatt. »Was wird wohl Freund Watsons nächstes Thema sein? Ah – sieh an:

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Holmes‘ erstes Abenteuer.

Holmes‘ erstes Abenteuer.

»Hier, Watson, habe ich Papiere,« sagte mein Freund Sherlock Holmes, als wir uns an einem Winterabend vorm Kaminfeuer gegenübersaßen, »deren Durchsicht sich sicher für dich lohnen wird. Es sind Akten aus dem ungewöhnlichen Falle der ›Gloria Scott‹, und hier ist das Schriftstück, das dem Friedensrichter ein tödliches Entsetzen einjagte.«

Damit zog er aus einer Schublade eine kleine vergilbte Rolle, machte die umgebundene Schnur auf und hielt mir ein halbes Blatt schiefergrauen Papiers hin, auf das ein paar Zeilen gekritzelt waren.

»Die Zeit der Jagd auf Hasen geht bald los,« lauteten die Worte. »An Wechseln, Förster Hudson sagte mir’s, hat gestern schon alles voll Wild gestanden. Er meinte, fort sei Reineke von Haus, und hier und da eile ein Iltis.«

Als ich diese rätselhaften Worte gelesen hatte und wieder aufschaute, sah ich, wie Holmes ein Lächeln über den Ausdruck meines Gesichtes unterdrückte.

»Du machst ein recht erstauntes Gesicht,« sagte er.

»Ich kann nicht einsehen, wie eine solche Botschaft Entsetzen einzuflößen vermochte. Sie kommt mir eher lächerlich als sonst etwas vor.«

»Allem Anschein nach. Dennoch steht die Tatsache fest, daß der Leser, ein schöner, kräftiger Mann in höherem Lebensalter, geradezu davon zu Boden geschmettert wurde wie von einem Keulenschlag.«

»Du machst mich neugierig,« erwiderte ich. »Warum sagtest du aber soeben, es lägen ganz besondere Gründe vor, weshalb ich mich in diesen Fall vertiefen sollte?«

»Weil es der allererste war, mit dem ich zu tun hatte.«

Schon oft hatte ich aus meinem Freunde eine Mitteilung darüber herauszulocken versucht, was ihn zuerst auf die Detektivlaufbahn geführt hätte; aber er hatte niemals Neigung zu einer Erklärung gezeigt. Jetzt rückte er sich auf seinem Lehnstuhl etwas nach vorn und rollte die Papiere auf seinen Knien auseinander. Dann zündete er seine Pfeife an und saß eine Weile schweigend da, während seine Augen die Papiere überflogen.

»Du hast mich niemals von Viktor Trevor reden hören?« fragte er mich endlich. »Er war während meiner zweijährigen Studienzeit mein einziger Freund. Sehr gesellig bin ich nie gewesen, Watson; ich ging lieber grübelnd in meinen vier Wänden meinen eigenen kleinen Ideen nach, sodaß ich wenig mit Altersgenossen verkehrte. Von Fechten und Boxen abgesehen, fand ich an ihren athletischen Künsten keinen Geschmack, auch die Art meines Studiums war anders als die ihre; so hatten wir gar keine Berührungspunkte miteinander. Trevor war der einzige, den ich näher kennen lernte, und das auch nur ganz zufällig dadurch, daß sein Bullterrier eines schönen Morgens sich in meine Knöchel verbissen hatte.

Es war ein prosaisches Freundschaftsband, aber es hielt fest. Zehn Tage mußte ich meinen Knöcheln zuliebe liegen bleiben, und Trevor kam jeden Tag und erkundigte sich nach meinem Ergehen. Zuerst dauerte unsere Unterhaltung nur eine Minute, dann blieb er immer länger, und ehe ich wieder auf war, hatten wir feste Freundschaft geschlossen. Er war ein gemütvoller, kerniger Mensch von Geist und Tatkraft und in vielen Beziehungen ganz das Gegenteil von mir; aber wir hatten erkannt, daß uns manches gemeinsam war, und der Umstand, daß er so wenig Freunde hatte wie ich, knüpfte uns fest zusammen. Schließlich lud er mich zu einem Besuch in Donnithorpe in Norfolk ein, wo sein Vater wohnte, und ich wollte einen Monat lang während der langen Sommerferien seine Gastfreundschaft genießen.

Der alte Trevor war offenbar ein ziemlich wohlhabender und angesehener Mann, Friedensrichter und Grundbesitzer in Donnithorpe, einem kleinen Orte nördlich von Langmere. Das Wohnhaus war ein altertümliches ausgedehntes Steingebäude mit eichenen Querbalken, Pfosten und Türen, zu dem eine schöne Lindenallee führte. In den nahen Moorheiden fehlte es nicht an allerlei Vogelwild; dazu kam ein guter Fischbestand, eine kleine, aber erlesene Bücherei, die, wie ich hörte, von einem früheren Besitzer übernommen war, und eine passable Küche, sodaß man es wohl einen Monat aushalten konnte.

Trevor senior war Witwer und mein Freund sein einziger Sohn. Wie man mir sagte, hatte er auch eine Tochter gehabt, aber sie war, während sie in Birmingham zu Besuch weilte, an Diphtheritis gestorben. Für den Vater interessierte ich mich in hohem Grade. Wenig gebildet, besaß er offenbar ein gut Teil urwüchsiger Kraft in physischer wie geistiger Beziehung. Beschwerte ihn aber auch Buchweisheit nicht, so war er dafür weit gereist, hatte viel von der Welt gesehen und alles, was ihm vorgekommen war, fest im Gedächtnis behalten. Körperlich war er ein untersetzter, wohlbeleibter Mann mit buschigem, ergrautem Haar, braunem, sonnenverbranntem Gesicht und blauen Augen mit durchdringendem, fast wildem Ausdruck. Dennoch galt er bei den Bauern jener Gegend als freundlich und barmherzig und war wegen der Milde seiner richterlichen Urteile bekannt.

Eines Abends, wenige Tage nach meiner Ankunft, saßen wir nach Tische bei einem Glase Portwein, als der junge Trevor anfing, von meinen scharfen Beobachtungen und Schlußfolgerungen zu erzählen, die ich damals schon in ein System gebracht hatte, wenn ich auch noch nicht ahnte, welche Rolle sie in meinem Leben spielen sollten. Offenbar dachte der Alte, sein Sohn übertreibe, als dieser ein paar unbedeutende Kunststückchen von mir zum besten gab, und sagte mit großmütigem Lachen:

»Herr Holmes, ich bin ein ausgezeichnetes Objekt, nun zeigen Sie mal, ob Sie was von mir ausklügeln können!«

»Ich fürchte, daß das etwas schwer hält,« antwortete ich. »Ich denke mir, Sie haben während der letzten zwölf Monate gefürchtet, es könnte ein Angriff auf Ihre Person gemacht werden.«

Das Lachen erstarb auf seinen Lippen, und ganz überrascht starrte er mich an.

»Ja, das ist freilich wahr,« sagte er. »Du weißt, Viktor, als wir das Wilddiebsnest ausnahmen, schworen sie uns den Tod, und auf Sir Edward Hoby ist tatsächlich ein Mordversuch gemacht worden. Seitdem bin ich immer auf der Hut gewesen, habe aber keine Ahnung, wie Sie das wissen können.«

»Sie haben einen sehr schönen Stock,« antwortete ich. »Aus der Aufschrift habe ich ersehen, daß Sie ihn erst ein Jahr besitzen. Sie haben aber seinen Knopf mit vieler Mühe ausgebohrt und mit geschmolzenem Blei ausgegossen, sodaß er nun eine furchtbare Waffe ist. Ich schloß, daß Sie solche Vorsichtsmahregeln nicht treffen würden, wenn Sie nicht eine Gefahr voraussähen.«

»Sonst noch was?« fragte er lächelnd.

»Sie sind in Ihrer Jugend ein großer Boxer gewesen.«

»Wieder richtig. Woher wußten Sie das? Hat etwa meine Nase durch einen Stoß ihre gerade Richtung verloren?«

»Nein,« sagte ich. »Die Ohren sind’s. Sie zeigen die dem richtigen Boxer eigene Abflachung und Verdickung.«

»Sonst noch was?«

»Sie haben viel gegraben – wegen Ihrer Schwielen.«

»Habe mein ganzes Geld in den Goldgruben verdient.«

»Sie sind in Neuseeland gewesen.«

»Wieder richtig.«

»Sie haben Japan besucht.«

»Ganz recht.«

»Und Sie standen in den intimsten Beziehungen zu einem, dessen Anfangsbuchstaben J. A. waren und den Sie später ganz aus Ihrem Gedächtnis zu tilgen suchten.«

Bei diesen Worten richtete sich Herr Trevor langsam auf, heftete seine großen blauen Augen mit einem eigentümlichen wilden und starren Ausdruck auf mich und fiel dann bewußtlos nieder, mit dem Gesicht zwischen die auf dem Tischtuch liegenden Nußschalen.

Du kannst dir denken, Watson, wie erschrocken wir beide, sein Sohn und ich, waren. Doch ging der Anfall bald vorüber, denn als wir seinen Kragen aufknöpften und ihm Wasser übers Gesicht spritzten, seufzte er ein- oder zweimal tief auf und richtete sich in die Höhe.

»Ach,« sagte er mit erzwungenem Lächeln, »hoffentlich hab‘ ich euch nicht erschreckt. So stark ich aussehe, das Herz ist ein wunder Punkt bei mir, und es gehört nicht viel dazu, mich umzuwerfen. Ich weiß nicht, wie Sie das fertig bringen, Herr Holmes, aber mir scheint’s, alle Detektivs im Leben wie in Erzählungen sind Waisenknaben gegen Sie. Das ist Ihr eigentlicher Beruf, glauben Sie einem Manne, der etwas von der Welt gesehen hat!«

Und dieser Hinweis zusammen mit der übertriebenen Wertschätzung meiner Geschicklichkeit, brachte mich, du kannst mir’s glauben, Watson, zu allererst auf den Gedanken, es könnte vielleicht mein Lebenslauf werden, was bis dahin eitel Spielerei gewesen war. In jenem Augenblick war ich freilich noch zu sehr über das plötzliche Unwohlsein meines Wirtes betroffen, um irgend welchen anderen Gedanken Raum zu geben.

»Ich hoffe, meine Worte haben Ihnen keinen Schmerz bereitet,« sagte ich.

»Nun, jedenfalls haben Sie einen etwas empfindlichen Punkt berührt. Wollen Sie mir sagen, wie Sie zu der Kenntnis gekommen sind und wie weit Ihre Kenntnis reicht?« Er sprach jetzt in halb scherzhaftem Tone, aber ich sah im Hintergrunde seiner Augen noch einen Ausdruck des Schreckens.

»Es ist das einfachste von der Welt,« sagte ich. »Als Sie damals Ihren Arm entblößten, um den Fisch ins Boot zu holen, sah ich an Ihrem inneren Ellenbogen ›J. A.‹ eintätowiert. Die Buchstaben waren noch lesbar, aber ihr verschwommenes Aussehen und der fleckige Zustand der Haut ringsum ließen klar erkennen, daß man versucht hatte, sie auszutilgen. Daraus ergab sich ohne weiteres der Schluß, daß Ihnen die Buchstaben einmal sehr teuer gewesen waren, und daß Sie sie dann zu vergessen wünschten.«

»Was für ein Auge Sie haben!« rief er mit einem Seufzer der Erleichterung. »Sie haben genau das Richtige getroffen. Aber wir wollen das ruhen lassen! Von allen Erinnerungen ist die an eine tote Liebe am übelsten. Kommt ins Billardzimmer und laßt uns da gemütlich eine Zigarre rauchen!«

Von dem Tage an lag in Herrn Trevors Benehmen gegen mich bei aller Herzlichkeit stets ein gewisser Argwohn. Sogar seinem Sohne konnte das nicht entgehen. »Du hast meinem Vater mitgespielt,« sagte er, »daß er immer in Zweifel sein wird, was du weißt und was du nicht weißt.« Ich glaube sicher, er wollte es nicht zeigen, aber dieses Gefühl war so mächtig in ihm, daß es in allem, was er tat, hervortrat. Schließlich war ich so sehr überzeugt, daß ihm in meiner Nähe unbehaglich zumute war, daß ich beschloß, ihm durch längeres Verweilen in seinem Hause nicht mehr lästig zu fallen. Aber gerade am Tage vor meiner Abreise sollte noch ein Ereignis eintreten, das sich später als folgenschwer erwies.

Wir saßen eben alle drei auf Gartenstühlen auf der Wiese, sonnten uns behaglich und ließen unsere Augen weithin über das Moor schweifen, als das Mädchen kam und sagte, es wäre ein Mann an der Tür und wollte Herrn Trevor sprechen.

»Wie ist sein Name?« fragte mein Wirt.

»Er wollte ihn nicht nennen.«

»Was will er denn?«

»Er sagt, Sie kennten ihn, und er wolle Sie nur einen Augenblick sprechen.«

»So lassen Sie ihn hierher kommen!«

Einen Augenblick später erschien eine kleine, ausgemergelte Gestalt mit kriechender Haltung und schleppendem Gange. Der Mensch trug eine offene Jacke mit teerbefleckten Aermeln, ein rot- und schwarzgewürfeltes Hemd, Drillichhosen und schwere, ganz abgetragene Stiefel. Sein braunes, eingefallenes Gesicht zeugte von Verschmitztheit, ein beständiges Lächeln ließ eine unregelmäßige Reihe gelber Zähne sehen, und seine runzeligen Hände waren halb geschlossen, wie es Matrosen eigen ist. Als er über den Rasen auf uns zuschlenkerte, hörte ich ein sonderbares schluckendes Geräusch in Herrn Trevors Kehle und sah ihn plötzlich aufspringen und ins Haus eilen. Im Augenblick war er wieder zurück, und als er an mir vorüberschritt, ging ein starker Branntweingeruch von ihm aus.

»Nun, mein Bester,« sagte er, »was kann ich für Sie tun?«

Der Matrose stand da und sah ihn mit halb zugekniffenen Augen und zähnefletschendem Lächeln an.

»Sie kennen mich nicht?« fragte er.

»Was? Straf‘ mich! Das ist doch Hudson!« sagte Herr Trevor im Tone der Ueberraschung.

»’s ist Hudson, ja!« sagte der Seemann. »Dreißig Jahre und länger ist’s her, seit ich Sie nicht gesehen habe. Sie haben hier Ihr Haus, und ich muß mir noch mein Salzfleisch aus’m Tranfaß fischen!«

»Still! Sie werden sehen, ich hab‘ die alten Zeiten nicht vergessen!« rief Herr Trevor, trat an den Matrosen heran und sprach leise ein paar Worte zu ihm. »Gehen Sie in die Küche!« fuhr er laut fort. »Da wird man Ihnen zu essen und zu trinken geben. Ich werde schon eine Stelle für Sie finden.«

»Danke,« sagte der Seemann und fuhr sich mit der Hand au die Stirn. »Komm‘ gerade von einer zweijährigen Achtknotenlustfahrt, dazu ziemlich knapp dran, und mal ausruhen tut mir auch gut. Da dacht‘ ich, versuchst’s mal bei Herrn Beddoes oder bei Ihnen.«

»Was?« rief Herr Trevor, »Sie wissen, wo Herr Beddoes ist?«

»Himmel auch, ich weiß, wo alle meine alten Freunde sind,« erwiderte die Teerjacke mit tückischem Lächeln und schlenkerte hinter dem Mädchen her nach der Küche.

Herr Trevor murmelte einige unverständliche Worte über Kameradschaft zur See und Goldgraben, ließ uns dann auf der Wiese allein und ging ins Haus. Als wir ihm eine Stunde später folgten, fanden wir ihn total betrunken auf dem Sofa im Speisezimmer ausgestreckt liegen. Der ganze Vorfall hatte einen äußerst widerwärtigen Eindruck auf mich gemacht, und ich war am nächsten Tage recht froh, Donnithorpe hinter mir zu lassen; denn ich fühlte, daß meine Gegenwart für meinen Freund eine Quelle der Pein sein mußte.

Dies alles trug sich während des ersten Monats der langen Sommerferien zu. Ich ging dann nach London und arbeitete dort sieben Wochen angestrengt an einigen Experimenten aus der organischen Chemie. Eines Tages aber, als der Herbst schon ziemlich vorgerückt war und die Ferien zur Neige gingen, erhielt ich eine Depesche von meinem Freunde, in der er mich dringend bat, nach Donnithorpe zurückzukommen, da er meines Rates und Beistandes bedürfe. Natürlich ließ ich alles liegen und dampfte wieder dem Norden zu.

Er erwartete mich mit dem Einspänner am Bahnhof, und ein Blick sagte mir, daß die letzten beiden Monate eine schwere Zeit für ihn gewesen waren. Er sah eingefallen und verkümmert aus und hatte nicht mehr das ihm früher eigene muntere und lustige Wesen.

»Mein Vater liegt im Sterben,« waren die ersten Worte, die er sprach.

»Unmöglich!« rief ich. »Was ist’s?«

»Schlag! Nervenschlag! Den ganzen Tag schon ringt er mit dem Tode. Wer weiß, ob wir ihn noch am Leben treffen.«

Wie du dir denken kannst, Watson, erschütterte mich die unerwartete Nachricht.

»Was war die Ursache?« fragte ich.

»Ja, das ist’s eben. Springe in den Wagen, und wir können darüber während des Fahrens sprechen! Erinnerst du dich des Menschen, der am Abend vor deiner Abreise auftauchte?«

»Vollkommen.«

»Weißt du, wen wir damals in unser Haus aufnahmen?«

»Keine Ahnung.«

»Es war der Teufel, Holmes!« rief er.

Erstaunt starrte ich ihn an.

»Ja, es war der Teufel selbst. Wir haben seitdem keine ruhige Stunde gehabt – nicht eine einzige. Mein Vater wagte von jenem Abend an nicht mehr, sein Haupt zu erheben, und jetzt ist das Leben in ihm vernichtet und sein Herz gebrochen – alles durch diesen höllischen Hudson.«

»Was gab ihm denn soviel Macht über ihn?«

»Ja, ich gäbe viel darum, wenn ich das wüßte. Der freundliche, mildherzige, gute alte Herr! Wie konnte er in die Klauen dieses Schuftes geraten sein! Aber ich bin so froh, daß du gekommen bist, Holmes! Ich habe solches Zutrauen zu deinem Urteil und deiner Verschwiegenheit und weiß, du wirst mir den besten Rat geben.«

Wir jagten auf der glatten weißen Landstraße dahin, während die weiten Moorstrecken vor uns im roten Licht der untergehenden Sonne erglühten. Ueber den Baumgipfeln zu unserer Linken konnte ich schon die hohen Schornsteine und den Fahnenmast auf dem Trevorschen Herrenhause bemerken.

»Mein Vater machte den Burschen zum Gärtner,« sagte mein Begleiter, »und dann, als er damit nicht zufrieden war, sogar zum Kellermeister. Das ganze Hauswesen schien ihm ausgeliefert zu sein, und er ging herum und tat, was ihm in den Sinn kam. Die Dienstmädchen beklagten sich über seine unsauberen Gewohnheiten, seine Trunkenheit und über seine gemeine Sprache. Papa suchte sie durch Lohnerhöhung für die Unbill zu entschädigen. Der Bursche nahm ohne weiteres meines Vaters Boot und seine beste Büchse und lud sich selbst zu kleinen Jagdpartien ein. Das tat er alles mit solchem höhnischen, tückischen, frechen Gesichtsausdruck, daß ich ihn zwanzigmal niedergeschlagen hätte, wäre er nicht ein alter Mann gewesen. Ich sage dir, Holmes, ich mußte während dieser ganzen Zeit mit Gewalt an mich halten, und jetzt frage ich mich, ob es nicht besser gewesen wäre, ich hätte mich etwas mehr gehen lassen.

»Nun, es wurde noch immer schlimmer, und dieses Vieh, der Hudson, nahm sich immer mehr heraus, bis endlich der übers Maß gefüllte Eimer überlief und ich Hudson, als er einmal meinem Vater in meiner Gegenwart eine unverschämte Antwort gab, an der Schulter packte und aus dem Zimmer schob. Gelb vor Wut und mit giftsprühenden Augen, die drohender wirkten, als es Worte vermocht hätten, schlich er sich fort. Was zwischen dem armen Papa und dem Schuft darauf stattgefunden hat, weiß ich nicht, aber Papa kam am nächsten Tage zu mir und fragte, ob ich Hudson um Entschuldigung bitten wollte. Wie du dir denken kannst, weigerte ich mich und hielt meinem Vater vor, wie er diesem Elenden erlauben könnte, ihm und allen Hausbewohnern so auf dem Kopfe herumzutanzen.

»›Ach, mein Junge.‹ sagte er, ›du hast gut reden, aber du weißt nicht, wie meine Lage ist. Doch du sollst es erfahren, komme, was da wolle! Du würdest nichts Böses von deinem armen alten Vater glauben, wie, Junge?‹

»Er war sehr bewegt und schloß sich den ganzen Tag in sein Studierzimmer ein, wo er, wie ich durch das Fenster sehen konnte, eifrig schrieb.

»An jenem Abend trat etwas ein, das uns Erlösung zu bringen schien; Hudson erklärte uns nämlich, er wolle fortgehen. Er kam nach dem Essen ins Speisezimmer und kündigte uns seine Absicht mit der schweren Zunge eines Halbtrunkenen an.

»›Hab‘ genug von Norfolk,‹ sagte er. ›Will ’nunter zu Herrn Beddoes in Hampshire. Er wird, glaub‘ ich, ebenso froh sein, wenn ich komme, wie Sie’s waren.‹

»›Sie gehen nicht im Zorn weg, Hudson, hoffe ich?‹ sagte mein Vater mit einem mehr als sanftmütigen Ausdruck, der mein Blut zum Kochen brachte.

»›Man hat mich noch nicht um Entschuldigung gebeten,‹ sagte er mürrisch und lauernd, indem er nach meinem Platze hinschielte.

»›Viktor, du wirst zugeben, du hast diesen würdigen Mann zu rauh behandelt,‹ sagte Papa, zu mir gewendet.

»›Im Gegenteil, ich denke, wir haben uns beide ganz außerordentlich langmütig gegen ihn gezeigt,‹ lautete meine Antwort.

»›So, meinen Sie? So?‹ knurrte er. ›Sehr gut, junger Mann! Wir werden ja sehen.‹ Damit schlenderte er aus dem Zimmer, und eine halbe Stunde später war er fort. Mein Vater befand sich aber fortan in einem Zustand bejammernswerter nervöser Aufregung. Jede Nacht hörte ich ihn in seinem Zimmer ruhelos auf- und abgehen, und als er endlich wieder etwas ruhiger zu werden anfing, gerade da traf ihn der Schlag.

»Und wie?« fragte ich eifrig.

»Auf ganz sonderbare Weise. Gestern abend kam an meinen Vater ein Brief, der den Stempel Fordingbridge trug. Mein Vater las ihn, schlug sich mit beiden Händen an den Kopf und fing an, kleine Kreise beschreibend, im Zimmer herumzulaufen, ganz als wenn er von Sinnen wäre. Als ich ihn endlich aufs Sofa niederzog, waren sein Mund und seine Augenlider auf einer Seite ganz verzogen, und ich sah, daß er einen Schlaganfall gehabt hatte. Dr. Fordham kam sofort herüber, und wir brachten ihn zu Bett; aber die Lähmung griff weiter um sich, und kein einziges Zeichen von wiederkehrendem Bewußtsein hat sich eingestellt; ich zweifle, daß wir ihn noch am Leben finden.«

»Das klingt ja entsetzlich, Trevor!« rief ich. »Was stand denn so Schreckliches in diesem Brief?«

»Gar nichts Schreckliches. Das ist das Unbegreifliche daran. Was da stand, war albern und nichtssagend. Ach, mein Gott, es ist, wie ich gefürchtet habe!«

Während er so sprach, bogen wir in die Torfahrt ein, gerade auf das Haus zu und sahen, daß alle Rollläden heruntergelassen waren. Als wir dann vorfuhren, zog sich das Gesicht meines Freundes vor Schmerz krampfhaft zusammen, da er einen Herrn in schwarzer Kleidung heraustreten sah.

»Wann ist es eingetreten, Herr Doktor?« fragte Trevor.

»Fast unmittelbar nach Ihrer Wegfahrt.«

»Ist er noch einmal zum Bewußtsein gekommen?«

»Nur einen Augenblick vor dem Ende.«

»Hat er mir noch etwas sagen wollen?«

»Nichts, als daß die Papiere im japanischen Zimmer im Sekretär lägen.«

Mein Freund ging mit dem Arzte ins Sterbezimmer hinauf, während ich in der Studierstube zurückblieb und mir die ganze Geschichte immer und immer wieder durch den Kopf gehen ließ. Meine Gedanken waren sehr düsterer Natur. Welches war die Vergangenheit dieses Trevor? Boxer, Seemann und Goldgräber; und wie war er in die Gewalt dieses schielenden Schuftes geraten? Und warum ließ ihn eine Anspielung auf die halb verwischte Tätowierung an seinem Arm in Ohnmacht fallen und ein Brief von Fordingbridge zu Tode erschrecken? Da fiel mir ein, daß Fordingbridge in Hampshire lag, und daß dieser Herr Beddoes, den der Matrose hatte aufsuchen und bei dem er voraussichtlich ebenfalls hatte Erpressungsversuche machen wollen, gleichfalls in Hampshire leben sollte. Dann konnte der Brief entweder von dem Matrosen kommen und die Mitteilung enthalten, er habe das schuldbergende Geheimnis, das offenbar zu vermuten war, verraten, oder das Schreiben kam von Beddoes, der einen alten Genossen warnen wollte, ein solcher Verrat werde sehr bald erfolgen. Soweit schien alles ziemlich klar. Aber wie konnte dann der Brief – nach den Worten meines Freundes – nichtssagend reichte mir ein kurzes Schreiben hin, das, wie du siehst, auf ein einzelnes Blatt graues Papier gekritzelt ist. Es lautete: »Die Zeit der Jagd auf Hasen geht bald los. An Wechseln, Förster Hudson sagte mir’s, hat gestern schon alles voll Wild gestanden. Er meinte, fort sei Reineke von Haus und hier und da eile ein Iltis.«

Ich kann wohl sagen, beim ersten Lesen dieser Zeilen sah ich ebenso verblüfft aus wie du jetzt eben. Dann las ich sie noch einmal langsam durch. Es war offenbar, wie ich mir gedacht hatte, und es mußte sich hinter dieser sonderbaren Wortfolge eine andere Bedeutung verstecken. Oder konnten etwa Ausdrücke wie ›Wechsel‹, ›Reineke‹, ›Iltis‹ einen vorweg vereinbarten Sinn haben? Dann freilich war die Bedeutung ganz willkürlich und konnte ohne den Schlüssel in keiner Weise durch Schlußfolgerungen gefunden werden. Und doch wollte ich das nicht glauben; auch wies schon das Wort ›Hudson‹ darauf hin, daß sich die Mitteilung auf den von mir vermuteten Gegenstand bezog, und daß sie eher von Beddoes als vom Matrosen herrührte. Ich versuchte es mit Rückwärtslesen, aber der Anfang ›Iltis ein eile da‹ war nicht eben ermutigend. Dann ließ ich jedes zweite Wort weg, jedoch weder ›die der auf‹ noch ›Zeit Jagd Hasen‹ versprach das Dunkel aufzuhellen. Dann aber, im nächsten Augenblick, hielt ich den Schlüssel des Rätsels in Händen; ich sah, daß das erste Wort und dann jedes dritte zusammen eine Botschaft bildeten, die wohl geeignet sein konnte, den alten Trevor zur Verzweiflung zu bringen.

Kurz und glatt war die Warnung, wie ich sie nun meinem Gegenüber vorlas:

»Die Jagd geht an. Hudson hat alles gestanden. Fort von hier, eile!«

Viktor Trevor ließ sein Gesicht in seine zitternden Hände sinken. »Ich denke, so ist’s,« sagte er. »O, das ist schlimmer als der Tod, denn es bedeutet Schande obendrein! Aber was sollen die Wörter ›Wechsel‹, ›Förster‹, ›Iltis‹?«

»Sie besagen für die Mitteilung selbst gar nichts, aber für uns ziemlich viel, wenn wir sonst kein Mittel hätten, den Absender zu entdecken. Siehst du, er hat zuerst geschrieben: ›Die – – Jagd – – geht – – an‹ und so weiter. Dann hatte er gemäß der Verabredung zwischen je zwei Wörter zwei andere zu setzen. Naturgemäß brauchte er die Wörter, die ihm zuerst in den Sinn kamen, und da sich darunter so viele auf den Jagdsport bezügliche befinden, so kann man ziemlich sicher sein, daß der Schreiber ein leidenschaftlicher Weidmann oder Schütze ist. Weißt du irgend etwas von diesem Beddoes?«

»Allerdings,« erwiderte er; »jetzt, da du mich daran erinnerst, fällt mir ein, daß mein Vater jeden Herbst eine Einladung zur Jagd von ihm erhielt.«

»Dann geht das Schreiben zweifellos von ihm aus,« sagte ich, »und wir haben nur noch das Geheimnis aufzudecken, das der Matrose drohend über den Häuptern dieser beiden begüterten und geachteten Männer zu halten scheint.«

»Weh, Holmes! Ich fürchte, es steckt Sünde und Schande dahinter,« stöhnte mein Freund. »Aber vor dir habe ich kein Geheimnis. Hier ist das Schreiben, das mein Vater verfaßt hat, als er sah, daß die von Hudson drohende Gefahr immer näher rückte. Ich fand es im japanischen Zimmer, wie er dem Arzte gesagt hatte. Nimm und lies es mir vor! Denn mir fehlt Kraft und Mut, es selbst zu tun.«

Und das sind hier eben die Papiere, Watson, die er mir einhändigte, und ich will sie dir vorlesen, wie ich sie ihm in jener Nacht in dem alten Studierzimmer vorgelesen habe. Sie tragen, wie du siehst, die Aufschrift: ›Erlebnisse auf der Fahrt der Barke »Gloria Scott«, die Falmouth am 8. Oktober 1855 verließ und am 6. November 15 Grad 20 Minuten nördlicher Breite, 25 Grad 14 Minuten westlicher Länge unterging.‹ Der Bericht ist in Form eines Briefes verfaßt und lautet:

Mein lieber, lieber Sohn! Jetzt, wo der Augenblick der Schmach herannaht und schon seinen dunkeln Schatten auf meinen Lebensabend wirft, kann ich es mit voller Wahrheit und Aufrichtigkeit niederschreiben: nicht der Schrecken des Gesetzes, nicht der Verlust meiner weithin angesehenen Stellung, auch nicht mein Sturz in den Augen aller meiner Bekannten schneidet mir so ins Herz, wie der Gedanke, daß du über mich erröten sollst – du, der mich liebt, und der, hoffe ich, selten Grund hatte, mich anders als mit Achtung anzusehen. Wenn mich aber der Schlag trifft, der mir beständig droht, dann, wünsche ich, sollst du dies lesen und von mir selbst ungeschminkten Bericht erhalten, aus dem du das Maß meiner Schuld ersehen kannst. Sollte jedoch alles gut ablaufen – was Gott der Allmächtige geben möge –, und dieses Schreiben aus irgend einem Zufall noch nicht vernichtet sein und dir in die Hände fallen, dann beschwöre ich dich bei allem, was dir heilig ist, bei dem Andenken an deine teure Mutter und an die Liebe, die uns verbunden hat, wirf es ins Feuer und tilge es ganz aus deinem Gedächtnis!

Wenn also dein Auge diese Zeilen liest, werde ich schon angeklagt und vor Gericht geschleppt sein oder, was wahrscheinlicher ist – denn du kennst meine Herzschwäche –, mit auf immer versiegelter Zunge als Beute des Todes daliegen. In beiden Fällen ist die Zeit der Vertuschung vorbei, und jedes Wort, das du hier liest, ist die nackte Wahrheit; das schwöre ich dir, so wahr ich auf Barmherzigkeit hoffe.

Mein Name, teurer Sohn, ist nicht Trevor. In meinen jungen Jahren hieß ich James Armitage, und du kannst jetzt verstehen, wie es mich vor einigen Wochen erschüttern mußte, als dein Studienfreund Worte an mich richtete, aus denen hervorzugehen schien, daß er mein Geheimnis entdeckt habe. Als Armitage trat ich bei einem Londoner Bankhause ein, und als Armitage wurde ich wegen Gesetzesbruchs vor Gericht gezogen und zur Strafverschickung verurteilt. Denke darum nicht zu schlecht von mir, mein Junge! Es war eine sogenannte Ehrenschuld, die ich zu tilgen hatte, und ich verwendete dazu Geld, das mir nicht gehörte, in der Gewißheit, es ersetzen zu können, ehe auch nur die Möglichkeit der Entdeckung bestand. Aber das schrecklichste Unglück verfolgte mich. Das Geld, auf das ich gerechnet hatte, blieb aus, und eine unvermutete Kontrolle deckte das Defizit auf. Der Fall hätte milde beurteilt werden können, aber vor dreißig Jahren war die Gesetzesauslegung und Rechtsprechung weit schärfer als heutzutage, und mein dreiundzwanzigster Geburtstag fand mich als Missetäter mit siebenunddreißig anderen Sträflingen im Zwischendeck der nach Australien segelnden Barke »Gloria Scott« angekettet.

Es war im Jahre 1855, als der Krimkrieg noch in voller Wucht tobte, und die alten Sträflingsschiffe dienten vielfach zum Truppentransport nach dem Schwarzen Meere. Die Regierung sah sich daher genötigt, zur Verschickung der Strafkolonisten kleinere oder weniger geeignete Schiffe einzustellen. Die »Gloria Scott« war als Chinafahrer zum Teehandel verwendet worden, aber sie war ein altmodisches, schwergebautes, breitbugiges Fahrzeug, das den neuen scharfbugigen Kuttern weit nachstand. Bei fünfhundert Tonnen Tragfähigkeit zählte sie außer ihren siebenunddreißig Zuchthausvögeln eine Mannschaft von sechsundzwanzig Köpfen, achtzehn Seesoldaten, einen Kapitän, drei Maate, einen Arzt, einen Kaplan und vier Wärter. So faßte sie alles in allem an hundert Seelen, als wir von Falmouth in See stachen.

Die Wände zwischen den Sträflingszellen waren nicht, wie gewöhnlich auf diesen Schiffen, von dickem Eichenholz, sondern ganz dünn und zerbrechlich. Mein nächster Nachbar nach Backbord zu war mir schon, als man uns zum Kai hinunterführte, vor allen aufgefallen. Er war ein junger Mann mit bleichem, bartlosem Gesicht, langer, dünner Nase und wahren Nußknackerkinnbacken. Sein Kopf reckte sich recht übermütig in die Luft, sein Gang war herausfordernd; übrigens ragte er schon durch seine auffallende Körpergröße über alle hervor. Ich möchte glauben, daß ihm keiner von uns bis an die Schulter reichte, und er muß nach meiner Schätzung sechseinhalb Fuß gemessen haben. Sonderbar mutete es einen an, unter so vielen Jammergesichtern eines voll Tatkraft und Entschlossenheit zu sehen. Wie ein Kaminfeuer im Schneesturm kam es mir vor. So war es für mich eine Freude, diesen Mann zum Nachbarn zu haben, und eine noch größere, als ich durch die Totenstille der Nacht auf einmal dicht an meinem Ohr eine Stimme flüstern hörte und merkte, daß es ihm geglückt war, ein Loch in die uns trennende Bretterwand zu schneiden.

»Hallo, Kollege!« sagte er. »Wie heißen Sie, und was haben Sie ausgefressen?«

Ich antwortete ihm und fragte meinerseits nach seinem Namen.

»Ich bin Jack Prendergast,« sagte er, »und bei Gott, Sie werden meinen Namen segnen lernen, ehe wir wieder voneinander gehen.«

Ich erinnerte mich augenblicklich seines Falles, denn er hatte kurz vor meiner eigenen Festnahme ungeheures Aufsehen im ganzen Lande erregt. Prendergast war von guter Herkunft und ein sehr begabter Mensch, besaß aber eine unheilbare Neigung zu gesetzlosem Tun und hatte die ersten Londoner Kaufleute durch die sinnreichsten Gaunereien um gewaltige Summen gebracht.

»Ah, ich sehe, Sie erinnern sich an meinen Fall,« sagte er stolz.

»Allerdings, sehr gut.«

»Dann erinnern Sie sich vielleicht auch an etwas Merkwürdiges dabei?«

»Was soll das sein?«

»Ich hatte ziemlich eine Viertelmillion Pfund, nicht?«

»So hieß es.«

»Aber man konnte nichts wiederfinden, was?«

»Nein.«

»Nun, wo denken Sie, daß das Geld geblieben ist?« fragte er.

»Ich habe keine Ahnung.«

»Gerade zwischen meinem Finger und Daumen,« sagte er. »Bei Gott, meines Vaters Sohn hat mehr Dukaten als Sie Haare auf dem Kopfe! Und wenn man Geld hat, mein Lieber, und es zu verwenden und auszugeben versteht, so kann man alles machen. Nun werden Sie es nicht für wahrscheinlich halten, daß ein Mann, der alles machen kann, seine Hosen in dem stinkigen Schiffsraum eines rattenwimmelnden, wurmzerfressenen, muffigen alten Kastens von Chinaküstenfahrer durchscheuern will. Nein, mein Bester, solch ein Mann sieht, wo er selbst bleibt und wo seine Genossen bleiben. Darauf können Sie Gift nehmen! Machen Sie Part mit ihm, und Sie können einen Eid auf die Bibel leisten, die er Ihnen hinlotsen wird!«

So redete er fort, und zuerst dachte ich, es wäre, nur Geschwätz; aber nach einiger Zeit, als er meiner sicher zu sein glaubte und mich mit aller Feierlichkeit hatte Verschwiegenheit geloben lassen, weihte er mich in der Tat in einen Plan ein, den man schon lange gefaßt hatte, und der auf nichts anderes ausging, als sich des Schiffes zu bemächtigen. Ein Dutzend Sträflinge hatten ihn ausgeheckt, ehe sie an Bord gebracht worden waren; Prendergast war das Haupt des Unternehmens und sein Geld die Triebkraft.

»Ich hatte einen Partner,« sagte er, »einen ausnahmsweise guten Kerl, so fest und treu wie der Schaft am Lauf. Er hat sich die Ordination verschafft, wahrhaftig; und wo denken Sie, daß er sich in diesem Augenblicke befindet? Na, er ist unser Schiffskaplan – der Kaplan, nichts weniger. Er kam an Bord in schwarzem Rock, mit seinen Papieren in Ordnung und mit Geld genug im Sack, das ganze Ding da vom Kiel bis zum Topmast zu kaufen. Die Mannschaft ist mit Leib und Seele sein. Er konnte sie haben, das Gros zu so und so viel mit Rabatt bei Barzahlung, und er kaufte sie, noch ehe sie sich heuern ließen. Er hat zwei Wärter gewonnen und Mercer, den zweiten Maat, und er hätte den Kapitän selbst gekriegt, wenn sich’s verlohnt hätte.«

»Was werden wir nun tun?« fragte ich.

»Was denken Sie?« sagte er. »Wir wollen einigen von den Soldaten die Röcke röter machen, als sie ihnen je der Schneider liefern könnte.«

»Aber sie sind bewaffnet!«

»Und das werden wir auch sein, mein Junge! Für jeder Mutter Sohn von uns gibt’s ein Paar Pistolen, und sind wir mit der Mannschaft auf unserer Seite nicht imstande, das Schiff zu nehmen, so wären wir alle reif, in eine Töchterschule geschickt zu werden. Sie reden heute abend mit Ihrem linken Flügelmann und sehen, ob man ihm trauen darf!«

Ich folgte der Weisung und fand in meinem anderen Nachbar einen jungen Mann, der sich in ähnlicher Lage befand, wie ich selbst, und wegen Fälschung verurteilt worden war. Er hieß Evans, nahm aber später ebenfalls einen anderen Namen an und ist jetzt ein reicher, gutgestellter Mann im südlichen England. Bereitwillig schloß er sich der Verschwörung an, da es keinen anderen Weg zur Rettung für uns gab, und ehe wir noch das nördliche Spanien erreicht hatten, blieben nur zwei Gefangene übrig, die nicht mit uns unter einer Decke steckten. Der eine war ein Schwächling, dem wir nichts anzuvertrauen wagten, und der andere litt an Gelbsucht und konnte für uns von keinem Nutzen sein.

Von Anfang an stand eigentlich dem Gelingen unseres Planes nichts im Wege. Die Mannschaft war ein für den Zweck besonders ausgelesenes Pack von Schuften. Der vermeintliche Kaplan kam zur Erbauung in unsere Zellen mit einer schwarzen Tasche in der Hand, die scheinbar voll von Traktätchen und geistlichen Büchern war; und das tat er so fleißig, daß wir am dritten Tage jeder am Fuß des Bettes eine Feile, eine Doppelpistole, ein Pfund Pulver und Zwanzig Patronen verstaut hatten. Zwei von den Wärtern standen, wie gesagt, in Prendergasts Sold, und der zweite Maat war sein erster Gehilfe. Der Kapitän, zwei Maate, zwei Wärter, Leutnant Martin mit seinen achtzehn Rotröcken und der Doktor – das war alles, was uns gegenüberstand. Trotz dieser sicheren Aussichten waren wir doch entschlossen, keine Vorsicht aus dem Auge zu lassen und unseren Ueberfall plötzlich zur Nachtzeit auszuführen. Es kam jedoch schneller dazu, als wir gedacht hatten.

Als nämlich eines Abends, so in der dritten Woche nach unserer Abfahrt, der Doktor herunterkam, um nach einem kranken Sträfling zu sehen, legte er zufällig seine Hand auf das Fußende des Bettes und fühlte dabei den Umriß der Doppelpistole. Hätte er den Mund gehalten, so wäre vielleicht unser ganzer schöner Plan in die Luft geflogen; aber er war ein aufgeregter kleiner Mann, und so stieß er einen Schrei der Ueberraschung aus und wurde so bleich, daß der vor ihm liegende Sträfling erkannte, was die Glocke geschlagen hatte, sich mit aller Kraftanstrengung aufrichtete und ihn packte. Bevor der Doktor noch Lärm schlagen konnte, war er geknebelt, gefesselt und unter das Bett gerollt. Er hatte die zum Deck führende Tür offen gelassen, und wir waren im Nu durch. Die beiden Schildwachen wurden niedergeschossen und ebenso der Korporal, der herbeigeeilt kam, um zu sehen, was los wäre. Zwei andere Soldaten standen am Eingange des Salons, ihre Musketen aber waren, scheint’s, nicht geladen; denn ohne zu feuern, versuchten sie, ihre Bajonette aufzustecken, und wurden von uns niedergeknallt. Dann stürzten wir zur Kajüte des Kapitäns, aber als wir dabei waren, die Tür aufzustoßen, hörten wir innen einen Knall und sahen dann den Kapitän mit dem Kopfe auf der den Tisch bedeckenden Karte des Atlantischen Ozeans liegen, während der Kaplan mit rauchender Pistole neben ihm stand. Die beiden Maate waren von der Mannschaft gefangen genommen worden, und die ganze Geschichte schien glücklich abgelaufen zu sein.

Der Salon lag zunächst der Kapitänskabine. Dort wandten wir uns hin und sanken erschöpft auf die Diwans nieder, alle zugleich durcheinander sprechend; denn das Gefühl, wieder freie Menschen zu sein, erfüllte uns mit ganz unbändiger Freude. Ringsherum liefen Wandschränke, und Wilson, der Pseudokaplan, riß einen auf und zog ein Dutzend Flaschen Sherry hervor. Wir schlugen den Flaschen die Köpfe ab, gössen uns Humpen voll und wollten eben anstoßen, als auf einmal ohne jede Warnung Musketengeknatter unser Ohr traf und der Salon sich so mit Rauch füllte, daß wir nicht über den Tisch sehen konnten. Als sich der Pulverdampf verzogen hatte, glich der Platz einem Schlachtfeld. Wilson und acht andere lagen zuckend am Boden; noch jetzt wird mir übel, wenn ich mir den Anblick ins Gedächtnis zurückrufe. Das Unvermutete und Schreckliche dieses Zwischenfalles machte einen so niederschmetternden Eindruck auf uns, daß ich glaube, wir hätten gar keine Gegenwehr geleistet, wäre nicht Prendergast gewesen. Der aber brüllte wie ein verwundeter Stier und stürzte zur Tür hinaus, wir alle, die noch unverwundet waren, hinter ihm drein. Im Nu waren wir oben, und da, auf dem Hinterdeck, standen der Leutnant und zehn von seiner Truppe. Die Oberlichtfenster über dem Salontisch hatten ein wenig offen gestanden, und durch den Spalt hatten die Soldaten gefeuert. Wir warfen uns auf sie, ehe sie wieder geladen hatten; mannhaft leisteten sie Widerstand, aber wir gewannen die Oberhand, und in fünf Minuten war alles vorüber. Prendergast war wie vom Teufel besessen und warf jeden Soldaten, der ihm in die Hände kam, tot oder lebendig über Bord. Als der Kampf vorüber war, blieb von unseren Gegnern niemand weiter übrig als die Wärter, die Maate und der Doktor.

Und ihretwegen entbrannte nun der große Streit. Viele von uns waren über alles froh, ihre Freiheit gewonnen zu haben, wollten aber keine weitere Blutschuld auf ihre Seelen laden. Wenn wir auch, um unsere Freiheit wiederzuerlangen, die Soldaten, die eben nach uns geschossen hatten, niederschlagen halfen, so konnten wir es doch nicht mit kaltem Blute mit ansehen, daß man unsere Mitmenschen mordete. Acht von uns, fünf Sträflinge und drei Matrosen, erklärten, wir würden nicht zulassen, daß man die fünf tötete. Aber Prendergast und seine Partei wichen keinen Zollbreit zurück. Sicherheit könnte es für uns nur geben, erklärte er, wenn wir reinen Tisch machten, und er würde keine Zunge übrig lassen, die einmal Zeugnis gegen uns ablegen könnte. Fast hätten wir das den Gefangenen bestimmte Los geteilt, aber schließlich sagte Prendergast, wenn wir nicht anders wollten, so sollten wir ein Boot nehmen und uns davonmachen. Wir waren über diesen Ausweg hoch erfreut, denn wir fühlten uns schon ganz krank von dem Anblick des Gemetzels und sahen, daß es noch schlimmer kommen würde. Man gab jedem von uns einen Matrosenanzug, dazu erhielten wir ein Faß Wasser, zwei Gefäße, eins voll Salzfleisch, das andere voll Biskuit, und einen Kompaß. Prendergast warf uns noch eine Karte ins Boot und rief uns zu, wir wären Seeleute, deren Fahrzeug unter 15 Grad nördlicher Breite und 25 Grad westlicher Länge Schiffbruch gelitten hätte, kappte das Tau und ließ uns fahren.

