7. Kapitel. Der Detektiv in der Falle.

7. Kapitel. Der Detektiv in der Falle.

Wie McMurdo gesagt hatte, war das Haus, in dem er wohnte, abgeschieden und für das geplante Verbrechen ganz besonders geeignet. Es lag am Rande der Stadt, ziemlich weit von der Straße ab. In jedem anderen Fall würden die Verschwörer, wie es sonst ihre Art war, einfach ihren Mann gestellt und niedergeschossen haben. Aber in diesem Fall war es äußerst wichtig zu erfahren, wieviel er bereits wußte, woher er es wußte, und welche seiner Erkundungen er an seine Auftraggeber weitergegeben hatte. Möglicherweise war es schon zu spät und seine Arbeit bereits getan. In diesem Fall konnten sie nur noch Rache an ihm nehmen. Sie hofften indessen, daß dem Detektiv noch nichts von größerer Wichtigkeit zur Kenntnis gelangt war, sonst würde er, wie sie annahmen, sich nicht die Mühe genommen haben, so belanglose Mitteilungen, wie McMurdo sie ihm gemacht hatte, niederzuschreiben und in Chiffre weiter zu telegraphieren. Alles dies würden sie von dem Manne selbst hören. Wenn er einmal in ihrer Gewalt war, würden sie Mittel und Wege finden, ihn zum Sprechen zu bringen. Es war nicht das erstemal, daß sie einen widerspenstigen Zeugen zum Reden brachten.

McMurdo fuhr, wie vereinbart, nach Hobsons Patch. Die Polizei schien an jenem Morgen ein ganz besonderes Interesse an ihm zu nehmen, denn Kapitän Marvin, der behauptet hatte, ein alter Bekannter von ihm aus Chicago zu sein, sprach ihn an, als er auf dem Bahnhof wartete. McMurdo drehte ihm den Rücken zu und verweigerte jede Antwort. Am Nachmittag, als er von seiner Expedition zurückgekehrt war, suchte er sofort McGinty im Unionhaus auf.

»Er kommt,« sagte er.

»Gut,« sagte McGinty. Der Riese stand in Hemdsärmeln da, mit baumelnden Ketten und Siegeln an seiner prächtigen Weste. Durch den Saum seines zottigen Bartes funkelte ein großer Brillant. Alkohol und Politik hatten den Meister zu einem sehr reichen und mächtigen Manne gemacht. Um so schrecklicher erschien ihm daher die Vision von Gefängnis und Galgen, die ihm am vorangegangenen Abend gekommen war.

»Glauben Sie, daß er viel weiß?« fragte er angstvoll.

McMurdo nickte trübselig mit dem Kopf.

»Er ist schon längere Zeit hier, mindestens sechs Wochen. Er hat sich wahrscheinlich nicht damit begnügt, die Landschaft zu bewundern. Wenn er die ganze Zeit über fleißig war, mit dem Geld der Gesellschaften hinter sich, möchte ich annehmen, daß er verschiedenes herausgefunden und weitergegeben hat.«

»In unserer Loge ist keiner, dem ich Verrat zutraue,« rief McGinty. »Jeder einzelne ist treu wie Gold. Halt! Zum Donnerwetter, dieser Halunke Morris! An den habe ich nicht gedacht. Warum nicht der Kerl? Wenn einer zum Verräter geworden ist, kann’s nur der gewesen sein. Ich habe Lust, noch vor dem Abendessen ein paar von den Jungen zu ihm zu schicken um ihm eine solche Tracht Prügel verabreichen zu lassen, daß er alles herausplappert, was er gesagt hat.«

»Das würde vielleicht ganz gut sein,« antwortete McMurdo, »obwohl er mir, wie ich gestehen muß, leid täte. Er hat einige Male mit mir über Logenangelegenheiten gesprochen, und obzwar er anders darüber denkt, als Sie und ich, glaube ich nicht, daß er einer ist, der den Angeber spielen würde. Aber wie es auch sei, ich habe darüber nicht zu bestimmen.«