Und nun komme ich zu dem merkwürdigsten Teil meiner Geschichte, mein lieber Sohn! Die Matrosen hatten die Fockraa angebraßt; jetzt braßten sie sie wieder los, und da eine leichte Brise von Nordost ging, so entfernte sich die Barke langsam von uns. Unser Boot lag, auf- und abschwankend, auf den langen, glatten Wogen, und Evans und ich, die noch am meisten von allen Bootsinsassen verstanden, saßen im Vorderteil des Bootes, suchten unsere Lage zu bestimmen und einen Plan zu entwerfen, welche Küste wir gewinnen sollten. Es war ein hübsches Problem, denn die Kapverdischen Inseln lagen etwa 500 Seemeilen nördlich von uns und die afrikanische Küste etwa 700 Meilen im Osten. Nach Lage der Dinge, und da sich der Wind glatt nach Norden drehte, hielten wir es noch für das beste, Sierra Leone zum Ziel zu nehmen, und wandten unsere Augen nach dieser Richtung, während die Barke etwas mehr rechts von unserem Boote schon so weit entfernt war, daß wir nur noch ihr Segel- und Takelwerk erblicken konnten. Auf einmal, als wir wieder nach ihr hinschauten, sahen wir, wie eine dichte schwarze Rauchwolke von ihr emporstieg, die wie ein ungeheurer Baum über dem Horizont hing. Wenige Sekunden später drang ein donnerartiges Getöse an unsere Ohren, und als der Rauch dünner wurde, war keine Spur mehr von der ›Gloria Scott‹ wahrzunehmen. Sofort lenkten wir unseren Bug herum und ruderten mit aller Kraft nach der Stelle, wo noch ein leichter, über das Gewässer ziehender Rauchstreifen den Schauplatz der Katastrophe bezeichnete.

Es dauerte eine lange Stunde, bis wir hinkamen, und zuerst fürchteten wir, wir wären zu spät gekommen, um noch einem Hilfsbedürftigen beistehen zu können. Ein zersplittertes Boot und eine Menge Balken und Spierstücke, die mit den Wogen auf und nieder tanzten, zeigten uns, wo das Schiff seinen Untergang gefunden hatte; aber kein Lebenszeichen machte sich bemerkbar, und schon hatten wir uns mit schwerem Herzen weggewandt, da vernahmen wir einen Hilferuf und sahen nun nicht weit von uns ein Wrackstück treiben und quer darüber einen Menschen ausgestreckt. Als wir ihn an Bord gezogen hatten, erfuhren wir, daß wir einem jungen Matrosen namens Hudson das Leben gerettet hatten; er war aber so erschöpft, daß er uns erst am folgenden Morgen über die Ereignisse auf der ›Gloria Scott‹ Auskunft zu geben vermochte.

Nach seinem Bericht hatten sich, wie es scheint, Prendergast und seine Genossen nach unserer Abfahrt daran gemacht, die verbleibenden fünf Gefangenen vom Leben zum Tode zu befördern: die beiden Wärter wurden erschossen und über Bord geworfen und ebenso der dritte Maat. Dann stieg Prendergast ins Zwischendeck hinunter und schnitt mit eigener Hand dem unglücklichen Schiffsarzt die Kehle durch. Nun blieb nur noch der erste Maat übrig, ein kühner, tatkräftiger Mann. Als er den Sträfling mit blutigem Messer auf sich zukommen sah, streifte er seine Fesseln ab, die er schon vorher auf irgend eine Weise hatte lockern können, eilte die Treppe hinunter und verschwand im hinteren Schiffsraum. Ein Dutzend Sträflinge, die mit gespannten Pistolen nach ihm suchten, fanden ihn mit einer Zündholzschachtel in der Hand neben einem offenen Pulverfasse stehen. Er rief ihnen warnend zu, er würde sie sämtlich in die Luft sprengen, wenn sie ihn nicht in Frieden ließen. Einen Augenblick darauf erfolgte die Explosion, von der Hudson meinte, sie sei eher durch eine fehlgehende Kugel veranlaßt worden, als durch ein Zündholz des Maats. Mag die Ursache sein, welche sie wolle, es war das Ende der ›Gloria Scott‹ und alles Lebenden auf ihr mit Ausnahme des von uns geretteten Hudson.

Das ist, mein teurer Sohn, in wenigen Worten die schreckliche Geschichte, in die ich verwickelt war. Am nächsten Morgen nahm uns die nach Australien segelnde Brigg ›Hotspur‹ auf, deren Kapitän ohne weiteres unserer Aussage Glauben schenkte, wir hätten uns aus dem Schiffbruch eines Passagierschiffes gerettet. Das Transportschiff ›Gloria Scott‹ wurde von der Admiralität für verschollen erklärt, und von seinem wirklichen Schicksal ist niemals auch nur ein Wort durchgesickert. Nach einer vorzüglichen Fahrt setzte uns der ›Hotspur‹ in Sidney ans Land, wo wir, Evans und ich, andere Namen annahmen und uns bis zu den Goldgruben durchschlugen. Hier war es uns ein leichtes, unter den Angehörigen aller Nationen, die dort zusammenströmten, die Erinnerung an unsere frühere Existenz völlig zu verwischen.

Den Rest brauche ich kaum zu erzählen. Wir hatten Glück und kamen vorwärts. Wir machten Reisen und kehrten endlich als reiche Kolonialen nach England zurück, wo wir uns Landgüter kauften. Länger als zwanzig Jahre haben wir ein friedvolles und ersprießliches Leben geführt und hegten die Hoffnung, unsere Vergangenheit wäre auf immer vergraben. Nun kannst du dir meine Gefühle vorstellen, als ich in dem Matrosen, der uns aufsuchte, beim ersten Blick den Mann erkannte, den wir damals von den Trümmern der ›Gloria Scott‹ aufgelesen hatten. Er war irgendwie auf unsere Spur gekommen und hatte beschlossen, aus unserer Furcht Kapital zu schlagen. Du wirst nun auch begreiflich finden, warum ich mit ihm im Guten auszukommen suchte, und wirst einigermaßen die Angst verstehen, die mich jetzt erfüllt, da er mit Drohungen auf der Zunge zu seinem zweiten Opfer gegangen ist.

Unten steht noch in einer Schrift, so zitterig, daß sie kaum lesbar ist: Beddoes schreibt in Chifferschrift, daß Hudson alles verraten hat. Teurer Vater im Himmel, sei unseren Seelen gnädig!

Das war der Bericht, den ich in jener Nacht dem jungen Trevor vorgelesen habe, und ich denke, er war unter solchen Umständen dramatisch genug. Dem guten Burschen wollte das Herz darüber brechen, und er ging nach Ceylon, wo er Teepflanzer wurde. Wie ich höre, geht es ihm dort gut. Was den Matrosen und Beddoes anlangt, so hat man von keinem von beiden je wieder etwas gehört seit dem Tage, an dem der warnende Brief geschrieben wurde. Beide sind ganz und gar verschollen. Eine Anzeige bei der Polizei oder bei Gericht war nicht erfolgt. Beddoes muß also für wirklich geschehen halten, was nur eine Drohung gewesen war. Man hatte Hudson noch in der Gegend umherschleichen sehen, und nach der Annahme der Polizei war er mit Beddoes auf und davon gegangen. Ich glaube, in Wahrheit liegt es gerade umgekehrt. Für mich ist es höchst wahrscheinlich, daß Beddoes, zur Verzweiflung gebracht, an dem vermeintlichen Verräter Rache genommen hat und mit soviel Mitteln, wie er nur zusammenraffen konnte, geflohen ist. Das ist der Tatbestand dieses Falles, Doktor, und wenn er für deine Sammlung von Wert sein sollte, so stelle ich ihn dir herzlich gern zur Verfügung.

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Der goldene Klemmer.

Der goldene Klemmer.

Wenn ich die drei dicken Bände Manuskript vor mir sehe, welche die Aufzeichnungen über unsere Erlebnisse im Jahre 1894 enthalten, dann muß ich gestehen, daß es mir wirklich schwer fällt, aus dieser Fülle von Stoff gerade die Fälle herauszuziehen, die an sich am interessantesten sind, und bei denen zugleich diejenigen Fähigkeiten meines Freundes Sherlock Holmes am deutlichsten hervortreten, derentwegen er weithin bekannt ist. Beim Durchblättern sehe ich meine Notizen über die abstoßende Geschichte des roten Tierarztes und den schrecklichen Tod des Bankiers Crosby. Weiter finde ich einen Bericht über die Tragödie von Addleton; auch die berüchtigte Smith-Mortimersche Erbschaftsangelegenheit fällt in diese Periode, und ebenso die Aufspürung und Verhaftung des Straßenmörders Hurot – eine Tat, die Holmes einen eigenhändigen Dankesbrief des französischen Präsidenten und den Orden der Ehrenlegion einbrachte. Jeder dieser Fälle würde das Material zu einer spannenden Erzählung liefern, aber im großen und ganzen bin ich doch der Ueberzeugung, daß keiner so viele eigenartige und interessante Punkte bietet, wie die Episode von Yoxley Place, die nicht nur das beklagenswerte Ende des jungen William Smith in sich schließt, sondern auch die nachfolgenden Verwickelungen beleuchtet, die ein so merkwürdiges Licht auf die Ursachen dieses Verbrechens warfen.

Es war an einem rauhen, stürmischen Abend gegen Schluß des Monats November. Holmes und ich saßen schweigend in unserem Zimmer nebeneinander. Er war damit beschäftigt, mit Hilfe einer starken Lupe die Schrift auf einem alten Pergament zu entziffern, und ich hatte mich in eine medizinische Abhandlung vertieft. Draußen heulte der Wind, und der Regen klatschte gegen die Fensterscheiben. Es war ein sonderbares Gefühl, wenn man mitten in der gewaltigen Stadt, im Umkreis von zehn Meilen von menschlichen Wohnungen umgeben, die elementare Gewalt der Natur verspürte, und sich bewußt wurde, daß den furchtbaren Naturkräften ganz London weiter nichts war als ein winziger Hügel, wie ihn draußen auf dem Feld ein Maulwurf aufwirft. Ich ging ans Fenster und blickte hinunter auf die menschenleere Straße. Von der Ecke der Oxfordstraße kam eine einzelne Droschke durch den Schmutz und die Pfützen der Bakerstraße gefahren.

»Nun, Watson, heute nacht ist’s gut, daß wir nicht ’naus brauchen,« sagte Holmes, als er sein Vergrößerungsglas beiseite legte und das Pergament zusammenrollte. »Ich habe für eine Sitzung genug getan. Es ist eine anstrengende Arbeit für die Augen. Es gibt kaum was Aufregenderes als den Bericht eines Abtes aus der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts. Hallo! Was ist da los?«

Durch das Pfeifen des Windes drang der Aufschlag eines Pferdes und das knirschende Geräusch eines Wagenrades an unser Ohr, das gegen die Kante des Fußsteigs fuhr. Die Droschke, die ich gesehen hatte, machte vor unserer Türe Halt.

»Was mag er wollen?« rief ich aus, als ich einen Mann aussteigen sah.

»Was! Uns will er. Und wir, mein armer Watson, wollen unsere Ueberzieher, Halsbinden und sonstigen Schutzmittel hervorsuchen, die der menschliche Geist gegen die Unbilden der Witterung erfunden hat. Wart noch ’n Moment! Das Vehikel ist wieder weg! Noch ist Hoffnung vorhanden. Er würde es haben warten lassen, wenn er uns mit haben wollte. Lauf‘ hinunter, mein Lieber, und mach‘ die Haustür auf, denn alle ehrsamen Bürger liegen längst im Bett.«

Als das Licht unserer Hausflurlampe auf unseren mitternächtigen Besucher fiel, erkannte ich ihn gleich wieder. Es war der junge Stanley Hopkins, ein vielversprechender Beamter der Geheimpolizei, an dessen Laufbahn Holmes verschiedentlich ein lebhaftes Interesse genommen hatte.

»Ist er zu Hause?« fragte er hastig.

»Kommen Sie nur ‚rauf, mein Lieber,« rief ihm Holmes von oben zu. »Hoffentlich haben Sie keine bösen Absichten auf uns in einer solchen Nacht wie der heutigen.«

Der Detektiv stieg die Treppe hinauf, während von seinem glänzenden Wassermantel die Tropfen herunterliefen. Ich half ihm ihn ausziehen, und Holmes entfachte das Feuer in unserem Ofen zu neuer Glut.

»Nun, mein lieber Hopkins, setzen Sie sich an den Ofen und wärmen Sie sich die Beine,« sagte er dann. »Hier haben Sie eine Zigarre, und Dr. Watson hat ein Rezept, heißes Wasser mit Zitronensaft, das ist eine ausgezeichnete Arzenei in einer solchen Nacht. Es muß schon etwas Wichtiges sein, was Sie bei solchem Wetter hierher führt.«

»Das ist es tatsächlich auch, Herr Holmes. Ich habe schon einen anstrengenden Nachmittag hinter mir, das kann ich Ihnen versichern. Haben Sie in den letzten Abendzeitungen etwas von dem Fall in Yoxley gelesen?«

»Das Neueste, was ich heute gelesen habe, ist ein Bericht aus dem fünfzehnten Jahrhundert.«

»Es war nur eine kurze Notiz in den Zeitungen, und da sie auch noch vollkommen falsch war, so haben Sie nichts eingebüßt. Ich bin keine Minute zur Ruhe gekommen. Es liegt unten in Kent, sieben Meilen von Chatham und drei von der Eisenbahn. Ich bekam um drei Uhr fünfzehn ein Telegramm, war um fünf Uhr in Yoxley Place, nahm die Untersuchung vor, fuhr mit dem letzten Zug nach Charing Croß und direkt in einer Droschke zu Ihnen.«

»Was vermutlich bedeutet, daß Sie über Ihren Fall nicht ganz im klaren sind?«

»Es bedeutet, daß ich überhaupt nicht klug daraus werde. So weit ich bis jetzt sehen kann, ist es die verzwickteste Sache, die mir je vorgekommen ist; und doch schien sie anfangs so einfach, daß man glaubte, man könne gar nicht fehl gehen. Es fehlt jeder Beweggrund, Herr Holmes. Das macht mich stutzig – ich sehe keinerlei Motiv. Es ist ein Mann getötet – das läßt sich nicht wegleugnen – aber es läßt sich auch nicht ‚mal der leiseste Grund dafür finden, daß ihm jemand das geringste Leid hätte antun sollen.«

Holmes zündete sich eine Zigarre an und lehnte sich in seinem Stuhle zurück.

»Lassen Sie uns Näheres hören,« sagte er.

»Die Tatsachen sind alle wunderschön klar,« begann Hopkins. »Ich kann sie mir nur nicht erklären. Die Sache verhält sich folgendermaßen. Vor mehreren Jahren ist das Landhaus Yoxley Place von einem älteren Herrn erworben worden, welcher sich Professor Coram nannte. Es war ein kränklicher Mann, der die Hälfte seines Lebens im Bett zubrachte, und während der anderen an einem Stock umherhumpelte, oder sich von seinem Gärtner in einem Stuhl auf seinem Besitztum herumfahren ließ. Er war von seinen wenigen Nachbarn, die ihn besuchten, wohl gelitten, und stand dort unten im Ruf eines sehr gelehrten Mannes. Sein Haushalt bestand für gewöhnlich aus einer ältlichen Wirtschafterin, Fräulein Marker, und aus dem Zimmermädchen Susan Tarlton. Diese beiden Dienstboten hat er schon mitgebracht, und sie scheinen beide einen vorzüglichen Charakter zu haben. Der Professor schreibt ein wissenschaftliches Buch und hat zu diesem Zweck vor ungefähr einem Jahr einen Sekretär engagiert. Die ersten beiden, die er angenommen hatte, waren nicht nach seinem Sinn, aber der dritte, Herr William Smith, ein junger Mann, der gerade von der Universität kam, scheint den Wünschen des Professors voll und ganz entsprochen zu haben. Seine Tätigkeit bestand darin, daß er alle Vormittag nach seines Herrn Diktat schrieb, während er in der übrigen Zeit in Büchern Stellen suchte, die sich auf die Arbeit des nächsten Tages bezogen. Dieser William Smith hat sich sowohl als Schüler in Uppingham, wie als Student in Cambridge ausgezeichnet geführt. Ich habe seine Zeugnisse gesehen, er ist von Jugend auf ein anständiger, ruhiger, fleißiger Mensch gewesen und hat keine einzige schwache Seite gehabt. Und doch hat dieser junge Herr heute morgen im Arbeitszimmer des Professors unter solchen Umständen den Tod gefunden, daß man nur auf Mord schließen kann.«

An den Fenstern heulte und rüttelte der Sturm. Holmes und ich schoben unsere Stühle näher an den Kamin, während der junge Inspektor langsam und Schritt für Schritt seine Erzählung weiter spann.

»Ich glaube, in ganz England könnte man keine zweite Haushaltung finden, die so zurückgezogen und frei von äußeren Einflüssen wäre. Es vergingen ganze Wochen, ohne daß irgend ein Glied dieser Familie auch nur die Straße betrat. Der Professor war in seine Bücher vergraben und existierte für nichts sonst. Der junge Smith kannte keinen Menschen in der Nachbarschaft und lebte fast ebenso wie sein Chef. Die beiden Mädchen hatten ebenfalls nichts außer dem Hause zu tun. Mortimer, der Gärtner, der den Fahrstuhl fährt, ist ein alter Militärinvalide aus dem Krimkrieg, ein Mann von ausgezeichnetem Charakter. Er wohnt nicht im Herrschaftshaus, sondern in einem kleinen Häuschen von drei Zimmern an der anderen Seite des Grundstücks. Das sind die einzigen menschlichen Wesen weit und breit im Umkreis von Yoxley Place. Das Gartentor ist nur etwa hundert Meter von der London-Chathamer Chaussee entfernt. Es hat eine einfache Klinke, sodaß jedermann ungehindert eintreten kann.

»Nun will ich Ihnen die Aussage der Susan Tarlton mitteilen, der einzigen Person, die etwas Positives über die Sache weiß. Es war vormittags zwischen elf und zwölf Uhr. Sie hing gerade in einer Kammer die Halsschlagader war getroffen. Das Werkzeug, womit die Tat ausgeführt worden war, lag neben ihm auf dem Teppich. Es war eines jener kleinen Siegellackmesser, wie man sie auf altmodischen Schreibtischen noch zuweilen findet, mit einem Elfenbeingriff und einer steifen Klinge ohne Feder. Es war Eigentum des Professors und gehörte auf seinen eigenen Schreibtisch.

»Erst glaubte das Mädchen, der junge Smith wäre schon tot, als sie ihm aber etwas Wasser auf die Stirne goß, schlug er noch einen Moment die Augen auf und murmelte: ›Professor – sie war’s!‹ Das Mädchen ist bereit, zu beschwören, daß er genau diese Worte ausgesprochen hat. Er machte noch verzweifelte Anstrengungen, mehr zu sagen, und deutete mit der rechten Hand in die Höhe. Dann sank er tot zurück.

»Inzwischen war auch die Wirtschafterin auf dem Schauplatz der Tat erschienen, aber zu spät, um noch die letzten Worte des sterbenden jungen Mannes hören zu können. Sie ließ Susan mit der Leiche allein und eilte durch den Korridor über eine kleine Treppe in das im Erdgeschoß, etwas erhöht liegende Schlafzimmer des Professors. Er saß aufrecht im Bett und war schrecklich aufgeregt, denn er hatte genug gehört, um zu ahnen, daß etwas Furchtbares vorgefallen sein mußte. Fräulein Marker ist in der Lage, zu beeidigen, daß der Professor noch die Nachtkleider anhatte, und er konnte sich ja auch tatsächlich ohne die Hilfe des Gärtners nicht anziehen; Mortimer war aber erst auf zwölf Uhr bestellt. Der Professor selbst erklärt, den fernen Schrei gehört zu haben, aber weiter nichts zu wissen. Er kann die Worte des Sterbenden: ›Professor – sie war’s‹ nicht deuten, er hält sie vielmehr für die Aeußerung einer Geistesverwirrung vor dem Tode. Er meint auch, daß Smith keinen einzigen Feind gehabt habe, und kann keinen mutmaßlichen Grund zu dem Verbrechen angeben. Er entsandte zuerst den Gärtner Mortimer zur Ortspolizei, deren Vorsteher dann an mich depeschierte. Vor meiner Ankunft war nichts angerührt worden und sogar strenger Befehl erteilt, daß niemand die Wege, die nach dem Haus zu führten, betreten sollte. Es bot sich also eine feine Gelegenheit, Ihre Theorien, Herr Holmes, in die Praxis zu übertragen. Es fehlte wirklich keine Bedingung mehr dazu.«

»Außer Herrn Sherlock Holmes,« warf mein Freund bitter lächelnd ein. »Nun lassen Sie uns weiter hören. Was haben Sie denn also zunächst getan?«

»Ich muß Sie zuerst bitten, Herr Holmes, einen Blick auf diese flüchtige Skizze zu werfen, die Ihnen ein allgemeines Bild von der Oertlichkeit geben wird. Sie werden dadurch meiner Schilderung leichter folgen können.«

Er breitete folgenden oberflächlichen Riß aus und legte ihn auf Holmes‘ Knie. Ich stand auf und stellte mich hinter meinen Freund und sah ihm über die Schulter.

»Er ist ganz roh natürlich und enthält nur die wesentlichsten Punkte. Das übrige werden Sie später ja selbst sehen. Nun, zu allererst, wenn wir den Fall setzen, daß der Mörder von außen gekommen ist, wie ist er oder sie ins Haus gelangt? Noch zweifellos auf dem Gartenweg und durch die hintere Türe, von der ein Gang direkt ins Studierzimmer führt. Jeder andere Weg würde sehr verzwickt und daher gefährlich gewesen sein. Zur Flucht muß der Verbrecher den gleichen Weg benutzt haben, denn die beiden anderen Ausgänge waren ihm versperrt, der eine von Susan, als sie die Treppe herunter lief, und der andere mündet in das Schlafzimmer des Professors. Ich richtete daher mein Augenmerk sofort auf den Gartenpfad. Da frischer Regen gefallen war, würde er sicher irgendwelche Fußspuren aufweisen.

»Die Untersuchung zeigte mir, daß ich’s mit einem vorsichtigen und erfahrenen Verbrecher zu tun hatte. Der Kiesweg zeigte keinerlei Fußstapfen, aber ohne Zweifel war jemand auf dem Rasenstreifen längs des Pfades hingegangen und hatte auf diese Weise Fußabdrücke vermeiden wollen. Ich konnte keinen bestimmten Eindruck finden, es hatte eben nur jemand das Gras niedergetreten; soviel stand für mich fest. Es konnte nur der Mörder gewesen sein, weil weder der Gärtner noch sonst jemand an diesem Vormittag dort gewesen war, und der Regen erst während der Nacht begonnen hatte.«

»Einen Moment,« sagte Holmes. »Wohin geht dieser Pfad?«

»Auf die Landstraße.«

»Wie lang ist er?«

»Gegen hundert Meter.«

»An der Stelle, wo die Gartentüre ist, konnten Sie aber doch gewiß Fußabdrücke finden?«

»Da ist der Pfad unglücklicherweise gerade gepflastert.«

»Nun, und auf der Straße selbst?«

»Auch nicht; dort war alles vertrampelt.«

»Babab! Wo wiesen denn nun die Rasenspuren aber hin, nach dem Hause zu oder von ihm weg?«

»Was konnte man unmöglich erkennen. Es war nirgends ein richtiger Umriß da.«

»War’s ein großer Fuß oder ein kleiner?«

»Das konnte man auch nicht unterscheiden.«

Holmes stieß eine Aeußerung des Unwillens aus.

»Es hat unterdessen furchtbar geregnet und ein orkanartiger Sturm geweht,« sagte er. »Es wird sich jetzt schwerer dort etwas herausholen lassen als aus diesem Pergament hier. Aber das alles kann nun nichts helfen. Was haben Sie dann getan, Hopkins, nachdem Sie sich klar gemacht hatten, daß Sie nichts klar gemacht hatten?«

»Ich denke doch, mancherlei klar gemacht zu haben, Herr Holmes. Ich wußte, daß jemand vorsichtig von außen ins Haus getreten war. Ich untersuchte also zunächst den Hausflur. Er ist mit Kokosmatten belegt und wies keinerlei Spuren auf. Von da aus gelangte ich in das Studierzimmer selbst. Es ist ziemlich dürftig möbliert. Den Hauptteil der Einrichtung bildet ein großer Schreibtisch mit einem festen Aufsatz. Dieser besteht aus einer doppelten Reihe Schubkasten an den Seiten und einem schmalen Schränkchen in der Mitte, Dieses Schränkchen war verschlossen, die Schubfächer dagegen nicht. Dieselben scheinen stets offen zu sein und enthielten auch nichts von besonderem Wert. In dem Schränkchen dagegen lagen wichtige Papiere, aber nichts deutete darauf hin, daß es geöffnet gewesen war, und der Professor versicherte mir auch, daß nichts fehlte. Daraus geht mit Bestimmtheit hervor, daß kein Raubmord vorliegt.

»Ich komme nun auf die Leiche des jungen Mannes zu sprechen. Sie wurde in der Nähe des Schreibtisches gefunden, und zwar links davon, wie auf der Skizze zu sehen ist. Der Stich war rechts am Hals und ging von hinten nach vorn, sodaß Selbstmord so gut wie ausgeschlossen ist.«

»Wenn er nicht in das Messer gefallen ist,« bemerkte Holmes.

»Jawohl. Dieser Gedanke kam mir auch. Aber das Messer lag ein paar Fuß von der Leiche entfernt, so daß diese Annahme auch unmöglich erscheint. Dazu kommen noch die eigenen Worte des Sterbenden in Betracht. Und endlich fand ich noch dieses äußerst wichtige Beweisstück, das der Tote in der rechten Hand gehabt hatte.«

Hopkins zog ein zusammengefaltetes Papier aus der Tasche. Er wickelte es auf und brachte einen goldenen Klemmer zum Vorschein mit einer zerrissenen schwarzen Seidenschnur daran. »Der Sekretär selbst hatte sehr gute Augen,« fügte er hinzu. »Ohne Frage hat er das seinem Mörder abgenommen.«

Holmes nahm das Glas in seine Hand und prüfte es mit höchster Aufmerksamkeit und lebhaftem Interesse. Er setzte den Kneifer auf und bemühte sich zu lesen, er ging damit ans Fenster und sah auf die Straße, er betrachtete ihn im vollen Lampenlicht und setzte sich schließlich an den Tisch und schrieb einige Zeilen auf ein Blatt Papier, das er dann dem Inspektor Hopkins reichte.

»Das ist das beste, was ich Ihnen raten kann,« sagte er. »Es wird Ihnen vielleicht von einigem Nutzen sein.«

Der erstaunte Detektiv las die Notiz vor. Sie hatte folgenden Inhalt: –

»Gesucht wird eine Frauensperson, die gutes Benehmen hat und wie eine Dame gekleidet ist. Sie hat eine auffallend dicke Nase und eng aneinander liegende Augen. Die Stirn ist runzelig, der Gesichtsausdruck stechend, und die Schultern sind wahrscheinlich gekrümmt. Es sind Anzeichen vorhanden, daß sie in den letzten Paar Monaten zweimal bei einem Optiker gewesen ist. Da sie sehr starke Gläser trägt, und es nicht viele Optiker gibt, dürfte es nicht schwer sein, ihr auf die Spur zu kommen.«

Holmes lächelte über das Erstaunen von Hopkins, das sich wohl auch auf mich übertragen haben mußte.

»Meine Schlüsse sind doch so klar, wie nur was,« sagte er. »Ich kann mir kaum einen Gegenstand vorstellen, aus dem man leichter folgern kann als aus einer Brille, zumal, wenn sie von so besonderer Art ist wie diese. Daß der Klemmer einer Dame gehört, geht aus seiner feinen Beschaffenheit hervor, und natürlich auch aus den letzten Worten des sterbenden Sekretärs. Daß sie eine Frau von guten Manieren und gut gekleidet ist, schließe ich daraus, daß die Gläser eine starke goldene Einfassung haben, denn es ist kaum anzunehmen, daß jemand, der darauf Wert legt, sonst nachlässig ist. Sie werden finden, daß die Bügel für Ihre Nase zu weit auseinander stehen, woraus zu entnehmen ist, daß ihre Nase an der Basis sehr breit ist. Derartige Nasen sind gewöhnlich kurz und unfein, es gibt dabei aber Ausnahmen, sodaß ich mich nicht auf diesen Punkt in meiner Beschreibung besonders versteifen will. Ich selbst habe ein schmales Gesicht, und doch stehen die Gläser für mich zu eng. Die Augen der Dame müssen also sehr nahe aneinander stehen. Du kannst dich überzeugen, Watson, daß es konkave und außergewöhnlich starke Gläser sind. Ein Weib, das Zeit seines Lebens so kurzsichtig gewesen ist, muß sicher die körperlichen Merkmale dieses Fehlers haben, die sich auf der Stirn, den Augenlidern und in der Schulterhaltung ausprägen.«

»Jawohl,« sagte ich, »ich kann allen deinen Schlüssen wohl folgen. Ich muß aber eingestehen, daß ich nicht begreife, wie du zu dem doppelten Besuch beim Optiker kommst.«

Holmes nahm den Klemmer wieder in die Hand.

»Wie du bemerken wirst,« erläuterte er, »sind die Bügel mit dünnen Korkstreifchen gefüttert, um den Druck auf die Nase abzuschwächen. Das eine ist mißfarbig und etwas verfettet, dagegen ist das andere noch neu. Offenbar ist eins abgegangen und ersetzt worden. Soviel ich es beurteilen kann, ist auch das ältere erst vor wenigen Monaten aufgelegt worden. Sie passen genau zueinander, woraus ich entnehme, daß die Dame wieder in demselben Geschäft die Reparatur hat machen lassen.«

»Bei Gott, es ist wunderbar!« rief Hopkins in höchster Begeisterung. »Wenn ich bedenke, daß ich all‘ diese Beweise in der Hand gehabt habe, ohne eine Ahnung davon zu haben! Immerhin hatte ich die Absicht, bei den Londoner Optikern die Runde zu machen.«

»Natürlich würden Sie das getan haben. Uebrigens, haben Sie uns noch etwas über den Fall zu erzählen?«

»Weiter nichts, Herr Holmes. Ich glaube, Sie wissen jetzt so viel wie ich – wahrscheinlich noch mehr. Wir haben noch nachgeforscht, ob irgend eine fremde Person auf der Landstraße oder am Bahnhof gesehen worden ist. Wir haben jedoch von keiner gehört. Was mich bekümmert, ist eben der vollkommene Mangel irgend einer ersichtlichen Veranlassung zu dem Verbrechen. Auch keinen Schimmer eines Motivs kann man angeben.«

»In dieser Beziehung kann ich Ihnen leider auch nicht helfen. Aber ich vermute, daß wir morgen mit Ihnen hinausfahren sollen?«

»Wenn meine Bitte nicht zu unbescheiden ist, Herr Holmes. Von Charing Croß geht um sechs Uhr früh ein Zug nach Chatham, mit dem wir zwischen acht und neun in Yoxley Place eintreffen würden.«

»Dann wollen wir diesen benutzen. Ihr Fall hat gewiß einige sehr interessante Punkte, und ich werde mit Freuden einen tieferen Einblick in die Angelegenheit tun. Nun, es ist gleich eins, und wir können ein paar Stunden Schlaf vertragen. Sie können sich’s auf dem Sofa vor dem Kamin bequem machen. Ich werde Ihnen auf meinem Spirituskocher vor dem Aufbruch eine Tasse Kaffee machen.«

*

Der Sturm hatte sich am nächsten Morgen gelegt, aber es war sehr rauh, als wir unsere Tour antraten. Ueber den düsteren Morästen der Themse ging die kalte Wintersonne auf, und wir sahen wieder die langen eintönigen Kanäle, bei deren Anblick ich stets unwillkürlich an unsere Verfolgung des Andamaniers in früheren Zeiten unserer Tätigkeit denken muß. [Fußnote] Nach einer beschwerlichen Fahrt stiegen wir auf einer kleinen Station, einige Meilen von Chatham entfernt, aus. Während ein Gefährt besorgt wurde, nahmen wir im Dorfwirtshaus schnell einen Imbiß, sodaß wir bei unserer Ankunft in Yoxley Place gleich mit der Untersuchung beginnen konnten. Am Gartentor empfing uns ein Polizist.

»Nun, Wilson, ‚was Neues?«

»Nein, Herr, nichts.«

»Keine Nachricht, daß ein Fremder gesehen worden ist?«

»Nein, Herr. Drunten an der Station wissen sie bestimmt, daß gestern weder ein Fremder angekommen noch abgefahren ist.«

»Haben Sie in den Wirts- und Logierhäusern Erkundigungen einziehen lassen?«

»Jawohl. Da ist auch niemand, der in Betracht kommen könnte.«

»Gut. – Das ist der Gartenweg, von dem ich gesprochen habe, Herr Holmes. Ich gebe Ihnen mein Wort, daß gestern keine Fährte darauf war.«

»An welcher Seite war die Spur im Gras?«

»An dieser, auf diesem schmalen Rasenstreifen zwischen dem Pfad und dem Blumenbeet. Ich kann die Spuren jetzt nicht sehen, aber gestern waren sie ganz deutlich.«

»Ja, ja; da ist jemand hergegangen,« sagte Holmes, als er sich niederbückte. »Unsere Dame muß sehr vorsichtig marschiert sein, nicht wahr? weil sie sonst auf der einen Seite auf den Pfad und auf der anderen auf das nasse Beet getreten wäre und deutliche Abdrücke hinterlassen hätte.«

»Allerdings; sie hat mit kalter Ueberlegung gehandelt.«

Ich bemerkte einen vielsagenden Gesichtsausdruck bei meinem Freunde.

»Sie meinen, daß sie auf diesem Weg zurückgekommen sein muß?«

»Gewiß; es gibt keinen anderen.«

»Auf diesem schmalen Rasenstreifchen?«

»Allerdings, Herr Holmes.«

»Hm! Eine ganz besondere Leistung – wirklich, eine ganz besondere. Nun, ich glaube, hier können wir nichts mehr lernen. Wir wollen weiter gehen. Das Gartentor ist gewöhnlich offen, nicht wahr? Dann brauchte der Besuch also nur einfach hereinzuspazieren. An Mord dachte die Person nicht, sonst würde sie sich selbst mit irgend einer Waffe versehen und nicht das Messer auf dem Schreibtisch erwischt haben. Sie benutzte dann diesen Korridor, wo sie auf dem Kokosnußmattenwerk keine Fährte hinterlassen hat. Dann trat sie ins Studierzimmer. Wie lange mag sie sich hier aufgehalten haben? Dafür haben wir keinen Anhaltspunkt.«

»Nur wenige Minuten, Herr Holmes. Ich habe vergessen, Ihnen zu sagen, daß Fräulein Marker, die Haushälterin, nicht lange vorher hier gewesen war und Staub gewischt hatte – ungefähr eine Viertelstunde vorher.«

»Schön, das gibt uns eine zeitliche Grenze. Unsere Dame kommt herein, und was tut sie? Sie geht an den Schreibtisch. Wozu? Nicht um etwas aus den Schubladen zu nehmen, denn Wichtiges würde sicher eingeschlossen gewesen sein. Nein, sie wollte etwas aus dem Schränkchen holen. Haha! Was ist das für ein Kritz? Zünde ein Streichholz an, Watson. Warum haben Sie mir davon nichts gesagt, Hopkins?«

Der Kritzer, den er untersuchte, fing am Messingbeschlag rechts vom Schlüsselloch an, war gegen vier Zoll lang und hatte am Holz die Politur beschädigt.

»Ich hab’s gesehen, Herr Holmes. Aber um ein Schlüsselloch herum gibt’s stets solche Kritzer.«

»Dieser ist aber neu, ganz neu. Sehen Sie, wie das Messing an der Schnittfläche glänzt. Ein alter Riß würde ebenso aussehen wie seine Umgebung. Gucken Sie ‚mal durch meine Lupe. An der Politur ist’s auch noch wahrzunehmen, sie ist an beiden Seiten aufgelockert wie die Erde bei einer Furche. Ist Fräulein Marker da?«

Ein ältliches Weib mit niedergeschlagenem Gesicht trat ins Zimmer.

»Haben Sie dieses Schränkchen gestern abgestaubt?«

»Jawohl, Herr.«

»Haben Sie diesen Kritzer bemerkt?«

»Nein, er ist mir nicht aufgefallen.«

»Ich bin überzeugt, daß Sie ihn nicht gesehen haben, denn sonst würden Sie diese abgelösten Anstrichteilchen weggewischt haben. Wer hat den Schlüssel zu diesem Schränkchen?«

»Der Professor bewahrt ihn an der Uhrkette auf.«

»Ist es ein gewöhnlicher Schlüssel?«

»Nein, Herr; er hat eine besondere Konstruktion.«

»Gut. Sie können wieder gehen, Fräulein Marker.

Nun wissen wir schon etwas mehr. Unsere Dame kommt herein, geht an das Schränkchen auf dem Schreibtisch und öffnet es, oder versucht es zu öffnen. Während sie dabei ist, tritt der Sekretär herein. In der Eile, den Schlüssel herauszuziehen, macht sie diesen Kritzer. Er hält sie fest, und sie ergreift den ersten besten Gegenstand auf dem Tisch – zufällig dieses Messer – und schlägt nach ihm, damit er sie loslassen soll. Der Schlag stellt sich als verhängnisvoll heraus. Der Getroffene sinkt nieder, und sie flieht, sei es nun nach Erreichung ihres Zweckes oder ohne dies. Ist das Mädchen hier? Susan, könnte jemand, nachdem Sie den Schrei gehört hatten, noch durch jenen Ausgang entkommen sein?«

»Nein, Herr; das ist unmöglich. Ehe ich die Treppe hinunterlief, hätte ich jemanden im Gange sehen müssen. Außerdem ist die Tür nicht aufgemacht worden, denn ich müßte es sonst gehört haben.«

»Also kommt dieser Ausgang nicht in Betracht. Dann muß die Dame zweifellos rückwärts denselben Weg eingeschlagen haben wie herwärts. Der andere Gang führt, wenn ich recht verstehe, nur nach des Professors Schlafzimmer. Er hat keinen Ausgang ins Freie?«

»Nein, Herr.«

»Wir wollen ihn jetzt entlang gehen und die Bekanntschaft des Professors machen. Holla, Hopkins! Das ist sehr wichtig, äußerst wichtig, wahrhaftig. Dieser Korridor ist mit ebensolchem Mattenwerk belegt.«

»Was meinen Sie damit?«

»Finden Sie den Zusammenhang nicht heraus? Nun, nun, ich will nicht gerade darauf bestehen. Ich kann mich irren. Aber es regt mich an, erscheint mir als eine gewisse Andeutung. Kommen Sie und stellen Sie mich vor.«

Wir schritten den Gang entlang; er war ebenso lang wie der nach dem Garten. Am Ende waren einige Stufen, und dann kam eine Türe. Unser Führer klopfte an und führte uns in das Zimmer des Professors.

Es war ein sehr großer Raum. An den Wänden standen mächtige Büchergestelle mit unzähligen Bänden, auch in den Ecken und auf dem Boden lagen noch Haufen von Büchern, für die in den Schränken und auf den Brettern kein Platz mehr war. In der Mitte des Zimmers stand das Bett, und darin saß, auf Kissen gestützt, der Eigentümer des Hauses. Ich habe selten einen charakteristischer aussehenden Mann kennen gelernt. Er hatte ein langes, hageres Gesicht mit einer Adlernase, und aus tiefen Höhlen unter überhängenden, buschigen Brauen blickten uns ein Paar durchdringende Augen entgegen. Haar und Bart waren weiß, nur um den Mund herum hatten die Barthaare merkwürdige gelbe Flecken. Zwischen dem wirren weißen Barthaar glühte eine Zigarette, und das ganze Zimmer war von Tabaksrauch erfüllt. Als er Holmes die Hand reichte, bemerkte ich, daß auch sie gelbe Nikotinflecken hatte.

»Raucher, Herr Holmes?« fragte er in gewähltem Englisch mit einem ganz unmerklichen Akzent. »Bitte, nehmen Sie eine Zigarette. Und Sie, mein Herr? Ich kann sie empfehlen, ich habe sie bei Jonides in Alexandria besonders anfertigen lassen. Er schickt mir jedesmal ein Tausend, und ich muß leider gestehen, daß ich alle vierzehn Tage eine neue Sendung bestellen muß. Das ist bös, sehr bös, aber ein alter Mann hat nur noch wenig Vergnügungen. Der Tabak und meine Arbeit – das ist alles, was ich noch habe.«

Holmes zündete sich eine Zigarette an und warf unmerklich verstohlene Blicke überallhin.

»Tabak und meine Arbeit, aber jetzt nur noch Tabak,« rief der alte Mann aus. »Ach, was für eine fatale Unterbrechung! Wer hätte an eine solche Katastrophe gedacht? Ein so ehrenwerter junger Mann! Ich versichere Ihnen, nachdem er sich ein paar Monate eingearbeitet hatte, war er ein wunderbarer Assistent. Was halten Sie von dieser Sache, Herr Holmes?«

»Ich bin noch zu keinem Urteile gekommen.«

»Sie würden mich wirklich sehr zu Danke verpflichten, wenn Sie in diese für uns so dunkle Angelegenheit Licht bringen könnten. Auf einen armen Bücherwurm wie ich, der obendrein noch krank ist, wirkt ein solcher Schlag geradezu lähmend. Ich habe vollständig meine Gedanken verloren. Aber Sie sind ein Mann der Tat – ein Mann, der mitten im Leben steht. Ihnen kommen solche Fälle fast alle Tage vor. Sie können Ihr seelisches Gleichgewicht in allen Lebenslagen bewahren. Wir sind wirklich sehr froh, daß wir Sie auf unserer Seite haben.«

Holmes schritt, während der Professor sprach, an der einen Seite des Zimmers beständig auf und ab. Ich bemerkte, daß er außerordentlich rasch rauchte. Offenbar teilte er unseres Wirtes Vorliebe für frische alexandrinische Zigaretten.

»Ja, ja, es ist ein schwerer Schlag, Herr Holmes. Es ist mein größtes Werk – jener Stoß Manuskripte dort drüben auf dem Seitentisch. Es ist eine Analyse der in den koptischen Klöstern Syriens und Aegyptens gefundenen Urkunden, die bis in die frühesten Perioden vergangener Religionen zurückreichen und von einschneidendster Bedeutung für deren Auffassung sind. Bei meiner schwachen Gesundheit weiß ich nun nicht, ob ich’s vollenden werde, nachdem ich meinen Assistenten verloren habe. Alle Wetter, Herr Holmes; ei, Sie rauchen ja noch schneller als ich.«

Holmes lächelte.

»Ich bin Kenner,« antwortete er und nahm sich eine neue Zigarette aus dem Kistchen – seine vierte – und zündete sie gleich wieder an dem Stummel der eben zu Ende gerauchten an. »Ich will Sie nicht mit vielem Hin- und Herfragen belästigen, Herr Professor, weil Sie ja, als das Verbrechen geschah, im Bett lagen und nichts davon wissen können. Ich möchte Sie nur um eine einzige Auskunft bitten. Was glauben Sie, daß der arme Kerl mit seinen letzten Worten: ›Professor – sie war’s‹ gemeint hat?«

Der Professor schüttelte sein Haupt.

»Susan ist ein Landmädchen,« erwiderte er, »und Sie kennen ja die Beschränktheit dieser Leute. Ich stelle mir vor, daß der arme Mensch in seinem Wahn ein paar unzusammenhängende Worte gemurmelt hat, die sie nun zu diesem sinnlosen Ausruf verknüpft hat.«

»Ich verstehe. Sie haben selbst keine Erklärung für die Tat?«

»Möglicherweise ist’s ein unglücklicher Zufall; möglicherweise – ich sage’s nur unter uns – ein Selbstmord. Junge Leute haben oft verborgenen Kummer – irgendwelchen Liebesschmerz vielleicht, den wir nie bemerkt haben. Immerhin ist es eine noch wahrscheinlichere Annahme als Mord.«

»Aber der Klemmer?«

»Ach so! Ich bin nur ein Gelehrter – ein Träumer. Ich habe kein Verständnis für die Dinge des praktischen Lebens. Aber doch ist es bekannt, daß es gar sonderbare Liebespfänder gibt, mein Freund. Auf alle Fälle nehmen Sie sich noch eine Zigarette. Ich freue mich, daß Sie sie so zu schätzen wissen. Ein Fächer, ein Handschuh, ein Kneifer – wer weiß, was für Sachen einem Menschen, der sich das Leben nehmen will, als Andenken und teuere Schätze erscheinen? Dieser Herr spricht von Fußtapfen auf dem Rasen; aber, man kann sich dabei leicht irren. Das Messer kann der Unglückliche wahrend des Fallens weit fortgeschleudert haben. Ich spreche vielleicht wie ein Kind, aber mir scheint’s, als ob Smith seinem Dasein mit eigener Hand ein Ziel gesetzt habe.«

Holmes machte den Eindruck, als ob ihm diese Theorie einleuchtete, er setzte seinen Spaziergang im Zimmer noch eine Zeitlang fort und rauchte, in Gedanken versunken, immer noch eine Zigarette nach der anderen.

»Sagen Sie mir, Herr Professor,« fragte er endlich, »was ist in jenem Schränkchen auf dem Schreibtisch?«

»Durchaus nichts, was einem Dieb begehrenswert erscheinen könnte. Privatpapiere, Briefe von meiner Frau, Diplome von Universitäten, die mir Ehrungen haben zuteil werden lassen. Hier haben Sie den Schlüssel, Sie können sich selbst überzeugen.«

Holmes nahm den Schlüssel und betrachtete ihn einen Moment; dann gab er ihn wieder zurück.

»Nein; ich glaube kaum, daß es einen Zweck haben würde,« sagte er. »Ich will lieber ruhig hinunter in Ihren Garten gehen und mir die ganze Sache richtig überlegen. Die Theorie vom Selbstmord, die Sie anführten, hat manches für sich. Wir müssen Sie um Entschuldigung bitten, daß wir Sie so überfallen haben, Herr Coram, ich verspreche Ihnen nun, daß wir Sie vor dem Essen nicht wieder stören werden. Um zwei Uhr werden wir noch einmal wiederkommen und Ihnen Bericht erstatten, ob wir in der Zwischenzeit irgendwie weiter gekommen sind.«

Holmes war auffallend zerstreut, und wir spazierten eine Weile schweigend auf dem Gartenweg auf und ab.

»Hast du eine Spur?« fragte ich ihn endlich.

»Das hängt von den Zigaretten ab, die ich geraucht habe,« erwiderte er. »Es ist möglich, daß ich stark auf dem Holzweg bin. Die Zigaretten werden’s zeigen.«

»Mein lieber Holmes,« rief ich aus, »wie in aller Welt –«

»Nun, du wirst’s ja selbst noch sehen. Ist’s nichts, so schadet’s auch nichts. Selbstverständlich bleibt uns immer noch übrig, auf den Optiker zurückzukommen, aber, wenn ich’s kann, wähle ich den kürzesten Weg. Ah, hier ist das gute Fräulein Marker! Wir wollen uns ein paar Minuten mit ihr unterhalten.«

Wie ich an einer anderen Stelle schon hervorgehoben habe, konnte Holmes, wenn er wollte, gegen Frauen sehr liebenswürdig sein und sich sehr rasch ihr Vertrauen erwerben. Nach kurzer Zeit hatte er sich bei der Wirtschafterin eingeschmeichelt, und plauderte mit ihr, als ob er sie schon jahrelang kennte.«

»Ja, Herr Holmes. Sie haben recht. Er raucht zu furchtbar. Den ganzen Tag und zuweilen auch die ganze Nacht. Ich hab‘ das Zimmer eines Morgens mal gesehen – na, Herr, man hätte es für ’n Londoner Nebel halten können. Der arme Herr Smith, er war auch ’n Raucher, aber nicht so schlimm wie der Professor. Seine Gesundheit – nun, ich weiß nicht, ob’s gut oder nicht gut ist, das Rauchen.«

»Auf alle Fälle nimmt es den Appetit,« versetzte Holmes.

»Davon weiß ich nichts, Herr.«

»Ich vermute, daß der Professor kaum ‚was ißt?«

»Nun, ’s ist verschieden bei ihm.«

»Ich möchte wetten, daß er heute morgen kein Frühstück gegessen hat, und, nach all‘ den Zigaretten, die ich ihn schon wieder habe rauchen sehen, auch das Mittagessen stehen lassen wird.«

»Damit haben Sie aber zufällig daneben gehauen, denn er hat ein auffallend großes Frühstück verzehrt, und auch wieder eine tüchtige Portion Kotelettes zu Mittag bestellt. Ich wundere mich selbst, denn als ich gestern den jungen Herrn Smith auf dem Boden liegen sah, konnte ich Essen nicht sehen. Nun, ’s gibt allerlei Menschen auf der Welt, und dem Professor hat die Sache den Appetit nicht genommen.«

Wir schlenderten den ganzen Vormittag im Garten umher. Hopkins war ins Dorf hinuntergegangen, um das Gerücht von einem fremden Weibe, das am vorhergehenden Morgen von Kindern auf der Chathamer Chaussee gesehen worden wäre, weiter zu verfolgen. Was meinen Freund anbetraf, so schien ihn seine gewohnte Tatkraft verlassen zu haben. Ich hatte ihn noch nie einen Fall so wenig energisch behandeln sehen. Selbst die Nachricht von Hopkins, daß er die Kinder gesprochen habe, und daß dieselben sich ganz genau darauf besinnen könnten, eine Frau, wie sie Holmes beschrieben habe, ohne Brille oder Klemmer, gesehen zu haben, schien ihn gar nicht besonders zu interessieren. Er achtete viel mehr darauf, als Susan, die mit dem Essen auf uns wartete, freiwillig erzählte, daß sie glaubte, der Herr Smith sei gestern morgen spazieren gewesen und erst eine halbe Stunde vor dem schrecklichen Ereignis zurückgekehrt. Ich selbst konnte die Bedeutung dieses Nebenumstandes nicht einsehen, aber gleichwohl bemerkte ich, daß ihn Holmes seinem Bild, das er sich von dem Fall gemacht hatte, einverleibte, und daß er auch in dieses Schema zu passen schien. Denn er sprang plötzlich vom Stuhl auf und sah nach der Uhr. »Zwei, meine Herren,« sagte er. »Wir müssen hinaufgehen und die Sache mit unserem Freund, dem Professor ins reine bringen.«

Der alte Herr war gerade mit dem Essen fertig, und die leeren Schüsseln bewiesen, daß seine Haushälterin recht gehabt hatte mit ihrer Prophezeiung; er mußte einen ordentlichen Hunger gehabt haben. Als er sein weißes Haupt emporhob und uns mit seinen durchbohrenden Augen ansah, machte er wirklich einen bezaubernden Eindruck. Die unvermeidliche Zigarette qualmte schon wieder in seinem Munde. Er war angezogen und saß in seinem Lehnstuhl am Kamin.

»Nun, Herr Holmes, haben Sie das Geheimnis schon aufgeklärt?« Er schob die große Schachtel Zigaretten, die neben ihm auf dem Tische stand, meinem Gefährten hin. Holmes streckte gleichzeitig seine Hand aus, und das Kistchen kam zu weit über die Tischkante hinaus, verlor das Gleichgewicht und fiel zu Boden. Ein oder zwei Minuten lagen wir alle auf den Knien Und lasen in alle Winkel zerstreute Zigaretten auf. Als wir aufstanden, bemerkte ich an Holmes, daß seine Augen glänzten und seine Wangen leicht gerötet waren. Nur in entscheidenden Augenblicken zeigten sich diese Kampfsignale.

»Jawohl,« versetzte er, »ich hab’s aufgedeckt.«

Hopkins und ich starrten ihn erstaunt an. Ueber das hagere Gesicht des alten Professors zuckte es wie Hohnlachen und Spott.

»Tatsächlich! Im Garten?«

»Nein, hier.«

»Hier! Wann?«

»Eben.«

»Sie scherzen gewiß, Herr Holmes. Da muß ich Ihnen freilich sagen, daß die Sache doch zu ernst ist, um in dieser Weise verhandelt zu werden.«

»Ich habe jedes einzelne Glied meiner Kette sorgfältig geschmiedet und geprüft, Herr Professor Coram, und ich weiß bestimmt, daß sie stark und fest ist. Ihre Motive und Ihre ganze Rolle, die Sie in diesem eigenartigen Falle spielen, durchschaue ich noch nicht ganz. In wenigen Minuten werde ich’s wahrscheinlich aus Ihrem eigenen Munde hören. Ich will Ihnen daher, was vorgefallen ist, vorher noch einmal im Zusammenhang erzählen, damit Sie wissen, welcher Aufklärung ich noch bedarf.

»Gestern kam eine Dame in Ihr Studierzimmer, mit der Absicht, sich gewisse Papiere anzueignen, die sich in dem Schränkchen befanden. Einen Schlüssel brachte sie selbst mit. Ich habe den Ihrigen betrachtet, wie Sie wissen, und jene leichte Spur nicht gefunden, welche der Kritzer hätte daran hervorbringen müssen. Sie haben also keine Schuld und, soweit ich es bis jetzt beurteilen kann, kam sie ohne Ihr Wissen.«

Der Professor blies eine dicke Rauchwolke von sich. »Das ist ja äußerst interessant und lehrreich,« sagte er dann. »Haben Sie nichts mehr hinzuzufügen? Da Sie die Spur dieser Dame so weit verfolgt haben, können Sie gewiß auch sagen, was weiter aus ihr geworden ist.«

»Ich will es versuchen. Zuerst wurde sie von Ihrem Sekretär ergriffen, den sie niederstach, um zu entkommen. Diesen tödlichen Ausgang bin ich geneigt, als einen unglücklichen Zufall anzusehen, denn ich bin überzeugt, daß die Dame nicht die Absicht gehabt hat, ein solches Verbrechen zu begehen. Ein Mörder kommt nicht unbewaffnet. Erschreckt über ihre Tat, verließ sie in wilder Flucht die Stätte des Unglücks. Zu ihrem Leidwesen hatte sie in dem Handgemenge ihren Klemmer eingebüßt, und bei ihrer starken Kurzsichtigkeit war sie ohne die Gläser vollkommen hilflos. Sie lief einen Korridor entlang, durch den sie hereingekommen zu sein glaubte – weil beide mit Strohmatten belegt waren – und als sie gewahr wurde, daß sie in den falschen Gang geraten war, war es zur Rückkehr schon zu spät, sie war ihr bereits abgeschnitten. Was sollte sie machen? Sie konnte nicht zurück, sie konnte aber auch nicht stehen bleiben. Sie mußte vorwärts. Sie lief weiter. Sie kam an eine kleine Treppe, ging diese hinauf, stieß eine Türe auf und befand sich in Ihrer Kammer.«

Der Alte saß mit offenem Mund in seinem Stuhle und starrte meinen Freund groß an. Staunen und Furcht malten sich aus seinem ausdrucksvollen Gesicht. Dann zuckte er mit einiger Anstrengung die Schultern und brach in ein falsches Lachen aus.

»Das ist alles sehr schön, Herr Holmes,« erwiderte er dann. »Aber Ihr Beweis hat eine Lücke. Ich war selbst in meinem Zimmer hier und bin den ganzen Tag nicht hinausgekommen.«

»Das weiß ich wohl, Herr Professor Coram.«

»Und Sie glauben wohl, daß ich hier im Bett liegen könnte, ohne gewahr zu werden, daß ein Weib in mein Zimmer tritt?«

»Das habe ich nicht gesagt. Sie wußten es. Sie haben mit ihr gesprochen. Sie haben sie gekannt, Sie wollen ihr zur Flucht verhelfen.«

Der Professor fing wieder laut zu lachen an. Er war aufgestanden, seine Augen funkelten wild vor Wut. »Sie sind toll!« schrie er. »Sie sprechen wie ein Verrückter. Ich hälfe ihr zur Flucht! Wo ist sie denn nun?«

»Dort,« sagte Holmes und zeigte auf einen hohen Bücherschrank in der Ecke.

Der Alte rang die Hände, ein krampfhaftes Zucken ging über sein grimmes Gesicht und er sank zurück in seinen Stuhl. Im selben Moment ging die Tür des bezeichneten Bücherschrankes auf und ein Weib stand vor uns. »Sie haben recht!« rief sie mit merkwürdigem, fremdländischem Klang. »Sie haben recht! Ich bin hier.«

Sie war mit Staub und Spinnengewebe bedeckt von den Wänden ihres Verstecks. Auch im Gesicht hatte sie Schmutzstreifen. Aber auch davon abgesehen, konnte sie nie hübsch gewesen sein. Sie zeigte genau die körperlichen Merkmale, die Holmes auf den Zettel geschrieben hatte, hinzu kam nur noch ein langes, vorstehendes Kinn. Teils wohl infolge ihrer Kurzsichtigkeit, teils infolge des jähen Wechsels zwischen Dunkelheit und Licht, stand sie wie geblendet und blinzelte unaufhörlich, um zu erkennen, wer und wo wir waren. Und doch, trotz all dieser körperlichen Nachteile lag eine gewisse Vornehmheit in dem Benehmen dieses Weibes, eine Hochherzigkeit in dem unschönen Kinn und dem erhobenen Kopfe, der einem eine Art Achtung und Bewunderung abnötigte. Hopkins hatte sie am Arm gefaßt und sie als seine Gefangene erklärt, aber sie schob ihn sanft zur Seite, und zwar mit einer überlegenen Würde, die Gehorsam erzwingt. Der Alte lag in den Stuhl zurückgelehnt, sein Gesicht zuckte, und die Augen waren starr auf die Frau gerichtet.

»Jawohl, ich bin Ihre Gefangene,« sagte sie. »Von meinem Platz aus konnte ich alles hören, und ich weiß, daß Sie die Wahrheit herausgebracht haben. Ich gestehe alles ein. Ich habe den jungen Mann getötet. Aber Sie haben recht, daß es ein Unglücksfall war. Ich wußte noch nicht einmal, daß es ein Messer war, was ich in meiner Hand hatte, denn in meiner Verzweiflung erwischte ich irgend etwas vom Tisch und schlug nach ihm, damit er mich gehen lassen sollte. Ich sage die Wahrheit, ich lüge nicht.«

»Gnädige Frau,« bemerkte Holmes, »ich zweifle nicht daran. Mir scheint, Sie werden unwohl.«

Sie hatte sich verfärbt, die Totenblässe trat durch die schwarzen Schmutzstriche auf ihrem Gesicht noch stärker hervor. Sie setzte sich auf den Bettrand und fuhr dann fort:

»Ich habe nur noch wenig Zeit hier, aber Sie sollen die volle Wahrheit von mir erfahren. Ich bin dieses Mannes Frau. Er ist kein Engländer. Er ist ein Russe. Seinen Namen will ich nicht nennen.«

Jetzt rührte sich der Greis zum ersten Male. »Gott segne dich, Anna!« rief er. »Gott segne dich!«

Sie warf ihm einen Blick größter Verachtung zu. »Warum klammerst du dich so krampfhaft an dein elendes Leben, Sergius?« erwiderte sie. »Es hat so viele unglücklich gemacht und niemanden glücklich – dich selbst nicht ‚mal. Doch ist es nicht meine Sache, dich zu veranlassen, den schwachen Lebensfaden vor dem normalen Ende durchzuschneiden. Ich habe schon genug auf mich geladen, seitdem ich diese verfluchte Schwelle übertreten habe. Aber ich muß reden, es wird sonst zu spät.

»Ich habe Ihnen gesagt, meine Herren, daß ich die Frau dieses Mannes bin. Er war fünfzig und ich ein törichtes Mädchen von zwanzig, als wir heirateten. Es war in einer russischen Stadt, einer Universitätsstadt – den Namen will ich nicht nennen.«

»Gott vergelt dir’s, Anna!« murmelte wieder der Alte.

»Wir waren Reformisten – Revolutionäre – Nihilisten, Sie verstehen mich. Er und ich und viele andere. Dann kam eine Zeit der Verfolgung; ein Polizeibeamter wurde getötet, es fanden viele Verhaftungen statt, man suchte einen Zeugen, und um sein eigenes Leben zu retten und die ausgesetzte hohe Belohnung zu verdienen, verriet er seine Frau und seine Genossen. Auf seine Aussage hin wurden wir alle festgenommen. Einige kamen an den Galgen und einige nach Sibirien. Unter den letzteren war ich, aber ich hatte nicht lebenslänglich. Mein Mann ging mit seinem unredlich erworbenen Vermögen nach England und hat hier stets zurückgezogen gelebt. Er weiß wohl, daß, wenn der Bund seinen Aufenthaltsort kennte, er schwerlich länger als eine Woche zu leben haben würde.«

Der Alte streckte die zitternde Hand aus, um sich eine Zigarette zu nehmen, dann sagte er: »Ich bin in deiner Hand, Anna. Du bist mir immer gut gewesen.«

»Aber seine größte Schurkerei habe ich noch nicht erzählt,« fuhr sie fort. »Unter unseren Genossen war einer, der meinem Herzen nahe stand. Er war edel, selbstlos und liebreich – was mein Mann alles nicht war. Er haßte die Gewalttat. Wir waren alle schuldig – wenn man dabei von schuldig sprechen kann – nur er war’s nicht. Er schrieb uns stets, daß wir diesen Weg nicht einschlagen sollten. Auf diese Briefe hin würde er freigesprochen worden sein. Ebenso würde ihn mein Tagebuch gerettet haben, worin ich täglich meine Gefühle gegen ihn, sowie unseren politischen Standpunkt eingetragen hatte. Mein Mann machte Tagebuch und Briefe ausfindig und behielt sie. Er versteckte sie und hätte diesen Mann gerne durch seinen Eid an den Galgen gebracht. Das gelang ihm nicht, aber Alexis wurde in eine Zwangskolonie nach Sibirien gebracht, wo er noch jetzt, bis auf diesen Augenblick, in einem Salzbergwerk arbeitet. Bedenke das, du Schurke, du Elender; jetzt, jetzt, in diesem Augenblick muß Alexis, ein Mann, dessen Namen du nicht würdig bist, auf die Zunge zu nehmen, arbeiten und leben wie ein Sklave, und trotzdem ich dein Leben in meiner Hand habe, laß‘ ich dich gehen.«

»Tu warst immer ein edles Weib, Anna,« warf der Alte dazwischen und zog an seiner Zigarette.

Sie hatte sich erhoben, sank aber mit einem leisen Schrei des Schmerzes wieder nieder.

»Ich muß rasch zu Ende kommen,« sagte sie. »Als meine Zeit um war, nahm ich mir vor, mir das Tagebuch und meine Briefe wieder zu verschaffen, welche, an die russische Regierung gesandt, meines Freundes Freilassung bewirken würden. Ich wußte, daß sich mein Mann nach England gewandt hatte. Nach monatelangem Suchen entdeckte ich seinen Aufenthaltsort. Ich wußte, daß er das Tagebuch noch im Besitz hatte, denn nach Sibirien hat er mir einmal einen Brief geschrieben, worin er mir Vorwürfe machte und einige Stellen daraus anführte. Aber ich kannte seine rachsüchtige Natur zu gut, um zu wissen, daß er mir’s nie freiwillig geben würde. Ich mußte mir’s selbst zu verschaffen suchen. Zu diesem Zweck nahm ich einen Agenten von einem Privatdetektivinstitut an, der als Sekretär bei meinem Manne eintrat – es war dein zweiter Sekretär, Sergius, derjenige, der dich so schnell verlassen hat. Er entdeckte, daß die Papiere in jenem Schränkchen eingeschlossen waren, und machte ein Modell vom Schloß. Weiter wollte er nicht gehen. Er versah mich mit einem Plan des Hauses und sagte mir, daß am Vormittag das Studierzimmer fast stets leer sei, weil der Sekretär hier hinten zu tun habe. So faßte ich endlich den Vorsatz und kam hierher, um die Briefschaften wiederzuerlangen. Es gelang mir, aber um welchen Preis!

»Ich hatte gerade die Papiere herausgenommen und wollte das Schränkchen wieder zuschließen, als mich der junge Herr ergriff. Ich hatte ihn schon am Morgen gesehen. Ich traf ihn auf der Straße und fragte ihn, wo Professor Coram wohne; ich wußte nicht, daß er in seinen Diensten stand.«

»Richtig! richtig!« sagte Holmes. »Der Sekretär ist zurückgekommen und hat seinem Herrn von dem Weibe erzählt, das er getroffen hatte. Dann wollte er in den letzten Sekunden kund tun, daß sie’s war, sie, über die er eben mit dem Professor gesprochen hatte.«

»Sie müssen mich reden lassen,« sagte die Frau in befehlendem Tone, während sie das Gesicht vor Schmerzen verzog. »Als er zu Boden gefallen war, stürzte ich aus dem Zimmer, erwischte die verkehrte Tür und stand meinem Mann gegenüber. Er sagte, daß er mich der Polizei überliefern wolle. Ich bedeutete ihm, daß ich auch sein Leben in der Hand hatte. Wenn er mich der Behörde übergäbe, könnte ich ihn dem Bunde überantworten. Ich wollte nicht meinetwegen mein Leben retten, sondern ich wollte meinen Zweck erfüllen. Er wußte, daß ich Wort halten würde, und daß sein eigenes Schicksal mit meinem verquickt war. Aus diesem Grunde, und nur aus diesem, beherbergte er mich. Er steckte mich in jenen dunkeln Schrank, ein Ueberbleibsel aus vergangenen Zeiten. Er allein kannte meinen Aufenthalt. Er aß in seinem Zimmer und konnte mich so mit einem Teil seiner Speise versehen. Es war abgemacht, daß ich, sobald die Polizei das Haus verlassen hätte, bei Nacht hinausschlüpfen und nie wiederkehren sollte. Aber Sie haben unsere Pläne bis zu einem gewissen Grade erraten und sie durchkreuzt.« Sie riß ein kleines Paketchen aus ihrem Busen. »Jetzt komme ich zum Schluß,« rief sie, »hier sind die Papiere, die Alexis retten werden. Ich vertraue sie Ihrer Ehre und Ihrer Gerechtigkeitsliebe an. Nehmen Sie sie hin! Uebergeben Sie sie der russischen Botschaft. Nun habe ich meine Pflicht erfüllt, und –«

»Haltet sie!« rief Holmes. Er war mit einem Sprung bei ihr und entwand ihrer Hand ein kleines Fläschchen.

»Zu spät!« sagte sie und sank zurück auf das Bett. »Zu spät! Ich habe das Gift genommen, eh‘ ich aus meinem Versteck heraustrat. Mir wird schwindlig! Ich sterbe! Vergessen Sie das Paketchen nicht!«

»Ein einfacher Fall, und in mancher Hinsicht doch ein recht lehrreicher,« bemerkte Holmes, als wir zur Stadt zurückfuhren. »Es drehte sich vom Anfang an um den Klemmer. Wenn der Sterbende dieses Glas nicht erfaßt hätte, so hätten wir womöglich nie die Lösung gefunden. Es war mir klar, daß die Trägerin einer so starken Nummer ohne Augengläser ganz hilflos gewesen sein mußte. Als Sie mir zumuteten, zu glauben, daß sie auf einem so schmalen Rasenstreifchen hingegangen sein sollte, ohne einen einzigen Fehltritt deiner Gegenwart, Watson, ohne daß du freilich meine Absicht ganz verstandest, daß Professor Corams Nahrungsaufnahme zugenommen hatte – wie das ja zu erwarten war bei jemandem, der eine zweite Person mit ernährte. Dann gingen wir wieder hinauf, und durch das Umkippen des Zigarettenkistchens verschaffte ich mir eine günstige Gelegenheit, den Fußboden genau in Augenschein zu nehmen. Ich sah sehr deutlich an den Spuren auf der Zigarettenasche, daß die Gefangene in unserer Abwesenheit ihr Versteck verlassen hatte.

*

Nun, Herr Hopkins, hier ist Charing Croß. Ich gratuliere Ihnen, daß Sie Ihren Fall so glücklich zu Ende geführt haben. Sie werden doch wohl ins Hauptquartier gehen. Wir beide, Watson, wollen zusammen nach der russischen Botschaft fahren.«

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Die einsame Radfahrerin.


Die einsame Radfahrerin.

Vom Jahre 1894–1901 einschließlich war Sherlock Holmes ein außerordentlich beschäftigter Mann. Man kann ohne Uebertreibung sagen, daß es kaum einen irgendwie schwierigen Fall von öffentlichem Interesse gab, zu dem er während dieses Zeitraums nicht zugezogen worden wäre, außerdem spielte er auch noch in Hunderten von oft sehr verzwickten und außergewöhnlichen privaten Angelegenheiten eine hervorragende Rolle. Viele überraschende Erfolge und nur einige wenige unvermeidliche Mißerfolge waren das Resultat dieser langen Periode mühseliger, unablässiger Tätigkeit. Da ich sämtliche Fälle notiert und bei vielen selbst mitgewirkt habe, fällt es mir natürlich nicht leicht, eine richtige Auswahl zur Veröffentlichung zu treffen. Ich will jedoch meinem alten Grundsatz treu bleiben und solchen Fällen den Vorzug geben, die mehr infolge der scharfsinnigen und dramatischen Lösung als durch die Schwere des Verbrechens selbst ein weiteres Interesse beanspruchen können. Von diesem Gesichtspunkte ausgehend, will ich jetzt die Geschichte des Fräuleins Violet Smith, der einsamen Radfahrerin von Charlington, erzählen. In dieser Angelegenheit wurden durch unsere Untersuchung eigentümliche begleitende Umstände ans Licht gebracht, welche zu einem ganz unerwarteten tragischen Ende führten. Wenn auch in Anbetracht der Verhältnisse mein Freund gerade diejenigen Fähigkeiten, derentwegen er berühmt wurde, nicht voll zur Geltung bringen konnte, so gehört doch dieser Fall infolge der begleitenden Nebenumstände mit zu den bemerkenswertesten.

Aus meinem Tagebuch geht hervor, daß wir am Sonnabend, den 23. April 1895, zum ersten Male den Besuch des Fräulein Smith erhielten. Holmes war er, wie ich mich erinnere, äußerst unangenehm, weil er damals in ein sehr dunkles Problem, die absonderliche Verfolgung des bekannten Tabakkönigs John Vincent Harden, vertieft war. Mein Freund, der Konzentration der Gedanken über alles schätzte, war stets ungehalten, wenn seine Aufmerksamkeit von dem Gegenstande, der ihn gerade beschäftigte, durch irgend etwas anderes abgelenkt wurde. Und doch mußte er, wenn er nicht unhöflich werden wollte, was seiner Natur zuwider war, die Erzählung des jungen hübschen Mädchens ruhig anhören, das noch in später Abendstunde zu uns in die Bakerstraße kam und uns um Rat und Beistand bat. Es war vergeblich, die junge Dame darauf aufmerksam zu machen, daß seine Zeit bereits voll und ganz in Anspruch genommen sei; sie war mit dem festen Entschluß gekommen, uns ihre Geschichte vorzutragen, und würde, bevor sie das getan hätte, nur mit Gewalt zu entfernen gewesen sein. So sah sich Holmes denn gezwungen, unserem schönen Eindringling einen Stuhl anzubieten und ihn zu ersuchen, uns zu erzählen, was ihn bedrücke.

»Wenigstens kann es sich bei Ihnen um keine Gesundheitsstörung handeln,« sagte er, nachdem er sie scharf betrachtet hatte; »bei einer so kühnen Radfahrerin gibt’s keine Körperschwäche.«

Sie sah erstaunt auf ihre Füße, und ich konnte an ihren Schuhen sehen, daß sie an einer Stelle durch die Reibung am Pedal etwas abgeschabt waren.

»Allerdings radle ich ziemlich viel, Herr Holmes, und das steht auch in einem gewissen Zusammenhang mit meinem heutigen Besuch bei Ihnen.«

Mein Freund nahm die bloße Hand der Dame in die seinige und untersuchte sie mit so viel Aufmerksamkeit und so wenig Gefühl wie ein Kenner eine Warenprobe.

»Sie werden entschuldigen,« sagte er, indem er sie losließ, »aber in meinem Beruf darf man nichts außer acht lassen. Ich war beinahe versucht, anzunehmen, daß Sie Schreibmaschine schreiben, aber es kommt offenbar vom Klavierspielen. Siehst du die plattgedrückten Fingerspitzen, Watson, die bei beiden Berufsarten charakteristisch sind? Aber das Gesicht zeigt einen geistigen Zug,« – er drehte es zart gegen das Licht – »den Maschinenschreiberinnen gewöhnlich nicht haben. Diese Dame ist also wohl Musiklehrerin.«

»Jawohl, Herr Holmes, ich gebe Klavierunterricht.«

»Auf dem Lande, soviel aus Ihrer Gesichtsfarbe hervorgeht.«

»Jawohl, mein Herr; in der Nähe von Farnham, an der Grenze von Surrey.«

»Eine schöne Gegend, die interessante Erinnerungen in mir wachruft. Watson, entsinnst du dich noch, daß wir dort in der Nähe den Schmied Stamford gefaßt haben? Nun, Fräulein Violet, was ist Ihnen bei Farnham denn passiert?«

Die junge Dame gab folgende klare und ruhige Schilderung:

»Mein Vater lebt nicht mehr, Herr Holmes. Er hieß James Smith und war Kapellmeister am alten Königlichen Theater. Meine Mutter und ich hatten weiter keine Verwandte als einen Onkel Ralph Smith. Dieser ist vor fünfundzwanzig Jahren nach Afrika ausgewandert, und wir haben seit jener Zeit kein Wort von ihm gehört. Unser Vater ließ uns in großer Armut zurück, aber eines Tages erfuhren wir, daß in der »Times« ein uns betreffender Aufruf gestanden habe. Sie können sich unsere Aufregung denken, denn wir glaubten, es habe uns jemand ein Vermögen ausgesetzt. Wir gingen sofort zu dem in der Zeitung namhaft gemachten Vertreter. Dort trafen wir zwei Herren, Herrn Carruther und Herrn Woodley, die zu Besuch aus Südafrika in der Heimat weilten. Sie sagten uns, mein Onkel sei ein Freund von ihnen gewesen und vor einigen Monaten ganz arm in Johannesburg gestorben; er hätte sie noch kurz vor seinem Tode beauftragt, sich nach seinen Verwandten umzusehen, und sie vor Not zu schützen. Es kam uns sonderbar vor, daß sich Onkel Ralph, der sich zu seinen Lebzeiten nie um uns gekümmert hatte, noch um unser Wohlergehen nach seinem Tode solche Sorge machen sollte. Herr Carruther klärte jedoch die Sache dahin auf, daß mein Onkel damals erst den Tod meines Vaters in Erfahrung gebracht und dadurch nun ein gewisses Verantwortlichkeitsgefühl gehabt hätte.«

»Entschuldigen Sie,« sagte Holmes; »wann fand diese Unterredung statt?«

»Vergangenen Dezember – vor vier Monaten.«

»Bitte, fahren Sie fort.«

»Herr Woodley machte auf mich einen höchst unangenehmen Eindruck. Er hatte ein gemeines, pausbäckiges Gesicht mit rotem Schnurrbart und glattgescheiteltem Haupthaar und warf mir die ganze Zeit über freche Blicke zu. Er kam mir vollkommen häßlich und widerwärtig vor – und ich fühlte bestimmt, daß Cyril von einer solchen Bekanntschaft nichts würde wissen wollen.«

»Aha, Cyril heißt er!« sagte Holmes lächelnd.

Die junge Dame errötete und lachte.

»Ja, Herr Holmes; Cyril Morton ist sein Name, er ist Ingenieur, und wir wollen uns Ende des Sommers verheiraten. Ach Gott, wie bin ich nur auf ihn zu sprechen gekommen? Was ich sagen wollte, Herr Woodley erschien mir äußerst hassenswert, dagegen war mir Herr Carruther, obwohl viel älter, nicht unsympathisch. Er war ein dunkler, blasser Mann mit glattrasiertem Gesicht und von ruhigem Temperament; er hatte gute Manieren und ein angenehmes Lächeln. Er erkundigte sich nach unseren Verhältnissen, und als er erfuhr, daß wir arm seien, machte er mir den Vorschlag, seiner einzigen, zehnjährigen Tochter Musikunterricht zu erteilen. Ich sagte ihm, daß ich meine Mutter nicht gerne allein lassen möchte. Darauf erwiderte er, daß ich sie alle Sonnabend besuchen könnte. Er bot mir hundert Pfund fürs Jahr, gewiß eine noble Bezahlung. Ich willigte schließlich ein und ging hinunter nach Chiltern Orange, ungefähr sechs Meilen von Farnham entfernt. Herr Carruther war Witwer und hatte zur Führung des Haushaltes eine sehr achtbare ältere Dame, Frau Dixon, in seine Dienste genommen. Die Tochter war ein recht liebenswürdiges Kind, und alles schien gut zu gehen. Herr Carruther war sehr gut gegen mich, er war selbst auch musikalisch, und wir haben sehr schöne Abende zusammen verlebt. Jeden Sonnabend ging ich nach Hause zu meiner Mutter in die Stadt.

»Die erste Trübung erfuhr mein Glück durch die Ankunft des Herrn Woodley. Er kam zu Besuch auf eine Woche, aber ach! mir wurde sie länger als drei Monate. Er war ein schrecklicher Mensch, ein furchtbarer Prahlhans bei allen Leuten, aber bei mir am allermeisten. Er machte mir häßliche Liebeserklärungen, renommierte mit seinem Reichtum, wenn ich ihn heiratete, würde ich die herrlichsten Diamanten in ganz London bekommen, und eines Tages endlich, als ich ihm sagte, daß ich nichts mit ihm zu schaffen haben wollte, nahm er mich in seine Arme – er war riesig stark – und schwor, daß er mich nicht eher loslassen würde, bis ich ihm einen Kuß gegeben hätte. Als Herr Carruther ins Zimmer trat und ihn von mir losriß, wandte er sich gegen seinen eigenen Gastgeber, indem er ihn zu Boden schlug und mißhandelte. Wie Sie sich denken können, war damit der Besuch zu Ende. Herr Carruther entschuldigte sich am folgenden Tage bei mir und versicherte mir, daß ich nie wieder einer derartigen Beschimpfung ausgesetzt sein würde. Seit damals habe ich Herrn Woodley nicht wieder gesehen.

»Nun kommt erst die eigentliche Veranlassung zu bestellt hätte, so daß ich künftighin diese einsamen Wege nicht mehr allein zu machen brauchte.

»Der Wagen sollte diese Woche kommen, aber aus irgend einem Grunde wurde er nicht geliefert, und ich mußte wieder nach der Station radeln. Das war heute morgen. Wie Sie sich denken können, hielt ich auf der Charlingtoner Heide Umschau, und wahrhaftig, der Mann war wieder da, genau wie die vorhergehenden Male. Er kam mir nie so nahe, daß ich sein Gesicht deutlich sehen konnte, aber sicher war es ein Unbekannter. Er trug einen dunklen Anzug und eine Tuchmütze. Das einzige, was ich richtig sehen konnte, war sein dunkler Bart. Ich hatte heute weniger Angst, war vielmehr neugierig und fest entschlossen, herauszukriegen, wer er sei und was er wolle. Ich fuhr ganz langsam, da fuhr er auch so langsam. Ich hielt ganz an, er ebenfalls. Nun wollte ich ihm eine Falle stellen. Der Weg macht eine scharfe Biegung, ich fuhr rasch um die Ecke ‚rum, sprang ab und wartete. Er sollte nun schnell ebenfalls herumsausen und an mir vorüberkommen, ohne vorher halten zu können. Aber er ließ sich nicht sehen. Ich fuhr zurück und guckte um die Ecke. Ich konnte die Straße eine Meile weit überblicken, er war jedoch nirgends zu entdecken. Das plötzliche Verschwinden wurde dadurch noch rätselhafter, daß an dieser Stelle kein Seitenweg abging, den er benutzt haben könnte.«

Holmes rieb sich vergnügt die Hände.

»Der Fall ist von ganz besonderer Art,« sagte er. »Wieviel Zeit lag wohl dazwischen – ich meine zwischen Ihrer Fahrt um die Ecke und Ihrer Umkehr, wo niemand mehr zu sehen war?«

»Zwei oder drei Minuten.«

»In dieser Zeit kann er also nicht auf der Straße außer Sehweite gekommen sein, und Seitenwege, sagen Sie, gibt’s dort nicht?«

»Nein.«

»Dann muß er auf einem Fußpfad nach der einen oder anderen Seite entkommen sein.«

»Nach der Seite der Heide ist es ausgeschlossen, denn da müßte ich ihn gesehen haben.«

»Wenn das alles unmöglich ist, so bleibt nur der eine Ausweg nach Charlington Hall zu. – Haben Sie noch weitere Angaben zu machen?«

»Nein, Herr Holmes. Ich möchte nur noch bemerken, daß ich sehr bestürzt war und mich nicht eher beruhigen werde, bis ich Ihren erfahrenen Rat und Ihren Beistand habe.«

Holmes verharrte eine Zeitlang in Schweigen.

»Wo wohnt Ihr Bräutigam?« fragte er endlich.

»In Coventry, er ist bei der Midland-Elektrizitätsgesellschaft in Stellung.«

»Sollte er nicht vielleicht Sie haben überraschen wollen?«

»Oh, Herr Holmes. Und ob ich den nicht erkannt hätte!«

»Haben Sie sonst noch Verehrer gehabt?«

»Ja, einige – ehe ich Cyril kennen lernte.«

»Und seitdem weiter keinen?«

»Wenn Sie den schrecklichen Woodley nicht so nennen wollen, nein.«

»Sonst wissen Sie von keinem?«

Unsere hübsche Klientin wurde etwas verlegen.

»Gestehen Sie’s nur, Fräulein Smith,« sagte Holmes, »wer hat Sie außerdem noch verehrt?«

»Ach, es ist vielleicht bloß Einbildung von mir; aber manchmal schien mir’s, als ob mein Prinzipal, Herr Carruther, sich stärker für mich interessiere. Wir sind ziemlich viel zusammen, ich begleite ihn abends immer auf dem Klavier. Er hat zwar nie etwas geäußert, er ist ein gebildeter Mann – aber ein Mädchen fühlt’s schon heraus.«

»Aha!« rief Holmes und machte ein ernstes Gesicht. »Was führt er für ein Leben?«

»Er ist reich.«

»Und hat keine Wagen und Pferde?«

»Wenigstens gibt er sich den Anstrich größerer Wohlhabenheit. Er geht wöchentlich zwei- bis dreimal zur Stadt. Er ist an südafrikanischen Minenwerten stark interessiert.«

»Setzen Sie mich sofort in Kenntnis, wenn sich die Angelegenheit weiter entwickelt, Fräulein Smith. Ich habe gegenwärtig sehr viel zu tun, werde mir jedoch die Zeit nehmen, in Ihrer Sache Nachforschungen anzustellen. Tun Sie aber inzwischen keinen Schritt, ohne mich vorher zu benachrichtigen. Adieu, hoffentlich haben Sie uns nur Gutes zu berichten.«

»Es ist ganz natürlich, daß ein solches Mädchen umworben wird,« sagte Holmes und tat nachdenklich einen Zug aus der Pfeife, »daß es aber auf dem Rad und auf einsamen Landstraßen geschieht, ist doch auffallend. Zweifellos ist’s ein stiller Liebhaber. Der ganze Fall scheint mir an sich weniger interessant, Watson, er bietet aber eigentümliche Begleitumstände, die allerhand Anregung zum Nachdenken geben.«

»Das Merkwürdigste ist, daß sich der Mann nur an der einzigen Stelle gezeigt hat, nicht wahr?«

»Gewiß. Wir müssen damit beginnen, die Pächter von Charlington Hall ausfindig zu machen. Dann müssen wir auskundschaften, woher die Freundschaft zwischen Carruther und Woodley stammt, sie scheinen doch grundverschiedene Charaktere zu sein. Wie kamen sie beide dazu, sich so sehr um Ralph Smiths Verwandte zu kümmern? Noch eins. Was ist das für ein sonderbarer Hausherr, der für eine Erzieherin das doppelte des üblichen Gehaltes zahlt und sich kein Pferd hält, obwohl er sechs Meilen vom Bahnhof wohnt? Das ist sonderbar, Watson – höchst sonderbar!«

»Du willst also hinunter gehen?«

»Nein, mein Lieber, das kannst du tun. Vielleicht ist es doch nur eine unwichtige Sache, und ich kann meine bedeutungsvolle Untersuchung deswegen jetzt nicht unterbrechen. Montag in der Frühe kannst du in Farnham sein. Du mußt dich dann in der Nähe der Charlingtoner Heide verbergen, aufpassen, was sich ereignet, und nach eigenem Ermessen vorgehen. Wenn du dann noch über die Inhaber von Charlington Erkundigungen eingezogen hast, fährst du zurück und erstattest mir Bericht. Und nun eher kein Wort mehr über die Sache, bis wir einen soliden Untergrund gefunden haben, auf dem wir weiter bauen können.«

Wir wußten, daß die Dame Montag morgen mit dem Zug 9 Uhr 50 von der Waterloobrücke abfahren würde; ich nahm also den früheren Zug um 9 Uhr 13 Minuten. Von Farnham gelangte ich ohne Schwierigkeiten nach der Charlingtoner Heide. Der Schauplatz des Abenteuers der jungen Dame war gar nicht zu verfehlen. Auf der einen Seite des Weges breitete sich weithin die Heide aus, auf der anderen zog sich ein Wäldchen mit stattlichen Bäumen hin, welches von alten Taxussträuchern umgeben war. In diesen großen Park führte ein Haupteingang aus Stein. Die Steine waren von Moos überzogen, und die Pfeiler zeigten noch verwitterten heraldischen Schmuck. Außer dieser Einfahrt bemerkte ich noch mehrere Lücken in dem Heckenzaun und schmale Pfade, auf denen man den Wald erreichen konnte. Die Gebäude selbst waren von der Straße aus nicht zu sehen, aber die ganze Umgebung zeugte von dem Verfall dieses Besitztums.

Das weite Heideland war mit goldenen Ginsterblüten übersäet, die in dem herrlichen Frühlingssonnenschein erglänzten. Hinter einem dieser Büsche stellte ich mich so auf, daß ich den Eingang nach dem Schloß und ein gutes Stück der Landstraße nach beiden Richtungen übersehen konnte. Sie war anfangs vollkommen menschenleer, aber bald gewahrte ich einen Radfahrer. Er fuhr nach der Seite, von der ich gekommen war. Er hatte einen dunklen Anzug an, und ich konnte auch den schwarzen Bart unterscheiden. Als er auf Charlingtoner Gebiet kam, sprang er von seiner Maschine ab, schob sie durch eine Lücke im Zaun und entschwand meinen Blicken.

Nach einer Viertelstunde tauchte wieder ein Radfahrer auf. Ich merkte bald, daß es unsere junge Dame war, die vom Bahnhof kam. Ich sah, wie sie sich umschaute, als sie den Wald erreichte. Im nächsten Moment stürzte der Mann aus seinem Versteck hervor, schwang sich aufs Rad und fuhr hinter ihr her. Weit und breit waren die beiden die einzigen Lebewesen. Das anmutige Weib saß kerzengerade auf ihrem Bycicle, während der Mann hinter ihr sich tief auf die Lenkstange herunterbeugte und sehr unsicher fuhr. Plötzlich machte sie unvermutet kehrt und fuhr beherzt auf ihn los! Er drehte sein Rad jedoch ebenso rasch herum und raste in eiliger Flucht davon. Sofort wandte sie sich wieder um und kam stolz erhobenen Hauptes wieder die Straße herauf, ohne sich weiter um ihren stillen Trabanten zu kümmern. Auch er fuhr wieder zurück und in angemessener Entfernung hinter ihr her. Als sie um die Krümmung herum waren, verlor ich sie aus dem Gesicht.

Ich blieb noch in meinem Versteck, und das war sehr gut, denn kurz darauf fuhr der Mann wieder langsam zurück. Er bog in das Eingangstor ein und stieg dann ab. Ein paar Minuten konnte ich ihn noch sehen. Er hatte die Hände in der Höhe und schien seine Krawatte in Ordnung zu bringen. Alsdann setzte er sich wieder auf, fuhr auf dem Parkweg weiter nach dem Schloß zu und entschwand in dem dichten Unterholz meinen Blicken. Ganz hinten in der Ferne konnte ich die altersgrauen Gebäude mit den schwarzgeräucherten Schornsteinen sehen.

Immerhin glaubte ich, ein ganz gutes Tagewerk getan zu haben und wanderte wohlgemut nach Farnham. Ein Agent am Orte vermochte mir über Charlington Hall keine Auskunft zu geben, sondern verwies mich an eine bekannte Adresse in Pall Mall. Dort sprach ich auf dem Heimweg vor und wurde von dem Vertreter der Firma höflich empfangen. Ich könnte Charlington Hall für diesen Sommer leider nicht mehr vermietet bekommen. Es sei vor ungefähr einem Monat einem gewissen Herrn Williamson überlassen worden, einem ehrwürdigen älteren Herrn. Ueber die Verhältnisse desselben könne er mir zu seinem Bedauern keine nähere Auskunft geben, weil er über die Privatangelegenheiten seiner Kunden nicht sprechen dürfe.

Holmes hörte den langen Bericht, den ich ihm an jenem Abend abstattete, aufmerksam an. Das erwartete Lob blieb indessen aus. Im Gegenteil, sein strenges Gesicht nahm einen noch strengeren Ausdruck an, als er Punkt für Punkt mit mir durchging, was ich getan hatte und was ich nicht getan hatte.

Dein Versteck, mein lieber Watson, war schlecht gewählt, du hättest dich hinter den Taxuszaun stellen müssen, dann würdest du diese interessante Persönlichkeit aus der Nähe gesehen haben. Aber so hast du einige hundert Meter entfernt gestanden und kannst mir nun weniger sagen als Fräulein Smith. Sie glaubt, es ist ein Unbekannter; ich bin fest überzeugt, daß es ein Bekannter ist. Warum sollte er denn sonst so ängstlich darauf bedacht sein, von ihr ja nicht gesehen zu werden? Du sagst, er beugte sich auffallend tief auf die Lenkstange herunter. Das hatte doch auch nur den Zweck, sich nicht erkennen zu lassen. Du hast deine Sache wirklich merkwürdig schlecht gemacht. Du willst ausfindig machen, wer er ist, und läßt ihn ruhig in seine Wohnung zurückkehren und gehst zu einem Häuseragenten in London!«

»Was sollte ich denn tun?« rief ich ziemlich erregt.

»Ins erste beste Wirtshaus gehen. Da erfährt man solche Sachen. Da hättest du alle Namen vom Herrn bis zum Spülmädchen herunter erfahren. Williamson! Das sagt mir gar nichts. Wenn er ein älterer Mann ist, kann er nicht so gewandt vom Rad auf- und abspringen und diesem kräftigen Mädchen entfliehen. Was haben wir nun durch deine Expedition eigentlich gewonnen? Die Ueberzeugung, daß die Erzählung der Dame auf Wahrheit beruht. Die hatte ich auch vorher. Daß zwischen dem Radfahrer und dem Schloß eine Verbindung besteht. Daran habe ich ebensowenig gezweifelt. Daß der Mieter Williamson heißt. Wozu soll uns das nützen? Nun, nun, mein lieber Herr, tu‘ nicht so beleidigt. Bis zum nächsten Sonnabend können wir nicht viel unternehmen, und inzwischen kann ich selbst ein paar Recherchen anstellen.«

Am nächsten Morgen bekamen wir einen Brief von Fräulein Smith, worin sie kurz und klar angab, was ich gesehen hatte. Die Hauptsache war jedoch die Nachschrift: –

»Ich glaube sicher, daß Sie mein Vertrauen rechtfertigen, Herr Holmes. Ich muß Ihnen mitteilen, daß meine Stellung hier sehr schwierig geworden ist. Mein Herr hat mir nämlich tatsächlich einen Heiratsantrag gemacht. Ich bin überzeugt, daß seine Neigung tief und echt ist. Meine Antwort können Sie sich denken. Er nahm meine Weigerung sehr ernst, aber doch auch sehr artig auf. Sie werden sich vorstellen können, daß unser Verhältnis etwas gespannt ist.«

»Unsere junge Freundin befindet sich in einer nicht beneidenswerten Lage,« sagte Holmes, als er den Brief zu Ende gelesen hatte. »Ihr Fall zeigt sich bereits von einer interessanteren Seite und entwickelt sich womöglich noch weiter, als ich ursprünglich annahm. Ich wäre daher nicht abgeneigt, einen gemütlichen Tag auf dem Land zu verleben. Ich will also gleich heute nachmittag hinunterfahren und sehen, ob die eine oder andere meiner Vermutungen sich bestätigt.«

Holmes‘ gemütlicher Tag hatte einen merkwürdigen Abschluß. Er kam spät in der Nacht in der Bakerstraße an und hatte eine geschwollene Lippe und eine blaue Beule auf der Stirn; er war überhaupt so übel zugerichtet, daß sein eigener Zustand eines polizeilichen Eingreifens bedurft hätte. Seine Erlebnisse machten ihm jedoch ungeheuren Spaß, und er lachte herzlich, als er sie erzählte.

»So ’ne kleine körperliche Uebung ist für mich immer ein Hochgenuß,« fing er an. »Du weißt, daß ich eine gewisse Kenntnis des guten alten englischen Sports, des Boxens besitze. Manchmal kommt sie einem zu statten. Zum Beispiel heute. Ohne sie würde ich eine sehr kümmerliche Rolle gespielt haben.«

Ich bat ihn, mir zu erzählen, was vorgefallen sei. regelrechten Kampf gegen einen wüsten Raufbold. Du siehst, wie ich daraus hervorgegangen bin. Herr Woodley mußte in einem Wagen nach Hause gefahren werden. Damit endete meine Landpartie, und ich muß zugeben, daß dieser Tag, so erfreulich er auch sonst für mich war, nicht viel mehr Zweck gehabt hat als der deinige.«

Der Donnerstag brachte uns einen zweiten Brief unseres Schützlings.

»Sie werden nicht weiter überrascht sein, Herr Holmes,« schrieb sie, »wenn ich Ihnen mitteile, daß ich die Stelle bei Herrn Carruther verlasse. Selbst das hohe Gehalt kann mich für meine Leiden nicht entschädigen. Am Sonnabend komme ich hinauf nach London und werde nicht wieder zurückkehren. Herr Carruther hat sein Gefährt bekommen, und somit sind die Gefahren des einsamen Weges, wenn überhaupt je welche bestanden haben, nun vorüber.

»Die besondere Veranlassung zum Aufgeben meines Dienstes ist nicht nur das gespannte Verhältnis mit Herrn Carruther, sondern die Wiederankunft jenes verhaßten Mannes, des Herrn Woodley. Er war immer häßlich, jetzt sieht er aber noch schrecklicher aus, als je, er scheint einen Unfall erlitten zu haben, er ist ganz entstellt. Ich sah ihn am Fenster, glücklicherweise bin ich ihm nicht begegnet. Er hat lange mit Herrn Carruther verhandelt, der danach einen sehr erregten Eindruck machte. Woodley muß sich in der Nachbarschaft aufhalten, denn er hat nicht hier geschlafen, und trotzdem sah ich ihn heute morgen bereits im Garten umherschleichen. Er ist mir widerwärtiger, als ein wildes Tier. Ich verabscheue und fürchte ihn mehr, als ich es in Worten ausdrücken kann. Wie kann Herr Carruther einen solchen Menschen nur eine Minute dulden? Nun, alle meine Bekümmernis wird am Sonnabend aufhören.«

»Ich will’s hoffen, Watson,« sagte Holmes in ernstem Tone. »Das arme Weib wird von Gaunern umlauert, und wir haben die Pflicht, dafür zu sorgen, daß ihr auf ihrer letzten Reise nichts passiert. Wir müssen uns, glaube ich, die Zeit nehmen und Sonnabend morgen zusammen hinunterfahren, damit diese merkwürdige Angelegenheit am Ende nicht noch schief geht.«

Ich muß zugeben, daß ich der Sache bis jetzt kein großes Gewicht beigelegt hatte, sie war mir mehr komisch und töricht als gefährlich vorgekommen. Daß ein Mann auf ein schönes Mädchen wartet und es verfolgt, ist nichts Unerhörtes, und wenn er so wenig Mut hatte, daß er es nicht einmal anzureden wagte, sondern bei seiner Annäherung floh, so war er kein sehr zu fürchtender Angreifer. Der scheußliche Woodley war freilich ein anderer Kerl, immerhin jedoch hatte auch er sie, mit Ausnahme des einen Mals, nicht belästigt, und bei seinem zweiten Besuch im Hause Carruthers ihr gar keine Beachtung geschenkt. Der Radfahrer gehörte zweifelsohne zu jener Gesellschaft, von der der Wirt gesprochen hatte, aber über seine Persönlichkeit und seine Beziehungen wußten wir noch so wenig wie vorher. Erst der Ernst in Holmes‘ Benehmen und die Tatsache, daß er einen Revolver einsteckte, als wir weggingen, rief in mir das Gefühl wach, daß hinter diesen eigentümlichen Vorgängen doch eine Gefahr lauern könnte.

Einer regnerischen Nacht folgte ein heiterer Morgen. Die Heidelandschaft mit dem blühenden Ginster tat unseren Augen, die der grauen schmutzigen Straßen und Häuser Londons müde waren, außerordentlich wohl. Holmes und ich marschierten die breite, sandige Landstraße entlang und schlürften die frische Morgenluft und freuten uns an dem Gesang der Vögel und dem Duft des Frühlings. Von einer Anhöhe aus konnten wir das verfallene Schloß erblicken, das über die alten Eichen hervorragte, die aber trotz ihres hohen Alters noch jünger waren als das Gebäude, welches sie umgaben. Holmes deutete den langen Weg hinunter, der sich wie ein rötlichgelbes Band zwischen der braunen Heide und dem jungen Grün des Waldes dahinschlängelte. Ganz in der Ferne bemerkten wir einen dunklen Fleck, es war ein Fuhrwerk, das sich in der Richtung auf uns zu bewegte, Holmes war sehr unwillig.

»Ich wollte eine halbe Stunde vor ihr ankommen,« rief er aus. »Wenn das ihr Wagen ist, muß sie mit einem früheren Zug fahren wollen. Ich fürchte, Watson, sie wird eher an Charlington vorbeikommen, ehe wir dort sein können.«

Sobald wir den Hügel überschritten hatten, konnten wir das Gefährt nicht mehr sehen. Wir beschleunigten unsere Schritte dermaßen, daß meine sitzende Lebensweise bald dagegen protestierte und mich nötigte zurückzubleiben. Holmes lief jedoch immer voran, er hatte unerschöpfliche Kraftvorräte, von denen er zehren konnte. Seine elastischen Beine machten nicht eher Halt, bis er plötzlich, ungefähr hundert Meter vor mir, stehen blieb und verzweifelt die Hände emporrang. Im selben Augenblick kam ein leerer Wagen um die Krümmung des Weges und rasselte uns entgegen; das Pferd lief einen leichten Galopp, und die Zügel schleiften auf dem Boden.

»Zu spät, Watson; zu spät!« rief Holmes, als ich keuchend an ihn heran kam. »’n Esel war ich, daß ich nicht mit dem früheren Zug rechnete! ’s ist Entführung, Watson – Entführung! Mord! Gott weiß was noch! Versperr‘ den Weg! Halt‘ das Pferd auf! So ist’s recht. Nun spring ’nein, wir wollen sehen, ob ich die Folgen meiner eigenen Dummheit noch gut machen kann.«

»Als wir im Wagen saßen, drehte Holmes um, gab dem Pferd einen Schlag mit der Peitsche, und wir sausten zurück. Als wir um die Kurve herum waren, lag die ganze Strecke offen vor uns. Ich ergriff Holmes beim Arm.

»Dort ist der Mann!« rief ich.

Ein einsamer Radfahrer kam auf uns zu. Der Kopf hing vorn herunter, und der Rücken war so stark gekrümmt, als ob er seine ganze Kraft zum Treten brauchte. Er raste wie ein Rennfahrer. Plötzlich erhob er sein bärtiges Gesicht, erblickte uns in ziemlicher Nähe, sprang vom Rad und blieb stehen. Der pechschwarze Bart stand in eigentümlichem Kontrast zu der Blässe seines Gesichts und seine Augen leuchteten wie bei einem Fieberkranken. Er starrte bald uns an, bald den Wagen. Dann zeigte sich ein Staunen in seinen Zügen.

»He da! Halt!« rief er uns zu und wollte uns mit dem Fahrrad den Weg versperren. »Wo haben Sie den Wagen her? Halten Sie still!« schrie er, und zog eine Pistole hervor. »Halten Sie still, oder, bei Gott, ich schieß‘ Ihr Pferd zusammen.«

Holmes warf mir die Zügel in den Schoß und sprang herunter.

»Sie sind der Mann, den wir suchen. Wo ist Fräulein Violet Smith?« fragte er ruhig und bestimmt.

»Das frage ich Sie auch. Sie sind in ihrem Wagen. Sie müßten wissen, wo sie ist.«

»Der Wagen begegnete uns unterwegs. Es saß aber niemand drin. Wir fuhren zurück, um der jungen Dame Hilfe zu bringen.«

»Barmherziger Himmel! Barmherziger Himmel! was soll ich anfangen?« schrie der Fremde verzweiflungsvoll. »Sie haben sie geraubt, der verdammte Woodley und der elende Pfaffe. Kommen Sie, lieber Mann, kommen Sie mit, wenn Sie wirklich ihr Freund sind. Helfen Sie mir, wir woll’n sie retten, und wenn mich’s das Leben kosten sollte.«

»Er lief wie wahnsinnig, die Pistole in der Hand, nach einer Lücke in dem lebenden Zaun. Holmes rannte hinter ihm her, und ich hinter Holmes – das Pferd ließ ich am Wege grasen.

»Hier sind sie durchgekommen,« sagte mein Freund, indem er auf verschiedene Fußspuren auf dem feuchten Pfade deutete. »Hallo! Halt! Wer liegt dort im Gebüsch?«

Es war ein junger Bursche von ungefähr siebzehn Jahren in der Kleidung eines Stallknechts mit ledernen Hosen und Gamaschen. Er lag auf dem Rücken mit angezogenen Knien und einer klaffenden Kopfwunde. Er war besinnungslos, gab aber noch Lebenszeichen von sich. Ein Blick auf seine Wunde sagte mir, daß der Knochen nicht getroffen war.

»Das ist Peter, mein Stallknecht,« rief der Fremde. »Er hat sie gefahren. Die Halunken haben ihn vom Wagen heruntergerissen und niedergeschlagen. Laßt ihn liegen, ihm können wir doch nicht mehr helfen, aber vielleicht können wir sie noch vor dem Schlimmsten bewahren, was einem Weib passieren kann.«

Wir rasten den Waldpfad hinunter und hatten das Strauchwerk vor dem Haus erreicht, als Holmes anhielt.

»Sie sind nicht ins Haus gegangen. Hier ist ihre Fährte, links hier – an den Lorbeerbüschen entlang! Ich hab‘ mir’s gleich gedacht!«

Während er sprach, drangen aus dem dichten grünen Buschwerk vor uns gellende Angstschreie eines Weibes an unser Ohr – Schreie, aus denen Wut und Schrecken zu hören war. Sie endigten plötzlich auf ihrem Höhepunkt in gurgelnden Lauten, wie wenn jemand gewürgt wird.

»Hierher! Hierher!« rief uns der Fremde zu, »sie sind in der Kegelbahn!« Er stürzte durch die Büsche. »Ah, die feigen Hunde! Folgen Sie mir! Zu spät! zu spät! Bei Gott, zu spät!«

Wir standen plötzlich auf einem hübschen grünen Rasenplatz, der von ehrwürdigen Bäumen eingefaßt Arm in die Seite gestemmt, mit dem anderen eine Reitpeitsche schwingend; seine ganze Haltung zeigte Triumphieren. Dazwischen stand ein älterer Herr mit grauem Bart. Er trug einen schwarzen Priesterrock über einem hellen Sommeranzug und hatte offenbar eben die Trauung vollendet, denn, als wir auf der Bildfläche erschienen, klappte er gerade sein Gebetbuch zu, klopfte den Bräutigam kräftig auf die Schulter und gratulierte ihm in jovialer Weise.

»Sie sind getraut worden!« rief ich.

»Kommen Sie!« schrie unser Führer, »kommen Sie!« Er stürzte über den Rasen, Holmes und ich hinter ihm her. Als wir näher kamen, wankte die Dame an den Baumstamm, um sich daran festzuhalten. Der Expriester Williamson machte eine höhnische Verbeugung, und der Renommist Woodley schritt uns frohlockend entgegen.

»Du kannst deinen Bart abnehmen, Bob,« sagte er zu unserem Verbündeten. »Ich kenne dich zur Genüge. Nun, du und deine Genossen, ihr kommt gerade recht; darf ich euch Frau Woodley vorstellen?«

Die Antwort unseres Führers war sehr merkwürdig. Er riß den schwarzen Bart, womit er sich unkenntlich gemacht hatte, herunter, und warf ihn zur Erde. Darunter kam ein langes, bleiches, glattrasiertes Gesicht zum Vorschein. Dann zog er seinen Revolver hervor und hielt ihn auf den jugendlichen Schurken, der auf ihn zukam und drohend die Reitpeitsche schwang.

»Jawohl,« sagte er, »ich bin Bob Carruther und werde diesem Weibe Recht verschaffen, und wenn ich dafür an den Galgen kommen sollte. Ich hab‘ dir gesagt, was ich tun würde, wenn du Gewalt anwendetest, und, bei Gott, ich halte mein Wort!«

»Du kommst zu spät. Sie ist meine Frau!«

»Nein, deine Witwe.«

Ein Schuß krachte, und durch Woodleys Weste spritzte das Blut hervor. Er drehte sich im Kreis herum und fiel mit einem lauten Aufschrei zur Erde; sein ekelhaftes rotes Gesicht wurde schrecklich blaß. Der Alte im Talar brach in eine Flut von Schimpfreden und Flüchen aus, wie ich sie noch nie gehört hatte. Er zog ebenfalls einen Revolver, aber, bevor er ihn in Schußhöhe brachte, sah er Holmes Waffe auf sich gerichtet.

»Genug,« sagte mein Freund, ganz kaltblütig. »Legen Sie das Ding fort! Heb’s auf, Watson! Setz‘ es ihm auf die Stirn! Danke dir. Sie, Carruther, geben Sie Ihren Revolver auch her. Wir wollen keine Gewalttätigkeiten weiter. Kommen Sie, geben Sie ’n mir!«

»Wer sind Sie denn?«

»Mein Name ist Sherlock Holmes.«

»Heiliger Himmel!«

»Sie haben schon von mir gehört, wie ich merke. Ich will die offizielle Polizei vertreten, bis sie selbst hier ist. Hier, Sie!« rief er einem Knecht zu, der erschreckt auf den Platz geeilt war. »Kommen Sie her, und reiten Sie so schnell wie möglich mit diesem Zettel nach Farnham.« Er kritzelte rasch einige Worte auf ein Blatt aus seinem Notizbuch. »Dieses Papier geben Sie dem Polizeiinspektor. Bis zu seinem Eintreffen bleiben Sie alle unter meiner Bewachung.«

Mit seinem entschlossenen und energischen Auftreten beherrschte Holmes die ganze Szene, und die Menschen waren alle Puppen in seiner Hand. Williamson und Carruther mußten den verwundeten Woodley ins Haus schaffen, und ich reichte dem erschreckten Weibe den Arm. Der Verletzte wurde auf sein Bett gelegt, und ich untersuchte ihn auf Holmes‘ Bitte. Als ich ihm darüber berichten wollte, fand ich ihn in dem alten Speisezimmer, seine beiden Gefangenen saßen vor ihm.

»Er wird durchkommen,« sagte ich.

»Was!« schrie Carruther und sprang vom Stuhl auf. »Dann will ich erst ’nauf und ihm den Rest geben. Soll dieses Mädchen, dieser Engel, sein Lebtag an diesen rohen Woodley gekettet sein?«

»Darüber brauchen Sie sich nicht aufzuregen,« sagte Holmes. »Aus zwei gewichtigen Gründen ist diese Ehe unter allen Umständen ungültig. Erstens dürfen wir wohl die gesetzliche Berechtigung des Herrn Williamson anzweifeln.«

»Ich bin ordiniert,« schrie der alte Schurke.

»Aber auch wieder abgesetzt.«

»Einmal Priester, immer Priester.«

»Ich glaube kaum. Wie steht’s mit der Licenz?«

»Die hatten wir. Ich habe sie hier in der Tasche.«

»Dann haben Sie sie durch List bekommen. Aber auf jeden Fall, eine erzwungene Heirat ist keine Heirat; übrigens ist es ein sehr schweres Verbrechen, wie Sie einsehen werden. Wenn ich nicht irre, werden Sie ungefähr zehn Jahre Zeit haben, über die Sache nachzudenken. Was Sie anbelangt, Carruther, so hätten Sie Ihren Revolver besser in der Tasche gelassen.«

»Das wird mir allmählich auch klar, Herr Holmes, als ich mir aber überlegte, was ich all für Vorsichtsmaßregeln angewandt hatte, um dieses Mädchen zu beschirmen – ich liebte sie, Herr Holmes, und habe erst dieses einzigemal erfahren, was Liebe ist – brachte mich der Gedanke, sie in der Gewalt dieses Mannes zu wissen, ganz von Sinnen, denn er ist der roheste und großsprecherischste Patron in ganz Südafrika, ein Mensch, dessen Name von Kimberley bis nach Johannesburg einen schrecklichen Klang hat. Ja, Herr Holmes, Sie werden es kaum glauben, aber vom ersten Augenblick an, wo diese Dame in meinen Diensten stand, habe ich sie nicht ein einzigesmal dieses Haus, wo diese Schurken auf der Lauer lagen, passieren lassen, ohne ihr auf meinem Rad zu folgen und zu sehen, daß ihr kein Leid geschehe. Ich hielt mich stets in einiger Entfernung und trug einen Bart, damit sie mich nicht erkennen sollte, denn sie ist ein gutes und wohlanständiges Mädchen, das nicht bei mir in Stellung geblieben sein würde, wenn sie gewußt hätte, daß ich ihr auf der Landstraße nachfuhr.«

»Warum sagten Sie ihr nichts von der Gefahr?«

»Weil sie mich dann verlassen haben würde und ich das nicht ertragen zu können glaubte. Wenn sie mich auch nicht lieben konnte, so gereichte es mir doch zur Beruhigung, ihre liebliche Gestalt zu sehen und ihre wohlklingende Stimme zu hören.«

»Sie nennen das Liebe, Herr Carruther,« sagte ich, »ich möchte es Selbstsucht nennen.«

»Mag sein, die beiden Begriffe gehen ineinander über. Wie dem auch sei, ich konnte sie nicht fortlassen. Außerdem war es bei einer solchen Nachbarschaft gut für sie, daß sie einen Menschen hatte, der sich um sie kümmerte. Als dann das Telegramm kam, wußte ich, daß sie nun energisch vorgehen würden.«

»Was für ein Telegramm?«

Carruther zog eine Depesche aus der Tasche.

»Dieses hier,« sagte er.

Es lautete kurz und bündig: – Der Alte ist tot.

»Hm! Jetzt sehe ich,« sagte Holmes, »wie die Gurken hängen, und verstehe, warum sie diese Botschaft zu raschem Handeln anspornte. Aber, während wir warten, erzählen Sie mir, was Sie noch wissen.«

Der alte Kujon im Priesterrock fing wieder furchtbar zu schimpfen an.

»Bei Gott!« rief er, »wenn du uns verrätst, Carruther, werde ich dir dasselbe tun, was du Woodley getan hast. Ueber das Weib kannst du winseln, soviel du willst, das ist deine Sache, wenn du aber gegenüber deinen Helfershelfern hier zu offen wirst, dann kann dir’s sehr übel bekommen.«

»Ehrwürden brauchen sich nicht so aufzuregen,« sagte Holmes und zündete sich eine Zigarette an. »Der Fall liegt ganz klar, und ich frage Sie nur aus privater Neugier nach einigen Einzelheiten. Sollte es Ihnen aber unangenehm sein, mir zu antworten, so will ich Ihnen die Sache aufdecken, und Sie können dann sehen, was Sie von Ihren Geheimnissen noch übrig behalten. Erstens, Sie drei – Sie, Carruther und Woodley – sind zusammen aus Afrika gekommen.«

»Das ist die erste Lüge,« rief der Alte; »ich habe bis vor zwei Monaten keinen von diesen beiden gekannt und bin nie im Leben in Afrika gewesen. Die Einleitung ist also schon falsch, Sie überschlauer Herr!«

»Er sagt die Wahrheit,« bemerkte Carruther.

»Also gut, zwei von Ihnen sind herübergekommen. Seine Ehrwürden ist auf heimatlichem Boden gewachsen. Sie zwei kannten Ralph Smith. Sie wußten, daß er nicht mehr lange leben würde. Sie kundschafteten aus, daß seine Nichte die Erbin seines Vermögens war. Ist’s so – he?«

Carruther nickte und Williamson fluchte.

»Sie war zweifellos die nächste Anverwandte, und Sie wußten, daß er kein Testament machen würde.«

»Er konnte ja weder lesen noch schreiben,« warf Carruther dazwischen.

»Sie reisten also beide herüber und spürten das Mädchen auf. Sie kamen dahin überein, daß sie einer heiraten und der andere einen Anteil von der Beute bekommen sollte. Auf irgend eine Weise wurde Woodley zu ihrem Gatten bestimmt. Wie geschah das?«

»Wir spielten auf der Reise Karten um sie, und er gewann.«

»Ich verstehe. Sie nahmen die junge Dame in Ihre Dienste, und Woodley sollte ihr da den Hof machen. Sie erkannte, daß er ein gemeiner Trunkenbold war, und wollte nichts mit ihm zu tun haben. Mittlerweile verliebten Sie sich selbst in das Mädchen, und ihre Abmachung wurde dadurch über den Haufen geworfen. Sie konnten den Gedanken, daß sie dieser rohe Kerl zur Frau bekommen sollte, nicht länger ertragen.«

»Nein, bei Gott, das konnte ich nicht mehr!«

»Sie gerieten in Streit. Er ging wütend aus Ihrem Hause und beschloß, auf eigene Faust vorzugehen.«

»Es ist verblüffend, Williamson,« rief Carruther dem Rad dahinter herfuhr. Sie hatte jedoch einen großen Vorsprung, und ehe ich sie einholen konnte, war das Unglück bereits geschehen. Ich merkte es erst, als ich Sie beide Herren in ihrem Wagen zurückfahren sah.«

Holmes stand von seinem Stuhl auf und warf den Stummel seiner Zigarette in den Kamin. »Ich bin ganz vernagelt gewesen, Watson,« sagte er dann. »Du berichtetest mir damals, daß du den Radfahrer gesehen hättest, wie er deiner Ansicht nach in dem Gebüsch seine Krawatte in Ordnung gebracht hätte; das allein hätte mir alles sagen müssen. Immerhin können wir uns zu dem merkwürdigen und in mancher Einsicht einzigartigen Falle gratulieren. Dort kommen drei Gendarmen, und der kleine Kutscher ist zu meiner Freude auch dabei; es ist also zu erwarten, daß er sowohl wie der interessierte Bräutigam von den heutigen Abenteuern keinen dauernden Schaden haben wird. Ich denke, Watson, du gehst in deiner Eigenschaft als Arzt zu Fräulein Smith und sagst ihr, daß wir ihr, wenn sie sich soweit erholt hat, gerne das Geleit zu ihrer Mutter geben. Wenn sie sich noch nicht kräftig genug fühlt, wollen wir an den jungen Elektrotechniker bei Midland depeschieren, und du wirst sehen, daß sie dann bald vollständig gesund sein wird. Was Sie betrifft, Herr Carruther, so glaube ich, daß Sie Ihr mögliches getan haben, um Ihre Schuld zu sühnen, die Sie durch Teilnahme an diesem bösen Plan aus sich geladen hatten. Hier haben Sie meine Karte, wenn Ihnen mein Zeugnis bei Gericht von Nutzen sein kann, stehe ich Ihnen gern zur Verfügung.«

*

Im Strudel unseres bewegten Lebens ist es mir oft schwer gefallen – der Leser wird es wahrscheinlich schon bemerkt haben – meine Erzählungen gut abzurunden und am Schluß die nötigen Mitteilungen nicht zu vergessen, die man erwarten kann. Bei der Fülle unserer Fälle sind jedoch bei jedem einzelnen die handelnden Personen, sobald die Entscheidung vorüber ist, schnell aus meinem Gedächtnis entschwunden. Am Ende meiner Aufzeichnungen über diesen Fall finde ich jedoch folgenden Nachtrag: Fräulein Smith hat tatsächlich ein großes Vermögen geerbt und ist jetzt die Gattin Cyril Mortons, des älteren Teilhabers von Morton und Kennedy, der bekannten Elektrizitätsgesellschaft in Westminster. Williamson und Woodley sind wegen Körperverletzung und Entführung angeklagt worden, dieser hat zehn, jener sieben Jahre bekommen. Ueber das Schicksal Carruthers habe ich keine Notiz, aber ich glaube sicher, weil Woodley als gewalttätiger Mensch bekannt war, hat der Gerichtshof sein Vergehen mild beurteilt und einige Monate Gefängnis als ausreichende Sühne angesehen.

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Im leeren Hause.

Im leeren Hause.

Im Frühling des Jahres 1894 war ganz London in Aufregung. Besonders die vornehme Welt war durch die Ermordung des Herrn Ronald Adair tief erschüttert. Dieser junge Baron hatte unter höchst eigentümlichen Umständen und auf ganz unerklärliche Weise das Leben verloren. Das Publikum hat von diesem Verbrechen seinerzeit nur wenig Näheres erfahren, weil die polizeilichen Nachforschungen keinen Erfolg gehabt hatten, und überdies das meiste im Interesse der weiteren Verfolgung des an und für sich schon außerordentlich schwierigen Falles geheim gehalten werden mußte. Erst jetzt nach Verlauf von zehn Jahren bin ich in der Lage, die fehlenden Glieder der Kette sowie den Schluß der Untersuchung bekannt zu geben. Aber trotz dieser langen Zeit empfinde ich noch ein Schaudern, wenn ich an das Verbrechen und seine tragische Aufdeckung denke, fühle aber auch von neuem jene Freude und jene Bewunderung, die mich damals erfüllte, als es endlich gesühnt war. Die Öffentlichkeit möge mir’s zu gut halten, daß ich ihr nicht gleich alles, was ich wußte, mitgeteilt habe, nachdem sie bereits meinen früheren Erzählungen über das Tun und Denken eines merkwürdigen Mannes ein lebhaftes Interesse geschenkt hatte. Ich würde es sicherlich nicht verabsäumt haben, denn ich hielt es für meine vornehmste Pflicht; aber eine Bitte aus dem eigenen Munde eben dieses Mannes verhinderte mich daran, und erst vor ein paar Monaten bin ich von meinem Versprechen entbunden worden.

Wie man sich leicht denken kann, hatte ich infolge meiner intimen Freundschaft mit Sherlock Holmes an dem Verbrechen ein hervorragendes Interesse, und habe, weil er selbst nicht mehr da war, die verschiedenen Fragen, die daran geknüpft wurden, genau verfolgt und geprüft. Zu meiner Beruhigung habe ich sogar seine eigenen Methoden zur Aufklärung angewandt, freilich mit nur geringem Erfolge. Als ich las, daß in dem wegen der Ermordung des Ronald Adair eingeleiteten Verfahren auf Grund der Voruntersuchung die Anklage wegen vorsätzlichen Mordes gegen ›Unbekannt‹ erhoben worden war, kam es mir wieder deutlicher als je zuvor zum Bewußtsein, was die Gesellschaft an Sherlock Holmes verloren hatte. In dieser dunkeln Angelegenheit gab es Punkte klarzustellen, die gerade etwas für ihn gewesen wären, und die Anstrengungen der Polizei würden durch die Beobachtungen, die Gewandtheit und den Scharfsinn dieses ersten Detektivs Europas wesentlich ergänzt und in die richtigen Bahnen gelenkt worden sein. Jeden Tag, wenn ich meine Runde machte, überlegte ich mir den Fall von neuem, ohne jedoch zu einer ausreichenden und vollkommen befriedigenden Erklärung gelangen zu können.

Auf die Gefahr hin, einigen Lesern eine bekannte Geschichte zu erzählen, will ich hier doch die Tatsachen rekapitulieren, soweit sie am Schluß der Vorverhandlung bekannt waren:

Ronald Adair war der zweite Sohn des Grafen Maynooth, des damaligen Gouverneurs in einer australischen Kolonie. Adairs Mutter war von Australien nach England gekommen, um sich hier einer Augenoperation zu unterziehen; sie bewohnte mit ihrem Sohne Adair und ihrer Tochter Hilda das Haus Parkstraße 427 in London. Der junge Mann verkehrte in der besten Gesellschaft und hatte, soviel man wußte, keine Feinde und auch keine besonderen Laster. Er war mit einem Fräulein Edith Woodley aus Carstairs verlobt gewesen; dieses Verhältnis war einige Monate vor seinem Tode mit beiderseitiger Einwilligung gelöst worden, und nichts hatte darauf hingedeutet, daß dadurch ein tieferes Gefühl verletzt worden wäre. Im übrigen spielte sich das Leben des jungen Herrn in einem vornehmen kleinen Kreise ab, denn er war von ruhiger Natur und kein Freund von Extravaganzen.

Trotzdem wurde dieser friedliche junge Edelmann in der Nacht des 30. März 1894 zwischen zehn und elf Uhr zwanzig Minuten auf eine höchst merkwürdige Weise und gänzlich unerwartet vom Tode ereilt.

Ronald Adair spielte gerne Karten, aber nie so hoch, daß ihn Verluste geschmerzt hätten. Er war Mitglied des Baldwin-, des Cavendish- und des Bagatelle-Kartenklubs. Nach dem Abendessen hatte er an jenem Tage nachgewiesenermaßen in dem letztgenannten Klub eine Partie Whist gespielt. Er hatte auch bereits am Nachmittag dort gespielt. Nach Aussage seiner Mitspieler – des Herrn Murray, des Barons Hardy und des Obersten Moran – hatte es sich ebenfalls um Whist gehandelt, und waren die Karten ziemlich gleichmäßig gefallen. Adair konnte höchstens fünf Pfund verloren haben. Er besaß ein beträchtliches Vermögen, sodaß ihn ein derartiger Verlust nicht weiter rühren konnte. Er hatte fast jeden Tag in dem einen oder anderen Klub gespielt, aber er war ein vorsichtiger Spieler und gewann gewöhnlich. Es wurde durch Zeugen festgestellt, daß er einige Wochen vorher an einem einzigen Abend in Gemeinschaft mit dem Obersten Moran tatsächlich gegen 420 Pfund von Godfrey Milner und Lord Balmoral gewonnen hatte. Diese Angaben, die im Laufe der Untersuchung über sein Vorleben gemacht wurden, mögen genügen.

Am Abend des Verbrechens kehrte er Punkt zehn Uhr aus dem Klub zurück. Seine Mutter und Schwester waren zu Besuch bei einer Verwandten. Das Dienstmädchen hat unter Eid ausgesagt, daß sie ihn in das Vorderzimmer im zweiten Stock, wo er sich gewöhnlich aufhielt, hat eintreten hören. Sie hatte dort Feuer angemacht und, weil es rauchte, die Fenster geöffnet. Kein Laut war aus dem Zimmer an ihr Ohr gedrungen. Als um elf Uhr zwanzig Minuten die Gräfin mit ihrer Tochter zurückkehrte, wollte sie ihrem Sohn Gute Nacht sagen. Sie fand jedoch die Türe seines Zimmers von innen verschlossen, und bekam keine Antwort auf ihr Rufen und Klopfen. Sie holte Hilfe und ließ die Türe aufbrechen. Der unglückliche junge Mann lag in der Nähe des Tisches auf dem Boden. Sein Kopf war von einer Revolverkugel zerschmettert, aber in dem ganzen Raum war keine Waffe zu sehen. Auf dem Tische lagen zwei Zehnpfundscheine und siebzehn Pfund zehn Schilling in Gold und Silber; das Geld war in kleine Häufchen von verschiedenen Beträgen abgezählt. Daneben befand sich ein Blatt Papier, worauf einige seiner Klubfreunde gezeichnet waren. Unter jedem Bild stand der Name des Betreffenden; daraus wurde geschlossen, daß er vor seinem Ende die Verluste und Gewinne beim Kartenspiel hatte regeln wollen.

Die genauere Prüfung aller obwaltenden Umstände ließ die Sache nur immer rätselhafter erscheinen. In erster Linie war kein Grund einzusehen, warum der junge Mann von innen abgeriegelt haben sollte. Zwar war die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß es der Mörder getan hatte, und dann durch das Fenster entflohen war. Doch war dieses mindestens zwanzig Fuß über dem Boden, und das Beet mit blühenden Blumen unter dem Fenster zeigte keinerlei Fußspuren; die Blüten, wie der Erdboden selbst waren vollkommen unversehrt. Auch der schmale Rasenstreifen zwischen dem Haus und der Straße wies keine Fährte auf. Demnach mußte der junge Herr selbst die Tür abgeschlossen haben. Wie hatte er aber den Tod gefunden? Kein Mensch konnte durch das Fenster ein- oder ausgestiegen sein, ohne Spuren zu hinterlassen. Angenommen, es habe jemand durch das Fenster geschossen, so mußte es wahrhaftig mit merkwürdigen Dingen zugegangen sein, daß eine Revolverkugel so sicher getroffen hatte. Außerdem ist die Parkstraße sehr belebt, und kaum hundert Meter vom Haus befindet sich ein Droschkenhalteplatz, aber kein Mensch hatte einen Schuß gehört.

Und doch war die Leiche mit der Schußwunde ein untrügliches Zeichen, daß geschossen worden war, und zwar war die Verwundung derart, daß der Tod augenblicklich eingetreten sein mußte. – So lagen die Verhältnisse; sie wurden dadurch noch verwickelter, daß jeder ersichtliche Beweggrund zur Tat fehlte, denn, wie ich erwähnt habe, war der junge Adair ein Mann, der keinen Feind hatte, und außerdem war noch nicht einmal der Versuch gemacht worden, Geld oder Wertgegenstände im Zimmer zu entwenden.

Ich ließ mir den Tatbestand häufiger durch den Kopf gehen und bemühte mich immer wieder, eine Erklärung zu finden, unter welche man alle diese verschiedenen Tatsachen zusammenreimen, und von der aus man einen Ausgangspunkt finden könnte, was nach dem Ausspruch meines armen Freundes die Vorbedingung jeder weiteren Nachforschung bilden mußte. Ich machte jedoch, offen gestanden, nur sehr geringe Fortschritte in der Sache. Eines Abends wanderte ich durch die Parkstraße und befand mich gegen sechs Uhr an der Ecke der Oxfordstraße. Vor dem Hause, das ich mir ansehen wollte, war eine große Menschenmenge versammelt und richtete ihre Blicke auf ein bestimmtes Fenster desselben. Ein schlanker, hagerer Mann mit blauer Brille, in dem ich stark einen Geheimpolizisten vermutete, gab seine Ansicht über den Vorfall zum besten, während die übrigen um ihn herumstanden und seinen Ausführungen lauschten. Ich drängte mich möglichst nahe an den Sprecher heran, aber seine Ausführungen erschienen mir so unsinnig, daß ich bald verstimmt von dannen ging. Dabei stieß ich einen ältlichen Mann an, der hinter mir gestanden hatte, und eine Anzahl Bücher, die er unter dem Arm trug, fielen zu Boden. Ich half sie ihm schnell aufheben, erinnere mich aber trotzdem noch genau eines Bücher, die ich unglücklicherweise so übel behandelt hatte, waren aber offenbar in den Augen ihres Eigentümers unschätzbare Wertobjekte, denn er knurrte nur ein paar unverständliche Worte und drehte mir verächtlich den Rücken zu; und ich sah seinen Buckel und den weißen Backenbart in der Menge verschwinden.

Meine Wahrnehmungen in der Parkstraße 427 waren wenig dazu angetan, in das dunkle Problem, das mich beschäftigte, Licht zu bringen. Das Haus war durch eine niedrige Mauer mit einem Zaun von der Straße getrennt; beide zusammen konnten etwa fünf Fuß hoch sein. Es fiel also nicht besonders schwer, darüber hinweg in den Garten zu steigen, aber das Fenster war vollkommen unerreichbar: es führte weder eine Dachrinne noch sonst etwas hinauf, woran auch der gewandteste Kletterer hätte emporklimmen können. Ratloser als je zuvor, lenkte ich meine Schritte nach Kensington zurück. Ich hatte kaum fünf Minuten in meinem Arbeitszimmer gesessen, als das Dienstmädchen hereintrat und meldete, daß mich jemand zu sprechen wünsche. Zu meinem Erstaunen war es kein anderer als mein merkwürdiger alter Büchersammler. Er hatte ein scharfgeschnittenes, hageres Gesicht, von weißem Haar umrahmt, unter dem rechten Arm trug er seine kostbaren Bände, mindestens ein Dutzend an der Zahl.

»Sie werden sich wundern, mich hier zu sehen, mein Herr,« sagte er mit eigentümlicher, krächzender Stimme.

Ich gab das ohne weiteres zu.

»Nun,« fuhr er fort, »als ich hinter Ihnen her humpelte und Sie in dieses Haus gehen sah, dachte ich als pflichtschuldiger Mann, du willst gleich mal diesen freundlichen Herrn aufsuchen und ihm sagen, daß, wenn du vorhin ein bißchen schroff gewesen bist, es nicht so gemeint war, und ihm für seine Liebenswürdigkeit, daß er die Bücher wieder aufgehoben hat, deinen Dank abstatten.«

»Sie machen zuviel Aufhebens von dieser Kleinigkeit,« antwortete ich ihm. »Darf ich vielleicht fragen, woher Sie mich kennen?«

»Ich bin so frei, Ihnen zu sagen, daß ich Ihr Nachbar bin, mein kleiner Bücherladen liegt an der Ecke der Domstraße, und es würde mir eine große Ehre sein, wenn Sie mich mal besuchten. Vielleicht sind Sie auch ein Liebhaber interessanter Bücher. Ich habe die ›Britischen Vögel‹, den ›Catullus‹ und den ›Heiligen Krieg‹, Werke, von denen jedes einzelne ein kostbarer Schatz ist. Mit fünf solchen Bänden würden Sie jenes leere Fach dort in Ihrem Bücherschrank gerade ausfüllen können. Es sieht so nicht hübsch aus, nicht wahr?«

Ich drehte mich nach dem Bücherspind um. Als ich mich wieder zurückwandte, stand am Schreibtisch mir gegenüber mit lächelnder Miene Sherlock Holmes. Ich sprang auf, sah ihm ein paar Sekunden verwundert ins Gesicht, und bin dann allem Anschein nach zum ersten- und letztenmal in meinem Leben in Ohnmacht gefallen. Ich weiß nur noch so viel, daß mein Auge umnebelt wurde, und ich beim Erwachen meinen Kragen aufgeknöpft fand, und den brennenden Nachgeschmack von Branntwein auf den Lippen spürte. Holmes war über meinen Stuhl gebeugt und hielt das Fläschchen noch in der Hand.

»Mein lieber Watson,« erklang die wohlbekannte Stimme, »ich bitte dich tausendmal um Entschuldigung. Ich hatte keine Ahnung, daß du so nervenschwach geworden seist.«

Ich ergriff seine Hand.

»Holmes!« rief ich. »Bist du’s wirklich? Ist’s möglich, daß du noch lebst? Ist’s möglich, daß du aus jenem fürchterlichen Abgrund herausgeklettert bist?« [Fußnote]

»Einen Augenblick,« sagte er. »Fühlst du dich auch tatsächlich kräftig genug, um meiner Erzählung folgen zu können? Ich habe dich durch mein überflüssiges dramatisches Auftreten ernstlich erschreckt.«

»Ich bin wieder ganz auf dem Damm, aber wahrhaftig, Holmes, ich kann kaum meinen Augen trauen. Weiß Gott, ich kann mir gar nicht vorstellen, daß du – du in aller Welt – in meinem Studierzimmer stehen sollst!« Ich erfaßte wiederum den Aermel seines Rockes und fühlte den mageren sehnigen Arm hindurch »Wirklich, du bist kein Geist,« sagte ich. »Lieber Junge, ich freue mich über alle Maßen, dich wiederzusehen. Setz‘ dich und erzähl mir, wie du aus dem schrecklichen Abgrund lebend herausgekommen bist.«

Er nahm mir gegenüber Platz und zündete sich mit der ihm eigenen Gemütsruhe eine Zigarre an. Den langen Gehrock des Buchhändlers hatte er anbehalten, dagegen die übrige Kostümierung, das weiße Haar, den Bart und auch die Bücher auf den Tisch gelegt. Er sah noch hagerer und scharfsinniger aus als ehedem, aber sein Adlergesicht war so leichenblaß, als ob er in der letzten Zeit eine Krankheit durchgemacht hatte.

»Ich bin froh, daß ich mich wieder ordentlich ausstrecken kann,« begann er dann. »Für einen großen Mann ist es kein Vergnügen, wenn er stundenlang seine Körperlänge um einen Fuß verkürzen muß. Im übrigen, mein Lieber, mußt du mir zuerst sagen, ob du bei meiner Sache heute nacht mitwirken willst; es handelt sich um eine harte und gefährliche Arbeit. Es würde überhaupt am besten sein, wenn ich dir erst nach getaner Arbeit alles auseinandersetzte.«

»Ich bin äußerst gespannt und möchte es lieber jetzt gleich erfahren.«

»Du willst also heute nacht mitkommen?«

»Wann und wohin du willst.«

»Du bist wahrhaftig noch der Alte. Ehe wir zu gehen brauchen, können wir einen kleinen Imbiß nehmen. Also, was den Abgrund betrifft, war es nicht allzu schwer, herauszukommen, aus dem einfachen Grunde, weil ich gar nie drin war.«

»Du warst nie drin?«

»Nein, Watson, ich war niemals drin. Mein Schreiben an dich beruhte zwar vollständig auf Wahrheit. Ich zweifelte selbst nicht im geringsten daran, daß ich bald aufgehoben sein würde, als ich in einiger Entfernung die verdächtige Gestalt des ehemaligen Professors Mariarty auftauchen sah. Ich las in seinen grauen Augen einen unabänderlichen Entschluß. Ich wechselte ein paar Worte mit ihm und erhielt die gütige Erlaubnis, dir jene kurze Notiz zukommen zu lassen, die du später gefunden hast. Ich legte sie samt Zigarettentasche und Spazierstock auf den schmalen Pfad und wanderte weiter, während mir Mariarty immer auf den Fersen folgte. Als ich am Ende des engen und steilen Weges angelangt war, blieb ich stehen und leistete ihm Widerstand. Da er keine Waffe bei sich hatte, stürzte er einfach auf mich los und umschlang mich mit seinen langen Armen. Er war sich bewußt, was für ihn auf dem Spiel stand, und versuchte mit aller Gewalt, an mir Rache zu nehmen. Wir gerieten zusammen an den Rand des Wasserfalls. Ich besitze stürzte unter einem entsetzlichen Aufschrei hintenüber. Ich sah, wie er in die Tiefe fiel, an einen Felsenvorsprung aufschlug und unten ins Wasser plumpste.«

Staunend hörte ich Holmes‘ Schilderung, er selbst rauchte gemächlich seine Zigarre dabei.

»Aber zum Teufel!« warf ich ein, »ich habe doch mit eigenen Augen gesehen, daß zwei Fußspuren hinführten, aber keine zurück.«

»Das ging so zu: Im selben Moment, als der Professor verschwand, kam mir meine eigene Lage klar zum Bewußtsein. Sie war nicht ungünstig. Einerseits wußte ich allerdings, daß nicht Mariarty allein mir den Tod geschworen hatte; es blieben wenigstens noch drei andere, deren Rachebedürfnis nach dem Tode ihres Anführers sicher nicht abnehmen würde; lauter gefährliche Kunden, von denen mich der eine oder der andere gewiß einmal erwischen würde. Andererseits unterlag es für mich keinem Zweifel, daß sie freier und offener auftreten würden, wenn mich alle Welt für tot hielt. Sobald sich dann eine günstige Gelegenheit bieten würde, sie unschädlich zu machen, wollte ich wieder auftauchen und der Menschheit zeigen, daß ich doch noch am Leben wäre. Dies alles hatte ich, glaube ich, eher überdacht, als der Professor auf dem Grunde des Reichenbachfalles angekommen war; so schnell arbeitete damals mein Gehirn.

bequem verbergen konnte. Dort lag ich ganz behaglich ausgestreckt, lieber Watson, als ihr herbeikamet, um die näheren Umstände meines Todes festzustellen.

»Nachdem ihr endlich die unvermeidlichen, aber sehr irrigen Schlüsse gezogen hattet, begabt ihr euch ins Hotel zurück, während ich in meinem Versteck blieb. Ich hatte mir eingebildet, am Ende meiner Fährnisse angekommen zu sein, aber ein gänzlich unerwartetes Ereignis machte mir klar, daß mir noch mancherlei Ueberraschungen bevorstanden. Ein riesiger Felsblock kam plötzlich von oben herunter, sauste an mir vorüber und fiel donnernd hinab in die Tiefe. Im ersten Augenblick wähnte ich, es wäre ein Zufall, aber im nächsten erkannte ich bereits den wahren Sachverhalt. Als ich aufblickte, gewahrte ich nämlich das Gesicht eines Mannes, und ein zweiter Stein traf gerade meine Lagerstätte, kaum einen Fuß von meinem Kopf entfernt. Ich wußte nun, woran ich war. Mariarty hatte Helfershelfer gehabt, von denen einer – ich hatte auf einen Blick erkannt, was für ein gefährlicher Bursche es war – Wache gestanden hatte, während der Professor den Angriff ausgeführt hatte. Aus einer gewissen Entfernung, ohne daß ich ihn hatte sehen können, war er Zeuge vom Tode seines Freundes und von meiner Rettung gewesen. Er hatte gewartet, bis ihr weg waret, Watson, und war dann auf die Felswand geklettert, um womöglich das zu vollbringen, was seinem Gefährten nicht gelungen war.

»Es blieb mir nicht viel Zeit zum Besinnen, mein Lieber. Ich sah das grimmige Gesicht wieder über die Klippe lugen und merkte daraus, daß bald noch mehr Steinblöcke folgen würden. Ich kroch rückwärts die steile Wand hinunter. Ich glaube kaum, daß ich mit kühler Ueberlegung die Rückreise angetreten habe, denn sie war tausendmal schwieriger, als das Hinaufklettern. Doch hatte ich keine Muße, lange über die Gefahr nachzudenken, ein neuer Stein rollte an mir vorbei, als ich an der Kante des Vorsprungs hing. In der Mitte des Weges rutschte ich aus und kam durch ein gnädiges Geschick, wenn auch zerschunden und blutend, glücklich unten auf dem Pfade an. Ich machte mich gleich auf die Beine, marschierte in der Nacht noch zehn Meilen weit durch das Gebirge und befand mich eine Woche später, in dem sicheren Bewußtsein, daß kein Mensch in der Welt wisse, was aus mir geworden sei, in Florenz.

»Ich hatte nur einen einzigen Vertrauten – meinen Bruder Mycroft. Ich bitte dich vielmals um Verzeihung, lieber Watson, aber es war unbedingt notwendig, daß ich für tot gehalten wurde, und du würdest keine so überzeugende Schilderung meines unglücklichen Endes geschrieben haben, wenn du nicht selbst daran geglaubt hättest. Verschiedene Male in dem Studium der Steinkohlenteerverbindungen oblag. Nachdem ich meine Untersuchungen zu einem befriedigenden Abschluß gebracht und erfahren hatte, daß nur noch einer meiner Feinde in London sei, wollte ich zurückkommen. Das mysteriöse Verbrechen in der Parkstraße hat meine Rückkehr noch beschleunigt. Es interessierte mich nicht nur an sich, sondern schien mir auch eine günstige Gelegenheit zur Ausführung meines Vorhabens zu sein. Ich fuhr also schleunigst nach London, begab mich nach der Bakerstraße, versetzte Frau Hudson in heftige Krämpfe und fand, daß Mycroft meine Zimmer und meine Sachen genau in derselben Ordnung gelassen hatte, wie ich sie verlassen. So saß ich denn, mein lieber Watson, heute nachmittag um zwei Uhr in meinem alten Lehnstuhl, in meinem alten Zimmer, und hatte weiter keinen Wunsch, als meinen alten Freund Watson in dem anderen Stuhl zu sehen, den er so oft geziert hatte.«

Das war die merkwürdige Erzählung, die ich an jenem April-Abend zu hören bekam – eine Erzählung, die ich nie geglaubt haben würde, wenn ich nicht die lange, hagere Gestalt und das scharfe, lebhafte Gesicht vor mir gesehen hätte, das ich nie wiederzuschauen gemeint hatte. Auf irgend eine Weise mußte mein Freund auch von meinem eigenen Mißgeschick gehört haben. Sein Mitleid zeigte sich mehr in seinem Benehmen als in Worten. »Arbeit ist das beste Mittel gegen Kummer und Verdruß,« sagte er nur, »und ich habe für heute nacht ein Stück Arbeit, das allein, wenn wir’s glücklich vollenden, für einen Mann das Leben wertvoll macht.« Meine Bitte um näheren Aufschluß darüber war vergeblich. »Bis morgen wirst du genug erfahren,« antwortete er. »Jetzt haben wir uns noch über die letzten drei Jahre zu unterhalten. Dieser Gesprächsstoff wird bis halb zehn genügen und dann wird’s Zeit, daß wir zu unserem vielverheißenden Abenteuer nach dem leeren Hause aufbrechen.«

Es war tatsächlich wieder wie in den alten Zeiten, als ich um die angegebene Zeit neben ihm in der Droschke saß, den Revolver in der Tasche und gespannt auf die kommenden Dinge. Holmes war ernst und schweigsam. Im Schein der Straßenlaternen sah ich, wie er nachdenklich die Stirn in Falten gelegt und die Lippen fest aufeinander gepreßt hatte. Ich wußte nicht, was für Wild wir in den dunkeln Revieren des Londoner Verbrecherviertels jagen wollten, aber an dem Gesicht dieses ausgezeichneten Jägers erkannte ich wohl, daß es sich um eine sehr gefährliche Art handeln müsse, und das gelegentliche Lächeln auf seinem sonst unbeweglichen, finsteren Antlitz war wenig glückverheißend für unsere Feinde.

Ich glaubte, wir würden nach der Bakerstraße fahren, aber an der Ecke des Cavendish-Platzes ließ Holmes halten. Ich bemerkte, wie er sich beim Aussteigen nach allen Seiten umschaute, und auch ferner an jeder Straßenecke vergewisserte, daß ihm niemand folgte. Wir schritten durch die dunkelsten Straßen und Gassen. Holmes hatte eine erstaunliche Ortskenntnis, und er führte mich mit größter Sicherheit und in eiligem Tempo durch ein wahres Labyrinth von Remisen, Ställen und Lagerräumen, von deren Existenz ich noch nicht einmal eine Ahnung hatte. Endlich gelangten wir durch eine enge Gasse, die von alten düsteren Gebäuden eingeschlossen war, in die Manchester- und in die Blandfordstraße. Hier bog er rasch in einen schmalen Gang ein, ging durch ein großes hölzernes Tor über einen öden Hof und schloß dann mit einem Schlüssel die hintere Türe eines Hauses auf. Wir traten zusammen ein, und hinter uns schloß er wieder zu.

Obwohl es stockdunkel war, merkte ich doch gleich, daß das Haus leer war. Der Fußboden knarrte, und an der Wand fühlte ich mit meiner tastenden Hand herabhängende Tapetenfetzen. Holmes faßte mich mit seinen kalten dünnen Fingern bei der Hand und führte mich in dem langen Gang weiter, bis ich den trüben Lichtschimmer von einem Fenster über einer Tür gewahrte. In dieser Ecke wandte er sich nach rechts, und wir kamen in einen großen leeren Raum. Es war ganz dunkel darin, nur in der Mitte war ein matter Lichtschein, der von der Straße her kam. Die Laterne war aber so weit entfernt und das Fenster so verstaubt und schmutzig, daß wir mit knapper Not gerade erkennen konnten, wo wir standen. Mein Gefährte klopfte mich leise auf die Schulter und flüsterte mir ins Ohr:

»Weißt du, wo wir sind, Watson?«

»Das ist sicher die Bakerstraße,« antwortete ich, während ich durch das matte Fenster blickte.

»Allerdings. Wir sind im Camden House, unserer alten Wohnung gegenüber.«

»Aber was wollen wir hier?«

»Wir haben von hier eine ausgezeichnete Aussicht auf jenen malerischen Pfeiler dort drüben. Komm‘, bitte, etwas näher ans Fenster, lieber Watson, nimm dich aber in acht, daß du nicht gesehen wirst, und guck‘ mal nach unserem alten Heim hinüber – dem Ausgangspunkt von so manchem unserer kleinen Erlebnisse. Ich will sehen, ob ich dich nach dreijähriger Abwesenheit noch überraschen kann.«

Ich schlich mich vor und sah nach dem wohlbekannten Fenster. Ein Ausruf der Verwunderung und des Erstaunens entfuhr meinen Lippen. Die Rolljalousien waren heruntergelassen, das Zimmer war hell erleuchtet und auf dem Fenstervorhang war der Schatten eines Mannes auf einem Stuhl in scharfen Umrissen deutlich wahrnehmbar. Man konnte den eckigen Kopf, die breiten Schultern und das scharfgeschnittene Gesicht genau erkennen. Das Bild sah wie eine große schwarze Silhouette aus der Zeit unserer Großeltern aus. Es war ein getreues Konterfei von Holmes. Ich war dermaßen erstaunt, daß ich meine Hand ausstreckte, um mich zu überzeugen, ob er selbst wirklich noch neben mir stände. Er barst bald vor verhaltenem Lachen.

»Gut so?« fragte er.

»Bei Gott!« rief ich aus, »wunderbar!«

»Ich hoffe, daß ich in der Zwischenzeit meine Erfindungskraft nicht eingebüßt habe,« sagte er in jenem Tone der Freude und des Stolzes, den der Künstler beim Anblick seiner eigenen Schöpfung empfindet. »Es sieht mir tatsächlich ähnlich, nicht wahr?«

»Ich hätte geschworen, du wärst’s.«

»Das Verdienst der Ausführung gebührt dem Herrn Oskar Meunier in Grenoble, der ein paar Tage auf die Anfertigung des Modells verwandt hat. Es ist eine Wachsbüste. Die Aufstellung und alles übrige habe ich heute nachmittag während meines Aufenthaltes in der Bakerstraße selbst besorgt.«

»Aber wozu das alles?«

»Aus sehr gewichtigen Gründen, lieber Watson, weil ich gewisse Leute glauben machen will, ich sei zu Hause, während ich in Wirklichkeit anderswo bin.«

»Du denkst also, die Zimmer werden beobachtet?«

»Ich weiß, daß sie beobachtet werden.«

»Von wem?«

»Von meinen alten Feinden, Watson, von der reizenden Gesellschaft, deren Vorstand im Reichenbachfall ruht. Du mußt bedenken, daß ihnen, und nur ihnen allein, bekannt ist, daß ich noch lebe. Sie haben vermutet, daß ich früher oder später doch wieder in meine Wohnung zurückkehren würde, sie daher fortwährend beobachten lassen und meine Ankunft heute früh erfahren.«

»Woher weißt du das?«

»Weil ich ihre Wache wiedererkannte, als ich zum Fenster hinaussah. Es ist ein ungefährlicher Mensch, Namens Parker, ein armer Drehorgelspieler. Ich schere mich den Teufel um ihn, kümmere mich aber um so mehr um seinen gefährlichen Auftraggeber, den Busenfreund Mariartys, den Mann, der die Steine geschleudert hat, den schlauesten und verwegensten Verbrecher Londons. Dieser Bursche ist heute nacht hinter mir, Watson, und hat keine Ahnung, daß wir hinter ihm sind.«

Auf diese Weise erfuhr ich allmählich, was mein Freund vorhatte. Von diesem stillen Platze aus sollte den Aufpassern aufgepaßt und sollten die Verfolger verfolgt werden. Jener Schatten drüben war der Köder, und wir waren die Jäger. Lautlos standen wir in der Dunkelheit und beobachteten die Vorübergehenden. Holmes rührte und regte sich nicht, aber er war zweifellos auf seiner Hut und richtete ein wachsames Auge auf alle Passanten. Es war kaltes, stürmisches Wetter, der Wind pfiff durch die lange Straße. Die meisten Leute trugen Ueberzieher und hatten den Kragen in die Höhe geschlagen. Ein paarmal hatte ich den Eindruck, als ob dieselbe Person wiederholt vorbeikäme, und besonders fielen mir zwei Männer auf, die vor dem Sturm im Torweg eines ein paar Häuser weiter oben liegenden Gebäudes Zuflucht zu suchen schienen. Ich machte meinen Freund darauf aufmerksam. Er zeigte jedoch nur einen gewissen Unwillen und blickte unausgesetzt auf die Straße hinaus. Er stampfte zuweilen mit den Füßen auf den Boden und trommelte mit den Händen an die Wand, ein Zeichen, daß er ungehalten war, weil seine Voraussetzungen nicht so ganz in der gehofften Weise eintrafen. Als die Straße allmählich leer geworden war, ging er unruhig auf und ab. Ich wollte gerade eine Bemerkung machen, als mein Blick zufällig auf das bekannte Fenster hinüberfiel und ich eine fast ebenso große Ueberraschung sah wie vorher.

»Der Schatten hat sich bewegt!« rief ich ihm zu. In der Tat war uns nicht mehr das Profil, sondern der Rücken zugekehrt.

»Natürlich hat er sich bewegt,« antwortete Holmes. »Hältst du mich für einen solchen Stümper, Watson, daß ich eine offenkundige Vogelscheuche aufstelle und damit die geriebensten Verbrecher Europas täuschen will? Wir sind seit zwei Stunden hier und Frau Hudson hat die Figur alle Viertelstunde etwas gedreht, also in der ganzen Zeit vielleicht achtmal. Sie macht es selbstverständlich so, daß ihr eigener Schatten nicht gesehen werden kann. »Ha!« stieß er aus und hielt dann den Atem an. In dem trüben Licht sah ich, wie er den Kopf in die Höhe richtete und sich in der stärksten Spannung befand. Die Straße war jedoch vollkommen menschenleer. Jene beiden Männer mochten sich noch in dem Torweg verborgen halten, ich konnte sie jedenfalls nicht mehr sehen. Alles war ruhig und dunkel. Nur der Fenstervorhang mit dem schwarzen Schatten in der Mitte war noch erleuchtet. In dem tiefen Schweigen vernahm ich wieder Laute von Holmes, aus denen ich seine furchtbare, unterdrückte Erregung hörte. Im nächsten Augenblick zog er mich in die finsterste Ecke des Zimmers und hielt mir warnend die Hand auf den Mund. Ich fühlte, wie seine Finger zitterten. Ich hatte meinen Freund niemals in einer solchen Aufregung gesehen, und doch konnte ich auf der Straße durchaus nichts Verdächtiges entdecken.

Aber auf einmal merkte ich, was er mit seinen schärferen Sinnen wohl schon früher gehört hatte. Ein schwaches, unheimliches Geräusch drang an mein Ohr, freilich nicht von der Bakerstraße, sondern von der Hofseite des Hauses her, in dem wir uns verborgen hielten. Eine Türe wurde auf- und wieder zugemacht. einspringt. Er kniete noch immer auf dem Fußboden und mühte sich mit aller Kraft an irgend einem Hebel oder dergleichen ab, bis man wieder ein ähnliches, aber stärkeres Einschnappen hörte, wie vorher. Nun richtete er sich auf, und ich sah, daß das Werkzeug in seiner Hand eine besondere Art Schießgewehr vorstellte. Er öffnete es hinten, steckte etwas hinein und ließ den Bolzen wieder einschlagen. Dann kauerte er sich nieder, legte den Lauf auf die Fensterbrüstung und nahm, indem sein mächtiger Schnurrbart auf den Schaft herunterhing, mit blitzenden Augen das Visier. Er atmete tief auf, als er angelegt hatte. Einen Augenblick war er mäuschenstill und zuckte mit keiner Wimper. Endlich drückte er ab. Ein eigentümliches ›Ptsch‹ und der charakteristische Ton beim Aufschlagen eines Geschosses! Im selben Moment sprang ihm Holmes in den Nacken und warf ihn flach auf den Boden, mit dem Gesicht nach unten. Doch mit übermenschlicher Kraft arbeitete sich der Schurke herum und erwischte Holmes an der Kehle. Da schlug ich ihn mit dem Revolvergriff auf den Schädel, warf mich auf ihn und hielt ihn fest. Mein Gefährte ließ einen schrillen Pfiff ertönen. Gleich wurden Schritte auf dem Pflaster draußen hörbar, und zwei Schutzleute und ein Geheimpolizist stürzten durch den Vordereingang ins Zimmer.

»Sind Sie’s, Herr Lestrade?« sagte Holmes.

»Jawohl, Herr Holmes. Ich habe diese Arbeit selbst übernommen. Es ist gut, daß Sie wieder in London sind.«

»Ich glaube wohl, daß Ihnen ein bißchen Mithilfe nicht unwillkommen sein wird. Drei unaufgeklärte Morde in einem Jahre ist des Guten etwas zuviel, Lestrade. Aber in der Moleseyschen Sache sind Sie geschickter zu Werke gegangen als sonst – ich meine, die haben Sie wirklich gut gemacht.«

Wir waren alle auf den Beinen. Unser Gefangener befand sich wutschnaubend zwischen zwei handfesten Polizisten. Auf der Straße hatten sich natürlich einige Gaffer versammelt. Holmes schloß das Fenster und ließ die Rolladen herunter. Lestrade zündete zwei Kerzen an, und die Schutzleute machten ihre verhängten Laternen frei. Endlich konnte ich mir unseren Mann genauer bei Licht betrachten.

Ich sah ein sehr männliches, aber auch sehr bösartiges Gesicht. Die Stirne war diejenige des Philosophen, die Kiefer verrieten den Genußmenschen; dieser Mann war mit großen Anlagen ausgestattet, zum Guten wie zum Bösen. Die trotzigen blauen Augen mit den hündischen Brauen und Wimpern, die starke gebogene Nase und die drohende tiefgefurchte Stirn zeigten den geborenen Verbrecher an. Er nahm von niemandem Notiz, sondern starrte unausgesetzt auf Holmes. Haß und Bewunderung lagen in seinem Ausdruck. »Sie Teufelskerl! Sie ganz geriebener Teufel!« knirschte er immer wieder zwischen den Zähnen.

»Ja, ja, Herr Oberst,« sagte Holmes, während er seinen Kragen in Ordnung brachte, »der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht. Ich glaube, seitdem Sie mir am Reichenbachfall jene Aufmerksamkeit erwiesen, habe ich nicht wieder das Vergnügen gehabt, Sie zu sehen.«

Der Oberst stierte meinen Freund noch immer mit haßerfüllten Blicken an. »Sie verfluchter, ganz verfluchter Teufel!« war alles, was er herausbringen konnte.

»Ich habe Sie noch nicht miteinander bekannt gemacht,« sagte Holmes. »Dies, meine Herren, ist der Oberst Sebastian Moran, ehemaliger Offizier Ihrer Majestät im britischen Heer in Indien und der beste Schütze, den es je dort gegeben hat. Ich glaube, die Behauptung ist nicht übertrieben, Herr Oberst, daß Sie als Tigerjäger unerreicht waren.«

Der wütende Graubart erwiderte kein Wort, sondern blickte meinen Gefährten noch immer unverwandt an. Mit den leuchtenden Augen und dem sich sträubenden Schnurrbart sah er selbst wie ein Tiger aus.

»Es wundert mich eigentlich,« fuhr Holmes fort, »daß ein so alter Schikari auf meinen einfachen Trick hineingefallen ist. Er mußte Ihnen doch bekannt sein. Sie haben doch schon selbst, mit einem Zicklein als Köder und das Gewehr in der Hand, unter einem Baume gelegen und auf den Tiger gelauert? Nun, dieses leere Haus ist mein Baum, und Sie sind mein Tiger. Sie haben wohl auch Reservegewehre mitgenommen für den Fall, daß mehrere Tiger kommen, oder, was kaum anzunehmen war, daß Sie fehlschießen sollten? Diese hier,« er zeigte auf die Umstehenden, »sind meine Reservegewehre. Paßt der Vergleich nicht sehr schön?«

Oberst Moran tat einen Satz nach vorne, auf Holmes zu, und knurrte wie ein wildes Tier, aber die Polizisten rissen ihn wieder zurück. Sein wütendes Gesicht war schrecklich anzusehen, es war ganz verzerrt.

»Ich gebe allerdings zu, daß Sie mir eine kleine Ueberraschung bereitet haben,« sagte Holmes weiter. »Ich hatte nicht damit gerechnet, daß Sie selbst auch dieses Haus und dieses Fenster zu Ihrer Operation ausersehen hätten. Ich hatte geglaubt, Sie würden von der Straße aus vorgehen. Deshalb ließ ich meinen Freund Lestrade mit seinen Leuten dort Wache halten. Aber von dieser Kleinigkeit abgesehen, ist alles meinen Erwartungen entsprechend eingetroffen.«

Jetzt wandte sich der Oberst an den offiziellen Detektiv.

»Sie mögen mich nun zu recht oder unrecht verhaftet haben,« sagte er, »jedenfalls habe ich keine Lust, mir die Sticheleien dieses Menschen länger gefallen zu lassen. Ich befinde mich in der Gewalt der Justiz und kann verlangen, daß die Dinge ihren gesetzlichen Verlauf nehmen.«

»Dagegen läßt sich nichts einwenden,« antwortete Lestrade. »Haben Sie noch etwas zu sagen, Herr Holmes, ehe wir aufbrechen?«

Holmes hatte die mächtige Windbüchse vom Boden aufgehoben und prüfte ihren Mechanismus.

»Eine wunderbare und eigenartige Waffe,« sagte er, »schießt geräuschlos und hat eine furchtbare Durchschlagskraft. Ich habe Herder, den blinden deutschen Mechaniker, der sie auf Bestellung des seligen Professors Mariarty konstruiert hat, persönlich gekannt. Ihre Existenz war mir schon jahrelang kein Geheimnis mehr, aber ich hatte noch nie die Gelegenheit, sie in die Hand zu bekommen. Ich empfehle sie Ihrer besonderen Beachtung, Herr Lestrade, und die zugehörigen Kugeln ebenfalls.«

»Sie können sich darauf verlassen, Herr Holmes, daß wir beiden unsere Aufmerksamkeit schenken werden,« erwiderte Lestrade, als wir alle zusammen nach der Türe zugingen. »Noch etwas?«

»Ich möchte Sie noch fragen, was Sie als Grund zur Festnahme angeben wollen?«

»Was? Nun selbstverständlich den Mordanschlag auf Sherlock Holmes.«

»Ach nein, Lestrade. Ich möchte mit meiner Person ganz aus dem Spiel bleiben. Ihnen, und Ihnen ganz allein, soll das Verdienst der denkwürdigen Verhaftung zugeschrieben werden, die Sie eben ausgeführt haben. Jawohl, Herr Lestrade, ich gratuliere Ihnen! Mit Ihrer gewohnten glücklichen Mischung von Schlauheit und Kühnheit haben Sie ihn gefangen.«

»Ihn gefangen! Wen gefangen, Herr Holmes?«

»Den Mann, den die ganze Polizei vergeblich gesucht hat – den Oberst Sebastian Moran, der den Baron Ronald Adair im zweiten Stock des Hauses Parkstraße 427 am 30. des vergangenen Monats durch das offene Fenster mit einer Büchsenkugel erschossen hat. Um dieses Verbrechen handelt es sich, Herr Lestrade. Und nun, mein lieber Watson, können wir uns in meinem Arbeitszimmer bei einer Zigarre noch ein Plauderstündchen gönnen.«

*

Unsere alten Räumlichkeiten waren dank der Aufsicht Mycrofts und der Fürsorglichkeit der Frau Hudson vollkommen unverändert geblieben. Beim Eintreten fiel mir zwar die ungewohnte Ordnung auf, aber es stand noch alles an seinem alten Platz. Die chemische Ecke mit dem Tisch aus Tannenholz und den Säureflecken war noch vorhanden. Das Regal mit den Büchern, worin sich viele Aufzeichnungen befanden, die wohl viele unserer Mitbürger gerne in Flammen hätten aufgehen sehen, stand noch auf dem alten Fleck. Die Pläne und Karten, den Geigenkasten und den Pfeifenhalter – ja selbst den persischen Pantoffel mit dem Tabak – alles sah ich wieder, als ich mich umschaute. Neu im Zimmer war nur die merkwürdige Figur, die eine so bedeutende Rolle bei unserem nächtlichen Abenteuer gespielt hatte. Es war eine Nachbildung meines Freundes aus Wachs, so wunderbar ausgeführt, daß sie ihm täuschend ähnlich sah. Sie stand auf einem Tischchen und war mit einem alten Arbeitsrock von Holmes so angetan, daß die Täuschung von der Straße aus vollkommen sein mußte.

Frau Hudson war uns freudestrahlend entgegengeeilt, als wir eingetreten waren.

»Ich hoffe, Sie haben keine Vorsichtsmaßregel außer acht gelassen, Frau Hudson?« fragte Holmes.

»Ich bin auf den Knien hingerutscht, genau wie Sie mir befohlen hatten, Herr Holmes.«

»Ausgezeichnet. Sie haben Ihre Sache vorzüglich gemacht. Haben Sie gesehen, wo die Kugel hingeflogen ist?«

»Jawohl. Ich fürchte, sie hat die schöne Büste verdorben; sie ist nämlich gerade durch den Kopf gegangen und an der Wand abgeprallt. Ich hab‘ sie vom Teppich aufgehoben. Hier ist sie.«

Holmes reichte sie mir hin. »Eine richtige Revolverkugel, wie du siehst. In dieser Sache steckt eine feine Ueberlegung, Watson, denn kein Mensch konnte glauben, daß ein solches Ding aus einer Büchse kommt. Ich danke Ihnen schön, Frau Hudson, für Ihre freundliche Mitwirkung. Und nun setz‘ dich wieder auf deinen alten Stuhl, Watson, ich muß dir noch manches erzählen.«

Er hatte den langen Schoßrock ausgezogen und war in seinem mausgrauen Schlafrock wieder der alte Holmes von ehedem.

»Des alten Schikaris Nerven sind noch gut und ruhig,« sagte er lachend, als er den zerschmetterten Schädel seiner Büste in Augenschein nahm.

»Gerade mitten durchs Gehirn. Er war der beste Schütze in Indien, und er wird auch in London schwerlich seinesgleichen haben. Ist er dir dem Namen nach bekannt?«

»Nein, ich kenne ihn nicht.«

»Ei, ei, das ist merkwürdig! Aber, wenn ich nicht irre, hattest du ja auch den Namen des Professors Mariarty, eines der feinsten Köpfe des Jahrhunderts, vorher nicht gehört. Du kannst mir mal das Buch mit den Biographien herreichen.«

Er blätterte gemächlich, während er in seinen Stuhl zurückgelehnt lag und riesige Rauchwolken aus der Zigarre von sich blies.

»Ich habe eine niedliche Sammlung von Namen, die mit ›M‹ anfangen,« sagte er endlich. »Da ist Mariarty selbst, ein Mann, über den man ein ganzes Buch schreiben könnte, ferner Morgan, der Giftmischer, dann kommt Merridew schrecklichen Angedenkens und mein Freund Mathews vom Wartesaal in Charing Croß und hier endlich Herr Moran. Er gab mir das Buch, und ich las:

»Moran, Sebastian, Oberst a. D. Früherer Offizier beim ersten Pionierregiment in Bengalore. Im Jahre 1840 in London geboren, als Sohn des Abgeordneten und ehemaligen britischen Gesandten in Persien, August Moran. Besuchte die Hochschulen in Eton und Oxford. Machte die Feldzüge in Jowaki und Afghanistan mit und stand in Charasiab, Scherpur und Kabul. Verfasser von: ›Hochjagden im westlichen Himalaja‹, 1881; ›Drei Monate im Dschungel‹, 1884. Adresse: Conduitstraße. Mitglied des Anglo-indischen, des Tankerville- und des Bagatellespielklubs.«

Am Rande hatte Holmes selbst bemerkt: »Der zweitgefährlichste Mann in London.«

»Sonderbar!« sagte ich, als ich ihm den Band zurückgab. »Der Mann hat eine sehr achtbare Soldatenlaufbahn hinter sich.«

»Das ist richtig,« versetzte Holmes. »Bis zu einem gewissen Zeitpunkt war er anständig. Er hatte stets eiserne Nerven. Man erzählt jetzt noch die Geschichte, wie er in Indien in einem Graben sich an einen Tiger heranschlich, der einen Menschen verzehrte, und ihm die Beute abjagte. Es gibt Wesen, Watson, die sich bis zu einem bestimmten Punkte normal entwickeln und sich dann mit einem Male vollkommen verändern. Man kann das öfter beobachten. Meiner Ansicht nach spiegelt sich in der Entwickelung jedes Einzelwesens diejenige der ganzen Vorfahrenkette wieder, und ein plötzlicher Umschlag zum Guten oder zum Bösen stellt den Ausfluß aus der Reihe seiner Ahnen dar. Das Individuum wiederholt gewissermaßen die Geschichte seiner Familie.«

»Diese Theorie erscheint mir etwas phantastisch.«

»Nun, ich will nicht näher darauf eingehen, wie ihm aber auch sei, Oberst Moran geriet allmählich auf Abwege. Wenn es auch nicht zum öffentlichen Skandal gekommen ist, in Indien wurde ihm der Boden doch zu heiß unter den Füßen, er konnte sich nicht mehr länger dort halten. Er kam also nach London und erfreute sich auch hier nicht lange eines guten Rufes. Damals nahm sich Professor Mariarty seiner an, er war eine Zeitlang seine rechte Hand. Mariarty unterstützte ihn reichlich mit Geldmitteln und verwandte ihn nur ein oder zwei Male bei ganz großen Sachen, die kein gewöhnlicher Verbrecher hätte durchführen können. Kannst du dich vielleicht noch auf den Tod der Frau Stewart in Lander im Jahre 1887 besinnen? Ich bin fest überzeugt, daß Moran der Hauptbeteiligte dabei war, wenn ihm auch nichts nachgewiesen werden konnte. Auch als die Mariartysche Bande ergriffen wurde, verstand er sich so geschickt aus der Schlinge zu ziehen, daß wir ihm nichts ans Zeug flicken konnten. Erinnerst du dich noch, wie ich dazumal, als ich in deiner Wohnung war, aus Furcht vor der Windbüchse die Fensterladen schloß? Du hieltst mich sicher für krankhaft erregt und übermäßig ängstlich. Ich wußte jedoch wohl was ich tat, denn ich kannte die Existenz dieses eigentümlichen Gewehrs und wußte auch, daß einer der besten Schützen dahinter stand. Als wir in die Schweiz gingen, folgte er uns mit Mariarty, und es war kein anderer als er, der mich am Reichenbachfall fünf Minuten lang bombardierte.

»Du kannst dir vorstellen, daß ich während meines Aufenthaltes in Frankreich die Zeitungen sehr aufmerksam studierte, um ihn bei irgend einer Gelegenheit fassen zu können. So lange er sich auf freiem Fuß befand, würde ich in London keinen Augenblick meines Lebens sicher gewesen sein. Tag und Nacht hätte ich keine Ruhe gehabt, und früher oder später wäre ich ihm doch zum Opfer gefallen. Was hätte ich dagegen tun können? Ich konnte ihn nicht erschießen, wollte ich mich nicht selbst in Ungelegenheiten bringen. Mich an die Behörde zu wenden, hätte keinen Zweck gehabt, denn auf bloßen Verdacht hin darf sie nicht einschreiten. Ich war also vollständig machtlos. Ich verfolgte daher die Kriminalnachrichten, weil ich überzeugt war, ihn doch einmal erwischen zu können. Da kam die Meldung von der Ermordung des jungen Adair. Meine Stunde war endlich gekommen! Nach dem, was ich wußte, war es da nicht sicher, daß Moran der Mörder sein mußte? Er hatte mit dem jungen Manne Karten gespielt, er war ihm vom Klub nach Hause gefolgt und hatte ihn durch das offene Fenster erschossen. Das unterlag für mich keinem Zweifel. Die Kugeln allein werden zu seiner Ueberführung genügen. Ich kehrte rasch zurück. Seine Wache sah mich und setzte ihn selbstverständlich sofort von meiner Anwesenheit in Kenntnis. Er mußte meine schleunige Rückkehr unbedingt mit seinem Verbrechen in Zusammenhang bringen und darüber stark beunruhigt sein. Es war mir daher klar, daß er sofort mich aus dem Wege zu schaffen versuchen, und zu diesem Zweck sein Mordgewehr mitbringen würde. Ich hinterließ ihm am Fenster ein ausgezeichnetes Ziel. Ich unterrichtete die Polizei – du wirst, nebenbei bemerkt, ihre Anwesenheit in jenem Torweg gewiß nicht vermutet haben – und nahm jenen Beobachtungsposten ein, der mir dazu besonders geeignet erschien; freilich, ließ ich mir nicht träumen, daß er denselben Fleck zu seinem Angriff wählen würde. Ist dir die Sache nun klar, mein Lieber?«

»Nicht ganz,« antwortete ich. »Du hast mir nicht erklärt, warum er den jungen Ronald Adair getötet hat.«

»Ach so! Damit kommen wir auf das Gebiet, wo auch ein streng logisch denkender Mensch irren kann. Darüber mag sich jeder auf Grund der Tatsachen seine eigene Meinung bilden, und dabei gilt die eine so viel wie die andere.«

»Hast du dir deine schon gebildet?«

»Mir erscheint es nicht allzu schwer, ein Motiv zu finden. Es ist nachgewiesen, daß Moran und Adair nicht unbedeutende Summen im Spiel umgesetzt haben. Nun hat Moran zweifellos falsch gespielt – davon war ich schon lange überzeugt. Ich glaube, daß Adair am Tage der Ermordung den Betrug entdeckt und ihm höchstwahrscheinlich die vertrauliche Mitteilung gemacht hatte, daß er seine Ausschließung aus dem Klub veranlassen würde, wenn er nicht freiwillig austräte und vom Kartenspiel wegbliebe. Es ist kaum anzunehmen, daß ein junger Mann wie Adair sofort einen riesigen Skandal machen und einen bekannten und viel älteren Herrn in dieser Weise bloßstellen wollte. Meine Vermutung hat insofern viel für sich. Die Ausstoßung aus dem Klub bedeutete aber für Moran, der von den Erträgnissen des falschen Spielens lebte, zugleich den materiellen Ruin. Aus diesem Grunde ermordete er Adair, als dieser gerade ausrechnete, wieviel Geld er selbst zurückzahlen müßte, um an dem Falschspiel seines Partners keinen Anteil zu haben. Er verschloß die Türe, um von den Damen nicht überrascht und gefragt zu werden, was alle die Namen und Geldhäufchen bedeuten sollten. Leuchtet dir’s ein?«

»Ich zweifle nicht, daß du das richtige getroffen hast.«

»Bei der Verhandlung wird sich herausstellen, ob ich recht habe oder nicht. Im übrigen, es mag damit werden wie’s will, Oberst Moran wird uns nicht mehr beunruhigen, die berühmte Büchse, System Herder, wird das Kriminalmuseum zieren, und Herr Sherlock Holmes kann sich wieder frei und ungestört dem Studium jener interessanten kleinen Probleme widmen, an denen im Londoner Leben wahrhaftig kein Mangel ist.«

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Der Baumeister von Norwood.

Der Baumeister von Norwood.

»Vom Standpunkt des Kriminalisten,« sagte Sherlock Holmes eines Tages, »ist London seit dem Tode des Professors Mariarty seligen Angedenkens die uninteressanteste Stadt geworden.«

»Ich kann mir kaum denken, daß viele ehrbare Bürger deine Ansicht teilen,« gab ich ihm zur Antwort.

»Nun – ja, ich will nicht selbstsüchtig sein,« sagte er lächelnd und schob seinen Stuhl vom Tisch zurück, an dem wir eben gefrühstückt hatten. »Die Allgemeinheit hat immerhin den Vorteil, nur der arme Fachmann ist zu bedauern, weil er Beschäftigung und Brot verliert. Dem Manne von Beruf brachte oft die Zeitung eines Morgens alle möglichen guten Aussichten. Oft war es nur eine ganz schwache Spur, Watson, eine ganz zarte Andeutung, und doch zeigte sie mir, daß etwas für den Detektiv im Anzug war, ebenso wie die leiseste Schwingung am Rande des Netzes die in der Mitte lauernde Spinne auf die nahende Beute aufmerksam macht. Unbedeutende Diebstähle, leichte Ueberfälle, kleinliche Beleidigungen – alle diese Vergehen konnten von einem Manne, der die Fäden in der Hand hatte, in Zusammenhang gebracht und auf einen gemeinsamen Ursprung zurückgeführt werden. Für das Studium der feineren Verbrecherwelt bot keine Stadt Europas ein solch‘ gutes Material wie das damalige London. Aber jetzt –« er zuckte mit den Achseln, betrübt über den Stand der Dinge, an dem er selbst treulich mitgearbeitet hatte.

Zu der in Rede stehenden Zeit war Holmes einige Monate von seiner Reise zurück, und ich hatte auf sein Anraten meine Praxis verkauft und wohnte wieder mit ihm zusammen in unserem alten Heim in der Bakerstraße. Meine kleine Kundschaft hatte ein junger Arzt, Namens Berner, für einen so auffallend hohen Preis übernommen, wie ich ihn kaum zu fordern gewagt hätte – ein Umstand, der mir erst nach Jahren klar wurde, als ich erfuhr, daß Berner ein entfernter Verwandter von Holmes, und mein Freund der Vermittler war.

Diese Monate unserer Partnerschaft waren jedoch nicht so ereignislos, wie er gesagt hatte. Nach meinen Notizen fällt in diese Zeit der Fall des Präsidenten Murillo und der erschütternde Vorgang auf dem holländischen Dampfer ›Friesland‹, wobei wir beide beinahe das Leben verloren hätten. Seine kalte, stolze Natur war aber jeglichem öffentlichem Beifall abhold, und darum bat er mich dringend, nichts darüber zu veröffentlichen – dieses Hindernis ist, wie ich bereits in einer früheren Erzählung erwähnt habe, erst jetzt beseitigt.

Holmes saß nach seinem sonderbaren Protest behaglich in seinen Stuhl zurückgelehnt und las die Morgenblätter, als es plötzlich heftig klingelte und ungestüm an der Haustür pochte. Nachdem aufgemacht worden war, kam jemand rasch die Treppe heraufgestürzt und stand im nächsten Augenblick in unserem Zimmer. Es war ein junger Mann in der höchsten Erregung, mit verstörten Blicken und zerzaustem Haar, bleich und zitternd. Er sah uns, einen nach dem anderen, verdutzt an und mußte aus unseren fragenden Gesichtern entnehmen, daß wir auf eine Entschuldigung wegen seines taktlosen Eintretens warteten.

»Es tut mir leid, Herr Holmes,« sagte er hastig. »Nehmen Sie mir’s nicht übel. Ich bin fast von Sinnen. Ich bin der unglückliche John Hektor Farlane.«

Er brachte das so heraus, als ob der Name allein seinen Besuch und sein Benehmen erklären müßte; aber ans meines Freundes Gesicht konnte ich ersehen, daß er so wenig damit anzufangen vermochte wie ich.

»Nehmen Sie eine Zigarette, Herr Farlane,« sagte er und schob ihm seine Schachtel hinüber. »Bei Ihrem Zustand würde Ihnen mein Freund Dr. Watson hier ein Beruhigungsmittel verordnen. Es war in den letzten Tagen außergewöhnlich heiß. Nun, wenn Sie sich etwas beruhigt haben, nehmen Sie dann auf jenem Stuhl dort Platz und erzählen Sie uns langsam und ruhig, wer Sie sind und was Sie wünschen. Sie nannten Ihren Namen, als ob ich Sie kennen müßte, ich kann Ihnen jedoch versichern, daß ich aus den Umständen nur schließe, daß Sie Junggeselle, Anwalt, Freimaurer und Asthmatiker sind, weiter weiß ich nichts.«

Bei meiner Bekanntschaft mit der Art, wie mein Freund seine Schlüsse zog, war es für mich nicht schwer, zu erkennen, woraus er gefolgert hatte. Ich bemerkte eine gewisse Nachlässigkeit in der Kleidung, ein Aktenbündel, das aus der Tasche herausguckte, einen Schmuckgegenstand an der Uhrkette und das beschwerliche Atmen. Unser Klient war jedoch sehr erstaunt.

»Jawohl, Herr Holmes, das stimmt alles, und außerdem bin ich in dieser Stunde der unglücklichste Mensch in ganz London. Versagen Sie mir um Gottes willen Ihre Hilfe nicht, Herr Holmes! Wenn man, ehe ich mit meiner Erzählung fertig bin, kommt, um mich zu verhaften, so sorgen Sie dafür, daß man mir Zeit läßt, bis ich zu Ende bin und Ihnen die volle Wahrheit gesagt habe. Ich würde mich glücklich schätzen, wenn ich das Bewußtsein mit ins Gefängnis nehmen könnte, daß Sie draußen für mich tätig wären.«

»Sie verhaften!« warf Holmes hier ein. »Das klingt ja gefährlich – äußerst interessant. Auf welchen Verdacht hin fürchten Sie denn, verhaftet zu werden?«

»Auf den Verdacht, den Herrn Jonas Oldacre in Lower Norwood ermordet zu haben.«

Das Gesicht meines Freundes zeigte ein gewisses Mitleid, das mir jedoch, wie ich nicht verschweigen will, nicht ganz frei von einer Beimischung der Befriedigung zu sein schien.

»Alle Wetter!« meinte er, »erst jetzt beim Frühstück klagte ich meinem Freund Dr. Watson, daß die Zeitungen gar keine interessanten Kriminalfälle mehr brächten.«

Unser Besucher hob mit zitternder Hand von Holmes Knien den noch ungelesenen ›Daily Telegraph‹ auf.

»Sie haben noch nicht hineingesehen, sonst würden Sie auf den ersten Blick gefunden haben, was mich zu Ihnen führt. Es ist mir, als ob mein Name und mein Mißgeschick schon in aller Mund sein müßte.« Er blätterte in der Zeitung, um uns die Seite zu zeigen, »Hier steht’s. Wenn Sie erlauben, will ich’s Ihnen vorlesen. Hören Sie zu, Herr Holmes. Die fettgedruckte Ueberschrift lautet: »Das Geheimnis in Lower Norwood. Verschwinden eines bekannten Bauunternehmers. Mordverdacht und Brandstiftung. Dem Verbrecher ist man auf der Spur.« Diese Spur hat man bereits, Herr Holmes, sie führt mit großer Bestimmtheit auf mich. Von der Station London-Bridge hat man mich schon verfolgt, und man wartet nur auf die richterliche Vollmacht, um mich festnehmen zu können. Es wird meiner Mutter das Herz brechen – es wird ihr das Herz brechen!« Er rang vor Verzweiflung die Hände und rutschte entsetzt auf seinem Stuhl hin und her.

Ich betrachtete den Mann, der einen solchen Gewaltakt ausgeführt haben sollte, mit lebhaftem Interesse. Er hatte kein unschönes Gesicht, flachsfarbiges Haar, blaue Augen, und war bartlos; der Mund war klein und sinnlich. Er mochte ungefähr siebenundzwanzig Jahre alt sein. Anzug und Manieren zeugten davon, daß er ein gebildeter Mann war.

»Wir haben keine Zeit zu verlieren,« sagte Holmes. »Willst du so gut sein, Watson, und mir den fraglichen Bericht aus der Zeitung vorlesen?«

Unter der Ueberschrift, die unser Klient vorgelesen hatte, standen folgende näheren Angaben:

»In der vergangenen Nacht hat sich in Lower Norwood in später Nacht- oder in früher Morgenstunde ein Ereignis zugetragen, das auf ein schreckliches Verbrechen schließen läßt. Herr Jonas Oldacre ist ein allgemein bekannter Bürger in dem genannten Vorort, wo er lange Jahre als Bauherr tätig gewesen ist. Herr Oldacre ist Junggeselle, zweiundfünfzig Jahre alt, und bewohnt ein eigenes Haus in Deep Dene am Ende der Sydenhamstraße. Seit ein paar Jahren hatte er seine Tätigkeit, die ihm ein ansehnliches Vermögen eingebracht haben soll, aufgegeben. Er galt als exzentrischer Mann und lebte ganz zurückgezogen. Hinter dem Wohnhaus im Hof befindet sich noch Holz aufgestapelt, und in der vergangenen Nacht entstand plötzlich Lärm, weil einer der Haufen in Flammen stand. Die Feuerwehr war bald zur Stelle, aber das dürre Holz bot dem Feuer eine so vorzügliche Nahrung, daß es nicht bewältigt werden konnte, bis der ganze Stoß niedergebrannt war. Bis dahin schien es sich nur um einen gewöhnlichen Brand zu handeln, aber die späteren Nachforschungen deuten auf ein furchtbares Verbrechen hin. Es fiel auf, daß der Besitzer des Grundstücks nicht aufzufinden und aus dem Hause verschwunden war. Die Untersuchung seines Schlafzimmers ergab, daß sein Bett unbenutzt, daß der hier stehende Geldschrank geöffnet war und zahlreiche Papiere auf dem Fußboden umherlagen, außerdem wiesen Blutspuren im Zimmer und ein mit Blut befleckter eichener Stock auf einen Kampf mit einem Mörder hin. Ferner weiß man, daß Herr Oldacre spät in der Nacht einen Besucher im Schlafzimmer hatte, und der Stock hat sich nachträglich als dieser Person gehörig herausgestellt; es ist ein junger Londoner Advokat, Namens John Hektor Farlane, Greshamstraße 426. Die Polizei erblickt darin einen wichtigen Anhaltspunkt, und man kann auf sensationelle Enthüllungen gefaßt sein.

»Nachtrag. – Während des Drucks geht uns die Nachricht zu, daß Herr Hektor Farlane eben wegen Verdachtes der Täterschaft verhaftet werden soll. Der Verhaftungsbefehl ist bereits ergangen. Die Polizei hat weitere Nachforschungen über den traurigen Fall am Tatort angestellt. Außer den Anzeichen des blutigen Ringens im Schlafzimmer, hat man jetzt auch gefunden, daß das Balkonfenster offen war, und auch eine Fährte, als ob ein schwerer Gegenstand nach dem Holzhaufen geschleift worden wäre; endlich ist in letzter Stunde festgestellt worden, daß die Asche verkohlte Leichenteile enthält. Die Polizei neigt zu der Ansicht, daß man es mit einem außergewöhnlichen Verbrechen zu tun hat, daß das Opfer in seinem Schlafzimmer ermordet, die Wertpapiere geraubt, und die Leiche dann nach dem Holzstoß geschleppt worden ist, den der Mörder in Brand gesteckt hat, um auf diese Weise jede Spur seines Verbrechens zu verwischen. Die Leitung der polizeilichen Untersuchungen ist dem erfahrenen Inspektor Lestrade von Scotland Yard übertragen worden, der die Spuren mit der bekannten Energie und dem ihm eigenen Scharfsinn verfolgen wird.«

Holmes hatte diesen merkwürdigen Bericht mit geschlossenen Augen angehört.

»Der Fall bietet entschieden einige interessante Punkte,« sagte er in seinem gleichgültigen, geschäftsmäßigen Ton. »Darf ich vielleicht fragen, Herr Farlane, wieso Sie sich noch auf freiem Fuß befinden, obwohl scheinbar triftige Gründe zu Ihrer Verhaftung vorliegen?«

»Ich wohne in Blackheath bei meinen Eltern, Herr Holmes, da ich aber gestern abend sehr spät bei Herrn Oldacre zu tun hatte, übernachtete ich in einem Hotel in Norwood und wollte von dort ins Bureau fahren. Ich habe den Vorfall erst im Zuge erfahren, als ich die Zeitung las. Ich erkannte sofort die schreckliche Gefahr, in der ich schwebte, und beeilte mich, Ihnen die Sache vorzutragen. Ich zweifle keinen Augenblick, daß man mich zu Hause oder im Bureau schon arretiert haben würde. Vom Bahnhof London-Bridge ist ein Mann hinter mir hergegangen und würde mich sicher – Herr des Himmels, jetzt kommen sie –.«

Es klingelte, und auf der Treppe wurden alsbald schwere Tritte hörbar. Im nächsten Augenblick machte unser alter Freund Lestrade die Tür auf. Hinter ihm erblickte ich die Uniformen zweier Schutzleute, die draußen blieben und warteten.

»Herr John Hektor Farlane?« fragte Lestrade.

Unser unglücklicher Schützling fuhr entsetzt von seinem Stuhl auf.

»Ich verhafte Sie wegen der Ermordung des Herrn Jonas Oldacre in Lower Norwood.«

Farlane warf uns verzweifelte Blicke zu und sank, wie vom Schlag getroffen, wieder auf seinen Stuhl nieder.

»Einen Augenblick, Herr Lestrade,« sagte Holmes. »Eine halbe Stunde früher oder später macht keinen Unterschied. Der Herr war gerade dabei, uns eine Darstellung seiner höchst interessanten Angelegenheit zu geben. Sie kann uns bei ihrer Aufklärung vielleicht viel nützen.«

»Diese Aufklärung wird, glaube ich, nicht sehr schwierig werden,« antwortete Lestrade ironisch.

»Immerhin möchte ich, wenn Sie nichts dagegen haben, seine Aussagen gerne hören.«

»Ich schlage Ihnen ungern etwas ab, Herr Holmes, denn Sie haben der Polizei schon verschiedentlich gute Dienste geleistet, und wir verdanken Ihnen manches in Scotland Yard,« [Fußnote] erwiderte Lestrade. »Trotzdem muß ich meinen Gefangenen festhalten, und ich bin verpflichtet, ihn vor offenbar unwahren Angaben zu warnen.«

»Ich wünsche nur die Wahrheit zu sagen,« fiel unser Klient ein: »Ich bitte nur, mich anzuhören, damit Sie die reine Wahrheit erfahren.«

Lestrade sah nach der Uhr. »Ich will Ihnen eine halbe Stunde Zeit lassen.«

»Ich muß vorausschicken,« begann Farlane, »daß ich Herrn Oldacres Verhältnisse absolut nicht gekannt habe. Sein Name war mir allerdings bekannt, weil meine Eltern vor vielen Jahren mit ihm verkehrt hatten, sich später aber von ihm zurückgezogen haben. Ich war daher gestern nachmittag nicht wenig überrascht, als er in meinem Bureau erschien. Aber ich war noch mehr überrascht, als er mir den Grund seines Besuches mitteilte. Er hatte mehrere beschriebene Blätter aus einem Notizbuch in der Hand – hier sind sie.« Er legte sie vor uns auf den Tisch.

»›Das ist mein Testament,‹ sagte er. ›Ich bedarf Ihrer Hilfe, Herr Farlane, damit es in die vorschriftsmäßige gesetzliche Form gebracht wird. Ich will mich unterdessen setzen!‹

»Ich nahm die Abschrift vor, und Sie können sich mein Erstaunen vorstellen, als ich merkte, daß er mir unter einigen Vorbehalten sein ganzes Vermögen vermachte. Er war ein eigenartiger, kleiner, zappeliger Mann mit grauem Haar und weißen Augenwimpern, und als ich zu ihm aufblickte, sah er mich vergnügt an. Ich traute meinen Sinnen kaum, als ich seine Bestimmungen Die Zettel enthalten, wie ich schon gesagt habe, nur den Entwurf des Herrn Oldacre. Er teilte mir dann weiter mit, daß er noch verschiedene Schriftstücke – Mietskontrakte, Eigentumsurkunden, Hypotheken und sonstige Papiere, in die ich Einsicht nehmen müsse, zu Hause in seiner Wohnung habe. Er bat mich, zu diesem Zwecke gleich am Abend zu ihm nach Norwood hinauszukommen und das Testament mitzubringen, damit alles geordnet würde; er könnte eher keine Ruhe finden. ›Sagen Sie Ihren Eltern kein Wort, mein Lieber, bis die Angelegenheit ganz geregelt ist. Wir wollen ihnen dann eine kleine Ueberraschung bereiten.‹ Auf dieser Forderung bestand er sehr hartnäckig und nahm mir mein Wort ab.

»Sie können sich denken, Herr Holmes, daß ich keine Lust hatte, ihm seine Bitten abzuschlagen. Er wollte mir wohl, und ich hatte daher nur das Bestreben, seinen Wünschen bis ins kleinste zu entsprechen. Ich telegraphierte nach Hause, daß ich am Abend ein wichtiges Geschäft vorhabe und nicht wüßte, ob ich kommen könnte. Herr Oldacre hatte mich für neun Uhr zum Essen eingeladen, weil er kaum vor dieser Stunde zu Haus sein würde. Es war nicht ganz leicht, seine Wohnung zu finden, sodaß es gegen halb zehn wurde, ehe ich sie erreichte. Ich traf –«

»Einen Augenblick!« unterbrach ihn Holmes. »Wer öffnete Ihnen die Tür?«

»Eine Frau in mittleren Jahren, vermutlich seine Haushälterin.«

»Dieselbe hat wahrscheinlich der Polizei auch Ihren Namen angegeben?«

»Doch wohl,« antwortete Farlane.

»Bitte, weiter.«

Unser Klient wischte sich den Schweiß von der Stirne und fuhr dann fort: –

»Diese Frauensperson führte mich in ein Empfangszimmer, wo ein frugales Abendbrot aufgetragen war. Nach dem Essen nahm mich Herr Oldacre mit in sein Schlafzimmer, wo ein schwerer Geldschrank stand. Er schloß auf und nahm eine Menge Papiere heraus, die wir zusammen durchgingen. Es dauerte bis zwischen elf und zwölf Uhr, ehe wir fertig wurden. Er sagte dann zu mir, wir dürften die Wirtschafterin nicht stören, und geleitete mich an das Balkonfenster, das während der ganzen Zeit offen gestanden hatte.«

»War die Jalousie heruntergelassen?« fragte Holmes.

»Ich bin nicht ganz sicher, glaube aber, daß sie nur halb unten war. Jawohl, ich entsinne mich, wie er sie aufzog, um das Fenster aufmachen zu können. Ich hatte meinen Stock noch nicht. Er fügte jedoch: ›Schadet nichts, mein Lieber; ich werde Sie hoffentlich in der nächsten Zeit häufiger bei mir sehen, ich heb‘ ihn auf, bis Sie wiederkommen‹. Ich ließ ihn also zurück. Der Schrank stand noch offen und die Papiere lagen, in Bündel zusammengeschnürt, auf dem Tische, als ich das Zimmer verließ. Es war so spät, daß ich nicht mehr nach Blackheath zurück konnte. Ich blieb daher die Nacht in einem nahen Hotel und ahnte nichts Böses, bis ich heute früh die schreckliche Geschichte in der Zeitung las.«

»Wollen Sie noch einige Fragen stellen, Herr Holmes?« sagte Lestrade, der während der merkwürdigen Erzählung ein paarmal den Kopf geschüttelt hatte.

»Eher nicht, bis ich in Blackheath gewesen bin.«

»Sie meinen in Norwood,« verbesserte Lestrade.

»Jawohl; das meinte ich,« erwiderte Holmes mit seinem rätselhaften Lächeln. Lestrade hatte schon häufiger erfahren müssen, als ihm lieb sein mochte, daß dieser scharfe Verstand noch vieles zu durchschauen vermochte, was ihm undurchdringlich erschienen war. Er sah meinen Gefährten neugierig an.

»Ich möchte gleich noch ein paar Worte mit Ihnen sprechen, Herr Holmes,« sagte er. »Nun, Herr Farlane, vor der Tür stehen zwei von meinen Leuten und warten auf Sie, der Wagen ist draußen vor dem Haus.« Der unglückliche junge Mensch erhob sich und ging mit einem letzten flehentlichen Blick zur Türe hinaus. Die Schutzleute stiegen mit ihm in die Droschke, während der Inspektor zurückblieb.

Holmes hob die losen Blätter, die den Entwurf des Testaments enthielten, vom Tische auf und betrachtete sie mit zunehmendem Interesse.

»Dieses Schriftstück gibt uns einige Anhaltspunkte, Herr Lestrade,« sagte er endlich. »Sehen Sie es sich einmal genauer an.« Er schob ihm die Blätter hinüber.

Der also Angeredete sah ihn erstaunt an.

»Ich kann nur die ersten Zeilen, die in der Mitte der zweiten Seite und ein paar am Schluß lesen; die sind ganz deutlich geschrieben,« sagte er, »aber sonst ist die Schrift sehr schlecht, und an drei Stellen vollständig unleserlich.«

»Was schließen Sie daraus?« sagte Holmes.

»Ja, was schließen Sie denn daraus?«

»Daß es in einem Eisenbahnzug geschrieben ist; die gute Schrift bedeutet die Stationen, die schlechte die Fahrt und die sehr schlechte die Durchfahrt durch Kreuzungsstellen. Ein gewandter Sachverständiger würde sofort erkennen, daß der Schreiber auf einer Vorortlinie gefahren ist, weil nur in der unmittelbaren Nähe einer Großstadt die Haltestellen so schnell aufeinander folgen. Wenn man annimmt, daß er auf der ganzen Strecke geschrieben hat, so muß er einen Schnellzug benutzt haben, der zwischen Norwood und London-Bridge nur einmal hält.«

Lestrade fing an zu lachen.

»Sie gehen mir zu weit zurück, wenn Sie Ihre Theorien entwickeln, Herr Holmes. Was hat das mit der Sache zu tun?«

»Nun, es bestätigt und ergänzt die Aussage des jungen Herrn, daß Oldacre das Testament gestern unterwegs aufgesetzt hat. Es ist immerhin auffallend – nicht wahr? – daß jemand ein so wichtiges Schriftstück im Eisenbahncoupé niederschreibt. Es geht daraus hervor, daß er der Sache keinen besonderen praktischen Wert beilegt. Das kann nur ein Mann tun, der nicht daran denkt, diesen Willen jemals zu verwirklichen.«

»Und doch hat er zu gleicher Zeit damit sein eigenes Todesurteil niedergeschrieben,« versetzte Lestrade.

»Aha, das ist Ihre Ansicht?«

»Meinen Sie das denn nicht auch?«

»Es ist nicht unmöglich; mir ist der ganze Fall aber noch nicht klar.«

»Nicht klar? Na, aber wenn das nicht klar ist, was ist dann überhaupt klar? Hier ist ein junger Mensch, der plötzlich erfährt, daß ihm ein großes Vermögen zufällt, wenn ein bejahrter Mann mit dem Tod abgeht. Was tut er? Er sagt keinem Menschen was, sondern begibt sich eines schönen Abends unter irgend einem Vorwand zu seinem Gönner. Er wartet, bis die einzige Person, die noch im Hause wohnt, zu Bett gegangen ist, ermordet den alten Mann in seinem einsamen Schlafzimmer, verbrennt die Leiche in einem Holzhaufen und geht dann in ein nahegelegenes Hotel. Die Blutspuren im Zimmer und auch am Stock sind nur unbedeutend. Er hat also vielleicht gar nicht gemerkt, daß Blut geflossen ist, und gehofft, daß nach der Einäscherung des Leichnams jede Spur von der Art des Todes verwischt wäre – Spuren, die aus sprechenden Gründen auf ihn führen mußten. Ist das nicht alles sonnenklar?«

»Ihre Beweisführung, mein lieber Lestrade, kommt mir etwas zu klar vor,« erwiderte Holmes. »Bei Ihren sonstigen vorzüglichen Eigenschaften vermisse ich die nötige Einbildungskraft. Wenn Sie sich nur einen Augenblick in die Lage dieses jungen Mannes versetzen wollten! Würden Sie gerade die Nacht nach der Aufstellung des Testamentes wählen, um das Verbrechen zu begehen? Würde es Ihnen nicht gefährlich erscheinen, eine so enge Verbindung zwischen diesen beiden Ereignissen herzustellen? Ferner, würden Sie das Verbrechen in der Nacht ausführen, wo Ihre Anwesenheit im Hause bekannt ist, wo Ihnen eine Bedienstete die Türe aufgemacht hat? Und endlich, würden Sie, nachdem Sie sich der schweren Mühe unterzogen hätten, den Leichnam durch Feuer zu zerstören, dann so unvorsichtig sein und Ihren eigenen Stock zum Zeichen, daß Sie der Täter sind, im Hause zurücklassen? Geben Sie nicht zu, Lestrade, daß dies alles recht unwahrscheinlich ist?«

»Was den Stock betrifft, Herr Holmes, so wissen Sie so gut wie ich, daß Verbrecher oft bestürzt sind und Handlungen begehen, die ein besonnener Mensch nicht unternehmen würde. Er fürchtete sich wahrscheinlich, wieder umzukehren, um ihn zu holen. – Geben Sie mir eine andere plausible Erklärung.«

»Ich könnte Ihnen leicht ein halbes Dutzend geben,« sagte Holmes. »Wie denken Sie z. B. über folgende, die wohl möglich, ja gar nicht unwahrscheinlich ist? – ich stelle Ihnen gern anheim, davon Gebrauch zu machen –. Der alte Baumeister zeigte seinem Besucher wertvolle Papiere. Ein Landstreicher geht draußen vorbei und sieht es; die Jalousie war ja nur halb heruntergelassen. Der Anwalt geht dann fort. Der Landstreicher steigt ein! Er ergreift einen Stock, den er gerade stehen sieht, schlägt Oldacre tot und verschwindet, nachdem er die Leiche auf den Holzhaufen geschleppt und ihn angezündet hat.«

»Warum sollte der Landstreicher die Leiche verbrennen?«

»Aus demselben Grunde, aus dem es Farlane getan haben soll.«

»Und warum hat der Kerl nichts mitgenommen?«

»Weil es Papiere waren, die er nicht verwerten konnte.«

Lestrade schüttelte den Kopf. Es schien mir aber doch, als ob er von der Richtigkeit seiner eigenen Theorie schon nicht mehr so fest überzeugt wäre wie vorher. »Nun, Herr Holmes, suchen Sie Ihren Landstreicher, aber solange Sie ihn nicht gefunden haben, will ich mich an meinen Gefangenen halten. Die Zukunft wird ja zeigen, wer recht behält. Bedenken Sie besonders den Umstand, daß nach unserer bisherigen Kenntnis keinerlei Papiere entwendet sind und Farlane der einzige Mensch auf Gottes Erde ist, der an ihrer Entfernung kein Interesse hatte, weil er gesetzlicher Erbe war, und sie ihm also unter allen Umständen später zufallen mußten.«

Gegen diese Bemerkung konnte mein Freund nichts einwenden.

»Ich will nicht leugnen, daß Ihre Beweisführung in verschiedener Hinsicht glaubwürdig klingt,« antwortete er. »Ich behaupte nur, daß es auch andere Erklärungen gibt. Wie Sie selbst sagen, wird die Zukunft entscheiden. Guten Morgen! Ich werde übrigens im Laufe des Tages nach Norwood hinunter kommen und sehen, wie weit Sie sind.«

Als der Detektiv hinaus war, stand mein Freund auf und traf seine Vorbereitungen für die nächsten Unternehmungen; er zeigte die frohe Miene eines Mannes, der sich einer seinen Fähigkeiten entsprechenden Aufgabe gegenüber gestellt sieht.

»Mein erster Gang, Watson,« sagte er, indem er in seinen Rock schlüpfte, »ist, wie erwähnt, nach Blackheath.«

»Und warum nicht nach Norwood?«

»Weil in diesem Falle zwei eigentümliche Ereignisse kurz aufeinander gefolgt sind. Die Polizei begeht den Irrtum, ihre ganze Aufmerksamkeit auf das zweite zu lenken, weil dieses zufällig das Verbrechen vorstellt. Mir ist es jedoch klar, daß der richtige Weg zum Verständnis der zweiten Begebenheit, des Verbrechens, von der ersten, dem auffallenden Testament, seinen Ausgang nehmen muß. Ich will also versuchen, zunächst etwas Licht in den ersten Teil zu bringen, in das so urplötzlich und zu gunsten eines so eigentümlichen Erben gemachte Testament. Darnach werden wir den zweiten Teil leichter verstehen.«

»Soll ich mitkommen?«

»Nein, mein Lieber, ich glaube deine Begleitung heute nicht nötig zu haben. Diese Untersuchung ist gewiß nicht gefährlich, sonst würde ich mich wohl hüten, allein zu gehen. Ich hoffe, dir bei meiner Rückkehr heute abend die frohe Botschaft bringen zu können, daß ich für den unglücklichen jungen Herrn, der sich meinem Schutze anvertraut hat, etwas ausgerichtet habe.«

Es war spät, als mein Freund wiederkam, und ein einziger Blick auf sein bekümmertes Gesicht zeigte mir, daß die Hoffnungen, mit denen er weggegangen war, sich nicht erfüllt hatten. Ziemlich eine Stunde lang beschäftigte er sich mit seiner Geige, um sein unruhiges Gemüt zu besänftigen. Endlich warf er das Instrument beiseite und gab mir einen ausführlichen Bericht über seine Mißerfolge.

»Es geht alles schief, Watson – so schief, wie’s nur gehen kann. Ich habe mir zwar Lestrade gegenüber keine Schwäche anmerken lassen, aber, meiner Seele, ich glaube, diesmal hat er recht, und wir sind auf dem Holzweg. Die Tatsachen widersprechen meinem Gedankengang und meinen Ahnungen vollständig, und ich fürchte stark, daß sich die englischen Gerichte noch nicht zu der idealen Auffassung emporgeschwungen haben, daß sie meinen Theorien den Vorzug vor Lestrades Tatsachenmaterial geben.«

»Warst du in Blackheath?«

»Jawohl, ich war dort und überzeugte mich bald, daß der selige Oldacre ein ziemlich gemeiner Charakter war. Farlanes Vater war auf der Suche nach seinem Sohne. Die Mutter traf ich zu Hause. Sie ist eine kleine, leicht erregbare Frau mit blauen Augen; sie zitterte vor Schrecken und Entrüstung. Selbstverständlich gab sie nicht einmal die Möglichkeit der Schuld ihres Sohnes zu. Aber über das Schicksal des alten Oldacre drückte sie weder Ueberraschung noch Bedauern aus. Im Gegenteil, sie sprach mit einer solchen Bitterkeit von ihm, daß sie, ohne es zu wissen, die Annahme der Polizei förderte. Denn natürlich mußte der Sohn, wenn er solche Sprache über den Mann gehört hatte, von Haß und Widerwillen gegen ihn erfüllt sein. »Er glich einem bösartigen, hinterlistigen Affen mehr als einem Menschen,« sagte sie, »und das war von jeher so, schon als junger Mensch war er so.«

»›Haben Sie ihn denn damals schon gekannt?‹ fragte ich sie.

»›Jawohl, sehr gut; er war ja ’n alter Freier von mir. Gott sei Dank, daß ich so vernünftig war, mich von ihm loszusagen und einen besseren, wenn auch ärmeren Mann zu heiraten. Ich war mit ihm verlobt, Herr Holmes, als ich erfuhr, wie er eine Katze in ein Vogelbauer gesperrt hatte, und ich war so empört über diese Grausamkeit, daß ich nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte.‹ Sie suchte in einer Schublade herum und brachte die Photographie einer jungen Dame zum Vorschein. Das Bild war furchtbar verunstaltet und mit einem Messer zerschnitten. ›Das ist meine eigene Photographie,‹ sagte sie. ›In diesem Zustand hat er sie mir mit einem Fluch am Morgen meines Hochzeitstages zugeschickt.‹

»›Nun,‹ sagte ich, ›er scheint sich doch allmählich mit Ihnen ausgesöhnt zu haben, insofern er Ihrem Sohn sein ganzes Vermögen vermacht hat.‹

»›Weder mein Sohn, noch ich brauchen etwas von Jonas Oldacre, weder bei seinen Lebzeiten noch nach seinem Tode,‹ rief sie ganz erregt. ›Es lebt ein Gott im Himmel, Herr Holmes, und dieser Gott, der den Bösen gestraft hat, wird auch offenbaren, daß die Hände meines Sohnes unschuldig sind an diesem Blute.‹

»Ich versuchte noch durch List, etwas Bestimmtes aus ihr herauszubringen, das unsere Annahme hätte stützen können, bekam aber nur solche Dinge zu hören, die eher das Gegenteil bewiesen hätten. So steckte ich’s schließlich auf und ging nach Norwood.

»Das Deep Dene House ist ein großer Backsteinbau in modernem Villenstil. Es steht etwas zurück, und davor ist ein Garten mit Lorbeergebüsch. Hinter dem Haus befindet sich der Hof, wo das Holz liegt, der Schauplatz des Schadenfeuers. Ich habe hier in meinem Notizbuch eine flüchtige Skizze. Das Fenster links ist das einzige in Oldacres Schlafzimmer. Man kann von der Straße aus hineinsehen, wie du erkennen wirst – das ist ungefähr der einzige Trost, der mir geblieben ist. Lestrade war nicht da, er wurde durch seinen Wachtmeister vertreten. Sie hatten gerade einen wichtigen Fund gemacht. Beim Durchsuchen der Asche des verbrannten Holzhaufens hatten sie verkohlte Knochenreste und ein paar Metallstückchen zutage gefördert. Ich habe die letzteren sorgfältig untersucht und zweifellos festgestellt, daß es Hosenknöpfe waren. Ich habe an einem derselben sogar den Namen »Hyams« erkennen können, der Firma von Oldacres Schneider. Ich habe dann den Garten und den Rasen um das Haus herum genau nach irgendwelchen Spuren und Fährten durchforscht. Es war aber infolge der großen Trockenheit weiter nichts zu sehen, als daß ein größerer Gegenstand durch eine niedrige, in der Richtung nach dem Holzhaufen liegende Rainweidenhecke geschleift worden war. Dies alles bestätigt natürlich nur die Auffassung der Polizei! Ich bin lange trotz der brennenden Augustsonne auf dem Rasen umhergekrochen; ich war aber am Ende nicht schlauer als am Anfang.

»Nach diesem Fiasko begab ich mich ins Schlafzimmer und unterwarf es einer ebenso gründlichen Untersuchung wie den Hof und den Garten. Die Blutspuren waren äußerst geringfügig, fast farblos und wie umhergeschmiert, aber sicher frisch. Den Stock hatte die Polizei schon in Beschlag genommen, aber auch diese Blutflecken waren nur unbedeutend. Daß der Stock unserem Klienten gehört, unterliegt keinem Zweifel, er gibt es selbst zu. Die Fußspuren der beiden Männer waren auf dem Teppich zu erkennen, aber keine einer dritten Person, was wieder Wasser auf die Mühle der Gegenpartei ist, die ihrerseits die Verdachtsmomente zusammenreiht, während wir auf dem toten Punkt sind.

»Nur ein Hoffnungsschimmer dämmerte in mir auf – aber auch er ist nur sehr, sehr schwach. Ich prüfte den Schrank; sein Inhalt war größtenteils herausgenommen und lag auf dem Tische. Die Papiere waren geordnet und in große Kuverts gesteckt, die dann zugesiegelt worden waren. Die Polizei hatte einige geöffnet. So weit ich es beurteilen kann, hatten die darin befindlichen Papiere keinen großen Wert, auch das Bankbuch des Herrn Oldacre ließ die Vermögensverhältnisse nicht sehr glänzend erscheinen. Es kam mir aber vor, als ob Papiere fehlen müßten – vielleicht waren das gerade die wichtigsten – aber ich konnte sie, trotzdem ich alles danach durchsuchte, nicht finden. Dieser Umstand würde natürlich, wenn uns der Nachweis wirklich gelänge, von der größten Bedeutung sein, indem er Lestrades Begründung direkt widerspräche; denn wer wird Wertpapiere stehlen, die er bald erbt?

»Am Ende, nachdem ich alles vergeblich durchgesehen hatte, versuchte ich mein Glück mit der Haushälterin. Ihr Name ist Lexington, sie ist ein kleines, dunkles Weib, verschwiegen und argwöhnisch. Sie könnte uns manches sagen, wenn sie wollte, davon bin ich fest überzeugt. Aber sie war stumm wie eine Wachsfigur. Sie habe Herrn Farlane um halb zehn die Tür geöffnet. Sie wünsche, daß ihr lieber vorher die Hand verdorrt wäre. Sie sei um halb elf zu Bett gegangen. Ihr Zimmer liege nach der entgegengesetzten Seite, sodaß sie nichts hätte hören können. Erst vom Feuerlärm wäre sie munter geworden. Herr Farlane habe Hut und Stock im Hausflur gelassen, dessen erinnere sie sich ganz bestimmt.

Ihr armer guter Herr wäre sicherlich ermordet worden. ›Hatte er Feinde?‹ Nun, Privatangelegenheiten des Herrn Oldacre überhaupt, hätte sie keinerlei Kenntnis.

»So, mein lieber Watson, das ist der erschöpfende Bericht meines Mißerfolges. Und doch – und doch –« – er rang die mageren Hände in voller Ueberzeugung – »ich weiß, daß alles erlogen und falsch ist, ich fühl’s in allen Knochen. Es steckt etwas dahinter, was noch nicht ans Licht gekommen ist und was diese Wirtschafterin weiß. Es lag ein gewisser Trotz in ihrem Auge, wie man ihn nur bei Leuten findet, die eine tiefere Kenntnis von einer Sache haben, die sie aber verschweigen. Aber all dies Denken und Fühlen hilft nichts, Watson; wenn wir nicht noch besonderes Glück haben, befürchte ich, wird der Norwooder Fall im Tagebuch unserer Erfolge, dessen Inhalt, wie ich voraussehe, ein geduldiges Publikum früher oder später doch vorgesetzt bekommen wird, keine Stätte haben.«

»Der Mann sieht aber keinesfalls wie ein Verbrecher aus,« bemerkte ich.

»Das ist ein bedenkliches Beweismittel, lieber Watson. Erinnerst du dich noch an den gefährlichen Mörder Bernt Steven, der im Jahre 1887 unsere Hilfe in Anspruch nahm? Gab es einen kindlicher und harmloser aussehenden Menschen als den?«

»Das stimmt.«

»Wenn es uns nicht gelingt, seine Unschuld durch triftigere Beweise darzutun, ist unser Mann verloren.

Die Lestradesche Argumentation ist durch alle späteren Nachforschungen gestützt worden, keine einzige Tatsache steht mit ihr in Widerspruch. Nur die fehlenden Papiere würden dagegen sprechen. Das ist der einzige wunde Punkt, und von dem aus muß eine neue Untersuchung von unserer Seite ihren Ausgang nehmen. Bei Durchsicht des Bankbuches habe ich gefunden, daß der ungünstige Stand am Schlusse hauptsächlich von großen Wechselforderungen herrührt, die im letzten Jahre an einen Herrn Cornelius ausgezahlt worden sind. Ich möchte nun zu gern wissen, wer dieser Herr Cornelius ist, mit dem ein Architekt, der sich zur Ruhe gesetzt hat, so große Geldgeschäfte treibt. Es ist nicht unmöglich, daß er bei der ganzen Sache die Hand im Spiel hat. Er ist vielleicht ein Agent oder Kommissionär, aber wir haben keine Spur von einer Korrespondenz über diese großen Zahlungen gefunden. Aus Mangel an besseren Angriffspunkten müssen meine Nachforschungen zunächst mit einer Nachfrage an der Bank nach jenem Herrn beginnen, der die Wechsel einkassiert hat. Immerhin glaube ich eher, mein lieber Junge, daß dieser Fall unseren Ruhm nicht erhöhen wird. Lestrade wird wohl unseren Klienten aufknüpfen lassen, und Scotland Yard wird triumphieren.«

Ich weiß nicht, ob und wie Holmes in jener Nacht geschlafen hat, aber als ich zum Frühstück kam, fand ich ihn blaß und müde aussehend; seine klaren Augen erschienen infolge der dunkeln Ringe noch klarer als sonst. Auf dem Teppich unter seinem Stuhl lagen Zigarettenstummel und die ersten Ausgaben der Morgenblätter. Auf dem Tisch lag ein geöffnetes Telegramm.

»Was sagst du dazu, Watson?« fragte er, indem er mir die Depesche zuwarf.

Sie kam von Norwood und lautete folgendermaßen:

»Wichtigen neuen Beweis gefunden, Farlanes Schuld endgültig festgestellt. Rate Ihnen, den Fall aufzugeben. –

Lestrade.«

»Das klingt ernst,« sagte ich.

»Es ist Lestrades Siegesnachricht,« meinte Holmes, bitter lächelnd. »Und doch würde es zu früh sein, die Sache verloren zu geben. Ein frischer Beweis ist wie ein zweischneidiges Schwert; er kann leicht das Gegenteil dessen beweisen, was Lestrade denkt. Frühstücke rasch; wir wollen dann zusammen hinausfahren und sehen, was sich tun läßt. Ich habe das Gefühl, als ob ich heute deine Gesellschaft und deine moralische Unterstützung brauchte.«

Mein Freund hatte nichts gegessen. Es war eine seiner Eigenarten, in besonderen Momenten keine Nahrung zu sich zu nehmen, und ich habe Fälle mitgemacht, wo er sich auf seine eiserne Natur verließ, bis er vor Hunger ohnmächtig wurde. »Gegenwärtig habe ich keine Kraft zum Verdauen übrig,« pflegte er mir auf meine ärztlichen Vorhaltungen zu antworten. Es fiel mir daher nicht weiter auf, als er auch heute das Frühstück nicht anrührte und nüchtern mit mir nach Norwood aufbrach.

Um Deep Dene House waren noch eine Menge Neugieriger versammelt. Das Haus und seine Lage hatte ich mir ganz richtig vorgestellt. In der Türe kam uns Lestrade mit der Miene des Siegers entgegen.

»Nun, Herr Holmes, wer hat recht? Haben Sie Ihren Landstreicher schon?« rief er uns zu.

»Ich habe mir noch kein endgültiges Urteil gebildet,« erwiderte mein Freund.

»Aber wir haben uns gestern unseres schon gebildet und heute hat es sich als richtig erwiesen. Sie müssen also zugeben, daß wir Ihnen diesmal etwas voraus sind, Herr Holmes.«

»Sie tun so, als ob Sie etwas Besonderes gefunden hätten, als ob ein unerwartetes Moment eingetreten wäre,« sagte Holmes.

Lestrade lachte laut auf.

»Ich glaub‘ Ihnen schon, daß Sie sich ebenso ungern schlagen lassen, wie die meisten von uns auch. Man kann jedoch nicht erwarten, daß man stets recht behält, nicht wahr, Herr Doktor? Kommen Sie mit mir, meine Herren, ich glaube, Sie jetzt von der Schuld des jungen Farlane definitiv überzeugen zu können.«

Er führte uns durch einen Gang in einen ziemlich dunklen Vorsaal.

»Hier muß Farlane nach Verübung des Verbrechens durchgekommen sein und seinen Hut geholt haben,« sagte er weiter. »Nun, sehen Sie hier.« Mit theatralischem Gebahren zündete er ein Streichholz an und zeigte uns einen Blutflecken an der weißgetünchten Wand. Als er das Streichholz näher hielt, sah ich, daß es kein bloßer Spritzer, sondern ein deutlicher Daumenabdruck war.

»Nehmen Sie mal die Lupe, Herr Holmes.«

»Jawohl, ich bin schon im Begriff.«

»Es ist Ihnen wohl bekannt, daß zwei Daumen niemals denselben Abdruck geben?«

»Ich habe schon davon gehört.«

»Dann vergleichen Sie ihn, bitte, mit diesem Wachsabdruck hier, den ich heute morgen vom Daumen des jungen Farlane habe nehmen lassen.«

Als er den Wachsabdruck neben den Blutflecken hielt, bedurfte es keines Vergrößerungsglases, um zweifellos zu erkennen, daß beide von demselben Daumen herrührten. Ich sah ein, daß unser unglücklicher Klient verloren war.

»Das ist das Schlußglied der Beweiskette,« sagte Lestrade.

»Ja, das ist das Schlußglied,« wiederholte ich mechanisch.

»Das ist die Entscheidung,« sagte Holmes.

In seiner Stimme fiel mir etwas auf. Ich drehte mich um und sah ihn an. Sein Ausdruck war vollständig verändert. Er verriet innere Freude. Die Augen glänzten wie Sterne. Mir schien es, als ob er gewaltsam das Lachen unterdrücken müßte.

»Herr des Himmels!« rief er endlich aus. »Wer hätte so was gedacht? Wie einen das Aussehen eines Menschen doch täuschen kann, wahrhaftig! Allem Anschein nach war er so ’n netter Mann! Es wird eine Lehre für uns sein, unserem eigenen Urteil nicht allzusehr zu vertrauen, nicht wahr Lestrade?«

»Allerdings, Herr Holmes; es gibt Leute, die ein bißchen zu selbstbewußt, von der Richtigkeit ihrer Auffassung zu sehr eingenommen sind,« antwortete Lestrade. »Der trat so unverfroren und scheinheilig auf, daß man’s ihm wirklich nicht zugetraut hätte.«

»Und wie fürsorglich er gehandelt hat, indem er seinen rechten Daumen an die Wand drückte, als er den Hut vom Haken nahm! Und wie natürlich das außerdem ist, wenn man genauer darüber nachdenkt!« Holmes war äußerlich ruhig, während er so sprach, aber einem genauen Kenner wie mir konnte die unterdrückte Erregung nicht verborgen bleiben. »Uebrigens, Herr Lestrade, wer hat denn diese großartige Entdeckung eigentlich gemacht?«

»Die Haushälterin hat den Polizisten, der die Nachtwache hatte, darauf aufmerksam gemacht.«

»Wo befand er sich während der Nacht?«

»Er wachte im Schlafzimmer, wo das Verbrechen begangen worden ist, und paßte auf, daß alles unberührt liegen blieb.«

»Aber warum ist dieses Zeichen nicht schon gestern bemerkt worden?«

»Weil wir keinen besonderen Grund hatten, dieses Vorzimmer eingehender zu untersuchen. Außerdem ist es an keiner auffallenden Stelle, wie Sie sehen.«

»Nein, nein, allerdings nicht. Und es besteht vermutlich doch kein Zweifel, daß es gestern schon dort war?«

Lestrade sah Holmes an, als ob er ihn für nicht ganz zurechnungsfähig hielt. Ich muß gestehen, daß ich selbst über seinen guten Mut und über seine Bemerkungen erstaunt war.

»Es scheint mir beinahe, als ob Sie glaubten, daß Farlane im Dunkel der Nacht aus dem Gefängnis hierher geeilt sei, um sich selbst zu bezichtigen,« antwortete Lestrade nach einiger Zeit auf Holmes‘ merkwürdige Frage. »Ich überlasse jedem Sachverständigen die Entscheidung, ob das sein Daumenabdruck ist oder nicht.«

»Zweifelsohne ist es sein Daumenabdruck.«

»Nun, das genügt mir,« sagte Lestrade. »Ich bin kein Theoretiker, Herr Holmes, ich bin ein Praktiker, und wenn ich die Beweismittel habe, ziehe ich meine Schlüsse daraus. Sollten Sie mir später noch etwas mitzuteilen haben, so finden Sie mich im Empfangszimmer; ich will dort meinen Bericht niederschreiben.«

Holmes hatte seinen seelischen Gleichmut wiedergefunden, aber ich sah ihm an, daß er doch noch gutgelaunt war.

»In der Tat, die Sache hat eine sehr schlimme Wendung genommen, nicht wahr, Watson?« sagte er zu mir, als wir allein waren. »Und doch gibt es einzelne Punkte, von denen noch Hoffnungsstrahlen für unseren Klienten ausgehen.«

»Das freut mich ungemein,« antwortete ich von Herzensgrunde. »Ich fürchtete, es sei ganz aus mit ihm.«

»Das möchte ich noch nicht sagen, mein lieber Watson, denn Lestrades Beweis hat tatsächlich eine Lücke, die für unseren Freund von größter Wichtigkeit ist.«

»Wirklich, Holmes?! Die wäre?«

»Das ist der Umstand, daß ich weiß, daß dieser Flecken noch nicht dort war, als ich gestern diesen Vorraum untersuchte – komm Watson, wir wollen jetzt einen kleinen Spaziergang draußen in der Sonne machen.«

Ich begleitete ihn. Im Kopfe war ich ziemlich wirr, aber im Herzen hatte ich neue Hoffnung. Wir gingen im Garten umher. Holmes nahm das Haus von allen Seiten genau in Augenschein und zeigte ein auffallendes Interesse an der Bauart. Dann ging er hinein und untersuchte das ganze Gebäude vom Grund bis zum Dach. Die meisten Räume waren unmöbliert, aber Holmes besah sie sich doch. Endlich auf dem obersten Treppenflur, auf den drei unbenutzte Zimmer mündeten, zeigte er eine grenzenlose Freude.

»Dieser Fall ist wirklich einzig in seiner Art, Watson,« sagte er. »Ich glaube, es ist nun an der Zeit, daß wir den guten Lestrade ins Vertrauen ziehen. Er hat sich auf unsere Kosten ein bißchen lustig gemacht, nun, wenn meine Ansicht sich als richtig erweist, können wir’s ihm jetzt heimzahlen. Oh ja, ich sehe, wir kommen der Sache auf den Grund.«

Der Polizeiinspektor saß noch im Empfangszimmer und schrieb.

»Sie machen Ihren Bericht?« unterbrach ihn Holmes.

»Jawohl, das tue ich.«

»Meiner Meinung nach ist es noch etwas zu früh; ich kann mir nicht helfen, aber ich glaube, Ihr Beweis hat eine Lücke.«

Lestrade kannte meinen Freund zu gut, um seine Worte nicht zu beachten. Er legte die Feder beiseite und blickte ihn gespannt an.

»Was wollen Sie damit sagen, Herr Holmes?«

»Ich meine nur, daß Sie einen wichtigen Zeugen noch nicht vernommen haben.«

»Können Sie ihn beibringen?«

»Ich glaube, ich kann’s.«

»Dann tun Sie’s doch!«

»Ich will’s versuchen. Wieviele Polizisten haben Sie hier?«

»Drei stehen Ihnen zur Verfügung.«

»Schön,« sagte Holmes. »Darf ich fragen, ob es kräftige Männer mit guten Lungen sind?«

»Ich zweifle nicht daran; aber ich sehe vorläufig nicht ein, was die Beschaffenheit ihrer Lungen mit der Sache zu tun hat.«

»Das werden Sie bald erfahren, und hoffentlich noch viel mehr,« antwortete Holmes. »Rufen Sie, bitte, Ihre Leute. Ich will das Experiment beginnen.«

Nach fünf Minuten waren die drei Schutzleute zur Stelle.

»Im Nebengebäude werden Sie eine größere Menge Stroh vorfinden. Wollen Sie, bitte, zwei Bund davon hierherbringen,« sagte Holmes. »Ich glaube, es wird uns zur Herbeischaffung des fehlenden Zeugen vortreffliche Dienste leisten. – Recht so. Ich danke Ihnen bestens. Hast du Streichhölzer, Watson? Nun, Herr Lestrade, bitte ich Sie und Ihre Leute, mit mir auf den oberen Korridor zu kommen.«

Wie ich erwähnt habe, mündeten auf diesen geräumigen Vorplatz drei leere Kammern. Holmes gebot uns, recht still zu sein, und dirigierte uns alle an das eine Ende. Die Polizisten grinsten, und Lestrade starrte meinen Freund erstaunt an. In seinem Gesicht wechselten der Ausdruck der Verwunderung, der Erwartung und des Spottes miteinander ab. Holmes stand vor uns wie ein Zauberer, der ein Kunststück zeigen will.

»Wollen Sie so gut sein und einen Mann zwei Gießkannen voll Wasser holen lassen? Legen Sie das Stroh hier mitten auf den Boden, sodaß es die Wand nicht berührt. Nun sind wir mit den Vorbereitungen wohl fertig.«

Lestrade fing an, ärgerlich zu werden.

»Ich weiß nicht, ob Sie sich einen Scherz mit mir erlauben wollen, Herr Holmes,« sagte er. »Wenn Sie etwas wissen, so können Sie es auch ohne diesen Hokuspokus sagen.«

»Ich kann Ihnen die Versicherung geben, mein lieber Lestrade, daß ich für alles, was ich tue, meine guten Gründe habe. Sie können sich vielleicht entsinnen, daß Sie mich vor ein paar Stunden, als Ihnen das Glück zu lächeln schien, auch ein wenig uzten, nun dürfen Sie mir das bißchen Zeremoniell aber auch nicht gleich übelnehmen. Willst du nun das Fenster dort aufmachen, Watson, und das Stroh anzünden?

Ich tat, was er mich geheißen hatte. Infolge des Zuges erhob sich bald eine dicke graue Rauchwolke, das trockene Stroh prasselte, und die hellen Flammen schlugen empor.

»Nun müssen wir sehen, ob Ihr Zeuge herauskommt, Lestrade. Darf ich Sie bitten, gleichzeitig mit mir in den Ruf ›Feuer!‹ auszubrechen? Also: eins, zwei, drei –«

»Feuer!« schrien wir alle.

»Danke Ihnen. Ich muß Sie noch einmal bemühen.«

»Feuer!«

»Nun zum drittenmal, meine Herren, so laut Sie können –«

»Feuer!« Ganz Norwood muß es gehört haben.

Der Ruf war kaum verhallt, als etwas Ungeahntes eintrat. An der scheinbar soliden Wand am Ende des Korridors tat sich plötzlich eine Tür auf, und hervorstürzte, wie ein Kaninchen aus seinem Loch, ein kleines, schmächtiges Männlein mit grauem Haar und weißen Wimpern.

»Ausgezeichnet!« rief Holmes. »Watson, einen Eimer Wasser aufs Stroh! Gut so! – Herr Lestrade, erlauben Sie, daß ich Ihnen den fehlenden Hauptzeugen vorstelle, Herrn Jonas Oldacre.«

Das kleine Männchen blinzelte, geblendet von dem hellen Tageslicht, unaufhörlich mit den Augen, und guckte bald uns an, bald das qualmende Stroh. Er hatte ein widerwärtiges Gesicht – verschmitzt und bösartig – und hellgraue, listige Augen.

Der Detektiv starrte die geisterhafte Erscheinung sprachlos an. Nach, einer Weile fand er endlich wieder Worte.

»Was soll denn das heißen?« sagte er. »Wo haben Sie denn die ganze Zeit gesteckt, he?«

Oldacre fuhr zurück vor dem zorngeröteten Gesicht des Inspektors und erwiderte dann mit erzwungenem Lächeln:

»Ich hab‘ nichts Böses getan.«

»Nichts Böses? Sie wollten einen unschuldigen Mann an den Galgen bringen. Wenn dieser Herr nicht gewesen wäre, würde es Ihnen wahrscheinlich auch gelungen sein.«

Das traurige Geschöpf fing an zu winseln.

»Sicher, Herr, es war nur ’n Spaß.«

»Ein eigentümlicher Spaß! Sie sollen nicht darüber zu lachen haben, dafür bin ich Ihnen gut. Nehmt ihn mit hinunter und haltet ihn im Wohnzimmer fest, bis ich komme. – Herr Holmes,« fuhr er fort, als die Schutzleute hinunter gegangen waren, »ich konnte in Gegenwart der Leute nicht sprechen, aber im Beisein des Herrn Dr. Watson erkläre ich frei heraus: das ist der feinste Streich, den Sie je ausgeführt haben – es ist mir freilich noch ein Rätsel, wie Sie’s angefangen haben – Sie haben einen Unschuldigen gerettet und einen großen Skandal verhütet, der meinen Ruf bei der Polizei untergraben haben würde.«

Holmes lächelte und klopfte Lestrade auf die Schulter. »Ihr Renommee in Scotland Yard soll durch diesen Fall bedeutend gehoben werden, mein guter Herr. Sie brauchen nur ein paar Stellen in Ihrem Bericht zu ändern, und alle Welt wird sagen, daß es schier unmöglich ist, dem Inspektor Lestrade Sand in die Augen zu streuen.«

»Wünschen Sie denn gar nicht, daß Ihr Name erwähnt wird?« fragte Lestrade verwundert.

»Durchaus nicht. Diese Tat birgt ihren Lohn in sich selbst. Vielleicht werde ich eines Tages, wenn ich meinem eifrigen Geschichtsschreiber die Erlaubnis erteile, die Genugtuung haben, sie gedruckt zu sehen – wie, Watson? Nun wollen wir uns mal das Nest ansehen, in dem die Ratte gesteckt hat.«

Es war ein sechs Fuß langer Bretterverschlag, von der Breite des Flurs; er war genau wie die übrigen Wände tapeziert und hatte einen unsichtbaren Zugang. Durch einige Ritze unter der Dachrinne drang spärliches Licht hinein. Darin befanden sich ein paar kümmerliche Möbelstücke, eine Anzahl Bücher und Papiere und ein Vorrat von Nahrungsmitteln und Wasser.

»Das ist der Vorteil, wenn man Baumeister ist,« sagte Holmes beim Heraustreten. »Er war imstande, sein Versteck ohne fremde Beihilfe herzurichten – natürlich abgesehen von der prächtigen Wirtschafterin, die ich gleichfalls Ihrer Obhut anempfehlen möchte, Lestrade.«

»Sie soll entschieden ihrem Herrn das Geleite geben, Herr Holmes. Aber vor allen Dingen sagen Sie mir: Wie haben Sie Kenntnis von diesem Raum erlangt?«

»Ich kam zu dem Schluß, daß der Besitzer noch im Hause sein müßte. Als ich nun die Korridore abschritt und fand, daß der obere sechs Fuß kürzer war als der entsprechende untere, war es mir ganz klar, wo er steckte. Wir hätten natürlich ebensogut gleich hineingehen und ihn festnehmen können, aber es machte mir mehr Vergnügen, ihn selbst herauskommen zu lassen; außerdem wollte ich mich durch die Geheimnistuerei für Ihre Spöttelei von heute morgen etwas entschädigen, Herr Lestrade.«

»Na, die haben Sie redlich wettgemacht. Aber, wie in aller Welt kamen Sie auf den Gedanken, daß er überhaupt im Hause verborgen sei?«

»Der Daumenabdruck sagte mir’s, Lestrade. Sie meinten, er wäre das Endglied der Kette; das war er auch, nur in einem ganz anderen Sinne. Ich wußte nämlich, daß er am Tage vorher noch nicht dort gewesen war. Ich schenke allen Einzelheiten eine weitgehende Beachtung, wie Sie wohl schon bemerkt haben werden, und ich hatte den Vorraum gründlich besichtigt und keinen Flecken an der Wand gefunden. Er mußte also ohne Zweifel erst wahrend der Nacht hingekommen sein.«

»Aber wie?«

»Sehr einfach. Als die Briefschaften versiegelt wurden, hat der junge Farlane einmal seinen Daumen als Petschaft benutzt. Es ist vielleicht in der Eile und ganz zufällig geschehen, sodaß sich der junge Herr wohl selbst nicht mehr daran erinnern kann. Sehr wahrscheinlich ist es so unabsichtlich gewesen, daß auch Oldacre nicht gleich bedacht hat, wozu es ihm später nützen sollte. Als er in seinem Bau den Fall genauer überlegt hat, wird ihm erst eingefallen sein, was für ein absolut zuverlässiges Beweismittel er durch Benutzung dieses Abdrucks der Polizei liefern könnte. Auf die einfachste Art von der Welt konnte er einen Wachsabdruck davon machen, ihn mit einem Tropfen Blut von einem Stecknadelstich benetzen und über Nacht den Flecken an der Wand erzeugen. Ob er es nun selbst getan hat oder die Haushälterin, das weiß ich nicht, ist auch ziemlich gleichgültig. Dagegen gehe ich jede Wette mit Ihnen ein, daß Sie das Siegel mit dem Daumen finden, wenn Sie die Briefschaften durchsehen, die er in sein Versteck mitgenommen hatte.«

»Großartig!« rief Lestrade. »Großartig! Wie Sie es auseinandersetzen, ist alles klar wie Kristall. Was aber ist der Grund dieses ganzen Betrugs?«

Es amüsierte mich, wie das hochmütige Verhalten des Inspektors von heute früh sich so sehr geändert hatte, und wie er sich nun gleich einem Kinde gebärdete, das Fragen an seinen Lehrer stellt.

»Ich halte es für nicht sehr schwer, diese Handlungsweise zu erklären. Der Herr, der jetzt unten wartet, ist eine sehr tiefgründige, bösartige und rachsüchtige Natur. Sie wissen doch, daß er einst von Farlanes Mutter den Laufpaß bekommen hat? Sie wissen’s nicht! Ich sagte Ihnen gleich, daß man zuerst nach Blackheath und dann nach Norwood gehen müßte. Also, diese Kränkung, wie er es auffaßte, hat ihm sein ganzes Leben lang keine Ruhe gelassen, er hat stets auf Rache gesonnen, ohne je eine günstige Gelegenheit zu finden. In den letzten ein oder zwei Jahren hat er Geldverluste gehabt – ich denke mir durch heimliche Spekulationen – und es geht rückwärts mit ihm. Er sucht seine Gläubiger zu beschwindeln und stellt hohe Wechsel aus, zahlbar an einen gewissen Cornelius, was meiner Meinung nach nur ein falscher Name seiner eigenen Person ist. Wenn ich die Spur dieser Wechsel auch noch nicht verfolgt habe, so unterliegt es für mich doch schon jetzt keinem Zweifel, daß sie nach einer Provinzialbank führt, wo Oldacre von Zeit zu Zeit unter diesem Namen aufgetaucht ist. Er hat die Absicht gehabt, dann überhaupt seinen Namen zu wechseln, das Geld einzuziehen und irgendwo ein neues Leben zu beginnen.«

»Das klingt nicht unwahrscheinlich.«

»Durch sein Verschwinden glaubte er, seine Spur vollkommen zu verwischen und gleichzeitig an seiner ehemaligen Braut die schwerste Rache nehmen zu können, indem er auf ihr einziges Kind den Verdacht lenkte, ihn ermordet zu haben. Es war ein Meisterstück der Schurkerei, und er hatte es meisterhaft ausgeführt. Die Geschichte mit dem Testament, das ein treffliches Motiv zur Tat abgeben mußte, der heimliche nächtliche Besuch ohne Wissen der eigenen Eltern, die Zurückbehaltung des Stockes, das Blut, die tierischen Ueberreste und die Knöpfe in der Asche, alles war erstaunlich geschickt gemacht. Es war ein Netzwerk, aus dem zu entschlüpfen, ich für das unschuldige Opfer noch vor ein paar Stunden keine Möglichkeit sah. Aber es fehlte ihm die höchste Gabe des Künstlers, die Mäßigung, die Beschränkung. Er wollte was schon vollkommen war, noch vollkommener machen, – den Strick am Halse seines Opfers noch fester ziehen – und dadurch verdarb er das Ganze. Wir wollen nun zu ihm hinuntergehen, Lestrade. Ich möchte noch ein paar Fragen an ihn richten.«

Die elende Kreatur saß im eigenen Empfangszimmer, mit einem Schutzmann an jeder Seite.

»Es war nur ’n Scherz, mein guter Herr, weiter nichts als ’n Scherz,« winselte er unaufhörlich. »Ich versichere Ihnen, mein Herr, daß ich mich nur verborgen hatte, um die Wirkung meines Verschwindens zu beobachten. Sie werden doch nicht so unrecht von mir denken und glauben, daß ich dem jungen Herrn Farlane auch nur das geringste Leid hätte antun lassen.«

»Darüber hat das Gericht zu entscheiden,« antwortete Lestrade. »Vorläufig werden Sie sich wegen Verschwörung, wenn nicht wegen versuchten Mordes zu verantworten haben.«

»Und außerdem werden Sie die schmerzliche Erfahrung machen müssen, daß Ihre Gläubiger das Bankguthaben des Herrn Cornelius mit Beschlag belegen,« sagte Holmes.

Das schmächtige Männchen sprang vom Stuhl auf und warf meinem Freund wütende Blicke zu.

»Ihnen habe ich das meiste zu danken,« erwiderte er haßerfüllt; »vielleicht kann ich Ihnen meine Schuld eines Tages heimzahlen.«

Holmes lächelte nachsichtig.

»Die nächsten paar Jahre werden Sie, glaube ich, kaum die nötige Zeit dazu finden,« erwiderte er ruhig. »Aber vielleicht beantworten Sie mir jetzt noch eine Frage: was haben Sie außer Ihren alten Hosen noch in den Holzhaufen geworfen? Einen toten Hund, ein paar Kaninchen oder was sonst? Sie wollen mir’s nicht sagen? Ei, ei, sind Sie unhöflich! Nun, ein paar Kaninchen genügten, um das Blut zu liefern und die verkohlten Knochenreste. – Falls du jemals diese Geschichte niederschreiben solltest, Watson, so denke an die Kaninchen!«

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Das gelbe Gesicht.

Das gelbe Gesicht.

Bei der Veröffentlichung dieser kurzen Skizzen über einige von den zahlreichen Fällen, in denen die glänzende Begabung meines Freundes sich offenbarte, weile ich naturgemäß mehr bei seinen Erfolgen als bei seinen Mißerfolgen. Und dabei leitet mich nicht sowohl die Rücksicht auf seinen Ruf – denn tatsächlich erscheinen seine Tatkraft und seine Findigkeit nie bewundernswerter als wenn er sich selbst in eine Sackgasse verrannt hatte –, sondern es bestimmt mich zu meiner Auswahl auch der Umstand, daß, wo er erfolglos blieb, auch sonst niemand das Ziel erreichte und den Schleier lüftete. Immerhin ist es ein paarmal vorgekommen, daß sich in solchen Fällen doch noch nachträglich das Rätsel gelöst hat. In meinen Notizen findet sich etwa ein halbes Nutzend von Fällen dieser Art, worunter die Geschichte von dem zweiten Tüpfel und die, welche ich eben erzählen will, bei weitem am interessantesten sind.

Sherlock Holmes war an sich kein Freund gymnastischer Uebungen. Uebertrafen ihn auch nur wenige an Muskelkraft, und war er auch zweifellos einer der besten Boxer, die mir je vorgekommen sind, so erschien ihm doch zwecklose körperliche Anstrengung als Kraftvergeudung, und er warf sich nur ins Geschirr, wenn ihn ein bestimmtes Ziel lockte. Dann war er einfach unermüdlich, und seine Spannkraft unerschöpflich. Es ist eigentlich sonderbar, daß sein Körper unter diesen Umständen beständig so leistungsfähig blieb; aber das lag wohl daran, daß er stets sehr mäßig lebte. Von gelegentlichem Genuß von Kokain abgesehen, fröhnte er keinerlei Leidenschaft, und auch zu diesem Mittel griff er nur, wenn gar kein Fall und keine interessante Zeitungsnachricht die öde Gleichförmigkeit der Tage unterbrechen wollte.

Eines schönen Frühlingstages hatte er sich endlich dazu bewegen lassen, mit mir einen Spaziergang im Park zu machen, wo eben das erste zarte Grün an den Ulmen sproßte, und die Kastanien anfingen, ihre Knospen zu öffnen und ihre fünf Blattfinger auszuspreizen. Zwei Stunden lang strichen wir umher, fast ohne ein Wort zu reden, wie es sich für zwei Busenfreunde geziemt. Als wir wieder in die Bakerstraße kamen, war es fast fünf Uhr geworden.

»Entschuldigen Sie!« sagte unser Laufbursche, als er uns die Tür aufmachte. »Es ist ein Herr hier gewesen und hat nach Ihnen gefragt.«

Holmes warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu.

»Einen Nachmittagsbummel und keinen mehr!« sagte er. »Der Herr ist also wieder gegangen?«

»Ja.«

»Hast du ihn nicht ersucht, einzutreten?«

»Ja, er hat auch gewartet.«

»Wie lange denn?«

»Eine halbe Stunde. Es war ein sehr aufgeregter Herr. Immer ist er herumgegangen und hat auf den Boden gestampft. Ich habe draußen an der Tür gestanden und ihn gehört. Am Ende kommt er heraus und schreit: ›Wird der Mann denn gar nicht nach Hause kommen?‹ So hat er gesagt, Herr Holmes! ›Sie brauchen bloß ein bißchen länger zu warten,‹ sag‘ ich. ›Dann will ich lieber im Freien warten, denn hier erstick‘ ich fast‹ sagte er. ›Ich bin bald wieder hier.‹ Und damit ging er auf und davon, und was ich auch redete, alles war umsonst.«

»Gut, gut, du kannst nichts dafür,« sagte Holmes, als wir ins Zimmer gingen, »’s ist doch recht unangenehm, Watson! Mir tat ein neuer Fall blutnot, und nach der Ungeduld, die der Mann zeigte, scheint es keine kleine Sache zu sein. Hallo! Das ist doch nicht deine Tabakpfeife auf dem Tisch! Er muß seine hier gelassen haben. Ein schöner alter Kopf mit einem langen Mundstück von Bernstein. Ich möchte wissen, wieviel echte Bernsteinspitzen es in London gibt. Die Leute denken, wenn eine Fliege drin ist, müsse er echt sein. Dabei gibt es eine eigene Industrie, unechte Fliegen in unechten Bernstein zu setzen. Jedenfalls ist der Mann sehr aufgeregt gewesen, daß er eine Pfeife liegen läßt, auf die er offenbar große Stücke hält.«

»Woher weißt du, daß er viel auf sie hält?« fragte ich.

»Nun, meiner Schätzung nach hat die Pfeife neu sieben und einen halben Schilling gekostet. Sie ist aber, wie du siehst, zweimal ausgebessert worden, einmal am Holz und einmal am Bernstein. Jedesmal hat man bei der Reparatur ein Band von Silber herumgelegt, das mehr gekostet hat als die ganze Pfeife. Dem Manne muß also die Pfeife sehr teuer sein, wenn er sie lieber flicken läßt, statt um den gleichen Preis eine neue zu kaufen.«

»Noch was?« fragte ich, denn Holmes drehte die Pfeife in seiner Hand hin und her und betrachtete sie in der ihm eigenen nachdenklichen Weise.

Er hielt sie in die Höhe und betippte sie mit seinem langen, dünnen Mittelfinger, wie etwa ein Professor der Osteologie, der einen Knochen demonstriert.

»Pfeifen sind manchmal außerordentlich interessant,« sagte er. »Nichts besitzt mehr Individualität, ausgenommen etwa Uhren und Schuhsenkel. Was sich aber hier zeigt, ist weder sehr ausgesprochen, noch sehr bedeutungsvoll. Der Eigentümer ist offenbar ein kräftiger Mann, linkshändig, mit wohlerhaltenen Zähnen, nicht sehr ordnungsliebend und in guten Verhältnissen.«

Mein Freund äußerte dies so obenhin; ich sah aber, daß er mich dabei fixierte, um zu erkennen, ob mir seine Schlußfolgerungen klar seien.

»Du denkst, wer aus einer Pfeife für sieben Schilling raucht, muß wohlhabend sein?« sagte ich.

»Das ist Grosvenor-Mischung zu acht Pence die Unze,« antwortete Holmes, indem er ein paar Krümel in seine offene Hand klopfte. »Da er schon für den halben Preis ein ausgezeichnetes Kraut haben kann, so muß er in guten Verhältnissen leben.«

»Und die anderen Punkte?«

»Er pflegt seine Pfeife an Lampen und Gasbrennern anzuzünden. Du siehst, sie ist auf einer Seite ganz versengt. Natürlich, das kann nicht von Streichhölzern herrühren. Warum sollte einer auch ein Streichholz an die Seite seiner Pfeife halten? An der Lampe kann man sie aber nicht anzünden, ohne daß dabei der Kopf angesengt wird. Und es trifft die rechte Seite der Pfeife. Daraus entnehme ich, daß er linkshändig ist. Halte deine eigene Pfeife an die Lampe und du wirst sehen, daß es für dich als Rechtshändigen natürlich ist, die linke Seite an die Flamme zu bringen. Du machst es vielleicht auch einmal umgekehrt, aber sicher nicht in der Regel. Die hier ist immer so gehalten worden. Dann hat er seinen Bernstein durchgebissen. Dazu gehört ein muskulöser, energischer Mann mit gutem Gebiß. Doch wenn ich mich nicht irre, höre ich ihn auf der Treppe; so werden wir bald etwas Interessanteres als seine Pfeife zu ergründen haben.«

Einen Augenblick darauf öffnete sich die Tür und ein großer jüngerer Mann trat ins Zimmer. Er war gut, aber einfach gekleidet, trug einen dunkelgrauen Anzug und hielt in der Hand einen neuen Kastor. Ich hätte ihn auf etwa dreißig Jahre geschätzt, obwohl er in Wirklichkeit ein paar Jahre älter war.

»Entschuldigen Sie!« sagte er etwas verlegen. »Ich hätte wohl anklopfen sollen. Ja, natürlich hatte ich anklopfen sollen. Die Sache ist die, ich bin etwas außer mir, und davon kommt das alles.« Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn, wie einer, der schwindlig werden will, und ließ sich dann in einen Stuhl niederfallen.

»Ich sehe, Sie haben eine, zwei Nächte nicht geschlafen,« sagte Holmes in seiner leichten, genialen Weise. »Das bringt einem die Nerven mehr herunter als die Arbeit, ja noch mehr als der Genuß. Erlauben Sie nur die Frage: Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Ich brauche Ihren Rat. Ich weiß nicht, was ich tun soll, und mein ganzes Lebensglück scheint mir aus den Fugen zu gehen.«

»Sie wollen meinen Rat als Detektiv?«

»Nicht nur das. Sie sollen mir Rat geben als scharfsinniger, als welterfahrener Mann. Ich will wissen, was ich zunächst tun muß. Ich hoffe zu Gott, Sie sind imstande, es mir zu sagen.«

Er brachte das alles kurz, scharf, stoßweise hervor, und es machte mir den Eindruck, als wäre es für ihn außerordentlich peinlich, vor uns zu reden, und als müßte er seiner eigentlichen Neigung Gewalt antun.

»Es ist eine sehr delikate Sache,« fuhr er fort. »Man spricht nicht gern vor Fremden von Familiensachen. Es ist entsetzlich, über das Verhalten seiner Frau zu zwei Männern zu reden, die man zum erstenmal im Leben sieht. Es ist fürchterlich, wenn man das tun muß. Aber mein Witz ist zu Ende, und ich muß Rat haben.«

»Mein lieber Herr Grant Munro –« fing Holmes an.

Unser Besucher sprang von seinem Stuhle auf.

»Wie,« rief er, »Sie kennen meinen Namen?«

»Wenn Sie Ihr Inkognito bewahren wollen,« sagte Holmes lächelnd, »würde ich Ihnen vorschlagen, nicht mehr Ihren Namen auf Ihr Hutfutter zu schreiben, oder wenigstens der Person, mit der Sie sprechen, nicht gerade das Innere des Hutes zuzuwenden. Ich wollte Ihnen eben sagen, daß wir, mein Freund und ich, viele ungewöhnliche Geheimnisse in diesem Zimmer angehört haben, und daß uns so oft das Glück zuteil wurde, beunruhigten Herzen wieder Frieden zu bringen. Ich hoffe zuversichtlich, wir können für Sie dasselbe tun. Darf ich Sie bitten, da vielleicht Eile nottut, mir unverzüglich den Tatbestand Ihres Falles mitzuteilen?«

Wieder fuhr sich unser Gast mit der Hand über die Stirn, als komme es ihm recht sauer an. Aus jeder Bewegung und jeder Miene konnte man erkennen, daß er ein verschlossener, selbstbewußter Mann war, mit einem Anflug von Stolz in seiner Natur, der ihn empfangene Wunden eher verbergen als zur Schau tragen ließ. Plötzlich machte er mit der geschlossenen Hand eine energische Bewegung, wie einer, der alle Bedenken beiseite wirft, und fing an:

»Die Sache ist die, Herr Holmes! Ich bin verheiratet, und zwar seit drei Jahren. In dieser ganzen Zeit haben wir beide uns so herzlich geliebt und so glücklich zusammen gelebt wie nur je ein Paar. Wir waren ein Herz und eine Seele im Denken wie im Handeln. Und nun, seit letztem Montag, ist auf einmal ein Riß entstanden, und ich sehe, es muß irgend etwas in ihr vorgehen, das ich nicht enträtseln kann. Wir sind einander entfremdet, und ich will der Sache auf den Grund kommen.

»Nun dürfen Sie vor allem eines nicht vergessen, Herr Holmes! Effie liebt mich. Daran ist gar kein Zweifel. Sie liebt mich von ganzem Herzen und ganzer Seele, und das gerade jetzt mehr als je. Ich weiß es, ich fühle es. Hierüber brauchen wir kein Wort zu verlieren. Aber es trennt uns ein Geheimnis, und ehe dies nicht aufgeklärt ist, können wir nicht wieder dieselben zueinander sein, wie vorher.«

»Seien Sie so freundlich und teilen Sie mir den Tatbestand mit, Herr Munro!« sagte Holmes etwas ungeduldig.

»Ich will Ihnen erzählen, was ich von Effies Leben weiß. Sie war Witwe, als ich sie zum ersten Male sah, obwohl noch ganz jung – erst einundzwanzig. Sie hieß damals Frau Hebron. Sie kam als ganz kleines Kind nach Amerika und lebte in der Stadt Atlanta, wo sie diesen Hebron, einen gesuchten Anwalt, heiratete. Sie hatten ein einziges Kind, aber das gelbe Fieber brach dort aus, und Mann und Kind wurden beide von der Seuche hinweggerafft. Ich habe selbst seine Sterbeurkunde gesehen. Das verleidete ihr den weiteren Aufenthalt in Amerika, und sie kam wieder herüber und lebte bei einer unverheirateten Tante in Pinner in Middlesex. Es bleibt noch zu erwähnen, daß ihr Mann für sie gut gesorgt hatte, und daß sie ein Kapital von viertausendfünfhundert Pfund besaß, das von ihm so vorteilhaft angelegt war, daß es durchschnittlich sieben Prozent abwarf. Sie war erst sechs Monate in Pinner, als ich mit ihr zusammentraf; wir verliebten uns ineinander, und nach wenigen Wochen fand die Hochzeit statt.

»Ich für meine Person bin Hopfenhändler, und da ich ein Einkommen von siebenhundert oder achthundert Pfund hatte, so litten wir keine Not, und ich mietete uns für jährlich achtzig Pfund eine Villa in Norbury. Unser kleines Heim sieht sehr ländlich aus, wenn man bedenkt, daß es so nahe an der Stadt liegt. Weiter oben, nicht fern von uns, lagen nur eine Wirtschaft und zwei Häuser, und dann stand noch ein einzelnes Landhaus jenseits des Feldes uns gegenüber; außerdem gab es keine Häuser bis halbwegs zur Station. Zu manchen Jahreszeiten mußte ich wegen des Geschäftes in die Stadt; im Sommer aber gab’s weniger zu tun, und dann lebte ich in unserem Landhause mit meiner Frau so glücklich, wie man nur wünschen kann. Ich wiederhole, es war niemals auch nur ein Schatten zwischen uns, bis diese verfluchte Geschichte kam.

»Eins muß ich Ihnen noch sagen, ehe ich fortfahre. Als wir heirateten, übertrug meine Frau ihr ganzes Eigentum auf mich – eigentlich gegen meinen Willen, denn ich dachte, was für eine üble Geschichte das gäbe, wenn mein Geschäft schlecht ginge. Jedoch sie wollte es so haben, und so machten wir’s. Gut, vor sechs Wochen etwa kam sie zu mir.

»›Jack!‹ sagte sie. ›Als du mein Geld nahmst, sagtest du, wenn ich je etwas haben wollte, solle ich es dir nur sagen.‹

»›Gewiß,‹ sagte ich, ›’s ist alles dein.‹

»›Gut,‹ sagte sie, ›ich brauche hundert Pfund.‹

»Ich war ein bißchen verblüfft, denn ich hatte gedacht, ’s wär‘ nur ein neues Kleid oder dergleichen, was ihr im Kopfe steckte.

»›Wozu, in aller Welt?‹ fragte ich.

»›O,‹ sagte sie in ihrer scherzenden Weise, ›du hast gesagt, du wärest nur mein Bankier, und Bankiers fragen einen niemals, wozu, wie du weißt.‹

»›Wenn es wirklich dein Ernst ist, so sollst du natürlich das Geld haben,‹ sagte ich.

»›Ja doch, es ist wirklich mein Ernst.‹

»›Und du willst mir nicht sagen, wozu du es brauchst?‹

»›Später vielleicht, Jack, jetzt aber nicht.‹

»Damit mußte ich mich zufrieden geben, obwohl es das erstemal war, daß wir eine Heimlichkeit vor einander hatten. Ich gab ihr eine Anweisung und dachte nicht mehr an die Geschichte. Vielleicht hat das auch gar nichts mit dem, was nachher kam, zu tun, aber ich glaubte, es wäre besser, ich teilte es Ihnen mit.

»Ich sagte Ihnen vorhin, es liegt ein Landhaus nicht weit von unserem Hause. Dazwischen liegt ein Feld; aber wenn man hin will, muß man die Straße ein Stückchen heruntergehen und dann in einen schmalen Weg zwischen zwei Hecken einbiegen. Gerade hinter diesem Landhaus fängt ein hübsches Tannenwäldchen an, und da trieb ich mich besonders gerne herum, denn Bäume ziehen einen immer an. Das kleine Landhaus hatte ganze acht Monate leer gestanden, und das war schade, denn es war ein nettes, zweistöckiges Ding mit einem altmodischen Säulengang, von Geißblatt umrankt. Ich habe manchmal dagestanden und gedacht, was das für ein herziges Daheim geben müßte.

»Letzten Montag gehe ich wieder einmal da hinunter, als mir auf dem Heckenwege ein leerer Möbelwagen entgegenkommt und ich einen Haufen Teppiche und Zeugs auf dem Rasenplatze bei dem alten Portikus liegen sehe. Es war klar, das Häuschen war endlich doch vermietet worden. Ich ging vorbei, blieb dann stehen, wie man’s macht, wenn man nichts zu tun hat, und guckte nochmals hin und dachte, was das wohl für Leute wären, die unsere nächsten Nachbarn sein sollten. Und wie ich so hinsehe, merke ich auf einmal, daß mich ein Gesicht aus einem der oberen Fenster beobachtet. Ich weiß nicht, was mit dem Gesichte los war, Herr Holmes, aber mir lief’s bei seinem Anblicke eiskalt den Rücken herunter. Ich war ein Stück weg und konnte also die Züge nicht sehen, aber ich sage Ihnen, das Gesicht hatte etwas Unnatürliches und Gespensterhaftes. So kam mir’s vor, und ich machte schnell ein paar Schritte vorwärts, um die Person, die mich beobachtete, besser ins Auge zu fassen.

Aber da verschwand das Gesicht plötzlich, so daß es schien, als wäre es in die Dunkelheit des Zimmers zurückgerissen worden. Ich blieb wohl fünf Minuten regungslos stehen, überlegte mir die Sache und suchte mir über die Erscheinung möglichst klar zu werden. Ich konnte nicht sagen, ob’s ein Männer- oder ein Frauengesicht war. Aber die Farbe hatte mir’s vor allem angetan. Es war ein fahles, totes Gelb, und drum und dran etwas so Unbewegliches, Starres, was mir ganz unheimlich und unnatürlich vorkam. Die Sache ging mir so nahe, daß ich mich entschloß, mir die neuen Mieter etwas genauer anzusehen. Ich ging hin und klopfte an die Tür, die sofort von einer großen, hageren Frauensperson mit rauhem, abweisendem Gesichtsausdruck geöffnet wurde.

»Was wollen Sie denn?« fragte sie mich mit nördlichem Akzent.

»Ich bin Ihr Nachbar von da drüben,« sagte ich und nickte nach meinem Hause zu. »Ich sehe, Sie sind eben eingezogen; so dachte ich, ich könnte Ihnen vielleicht irgendwie …«

»›Ach was, wir werden’s schon sagen, wenn wir was brauchen!‹ sagte sie und schlug mir die Tür vor der Nase zu. Aergerlich über die grobe Abweisung, drehte ich mich um und ging heim. Den ganzen Abend mußte ich, ich mochte tun, was ich wollte, immer wieder an die Fenstererscheinung und an das rohe Weib denken. Von der ersten wollte ich lieber meiner Frau nichts sagen, denn sie ist ein nervöses, zartbesaitetes Wesen, und ich wollte ihr die unangenehme Empfindung, die ich selbst hatte, ersparen. Ich erwähnte aber vor dem Einschlafen, das Häuschen sei nun bewohnt, worauf sie nichts erwiderte.

»Ich habe einen ungewöhnlich festen Schlaf. Zum Spaß wurde bei uns oft gesagt, mich könnte überhaupt nichts aufwecken. Und doch, gerade in dieser Nacht, mochte es nun die leichte Aufregung durch mein kleines Abenteuer oder sonst was gewesen sein, ich weiß es nicht, aber mein Schlaf war in dieser Nacht weit weniger fest als gewöhnlich. Noch halb traumbefangen, hatte ich das Bewußtsein, daß etwas im Zimmer vor sich ging, und allmählich ward mir klar, daß sich meine Frau angezogen hatte und schnell den Mantel umwarf. Meine Lippen bewegten sich schon, um ein paar schläfrige Worte des Erstaunens oder des Vorwurfes über diese nächtlichen Vorbereitungen zu murmeln, als plötzlich mein halb geöffnetes Auge auf ihr vom Mondlicht erhelltes Gesicht fiel und die Ueberraschung mich verstummen ließ. Sie zeigte einen Ausdruck, wie ich ihn vorher nie an ihr bemerkt hatte, und wie ich ihn bei ihr für unmöglich gehalten hätte. Sie war totenbleich, ihr Atem ging schnell, und verstohlen blickte sie nach dem Bett, als sie ihren Mantel zuknöpfte, um zu sehen, ob sie mich gestört hätte. Dann, in der Meinung, ich schliefe noch, glitt sie geräuschlos aus dem Zimmer, und einen Augenblick später vernahm ich einen scharfen, quietschenden Ton, der nur von den Angeln der Vordertür herrühren konnte. Ich setzte mich im Bett zurecht und stieß meine Knöchel gegen die Bettpfosten, um mich zu überzeugen, daß ich nicht träumte. Dann zog ich meine Uhr unterm Kopfkissen vor: es war drei Uhr morgens. Was in aller Welt konnte meine Frau um drei Uhr morgens auf der Landstraße zu tun haben?

Ich saß etwa zwanzig Minuten und ließ mir die Sache durch den Kopf gehen, um irgend eine denkbare Erklärung zu finden. Je mehr ich aber nachdachte, desto sonderbarer und unerklärlicher kam mir die Geschichte vor. Während ich noch über das Rätsel nachgrübelte, hörte ich die Tür wieder leise zumachen und ihre Schritte die Treppe heraufkommen.

»Wo in aller Welt bist du gewesen, Effie?« fragte ich, als sie hereintrat.

Bei meinen Worten fuhr sie heftig zusammen und stieß einen halb unterdrückten Schrei aus, und dieser Schrei und dieser Schreck beunruhigten mich mehr als alles übrige, denn aus ihnen sprach unverkennbar ein Schuldbewußtsein. Meine Frau war immer eine freie, offene Natur gewesen, und es schauderte mich, sie in ihr eigenes Zimmer schleichen und bei der Stimme ihres Mannes zusammenschrecken zu sehen.

»Du wach, Jack?« rief sie mit nervösem Lachen. »Ich dachte, dich könnte nichts aufwecken.«

»Wo bist du gewesen?« fragte ich in strengerem Tone.

»›Ich wundere mich nicht, daß du erstaunt bist,‹ sagte sie, und ich konnte sehen, wie ihre Finger zitterten, als sie ihren Mantel aufknöpfte. ›Ich glaube auch nicht, daß ich jemals im Leben schon so etwas getan habe. Die Sache ist die: mir war, als müßte ich ersticken, und es drängte mich unwiderstehlich, etwas frische Luft zu schöpfen. Ich wäre, glaube ich, ohnmächtig geworden, wäre ich nicht hinausgegangen. Ich habe ein paar Minuten an der Tür gestanden, und jetzt ist mir wieder ganz wohl.‹

»Während sie das vorbrachte, sah sie mich nicht einmal an, und ihre Stimme klang ganz anders als gewöhnlich. Für mich stand es fest, daß sie die Unwahrheit gesagt hatte. Ich erwiderte kein Wort, sondern wandte mein Gesicht der Wand zu, mit einem verwundeten, von Zweifel und Argwohn erfüllten Herzen. Was verhehlte meine Frau vor mir? Was war das Ziel ihrer nächtlichen Wanderung gewesen? Ich fühlte, ich könnte keine Ruhe mehr finden, bis ich’s wüßte, und doch wollte ich sie nicht noch einmal fragen, nachdem sie mir etwas vorgelogen hatte. Den ganzen Rest der Nacht zermarterte ich mein Gehirn und konstruierte immer neue Theorien, eine immer unwahrscheinlicher als die andere.

»Am nächsten Tage hatte ich eigentlich in der Stadt zu tun, aber ich war in meinem Sinn zu verstört, um Gedanken für Geschäftssachen übrig zu haben. Meine Frau schien ebenso unruhig zu sein wie ich, und aus den schnellen prüfenden Blicken, die sie mir von Zeit zu Zeit zuwarf, konnte ich sehen, sie merkte wohl, daß ich ihr nicht glaubte, und sie war ratlos, was sie tun sollte. Beim Frühstück wechselten wir kaum ein Wort, und kurz danach ging ich fort, um die Sache in der frischen Morgenluft von neuem zu überdenken.

»Ich kam bis zum Kristallpalast, hielt mich eine Stunde im Park auf und war so um ein Uhr wieder in Norbury. Mehr zufällig wählte ich von der Station heimwärts einen Weg, der mich bei dem Häuschen vorüberführte, und blieb einen Augenblick stehen und sah nach den Fenstern, ob etwa wieder das sonderbare Gesicht da wäre, das mich am Tage vorher so angestarrt hatte. Wie ich dastand – denken Sie sich meine Ueberraschung, Herr Holmes! – ging auf einmal die Tür auf und meine Frau kam heraus!

»Bei ihrem Anblick war ich starr vor Erstaunen, aber meine Erregung war nichts im Vergleiche mit der, die sich in ihrem Gesichte malte, als unsere Augen sich begegneten. Einen Augenblick schien sie in das Haus zurückfahren zu wollen; dann aber, als sie sah, jedes Verhehlen sei unnütz, kam sie mit kreideweißem Gesichte und schreckerfüllten Augen, die das Lächeln auf ihren Lippen Lügen straften, auf mich zu.

»›O, Jack!‹ sagte sie. ›Ich war eben drin, um zu sehen, ob ich unseren neuen Nachbarn mit irgend etwas behilflich sein könnte. Was siehst du mich so an, Jack? Du bist mir doch nicht böse?‹

»›So!‹ sagte ich. ›Also hieher bist du in der Nacht, gegangen?‹

»›Was willst du damit sagen?‹ rief sie.

»›Du bist hier gewesen. Das ist gewiß. Wer sind die Leute, daß du sie nächtlicherweile aufsuchst?‹

»›Ich bin nicht hier gewesen.‹

»›Wie kannst du das sagen, wenn du doch selbst weißt, daß es nicht wahr ist?‹ rief ich. ›Schon deine veränderte Stimme verrät dich. Wann habe ich je ein Geheimnis vor dir gehabt? Ich werde jetzt in das Haus hineingehen und der Sache auf den Grund kommen.‹

»›Nein, nein Jack, um Gottes willen!‹ stöhnte sie, außer stande, ihre furchtbare Aufregung länger zu bemeistern, und als ich auf die Tür losschritt, ergriff sie mich am Aermel und zerrte mich mit krampfhafter Anstrengung zurück.

»›Ich flehe dich an, Jack, tu‘ das nicht!‹ rief sie. ›Ich schwöre dir, du wirst eines Tages alles erfahren; aber nichts als Jammer kann herauskommen, gehst du jetzt in das Haus.‹ Und als ich sie abzuschütteln versuchte, hing sie sich an mich und beschwor mich mit wahnsinnigem Flehen.

»›Vertrau mir, Jack!‹ rief sie. ›Vertrau mir nur dies einemal! Du wirst es nie zu bereuen haben. Du weißt, ich würde dir nichts verhehlen, wäre es nicht um deiner selbst willen. Unser ganzes Lebensglück hängt daran. Gehst du mit mir heim, so wird alles wieder gut werden. Dringst du aber mit Gewalt in das Haus da, so ist alles aus.‹

»Solch ein Ernst, solch eine Verzweiflung lag in ihrer Art, daß ich mich von ihren Worten an die Stelle bannen ließ und unentschlossen vor der Tür stand.

»›Ich will dir vertrauen unter einer Bedingung und nur unter dieser Bedingung,‹ sagte ich schließlich. ›Diese Geheimnistuerei muß von nun an ein Ende haben. Du magst meinetwegen deine Heimlichkeit für dich behalten, aber du mußt mir versprechen, daß von nun an die nächtlichen Besuche aufhören und überhaupt alles Getue hinter meinem Rücken. Ich will das Geschehene vergessen, wenn du mir versprichst, daß nichts dergleichen in Zukunft mehr vorkommen soll.‹

»›Ich war überzeugt, du würdest mir vertrauen!‹ rief sie mit einem großen Seufzer der Erleichterung. ›Ich werde ’s lassen, ganz wie du willst. Komm fort, o komm fort nach Hause!‹

»Noch immer an meinem Aermel zupfend, führte sie mich von dem Häuschen weg. Als wir uns entfernten, warf ich noch einen Blick zurück und wirklich, da war wieder an einem der oberen Fenster das gelbe, fahle Gesicht und beobachtete uns. Was für ein Zusammenhang konnte zwischen diesem Wesen und meiner Frau bestehen? Oder was verband sie mit dem rohen Weib, das ich am Tage vorher gesehen hatte? Es war ein sonderbares Rätsel, und doch fühlte ich, für mich gab’s keinen Frieden mehr, bis seine Lösung gefunden war.

»Die beiden folgenden Tage blieb ich daheim, und meine Frau hielt ihr Versprechen gewissenhaft, denn meines Wissens ging sie nicht aus dem Hause. Am dritten Tage aber konnte ich nicht zweifeln, daß ihr feierliches Gelöbnis sie dem geheimen Einfluß nicht zu entziehen vermochte, der sie von ihrem Gatten und ihrer Pflicht ablenkte.

»Ich war an dem Tage in die Stadt gefahren, kehrte aber mit dem Zug 2 Uhr 40 Minuten statt mit meinem gewöhnlichen 3 Uhr 36 Minuten zurück. Als ich ins Haus trat, kam das Mädchen mit bestürztem Gesicht in den Hausflur gelaufen.

»›Wo ist meine Frau?‹ fragte ich.

»›Ich glaube, sie ist ausgegangen,‹ antwortete sie.

»Sofort regte sich mein Verdacht. Ich sprang die Treppe hinauf, um mich zu überzeugen, ob sie im Hause sei. Dabei fiel mein Blick zufällig durch eines der oberen Fenster, und ich sah das Mädchen, mit dem ich eben gesprochen hatte, quer über das Feld auf das Unglückshaus zulaufen. Da ward mir natürlich sofort alles klar. Meine Frau war hinübergegangen und hatte dem Mädchen gesagt, es solle sie rufen, wenn ich zurückkäme.

»Außer mir vor Zorn, stürzte ich hinunter und querfeldein, entschlossen, die Sache ein- für allemal zu Ende zu bringen. Ich sah meine Frau und das Mädchen zusammen auf dem engen Heckenwege zurücklaufen, ließ mich aber dadurch nicht aufhalten. In dem Häuschen barg sich das Geheimnis, das einen Schatten auf mein Lebensglück warf. Ich schwor mir zu, mochte kommen, was da wollte, es sollte länger kein Geheimnis sein. Ich setzte nicht einmal den Klopfer in Bewegung, sondern drückte die Klinke nieder und stürzte in den Hausflur.

»Im unteren Stock war alles still und ruhig. In der Küche brodelte ein Kessel über dem Feuer, und eine große schwarze Katze lag zusammengerollt in einem Korbe; aber von der Frau, die ich gesehen hatte, keine Spur. Ich lief in das zweite Gelaß, aber das war ebenso menschenleer. Dann eilte ich die Treppe hinauf, fand aber auch hier nur zwei ganz verlassene Zimmer. Im ganzen Hause keine Menschenseele. Möbel und Wandschmuck waren von der denkbar einfachsten, billigsten Sorte, außer in der einen Stube, an deren Fenster ich das sonderbare Gesicht gesehen hatte. Die war gut und mit Geschmack ausgestattet, und aller heiße Argwohn, der mich erfüllte, kochte schäumend auf, als ich auf dem Kaminsims eine Vollphotographie meiner Frau bemerkte, die erst vor einem Vierteljahr auf meinen Wunsch aufgenommen worden war.

»Als ich mich zweifellos überzeugt hatte, daß das Haus leer war, verließ ich es mit einem Zentnergewicht auf dem Herzen, wie ich es nie in meinem Leben gefühlt hatte. Meine Frau kam mir in der Vorhalle entgegen, als ich wieder in mein Haus zurückkam, aber ich war zu sehr verletzt und zu zornig, um ein Wort an sie zu richten. Ich ging an ihr vorbei und begab mich in meine Arbeitsstube. Sie kam mir jedoch nach, ehe ich die Tür hatte zumachen können.

»›Es tut mir leid, daß ich mein Versprechen gebrochen habe, Jack,‹ sagte sie; ›aber wenn du alle Umstände wüßtest, würdest du mir, das glaube ich ganz gewiß, verzeihen.‹

»›Dann sage mir alles!‹

»›Ich kann nicht, Jack, ich kann nicht!‹ rief sie.

»›Ehe du mir nicht sagst, wer in dem Hause drüben gewohnt hat, und wem du die Photographie gegeben hast, kann von Vertrauen zwischen uns keine Rede mehr sein.‹ sagte ich, riß mich von ihr los und verließ das Haus.

»Das war gestern, Herr Holmes, und seitdem habe ich sie nicht wiedergesehen, und das ist auch alles, was ich von der ganzen seltsamen Geschichte weiß. Es ist der erste Schatten, der zwischen uns gefallen ist, und ich bin so erschüttert davon, daß ich nicht mehr aus und ein weiß. Da fuhr mir’s plötzlich heute morgen durch den Sinn, Sie seien der Mann, der mich beraten könnte in meiner Not; so bin ich hierher geeilt und gebe mich unbedenklich in Ihre Hände. Habe ich Ihnen irgend einen Punkt nicht deutlich genug beschrieben, so fragen Sie mich, bitte! Aber vor allem sagen Sie mir schnell, was ich tun soll! Denn dieses Elend ist mehr, als ich tragen kann.« – –

Holmes und ich hatten mit größtem Interesse dem ungewöhnlichen Bericht gelauscht, der stoßweise und abgebrochen erstattet wurde, wie von einem Manne, der unter dem Einflusse der höchsten Aufregung steht. Jetzt saß mein Freund eine Weile schweigend, in Gedanken verloren, das Kinn auf die Hand stützend, da.

»Wie ist es,« sagte er endlich, »können Sie beschwören, daß es ein Männergesicht war, das Sie am Fenster gesehen haben?«

»Jedesmal, wenn ich es gesehen habe, war ich ziemlich weit weg, so daß ich es unmöglich sagen kann.«

»Es hat aber einen unangenehmen Eindruck auf Sie gemacht?«

»Es schien mir eine unnatürliche Farbe und sonderbare starre Züge zu haben. Trat ich näher, so verschwand es mit einem Ruck.«

»Wie lange ist es her, daß Ihre Frau die hundert Pfund haben wollte?«

»Fast zwei Monate.«

»Haben Sie je ein Bild von ihrem ersten Gatten gesehen?«

»Nein, kurz nach seinem Tode ist in Atlanta Feuer ausgebrochen, und alle ihre Papiere sind verbrannt.«

»Und doch hatte sie eine Sterbeurkunde. Sie sagen, Sie haben sie gesehen?«

»Ja, sie hat sich nach dem Brand ein Duplikat ausstellen lassen.«

»Haben Sie einmal mit jemand gesprochen, der sie in Amerika gekannt hat?«

»Nein.«

»Hat sie selbst einmal davon geredet, daß sie ihren früheren Wohnplatz wiedersehen möchte?«

»Nein.«

»Kamen Briefe an sie von dort?«

»Nicht, daß ich wüßte.«

»Danke Ihnen. Jetzt möchte ich die Sache ein wenig überdenken. Bleibt das Häuschen dauernd verlassen, so wird es einiges Kopfzerbrechen kosten. Sind aber, was mir wahrscheinlicher dünkt, die Bewohner gestern von Ihrem Kommen verständigt worden und infolge dieser Warnung ausgerückt, dann sind sie jetzt vielleicht wieder da, und das Geheimnis läßt sich unschwer aufdecken. Ich gebe Ihnen daher den Rat, Sie kehren nach Norbury zurück und erkunden, ob an den Fenstern des Häuschens wieder etwas zu sehen ist. Haben Sie Grund zu der Annahme, es sei bewohnt, so dringen Sie nicht gewaltsam hinein, sondern drahten meinem Freunde und mir. Eine Stunde später sind wir bei Ihnen und werden dann bald sehen, was der ganzen Geschichte zugrunde liegt.«

»Und wenn noch niemand drin ist?«

»In diesem Falle komme ich morgen zu Ihnen und wir besprechen, was weiter in der Angelegenheit zu tun ist. Leben Sie wohl, und vor allem grämen Sie sich nicht, bevor Sie nicht wissen, daß Sie wirklich Ursache dazu haben!«

»Ich fürchte, das ist ein schlimmer Handel, Watson!« sagte mein Gefährte, als er Herrn Grant Munro hinausbegleitet hatte und wieder zurückgekommen war. »Was machst du daraus?«

»Es klingt nicht schön,« antwortete ich.

»Ja. Es handelt sich um Erpressung, wenn ich mich nicht sehr irre.«

»Und wer übt Erpressung?«

»Nun, das kann einzig und allein das Wesen sein, das in dem einzigen gut ausgestatteten Zimmer dort wohnt und die Photographie der Frau auf dem Kaminsims stehen hat. Auf mein Wort, Watson, das fahle Gesicht am Fenster hat für mich etwas sehr Anziehendes, und ich würde den Fall nicht um alle Welt hingeben.«

»Hast du eine Theorie?«

»Ja, soweit dies meine bisherige Kenntnis der Tatsachen zuläßt. Aber es sollte mich wundern, wenn sie sich nicht als richtig erwiese. Der erste Ehemann von der Frau befindet sich in dem Häuschen.«

»Warum denkst du das?«

»Wie können wir uns sonst ihre wahnsinnige Angst erklären, als ihr zweiter Mann in das Haus dringen wollte? Wie ich die Sache auffasse, ist der Tatbestand etwa folgender: Die Frau war in Amerika verheiratet. Sie entdeckte an ihrem Mann irgendwelche verabscheuungswerten Angewohnheiten oder, sagen wir, wahrscheinlich von ihr verlangt hatte, mitnimmt. Während sie noch miteinander verhandeln, stürzt das Mädchen herein mit der Meldung, der Herr sei heimgekommen, worauf die Frau, welche weiß, ihr Mann werde sofort am Platze erscheinen, die Insassen augenblicklich zur Hintertüre hinausgehen heißt, in das Kiefernwäldchen wahrscheinlich, das dicht dabei stehen soll. So findet er das Haus verlassen. Es sollte mich aber sehr wundern, wenn er es heute abend noch ebenso fände. Was denkst du von meiner Theorie?«

»Das ist alles bloße Vermutung.«

»Aber es stimmt doch mit den uns bekannten Tatsachen. Werden uns neue bekannt, mit denen sich meine Theorie nicht vereinigen läßt, dann, aber nur dann, müssen wir sie eben einer Revision unterziehen. Zur Zeit können wir nichts weiter tun, bis wir von unserem Freunde in Norbury eine neue Botschaft erhalten.«

Wir brauchten nicht lange zu warten. Die Nachricht kam, als wir gerade mit dem Tee fertig waren. Sie lautete:

»Die Mieter sind wieder da. Habe das Gesicht nochmals am Fenster gesehen. Erwarte Sie mit dem Siebenuhrzug und tue keinen Schritt, bis Sie kommen.«

Wir trafen ihn auf dem Bahnsteig, als wir ausstiegen, und konnten beim Scheine her Stationslampe sehen, daß er sehr bleich war und vor Aufregung zitterte. »Sie sind noch da, Herr Holmes!« sagte er und legte seine Hand auf die Schulter meines Freundes. »Ich habe Licht im Hause gesehen, als ich vorbeikam. Wir müssen’s jetzt ein- für allemal ausmachen.«

»Wie ist also Ihr Plan?« fragte Holmes, als wir die dunkle, baumbepflanzte Straße hinuntergingen.

»Ich will mir gewaltsam Eingang verschaffen und selbst sehen, wer im Hause ist. Sie beide wünsche ich als Zeugen dabei zu haben.«

»Sie sind hierzu entschlossen trotz der Warnung Ihrer Frau, es sei besser, Sie drängen nicht in das Geheimnis?«

»Ja, ich bin entschlossen.«

»Gut. Ich denke, Sie haben recht. Jede Wahrheit ist besser als quälender Zweifel ohne Ende. Es ist besser, wir gehen sofort daran. Freilich, daß wir dabei gesetzwidrig handeln, ist nur allzu klar. Aber ich denke, unter den Umständen können wir’s riskieren.«

Es war eine sehr finstere Nacht, und ein leichter Regen setzte ein, als wir von der Landstraße in den enorm tief ausgefahrenen Heckenweg einbogen. Herr Grant Munro drängte jedoch ungeduldig vorwärts, und wir stolperten hinter ihm drein, so gut wir eben konnten.

»Dort sind die Lichter meines Hauses,« murmelte er, auf einen Schimmer zwischen den Bäumen weisend, »und das hier ist das Landhaus, in das ich hinein will.« Während er dies sagte, bog sich der Weg, und das Gebäude lag dicht neben uns. Ein gelber Lichtschein, der über den dunklen Vordergrund lief, ließ uns erkennen, daß die Tür nicht völlig geschlossen war, und ein Fenster im oberen Stockwerk war hell erleuchtet. Als wir hinschauten, sahen wir durch die Fensterblenden einen schwarzen Fleck sich bewegen.

»Das ist das Geschöpf!« rief Grant Munro. »Sie können selbst sehen, daß sich dort jemand befindet. Jetzt mir nach, und wir werden bald alles wissen!«

Wir näherten uns der Tür, aber plötzlich trat aus dem Schatten eine Frau hervor und stand vor uns, vom goldigen Schimmer des Lichtes übergossen. Ihr vom Lichtschein abgewandtes Gesicht konnte ich nicht erkennen, aber ich sah, wie sie ihre Arme flehend erhob.

»Um Gottes willen, Jack, tu es nicht!« rief sie mit trauervoller Stimme.

»Lass‘ mich gehen! Ich muß vorbei. Meine Freunde und ich wollen diese Geschichte ein- für allemal zu Ende bringen.« Er schob sie beiseite, und wir folgten ihm unmittelbar. Als er die Tür weit aufriß, stellte sich ihm eine ältliche Frauensperson in den Weg, aber er stieß sie zurück, und einen Augenblick später waren wir alle auf der Treppe. Grant Munro stürzte in das erleuchtete Zimmer im oberen Stockwerk, und wir folgten ihm auf den Fersen.

Es war ein trauliches, hübsch ausgestattetes Zimmer, von zwei Kerzen auf dem Tisch und zwei anderen auf dem Kaminsims erhellt. Vor einem Sekretär an der Wand, an einen Polsterstuhl gelehnt, stand allem Anschein nach ein kleines Mädchen. Sein Gesicht war abgewandt, als wir eintraten, aber wir konnten sehen, daß es einen roten Rock anhatte und lange weiße Handschuhe trug. Als sie sich uns zukehrte, stieß ich einen Schrei der Ueberraschung und des Entsetzens aus. Das Gesicht, das sie uns zuwandte, zeigte eine höchst sonderbare fahle Farbe, und die Züge waren völlig ausdrucksleer. Einen Augenblick später war das Geheimnis enthüllt. Holmes fuhr lachend mit der Hand hinter das Ohr des Kindes, eine Maske schälte sich von seinem Angesicht und vor uns stand … ein kleines kohlschwarzes Negermädchen, das vor Vergnügen über unsere verdutzten Gesichter alle seine weißen Zähne blitzen ließ. Ich mußte in ihr lustiges Lachen einstimmen, aber Grant Munro starrte sie sprachlos an und fuhr sich mit der Hand an die Kehle.

»Mein Gott,« schrie er endlich, »was hat das zu bedeuten?«

»Ich will dir sagen, was es zu bedeuten hat,« rief Frau Munro, indem sie mit entschlossenem, gefaßtem Gesichtsausdruck ins Zimmer trat. »Du hast mich gegen meinen Wunsch zum Reden gezwungen, und nun müssen wir uns beide, so gut es gehen will, damit abfinden. Mein Mann ist in Atlanta gestorben, mein Kind aber ist am Leben geblieben.«

»Dein Kind?«

Sie zog ein silbernes Medaillon aus ihrem Busen. »Du hast dies niemals offen gesehen.«

»Ich dachte, es ginge nicht auf.«

Sie drückte auf eine Feder, und die Vorderseite sprang auf. Es wurde das Porträt eines Mannes sichtbar, der ausnehmend schöne und intelligente Züge besah, aber die unverkennbaren Merkmale afrikanischer Abstammung aufwies.

»Das ist John Hebron aus Atlanta,« sagte die Dame, »und keiner übertraf ihn an Adel der Gesinnung. Ich zerfiel mit allen Angehörigen meiner Rasse wegen meiner Heirat mit ihm, bereute es aber, solange er am Leben blieb, keinen Augenblick. Es war unser Unglück, daß unser einziges Kind mehr seinem Volke als meinem nachschlug. Das kommt oft in solchen Ehen vor, und unsere kleine Lucy ist weit dunkler, als ihr Vater je war. Aber dunkel oder hell, sie ist ein liebes kleines Mädel und ihrer Mutter Liebling.«

Bei diesen Worten sprang die Kleine auf, lief auf die Dame zu und verbarg ihr Gesicht in deren Kleide.

»Daß ich sie in Amerika ließ,« fuhr Frau Munro fort, »geschah nur, weil sie von zarter Gesundheit war und der Wechsel ihr hätte schaden können. Sie war der Obhut einer treuen Schottin anvertraut, die vorher vorsichtig gewesen, so hätte ich vielleicht klüger gehandelt, aber ich war halb wahnsinnig vor Angst, du könntest die Wahrheit erfahren.

»Du hast mir zuerst mitgeteilt, daß das Häuschen wieder bezogen sei. Nun hätte ich bis zum Morgen warten sollen, aber ich konnte vor Aufregung nicht schlafen, und so schlich ich mich endlich davon, da ich ja wußte, wie schwer du aufzuwecken warst. Aber du sahst mich gehen, und damit fing meine Not an. Am nächsten Tage hattest du es in der Hand, meinem Geheimnis auf die Spur zu kommen, aber du warst großmütig genug, deinen Vorteil nicht zu verfolgen. Drei Tage später waren Kind und Pflegerin kaum zur Hintertür hinaus, als du zur vorderen hereinstürztest. Und heute weißt du nun alles, und ich frage dich: Was soll aus uns, meinem Kinde und mir, werden?« Sie schlug ihre Hände zusammen und wartete auf Antwort.

Es dauerte lange zwei Minuten, ehe Grant Munro das Schweigen brach; aber die Antwort, die er gab, war so, daß ich mich ihrer immer mit Vergnügen erinnere. Er hob die Kleine auf, küßte sie, streckte dann, das Kind auf dem Arme behaltend, der Mutter die Hand hin und wandte sich der Tür zu.

»Wir können die Sache gemütlicher daheim besprechen,« sagte er. »Ich bin kein sehr guter Mann, Effie, aber ich denke doch, ich bin besser, als du mich geschätzt hast.«

Holmes und ich folgten ihnen auf dem Heckenweg. Als wir auf die Straße kamen, zupfte mich mein Freund am Aermel und flüsterte mir zu: »Ich denke, wir können uns in London nützlicher machen als in Norbury.«

Nicht ein Wort äußerte er weiter über den Fall, bis er sich spät abends mit einer brennenden Kerze in der Hand in sein Schlafzimmer begab.

»Watson!« sagte er. »Sollte es dir einmal so vorkommen, als würde ich etwas zu selbstbewußt oder verwendete weniger Mühe auf einen Fall, als er verdient, so flüstere mir, bitte, nur das eine Wort: Norbury ins Ohr, und du wirst mich dir sehr zu Dank verpflichten!«

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Der griechische Dolmetscher

Der griechische Dolmetscher

Während meiner langen und innigen Bekanntschaft mit Sherlock Holmes hatte ich ihn höchst selten auf seine Verwandten Bezug nehmen hören und kaum jemals auf seine eigene Jugend. Dieser Mangel an Mitteilsamkeit hatte den über das allgemein Menschliche hinausgehenden Eindruck, den er auf mich machte, noch gesteigert, und er erschien mir manchmal als einsamer Fels im Meer, als Verstandsmensch ohne Herz, ebenso bar menschlicher Sympathie wie hervorragend durch seine Intelligenz. Seine Abneigung gegen das weibliche Geschlecht und gegen die Anknüpfung neuer Freundschaftsbande war bezeichnend für seinen etwas ungemütlichen Charakter, nicht minder bezeichnend dafür war aber diese geflissentliche Unterlassung der Bezugnahme auf Verwandte. Da überraschte er mich eines Tages umsomehr, als er anfing, mir ausführlicher von seinem Bruder zu erzählen.

Es war an einem Sommerabend nach dem Tee, und die Unterhaltung, die sich sprunghaft bewegt hatte von den Golfklubs zu den Ursachen der Veränderung in der schrägen Stellung der Ekliptik, kam schließlich auf die Frage des Atavismus und der hereditären Anpassung.

Wir sprachen gerade darüber, wie weit eine besondere Gabe eines Individuums der Abstammung zuzuschreiben sei und wie weit der eigenen Ausbildung.

»In deinem eigenen Falle,« sagte ich, »scheint es mir nach allem, was du mir erzählt hast, ganz klar, daß dein Beobachtungsvermögen und deine eigentümliche Fähigkeit, Schlüsse zu ziehen, nur deiner eigenen systematischen Uebung zu danken sind.«

»In gewissem Grade,« sagte er nachdenklich. »Meine Vorfahren waren Landedelleute, die, wie es scheint, ganz das Leben geführt haben, wie es in ihrem Stande üblich ist. Nichtsdestoweniger liegt mir die Richtung, die ich genommen habe, im Blute, und es mag sein, sie rührt von meiner Großmutter her, die eine Schwester des französischen Malers Vernet war. Künstlerblut kann sich in der allerverschiedensten Weise zum Ausdruck bringen.«

»Wie weißt du aber, daß Vererbung vorliegt?«

»Weil mein Bruder Mycroft die gleiche Gabe in höherem Grade besitzt als ich.«

Das war in der Tat etwas Neues für mich. Wenn es noch einen so eigentümlich veranlagten Mann in England gab, warum hatten weder Polizei noch Publikum etwas von ihm gehört? So fragte ich und fügte andeutend hinzu, es sei nur die Bescheidenheit meines Freundes, die ihn die Überlegenheit seines Bruders anerkennen lasse. Holmes lachte über diese Vermutung.

»Mein lieber Watson,« sagte er. »Ich protestiere dagegen, daß man die Bescheidenheit zu den Tugenden rechnet. Dem strengen Denker sollte alles genau so erscheinen, wie es in Wirklichkeit ist, und die Selbstunterschätzung ist ebenso eine Abweichung von der Wahrheit, wie die Uebertreibung des eigenen Könnens. Wenn ich also sage, Mycroft besitzt ein besseres Beobachtungsvermögen als ich, so kannst du ruhig annehmen, ich rede die genaue und buchstäbliche Wahrheit.«

»Ist er jünger als du?«

»Sieben Jahre älter.«

»Wie kommt es, daß man ihn nicht kennt?«

»O, er ist in seinem eigenen Kreise sehr gut bekannt.«

»Wo also?«

»Nun, zum Beispiel im Diogenesklub.«

Ich hatte von diesem Verein noch nie etwas gehört, und das muß sich auf meinem Gesichte ausgedrückt haben, denn Sherlock Holmes zog seine Uhr und sagte:

»Der Diogenesklub ist der wunderlichste Klub in London, und Mycroft ist eines seiner wunderlichsten Mitglieder. Er hält sich dort regelmäßig auf von dreiviertel fünf bis zwanzig Minuten vor acht Uhr.

Jetzt ist es sechs Uhr: wenn du also an diesem schönen Abende einen Spaziergang machen willst, so werde ich dich sehr gerne mit zwei Sehenswürdigkeiten bekannt machen.«

Nach fünf Minuten befanden wir uns auf der Straße und wandten uns dem Regentenzirkus zu.

»Du wunderst dich,« sagte mein Gefährte, »warum Mycroft seine Gaben nicht als Detektiv verwertet? Dazu ist er nicht imstande.«

»Aber ich dachte, du sagtest …«

»Ich sagte, er sei mir in der Beobachtung und in der Schlußfolgerung überlegen. Bestände die Detektivkunst nur darin, daß man im Lehnstuhl sitzt und scharfe Denkarbeit verrichtet, so würde mein Bruder der größte Kriminalagent sein, der jemals gelebt hat. Aber er ist ohne Ehrgeiz und Tatkraft. Er würde zur Bestätigung seiner eigenen Lösungen nicht einmal einen Umweg machen wollen und lieber sich des Irrtums zeihen lassen, als sich der Mühe des Wahrheitsbeweises unterziehen. Wie oft bin ich mit einem Problem vor ihn getreten und habe eine Erklärung erhalten, die sich nachher als zutreffend erwiesen hat. Und doch war er gänzlich unfähig, die unerläßlichen Vorarbeiten zu erledigen, ohne die der Fall gar nicht vor den Richter oder die Geschworenen hätte gebracht werden können.«

»Es ist also nicht sein Beruf?«

»Nein, kein Gedanke! Was mir zur Gewinnung des Lebensunterhaltes dient, ist für ihn nicht mehr als das Steckenpferd eines Dilettanten. Er ist ein vorzüglicher Rechner und daher Bücherkontrolleur bei einigen Behörden. Mycroft wohnt in Pall Mall und geht jeden Morgen um die Ecke nach Whitehall und jeden Abend zurück. Jahraus, jahrein ist das seine einzige Körperbewegung; nirgendwo ist er sonst anzutreffen, außer eben im Diogenesklub, der seiner Wohnung gerade gegenüberliegt.«

»Ich kann mich an diesen Namen nicht erinnern.«

»Das glaub‘ ich wohl. Du weißt, in London gibt es Leute genug, die, sei es aus Liebe zur Einsamkeit, sei es aus Menschenscheu, mit ihren Mitbürgern keinen Umgang pflegen wollen. Einen bequemen Stuhl und die neuesten Zeitschriften verachten sie darum doch nicht. Ihren Wünschen gerecht zu werden, wurde der Diogenesklub gegründet, der nun die ungeselligsten und am wenigsten in einen Klub passenden Einwohner Londons umfaßt. Kein Mitglied darf von den anderen auch nur die geringste Notiz nehmen. Außer im Fremdenzimmer darf unter keinen Umständen ein Wort gesprochen werden, und drei Verstöße hiegegen genügen, wenn sie zur Kenntnis des Vorstandes gelangen, den Schwätzer aus dem Klub auszustoßen. Mein Bruder war einer der Gründer, und ich selbst habe gefunden, daß dort eine die Nerven ungemein beruhigende Atmosphäre herrscht.«

Unter diesen Gesprächen hatten wir Pall Mall erreicht. Unweit des Carltontheaters blieb Sherlock Holmes vor einer Tür stehen und ging mit der Warnung, ich solle schweigen, in den Hausflur voran. Durch eine Glastür konnte ich einen schnellen Blick in ein großes, üppig ausgestattetes Zimmer werfen, in dem eine beträchtliche Anzahl von Männern saß und Zeitungen las, jeder für sich in seinem Winkel. Holmes führte mich in ein kleines Zimmer nach der Straße zu, verließ mich dann auf eine Minute und kam in Begleitung eines Mannes zurück, der niemand anders sein konnte als sein Bruder.

Mycroft Holmes war viel größer und stämmiger als Sherlock. Man mußte ihn geradezu dick nennen, aber sein Gesicht hatte trotz seines massiven Aussehens doch noch etwas von der Schärfe des Ausdrucks bewahrt, die in den Zügen seines Bruders so bemerkenswert war. Seine Augen, die eine eigentümliche, verschwommen hellgraue Färbung besaßen, schienen beständig jenen in weite Ferne schweifenden, innerlichen Blick auszusenden, den ich bei Sherlock nur in Augenblicken der höchsten Kraftanstrengung bemerkt hatte.

»Es ist mir angenehm, Ihre Bekanntschaft zu machen,« sagte er und streckte seine breite, flache, einer Seehundsflosse nicht unähnliche Hand aus. »Seit Sie angefangen haben, von meinem Bruder zu schreiben, ist sein Name in aller Mund.«

Die beiden Brüder saßen zusammen im Bogenfenster des Klubs und warfen hin und wieder einen Blick hinaus auf die belebte Pall-Mall-Straße.

»Wer den Menschen studieren will, der muß hieher kommen,« sagte Mycroft. »Sieh‘ nur diese prächtigen Typen! Betracht‘ nur zum Beispiel die beiden Männer, die auf uns zukommen!«

»Der Billardmarkör und der andere?«

»Ganz recht. Was machst du aus dem anderen?«

Die beiden Beobachteten waren dem Fenster gegenüber stehen geblieben. Leichte Kreidestriche über der Westentasche waren das einzige, das für meine Augen bei dem einen an das Billard erinnerte. Der andere, von kleiner Gestalt und dunkler Hautfarbe, hatte seinen Hut nach hinten geschoben und trug verschiedene Pakete unter dem Arm.

»Ein alter Militär, sehe ich recht,« sagte Sherlock.

»Und erst vor kurzem entlassen,« bemerkte der Bruder.

»Hat in Indien gedient.«

»Und zwar als Unteroffizier.«

»Artillerie, denk‘ ich mir,« sagte Sherlock.

»Und Witwer.«

»Aber mit einem Kinde.«

»Kindern, mein lieber Junge!«

»Halt,« sagte ich lachend, »das ist etwas zu viel!«

»Sicher,« erwiderte Sherlock, »kann man unschwer erkennen, daß ein Mann mit solcher Haltung, so sichtlichem Autoritätsbewußtsein und sonnverbrannter Haut ein Militär ist, und zwar einer, der über dem Gemeinen stand, und daß er Indien vor kurzem verlassen hat.«

»Daß er noch nicht lange aus dem Dienst geschieden ist, sieht man daraus, daß er noch seine Kommißstiefel trägt,« bemerkte Mycroft.

»Den Kavalleriestreifen hat er nicht, aber er hat seinen Hut auf einer Seite getragen, wie sich aus dem helleren Teint über der einen Braue ergibt. Sein Körpergewicht spricht gegen den Pionier; also war er Artillerist.«

»Seine tiefe Trauer zeigt, daß er eine ihm sehr nahestehende Person verloren hat, und der Umstand, daß er selbst einkaufen geht, läßt vermuten, daß es seine Frau war. Was er gekauft hat, ist für Kinder, wie Sie sehen. Da eine Klapper darunter ist, muß eines noch sehr jung sein. Wahrscheinlich ist die Frau im Kindbett gestorben. Das Bilderbuch unter seinem Arm läßt darauf schließen, daß er noch ein zweites Kind zu bedenken hat.«

Es dämmerte mir das Verständnis für meines Freundes Bemerkung auf, sein Bruder besitze noch schärferen Spürsinn als er selbst. Lächelnd warf er mir einen bezeichnenden Blick zu. Mycroft nahm eine Prise aus seiner Schildkrötdose und strich sich mit einem großen rotseidenen Taschentuch die verstreuten Krümel von seinem Rock.

»Nebenbei bemerkt, Sherlock,« sagte er, »man hat mir da einen Fall vorgelegt, der ganz nach deinem Sinne wäre, ein sehr hübsches Problem. Ich habe mich wirklich nicht dazu aufraffen können, der Sache auf den Grund zu gehen, aber sie hat mir wenigstens Anlaß zu einigen recht netten Spekulationen gegeben. Wenn dir mit den Tatsachen gedient ist …«

»Mein lieber Mycroft, du würdest mir das größte Vergnügen bereiten!«

Der Bruder kritzelte ein paar Worte auf ein Blatt seines Notizbuches, klingelte dem Kellner und gab es ihm.

»Ich habe Herrn Melas gebeten, herüberzukommen,« sagte er. »Er wohnt über mir und, da wir ein bißchen bekannt miteinander sind, so kam er in seiner Verlegenheit zu mir. Herr Melas ist von Geburt ein Grieche, soviel ich weiß, und ein hervorragender Sprachenkenner. Seinen Lebensunterhalt verdient er zum Teil als Dolmetscher vor Gericht, sodann dient er reichen Reisenden aus dem Orient, die Gäste der Hotels in der Northumberland-Avenue sind, als Führer. Ich denke, ich lasse ihn selbst sein sehr merkwürdiges Erlebnis in seiner eigenen Weise erzählen.«

Nach einigen Minuten trat ein kleiner, untersetzter Mann ins Zimmer, dessen olivenfarbenes Gesicht und kohlschwarzes Haar die südliche Herkunft verrieten, obwohl seine Sprache die eines gebildeten Engländers war. Lebhaft trat er auf Sherlock Holmes zu, tauschte einen Händedruck mit ihm, und seine dunklen Augen funkelten vor Vergnügen, als er erfuhr, der berühmte Fachmann wünsche seine Geschichte zu hören.

»Es scheint mir, die Polizei will mir nicht Glauben schenken; es ist so, Sie können sich darauf verlassen!« begann er klagend. »Nur weil sie vorher niemals etwas davon gehört haben, denken sie, so etwas sei nicht möglich. Aber ich weiß, ich werde nie wieder ruhig, bis ich erfahren habe, was aus diesem armen Manne mit dem Heftpflaster im Gesichte geworden ist.«

»Ich bin ganz Ohr,« sagte Sherlock Holmes.

»Heute ist Mittwoch abend,« sagte Herr Melas; »gut, dann war es also am Montag abend, erst vor zwei Tagen, als die Geschichte passierte. Ich bin Dolmetscher, wie Ihnen mein Nachbar vielleicht schon mitgeteilt hat. Ich übersetze alle Sprachen – oder fast alle – aber da ich von Geburt Grieche bin und einen griechischen Namen trage, so gibt mir diese Sprache auch die Hauptarbeit. Lange Zeit bin ich der erste griechische Dolmetscher in London gewesen, und man kennt mich in den Hotels sehr gut.

»Es kommt nicht selten vor, daß man mich zu ungewohnter Stunde kommen läßt, sei es, daß Fremde irgendwo in eine schwierige Lage geraten sind, aus machte mir bemerklich, sein Haus liege etwas ab, in Kensington, auch schien er es sehr eilig zu haben, denn er beförderte mich schnellstens in die Droschke, sobald wir auf der Straße waren.

»Ich sage, in die Droschke, aber sehr bald kam es mir vor, als sei es eher eine Kutsche, in der ich mich befand. Jedenfalls war der Raum größer als in dem gewöhnlichen vierräderigen Londoner Straßenschänder, und die Ausstattung, wenn auch nicht mehr neu, so doch kostbar. Herr Latimer setzte sich mir gegenüber, und wir fuhren durch Charing Croß, und die Shaftesbury-Avenue hinauf. Wir waren in die Oxfordstraße gelangt, und ich erlaubte mir die Bemerkung zu machen, das sei doch ein Umweg nach Kensington, als meine Worte plötzlich durch das unerwartete Verhalten meines Begleiters unterbrochen wurden.

»Er zog nämlich zuerst aus seiner Tasche einen ganz schrecklichen Knüttel mit einer großen Bleikugel und schwang ihn mehrmals vor- und rückwärts, als wollte er seine Wucht probieren. Dann legte er die gräßliche Waffe, ohne einen Ton zu reden, neben sich auf den Sitz. Hierauf zog er an beiden Seiten die Fenster in die Höhe, und ich sah zu meinem Erstaunen, daß sie mit Papier bedeckt waren, so daß man nicht durchsehen konnte.

»›Ich bedaure, daß ich Ihnen die Aussicht nehmen muß, Herr Melas!‹ sagte er. ›Die Sache ist die: ich wünsche nicht, daß Sie sehen, wohin wir fahren. Es könnte für mich vielleicht unangenehm werden, sollten Sie in der Lage sein, den Weg dahin wiederzufinden.‹

»Wie Sie sich vorstellen können, kam mir diese Anrede wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Mein Gefährte war ein kräftiger, breitschultriger, junger Bursche, und von der Waffe ganz abgesehen, waren meine Aussichten in einem Kampfe mit ihm gleich Null.

»›Das ist ein sehr ungewöhnliches Verfahren, Herr Latimer!‹ stotterte ich. ›Sie können doch nicht verkennen, daß Sie ungesetzlich handeln!‹

»›Es ist ein wenig frei, gewiß,‹ sagte er, ›aber wir wollen es wettmachen. Noch muß ich Sie warnen, Herr Melas; wenn Sie heute nacht, mag geschehen, was da wolle, versuchen, Lärm zu schlagen, oder irgend etwas tun, das gegen meine Interessen ist, so wird Ihnen etwas sehr Ernstliches widerfahren. Vergessen Sie gefälligst nicht, daß niemand weiß, wo Sie sind, und daß Sie hier so gut wie in meinem Hause sich in meiner Gewalt befinden!‹

»Er sprach diese Worte ziemlich leise, aber die Art, wie er sie hervorbrachte, jagte mir doch keinen kleinen Schreck ein. Schweigend saß ich da und wunderte mich, was in aller Welt nur der Grund wäre, mich in dieser ungewöhnlichen Art zu entführen. Was es aber auch sein mochte, so viel war mir vollkommen klar, daß mir Widerstand nichts nützen könnte, und daß ich ruhig die weitere Entwicklung der Sache abwarten müßte.

»Fast zwei Stunden fuhren wir, ohne daß ich auch nur den geringsten Anhalt hatte, wohin es ging. Manchmal sagte mir das Rasseln über Steine, daß wir uns über Straßenpflaster bewegten, dann wieder schloß ich aus der glatten, geräuschlosen Fahrt, daß wir Asphalt unter uns hatten. Aber von dieser Abwechslung abgesehen, ließ mich nichts auch nur von fern ahnen, wo wir uns befanden. Durch das Papier über den Seitenfenstern war nichts zu erkennen, und vor das Vorderfenster war ein blauer Vorhang gezogen. Es war ein viertel auf acht Uhr, als wir von Pall Mall wegfuhren, und meine Uhr zeigte zehn Minuten vor neun, als wir endlich hielten. Mein Begleiter öffnete die Wagentür, und ich sah eine niedrige, bogenförmige Toröffnung vor mir, über der eine Lampe brannte. Im Augenblick war ich aus dem Wagen und durch das Tor und die offene Tür eines Hauses befördert, und ich stand innerhalb dieses Gebäudes mit dem unbestimmten Eindruck, daß sich davor auf beiden Seiten Rasen und Bäume befunden hätten. Ob diese aber zum Grundstück gehörten oder außerhalb der Einzäunung lagen, hätte ich beim besten Willen nicht sagen können.

»Im Hausflur war eine Lampe mit farbiger Glocke, die so schwaches Licht verbreitete, daß ich nichts weiter sehen konnte, als daß ich mich in einem ziemlich großen Raume befand, an dessen Wänden Bilder hingen. Bei dem trüben Schein konnte ich wahrnehmen, daß die Person, welche die Tür geöffnet hatte, ein kleiner, etwa vierzigjähriger Mann mit gemeinen Zügen und runden Schultern war. Als er sich uns zuwandte, erkannte ich aus der Rückstrahlung des Lichtes, daß er eine Brille trug.

»›Ist das Herr Melas, Harald?‹ sagte er.

»›Ja.‹

»›Gut gemacht! Gut gemacht! Nicht böse, Herr Melas, hoffe ich; aber wir konnten ohne Sie nicht zum Ziele kommen. Wenn Sie sich anständig gegen uns verhalten, soll es Ihr Schade nicht sein, aber Gott helf‘ Ihnen, wenn Sie Geschichten machen!‹

»Seine krampfhafte, nervöse, von unangenehmem Kichern unterbrochene Redeweise und seine ganze Erscheinung waren mir unheimlich und jagten mir mehr Furcht ein, als vorher mein Gefährte in der Droschke mit seiner drohenden Waffe.

»›Was wollen Sie von mir?‹ fragte ich.

»›Nur ein paar Fragen sollen Sie an einen Griechen richten, der bei uns zu Besuch ist, und uns die Antworten wissen lassen. Aber sagen Sie kein Wort mehr, als man Sie sagen heißt, oder‹ – und hier hörte ich wieder sein nervöses Kichern – ›es wäre für Sie besser, Sie wären nie geboren!‹

»Bei diesen Worten öffnete er eine Tür und lud mich ein, ihm in ein anderes, anscheinend reich möbliertes, aber ebenfalls nur durch eine einzige, schwach brennende Lampe matt erleuchtetes Zimmer zu folgen. Jedenfalls war es ein großer Raum, und der Teppich, in den meine Füße versanken, zeugte von seiner prächtigen Ausstattung. Meine Blicke fielen auf Plüschstühle, auf einen hohen Kaminsims von weißem Marmor und, wenn ich mich nicht irre, darüber an der Wand hängende japanische Waffenstücke. Gerade unter der Lampe stand ein Stuhl, und der ältere von den beiden machte mir bemerklich, ich sollte dort Platz nehmen. Der Jüngere hatte uns verlassen, aber sehr bald kam er durch eine andere Tür zurück; er führte einen Herrn in einer Art weiten Ueberrocks herein, der sich langsam auf uns zu bewegte. Als er in den schwachen Lichtkreis trat, der mich ihn deutlicher erkennen ließ, überlief mich ein Schauder bei seinem Anblick. Leichenblaß und entsetzlich abgemagert, besaß er die durchdringenden Augen eines Mannes, in dem der Geist mächtiger ist als der Körper. Was mich aber mehr erschreckte als die sichtlichen Zeichen physischer Erschöpfung, war der Umstand, daß sein Gesicht in grotesker Weise kreuz und quer mit Heftpflasterstücken beklebt war, von denen eines gerade über seinen Mund lief.

»›Hast du die Tafel, Harald?‹ rief der Brillenträger, als die sonderbare Erscheinung in einen Stuhl mehr niedersank, als sich setzte. ›Sind seine Hände frei? Nun also, gib ihm den Griffel!‹ – ›Sie haben die Fragen zu stellen, und er wird die Antworten niederschreiben. Fragen Sie ihn zu allererst, ob er die Papiere unterzeichnen will!‹

»Die Augen des Griechen blitzten Feuer.

»›Niemals!‹ schrieb er in griechischer Sprache auf die Tafel.

»›Unter keinen Bedingungen?‹ fragte ich auf Geheiß unseres Tyrannen.

»›Nur wenn ihre Vermählung in meiner Gegenwart durch einen mir bekannten griechischen Priester erfolgt.‹

»Der Mann kicherte in seiner giftigen Weise und sagte:

»›Sie wissen, was Ihrer dann wartet!‹

»›Was mit mir geschieht, ist mir gleich.‹

»Derart waren die Fragen und Antworten unserer sonderbaren, halb gesprochenen, halb geschriebenen Unterhaltung. Immer wieder mußte ich ihn fragen, ob er nachgeben und die Urkunde unterzeichnen wolle. Immer wieder erhielt ich die gleiche entrüstete Antwort. Bald aber kam mir ein glücklicher Gedanke. Ich fing an, jeder Frage kurze Sätze eigener Erfindung anzufügen – zuerst harmlose, um zu probieren, ob einer von den beiden die Sache durchschaute; als ich dann aber sicher zu sein glaubte, daß sie nichts merkten, spielte ich ein gefährlicheres Spiel. Unser Zwiegespräch verlief nun folgendermaßen:

»›Was wird die Folge dieser Hartnäckigkeit sein? Wer sind Sie?‹

»›Mir gleich. – Ich bin fremd in dieser Stadt.‹

»›Sie haben sich selbst Ihr Schicksal zuzuschreiben. Wie lange sind Sie hier?‹

»›Meinetwegen. Drei Wochen.‹

»›Das Geld kann niemals Ihr Eigentum sein. Was fehlt Ihnen?‹

»›Ich will keine Gemeinschaft mit Elenden. Sie lassen mich verhungern.‹

»›Sie können gehen, wohin Sie wollen, wenn Sie unterzeichnen. Was ist dies für ein Haus?‹

»›Niemals werde ich unterzeichnen. Ich weiß nicht.‹

»›Sie erweisen ihr gar keinen Dienst. Wie heißen Sie?‹

»›Das muß ich von ihr selbst hören. Kratides.‹

»›Sie werden sie sehen, wenn Sie unterzeichnen. Wo kommen Sie her?‹

»›Dann werde ich sie nie sehen. Athen.‹

»Noch fünf Minuten länger, Herr Holmes, und ich hätte die ganze Geschichte vor ihren Augen aus ihm herausgezogen. Schon meine nächste Frage hätte vielleicht das Dunkel gelichtet, aber in diesem Augenblicke öffnete sich die Tür, und eine Frau trat herein. Ich konnte sie nicht deutlich genug sehen, nur so viel bemerkte ich, daß sie groß und schlank war, schwarze Haare hatte und eine Art weiten, weißen Schlepprock trug.

»›Harald!‹ sagte sie englisch mit fremdem Akzent.

›Ich konnte es nicht länger aushalten. Es ist so einsam da oben allein mit – o Gott, es ist Paul!‹

»Diese letzten Worte waren griechisch gesprochen, und im selben Augenblick riß Kratides mit einem krampfhaften Ruck das Pflaster von seinen Lippen und stürzte mit dem Aufschrei ›Sophie, Sophie!‹ in ihre Arme. Ihre Umarmung dauerte jedoch nur kurze Zeit, denn der jüngere Mann ergriff sie und schob sie aus dem Zimmer, während der andere ohne Anstrengung sein ausgemergeltes Opfer überwältigte und es ebenfalls fortzog. Einen Augenblick blieb ich allein zurück und sprang sofort von meinem Sitz auf mit der unbestimmten Absicht, irgend einen Anhaltspunkt dafür zu finden, was für ein Haus das sei, in dem ich mich befand. Glücklicherweise tat ich aber nichts weiter, denn als ich aufblickte, sah ich den Aelteren in der Türöffnung stehen und seine Augen auf mich heften.

»›Das wird genügen, Herr Melas!‹ sagte er. ›Sie verstehen, daß wir Sie in einer durchaus privaten Sache zu unserem Vertrauten gemacht haben. Wir hätten Sie nicht bemüht, wenn unser Freund, der griechisch kann und der diese Unterhandlungen zuerst geführt hat, nicht hätte nach dem Osten zurückkehren müssen. Wir bedurften unbedingt eines Stellvertreters und waren sehr froh, als wir von Ihren sprachlichen Fertigkeiten hörten.‹

»Ich verbeugte mich.

»›Hier sind fünf Pfund,‹ sagte mein sonderbarer Wirt, auf mich zuschreitend. ›Ich denke, das wird ein genügendes Entgelt sein. Aber vergessen Sie nicht,‹ fügte er hinzu, indem er mir leicht auf die Brust tippte und dabei kicherte, ›wenn sie zu einem lebenden Wesen hiervon reden – zu einem einzigen lebenden Wesen – nun, so sei Gott Ihrer Seele gnädig!‹

»Ich kann gar nicht sagen, welchen Ekel und Schauder mir dieser Mann mit seinem gemeinen Gesicht einflößte. Ich konnte ihn jetzt, als das Lampenlicht auf ihn fiel, besser sehen. Seine abstoßenden, spitzigen Züge bedeckte eine fahle Blässe, und sein kleiner Spitzbart war struppig und schlecht gepflegt. Beim Sprechen stieß er seinen Kopf vorwärts, und die Lippen und Augenlider zuckten beständig, als hätte er den Veitstanz. Auch sein aufregendes Kichern konnte ich mir nur als Symptom einer Nervenkrankheit erklären. Das Schrecklichste an seinem Gesicht waren aber die stahlgrauen Augen mit ihrem kalten Schimmer, in deren Tiefen eine boshafte, erbarmungslose Grausamkeit schlummerte.

»›Wir werden es erfahren, wenn Sie davon sprechen,‹ sagte er. ›Wir haben unsere eigenen Ermittlungsquellen. Jetzt werden Sie den Wagen vor der Tür bereit finden, und mein Freund wird Sie auf den Weg bringen.‹

»Schnell schob man mich durch den Flur und in die Kutsche, wobei ich wieder einen flüchtigen Blick auf Bäume und einen Garten werfen konnte. Herr Latimer folgte mir auf den Fersen und setzte sich, ohne ein Wort zu sprechen, mir gegenüber. Schweigend fuhren wir nun wieder, ich weiß nicht wie lange, bei aufgezogenen Fenstern, bis endlich, es war eben Mitternacht vorbei, der Wagen anhielt.

»›Hier steigen Sie aus, Herr Melas!‹ sagte mein Gefährte. ›Ich bedaure, Sie so fern von Ihrem Hause absetzen zu müssen, aber es bleibt keine Wahl. Jeder Versuch Ihrerseits, dem Wagen zu folgen, kann nur zu Ihrem eigenen Unheil ausschlagen.‹

»Während er so sprach, machte er die Tür auf, und ich hatte kaum Zeit abzuspringen, als der Kutscher auf die Pferde lospeitschte und der Wagen davonrasselte. Erstaunt sah ich mich um. Ich schien mich auf freier Heide zu befinden, von der sich hie und da gespensterhaft aussehende Ginsterbüsche abhoben. In ziemlicher Ferne lag eine Häuserreihe, aus deren oberen Stockwerken vereinzelte Lichtschimmer drangen. Auf der anderen Seite bemerkte ich rote Eisenbahnsignallichter.

»Der Wagen, der mich hergebracht hatte, war bereits verschwunden. Ich stand da, stierte nach allen Seiten in die Nacht hinaus und fragte mich neugierig, wo in aller Welt ich nur sein könnte, als ich in der Dunkelheit jemanden auf mich zukommen sah. Als er nahe bei mir war, erkannte ich, daß es ein Gepäckträger war.

»›Können Sie mir sagen, was für ein Ort das ist?‹ fragte ich.

»›Gemeinde Wandsworth,‹ sagte er.

»›Kann ich noch einen Zug zur Stadt erreichen?‹

»›Wenn Sie so etwa ein halbes Stündchen bis nach Clapham Junction gehen,‹ sagte er, ›werden Sie gerade noch den letzten Zug nach Victoria fassen.‹ – –

»So endete mein Abenteuer, Herr Holmes. Ich weiß nicht, wo ich gewesen bin und mit wem ich gesprochen habe, und überhaupt nichts, als was ich Ihnen soeben erzählte. Aber das weiß ich, daß dort ein Verbrechen vor sich geht, und ich will dem Armen helfen, wenn ich kann. Ich habe am nächsten Morgen die ganze Geschichte Herrn Mycroft Holmes erzählt und dann auch der Polizei gemeldet.«

Eine kurze Weile saßen wir unter dem Eindruck dieses höchst absonderlichen Berichtes stillschweigend da. Dann warf Sherlock seinem Bruder einen Blick zu und fragte:

»Schritte getan?«

Mycroft langte nach den Daily News, die auf einem Nachbartische lagen.

»Belohnung zugesichert für jede Auskunft über das Verbleiben eines Griechen namens Paul Kratides, der des Englischen nicht mächtig ist, ebenso für jede Auskunft über eine Griechin mit Vornamen Sophie. Mitteilungen unter X. 2473.«

Dies stand in allen Tagesblättern. Keine Antwort.

»Wie ist’s mit der griechischen Gesandtschaft?«

»Ich habe nachgefragt. Sie wissen nichts.«

»Dann also Depesche an die Athenische Polizei.«

»In Sherlock konzentriert sich die Tatkraft der ganzen Familie,« sagte Mycroft, zu mir gewendet. »Gut, fasse du den Fall von allen Enden an und sage mir’s dann, wenn du etwas herausgebracht hast!«

»Gewiß,« antwortete mein Freund und stand auf. »Du sollst es hören und Herr Melas auch. Uebrigens, Herr Melas, wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich auf meiner Hut sein; denn sie müssen natürlich durch diese Anzeigen erfahren, daß Sie nicht reinen Mund gehalten haben.«

Als wir heimgingen, trat Holmes in ein Postamt, an dem wir vorüberkamen, und schickte mehrere Telegramme ab.

»Du siehst, Watson,« bemerkte er, »das war kein verlorener Abend. Meine interessantesten Fälle sind mir zum Teil in dieser Weise durch Mycroft zugetragen worden. Das Problem, von dem wir eben hörten, läßt zwar nur eine Erklärung zu, bietet aber immerhin einiges Besondere.«

»Hast du Hoffnung, es zu lösen?«

»Nun, da wir schon so viel wissen, müßte es merkwürdig zugehen, wenn wir nicht auch noch das übrige aufdeckten. Du mußt dir doch selbst irgend eine Theorie zur Erklärung der mitgeteilten Tatsachen gebildet haben.«

»So ungefähr, ja.«

»Wie hast du dir also die Sache gedacht?«

»Es scheint mir klar, daß diese Griechin von dem jungen Engländer namens Latimer entführt worden ist.«

»Entführt, von wo? Aus Athen vielleicht?«

Sherlock Holmes schüttelte den Kopf. »Dieser junge Mann sprach kein Wort Griechisch. Die Dame redete ziemlich gut Englisch. Also ist sie kurze Zeit in England gewesen, aber er nicht in Griechenland.«

»Gut, also wir wollen annehmen, daß sie nach England zu Besuch gekommen war und daß dieser Harald sie überredet hat, mit ihm zu fliehen.«

»Das ist sehr wahrscheinlich.«

»Dann kommt der Bruder – denn in diesem Verwandtschaftsverhältnis, denke ich mir, stehen sie zueinander – aus Griechenland her, um dazwischenzutreten. Unvorsichtigerweise gibt er sich in die Gewalt des jungen Mannes und seines älteren Genossen. Sie halten ihn fest und wollen ihn zwingen, Papiere zu unterzeichnen und so das Vermögen des Mädchens, dessen Vormund er ist, herauszugeben. Er weigert sich. Um mit ihm zu verhandeln, brauchen sie einen Dolmetscher und suchen sich diesen Melas aus, nachdem sie sich vorher eines anderen bedient haben. Dem Mädchen hat man von der Ankunft des Bruders gar nichts gesagt, und sie trifft ihn durch bloßen Zufall.«

»Ausgezeichnet, Watson!« rief Holmes. »Ich glaube wahrhaftig, du hast nicht weit daneben geschossen. Du siehst, wir halten alle Karten in der Hand und haben höchstens eine plötzliche Gewalttat ihrerseits zu fürchten. Geben sie uns Zeit, so haben wir sie.«

»Aber wie können wir die Lage des Hauses ausfindig machen?«

»Nun, ist unsere Annahme richtig und heißt oder hieß die Schwester Kratides, so sollte es uns nicht schwer fallen, ihre Spur aufzufinden. Das muß unsere erste Hoffnung sein, denn der Bruder ist natürlich hier ganz unbekannt. Offenbar hat der junge Engländer schon vor einiger Zeit das Verhältnis mit dem Mädchen angeknüpft – wenigstens vor einigen Wochen, da der Bruder erst davon hören und dann von Griechenland herkommen mußte. Haben sie während dieser ganzen Zeit an derselben Stelle gewohnt, so wird sich schon jemand auf Mycrofts Anzeige melden.«

Unter diesen Gesprächen hatten wir unser Haus in der Bakerstraße erreicht. Holmes ging die Treppenstufen voran, und als er die Tür zu seinem Zimmer öffnete, wollte er kaum seinen Augen trauen. Als ich ihm über die Schulter blickte, war ich nicht minder überrascht. Sein Bruder Mycroft saß mit einer Zigarre im Munde im Lehnstuhl.

»Komm‘ herein, Sherlock! Kommen Sie herein!« sagte er, über unsere erstaunten Gesichter lächelnd. »Du traust mir so viel Energie nicht zu, Sherlock? Aber dieser Fall hat mir’s angetan.«

»Wie bist du hierher gekommen?«

»Ich überholte euch in einer Droschke.«

»Hat sich etwas Neues herausgestellt?«

»Ich habe eine Antwort auf meine Anzeige.«

»Ah!«

»Ja, sie kam wenige Minuten nach eurem Weggange.«

»Und was besagt sie?«

Mycroft Holmes zog ein Blatt Papier hervor. »Hier ist sie,« sagte er, »mit einer I-Feder auf holzfreies Adlerpapier von einem schwächlichen Manne in mittlerem Lebensalter geschrieben. Sie lautet:

»Auf Ihre Anzeige vom heutigen gestatte ich mir, Ihnen mitzuteilen, daß ich die fragliche Dame recht gut kenne. Wenn Sie mich aufsuchen wollten, könnte ich Ihnen Genaueres über ihre traurige Lebensgeschichte mitteilen. Zur Zeit wohnt sie in The Myrtles in Beckenham.

Ihr ergebener J. Dawenport.«

»Sein Brief kommt von Unter-Brixton,« sagte Mycroft Holmes. »Meinst du nicht, Sherlock, wir fahren jetzt zu ihm und lassen uns von ihm das Genauere erzählen?«

»Mein lieber Mycroft! Das Leben des Bruders ist wertvoller als die Geschichte der Schwester. Ich meine, wir gehen nach Scotland Yard ins Hauptpolizeiamt, nehmen dort Inspektor Gregson mit und wenden uns unverzüglich nach Beckenham. Wir wissen, daß das Leben eines Menschen auf dem Spiele steht, und jede Stunde Verzögerung kann für ihn den Tod bedeuten.«

»Wollen wir unterwegs nicht auch Herrn Melas abholen?« schlug ich vor; »wir brauchen vielleicht einen Dolmetscher.«

»Ausgezeichnet!« sagte Sherlock Holmes. »Schicke den Jungen nach einer Droschke, und es kann sofort losgehen!« Während er sprach, zog er eine Schublade seines Schreibtisches auf und ließ einen Revolver in die Tasche gleiten. »Ja,« sagte er auf einen fragenden Blick von mir, »nach dem, was wir gehört, haben wir es mit ganz verzweifelten Burschen zu tun.«

Es war bereits ziemlich dunkel, als wir Pall Mall und Herrn Melas‘ Wohnung erreichten. Er war fort. Ein Herr hätte ihn soeben aufgesucht, und beide hätten sich dann entfernt, sagte man uns.

»Können Sie mir sagen, wohin?« fragte Sherlock Holmes.

»Ich weiß nicht,« sagte die Frau, welche uns aufgemacht hatte. »Ich weiß nur, daß er mit dem Herrn in einem Wagen weggefahren ist.«

»Nannte der Herr, als er sich anmelden ließ, seinen Namen?«

»Nein.«

»War es nicht ein großer, schöner Mann mit schwarzem Haar?«

»O nein, es war ein kleiner Herr mit einer Brille, einem spitzen Gesicht, aber sehr manierlich, denn er lachte die ganze Zeit, während er sprach.«

»Vorwärts!« rief Sherlock Holmes, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. »Das wird ernst,« bemerkte er, als wir wieder eingestiegen waren. »Sie haben Melas wieder in ihre Gewalt gebracht. Er besitzt keinen physischen Mut, wie er durch sein Benehmen in der letzten Nacht bewiesen hat. Dieser Schurke hat es fertig gebracht, ihn wieder vom ersten Moment an völlig einzuschüchtern. Zweifellos bedürfen sie seiner Dienste als Dolmetscher; aber dann werden sie ihn für seinen ›Verrat‹, wie sie es nennen, züchtigen wollen.«

Wir hatten gehofft, mit dem Zuge ebenso schnell oder noch schneller als der Wagen nach Beckenham zu kommen. Aber im Hauptpolizeiamt dauerte es länger als eine Stunde, bis wir den Inspektor gefunden und die Formalitäten erledigt hatten, ohne die wir in das Haus nicht hätten eindringen dürfen. Es war dreiviertel auf zehn, ehe wir London Bridge erreichten, und halb elf, ehe wir vier in Beckenham ausstiegen. Eine Droschkenfahrt von fünf Minuten brachte uns nach The Myrtles – ein großes, düsteres Gebäude, das etwas abseits von der Straße in einem dazu gehörigen Garten stand.

Wir schickten die Droschke fort und schritten auf das Haus zu.

»Die Fenster sind sämtlich dunkel,« bemerkte der Inspektor. »Das Haus scheint unbewohnt zu sein.«

»Unsere Vögel sind ausgeflogen, und das Nest ist leer,« sagte Sherlock.

»Warum meinen Sie das?«

»Ein schwer beladener Lastwagen ist während der letzten Stunde herausgefahren.«

Der Inspektor lachte. »Ich habe die Räderspuren im Scheine der Hoftorlampe gesehen. Aber wo kommt der Lastwagen her?«

»Sie haben vielleicht dieselben Räderspuren in der umgekehrten Richtung, das heißt von der Einfahrt des Wagens gesehen. Aber die nach außen führenden waren weit tiefer – in dem Maße, daß wir getrost sagen können, der Wagen muß schwer beladen gewesen sein.«

»Nach der Richtung sind Sie mir ein bißchen über,« sagte der Inspektor achselzuckend. »Die Tür wird sich nicht leicht aufbrechen lassen. Doch wir wollen sehen, ob wir uns nicht Gehör verschaffen können.«

Er hämmerte mit dem Klopfer und zog an der Klingel, aber ohne allen Erfolg. Holmes hatte sich leise entfernt, kam aber in wenigen Minuten wieder.

»Ich habe ein Fenster offen,« sagte er.

»Gott sei Dank, daß Sie für die Polizei sind und nicht gegen sie, Herr Holmes!« bemerkte der Inspektor, als er wahrnahm, wie findig und geschickt mein Freund den Fensterriegel zurückgeschoben hatte. »Nun, ich denke, unter den Umständen können wir eintreten, ohne eine Einladung abzuwarten.«

Einer nach dem anderen gelangten wir in ein geräumiges Gemach, offenbar dasselbe, in dem Herr Melas gewesen war. Der Inspektor hatte seine Laterne angezündet, und bei ihrem Scheine konnten wir die beiden Türen, die Plüschstühle, die Lampe und die japanischen Waffen erkennen, wie sie uns der Dolmetscher beschrieben hatte. Auf einem Tische standen zwei Gläser, eine leere Brandyflasche und die Reste einer Mahlzeit.

»Was ist das?« fragte Holmes plötzlich.

Wir standen alle still und horchten. Ein leises Stöhnen ließ sich irgendwo über unseren Häuptern vernehmen. Holmes stürzte zur Tür und in den Hausflur hinaus. Der gräßliche Ton kam vom oberen Stockwerk. Er sprang die Treppe hinauf, der Inspektor und ich folgten ihm auf den Fersen, während sein Bruder Mycroft so schnell, wie es ihm seine Körpermasse erlaubte, hinterdrein keuchte.

Drei Türen sahen wir im oberen Stockwerk vor uns, und aus der mittleren kamen die unheilvollen Laute, die bald in dumpfes Gemurmel sich verloren, bald sich zu schrillem Heulen steigerten. Die Tür war verschlossen, aber der Schlüssel steckte außen. Holmes riß sie auf und stürzte hinein, doch im nächsten Augenblick war er wieder bei uns, mit der Hand an der Kehle.

»Es ist Teerkohle!« rief er. »Nur ein wenig Zeit, es wird sich klären!«

Wir spähten hinein, konnten aber nur bemerken, daß der Lichtschein im Zimmer ausschließlich von einer matten blauen Flamme ausging, die aus einem kleinen Messingbecken in der Mitte des Zimmers aufflackerte. Sie warf einen bleichen, unheimlichen Lichtkreis auf den Boden, während wir in dem Dämmerschatten, der den Rest des Zimmers erfüllte, den unbestimmten Umriß zweier an die Wand gelehnten Gestalten gewahrten. Durch die offene Tür drang ein schauerlicher giftiger Dunst, der uns nach Luft schnappen und husten ließ. Holmes sprang zurück an die Treppenöffnung, um frische Luft einzuziehen, dann war er wieder in zwei Sätzen im Zimmer, riß das Fenster auf und schleuderte das Kohlenbecken hinaus in den Garten.

»In einer Minute können wir hinein,« keuchte er, wieder zu uns zurückeilend. »Wo ist eine Kerze? Ich zweifle, ob wir in dieser Atmosphäre ein Streichholz zum Brennen bringen können. Halte das Licht an den Türeingang, und wir kriegen sie heraus, Mycroft! Vorwärts!«

Auf dieses Wort stürzten wir hinein, packten die Vergifteten und zogen sie hinaus auf den Treppenflur. Beide waren besinnungslos, ihre Lippen blau, die Gesichter geschwollen, die Augen hervorgequollen. Kaum konnten wir in den verzerrten Zügen des einen Opfers den Dolmetscher wiedererkennen, mit dem wir vor wenigen Stunden im Diogenesklub zusammengewesen waren. Seine Hände und Füße waren mit Stricken gebunden, und über einem Auge konnten wir die Spur eines heftigen Schlages bemerken. Der andere, den man ebenfalls gebunden hatte, war ein hochgewachsener, fast zum Skelett abgemagerter Mann, dessen Gesicht durch aufgeklebte Streifen von Heftpflaster ein groteskes Muster zeigte. Er hatte aufgehört zu stöhnen, als wir ihn niederlegten, und ein Blick auf ihn sagte mir, daß wir für ihn wenigstens zu spät gekommen waren. Dagegen war Herr Melas noch am Leben. Nach knapp einer Stunde war es uns mit Hilfe von Ammoniak und Brandy zu meiner Genugtuung als Arzt gelungen, ihn dahin zu bringen, daß er die Augen aufschlug, und ich konnte mich des Bewußtseins freuen, ihn mit meiner Hand vom Rande des dunklen Tales weggezogen zu haben, in das alle irdischen Pfade münden.

Was er uns zu erzählen hatte, war sehr einfach und bestätigte nur unsere Diagnose des Falles. Sein Besucher hatte, kaum daß er ins Zimmer getreten war, unter seinem Rock einen ›Totschläger‹ hervorgezogen und ihn durch die Angst vor augenblicklichem, unentrinnbarem Tode dermaßen eingeschüchtert, daß er ihn zum zweiten Male entführen konnte. In der Tat hatte der kichernde Schurke fast einen mesmerischen Einfluß auf den unglücklichen Sprachkundigen ausgeübt, denn er konnte nur mit bebenden Gliedern und fahlen Wangen von ihm sprechen. In Beckenham, wohin die Fahrt wie das erstemal gegangen war, hatte er nochmals als Dolmetscher dienen müssen. Diese zweite Verhandlung war noch dramatischer verlaufen als die erste, denn die beiden Engländer hatten ihren Gefangenen bei erneuter Weigerung, ihrem Verlangen nachzukommen, mit sofortigem Tode bedroht. Als sie ihn aber gegen jede Drohung unempfindlich fanden, hatten sie ihn in sein Gefängnis zurückgeschleppt. Sodann hielten sie Melas seinen Verrat vor, den sie richtig aus den Anzeigen in den Tagesblättern erfahren hatten, und betäubten ihn unversehens durch einen heftigen Stockschlag. Das erste, dessen er sich weiter erinnern konnte, waren unsere sich besorgt über ihn beugenden Gesichter. – – –

Das war also der merkwürdige Fall des griechischen Dolmetschers, dessen Erklärung noch manchen dunklen Punkt enthält. Von dem Herrn, der sich auf die Anzeige gemeldet hatte, brachten wir in Erfahrung, daß die unglückliche junge Dame einer reichen griechischen Familie entstammte und zum Besuch einer befreundeten Familie nach England gekommen war. Dort hatte sie einen jungen Mann namens Harald Latimer kennen gelernt, der einen übermächtigen Einfluß über sie gewann und sie schließlich zur Flucht mit ihm überredete. Ihre Wirte hatten sich damit begnügt, und ihr Gefangener sich auf keine Weise zur Unterschrift zwingen ließ, waren sie mit dem Mädchen unter Mitnahme des wertvollsten Hausrats entflohen, nachdem sie erst ihrer Meinung nach ihre Rache gekühlt hatten sowohl an dem, der ihnen Trotz geboten, wie an dem, der sie verraten.

*

Nach Monaten kam ein Zeitungsausschnitt aus einem Budapester Blatte mit einer sonderbaren Mitteilung in unsere Hände. Es war darin von dem tragischen Ende zweier Engländer, die in Begleitung einer Frau reisten, erzählt. Beide hatten, hieß es, tödliche Dolchstiche erhalten, und die ungarische Polizei nahm an, die beiden hätten Streit miteinander bekommen und sich gegenseitig verletzt. Holmes scheint mir aber die Sache anders anzusehen und ist noch heute der Meinung, daß man von der Griechin, wenn man sie auffände, hören könnte, wie das ihr und ihrem Bruder angetane Unrecht gerächt worden ist.

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