»Ich werde es dem alten Halunken schon besorgen,« rief McGinty mit einem Fluch. »Ich habe schon seit längerem ein Auge auf ihn.«

»Nun, Sie werden wohl am besten wissen, was zu tun ist,« antwortete McMurdo. »Aber was immer Sie beschließen, es muß bis morgen warten, denn wir dürfen uns nicht rühren, bis diese Pinkertonsache ins reine gebracht ist. Es wäre unsinnig, gerade heute die Polizei auf die Beine zu bringen.«

»Das ist wahr,« sagte McGinty, »im übrigen werden wir ja von Birdy Edwards selbst hören, woher er sein Material hat, und wenn wir ihm zu diesem Zweck das Herz aus dem Leibe reißen müßten. Er hat doch nicht Lunte gerochen?«

»Ich habe ihn bei seiner schwachen Seite gepackt,« sagte McMurdo lachend. »Wenn man ihm etwas über die Rächer in Aussicht stellt, würde er bis an das Ende der Welt gehen. Er hat mir bereits Geld gegeben.«

McMurdo zog grinsend ein Bündel Dollarnoten hervor. »Er hat mir versprochen, noch viel mehr herauszurücken, wenn er meine Papiere in der Hand hat.«

»Welche Papiere?«

»Papiere, die nur in seiner Einbildung existieren. Ich habe ihm den Mund mit Satzungen, Geschäftsordnungen und Mitgliedsformularen wässerig gemacht. Er hofft, der Sache ganz auf den Grund zu kommen.«

»Eher wird er in den Grund kommen, sollte ich meinen,« sagte McGinty grimmig. »Hat er Sie nicht gefragt, warum Sie die Papiere nicht gleich mitgebracht haben?«

»Er konnte doch nicht erwarten, daß ich, ein von der Polizei beobachteter Mensch, solche Sachen mit mir herumtrage. Kapitän Marvin hat mich erst heute unten im Bahnhof angesprochen.«

»Davon habe ich gehört,« sagte McGinty. »Das dicke Ende der Sache wird wohl auf Ihr Teil kommen, glaube ich. Wir können ihn wohl in einen aufgelassenen Schacht werfen, wenn wir mit ihm fertig sind; aber wie immer wir es auch anstellen, wir kommen nicht über die Tatsache hinweg, daß Sie heute bei ihm in Hobsons Patch waren.«

»Wenn wir richtig vorgehen, kann man uns niemals einen Mord nachweisen,« sagte McMurdo achselzuckend. »Niemand wird ihn so spät abends das Haus betreten sehen, und ich möchte wetten, daß ihn niemand sehen wird, wenn er es verläßt. Ich will Sie jetzt mit meinem Plan bekannt machen und bitte Sie, die anderen einzuweihen. Ihr alle kommt pünktlich zur vereinbarten Zeit. Er kommt um zehn. Er wird dreimal klopfen, und ich werde ihm die Tür öffnen. Wenn er drinnen ist, schließe ich sie ab. Dann gehört er uns.«

»Das ist klar und einfach.«

»Sehr richtig, aber der nächste Schritt will wohlüberlegt sein. Er ist, wie ich schon sagte, eine harte Nuß. Zweifellos ist er schwer bewaffnet. Ich habe ihn zwar ordentlich genasführt, aber er wird sicher auf seiner Hut sein. Wenn ich ihn in ein Zimmer führe, mit sieben Männern darin, wo er nur einen erwartet, wird es unzweifelhaft zu einer Schießerei kommen, und einer oder der andere von uns würde daran glauben müssen.«

»Sehr richtig.«

»Und der Lärm würde uns jeden verdammten Polizisten auf den Hals locken.«

»Stimmt.«

»Ich möchte daher so vorgehen: Ihr alle seid in dem großen Zimmer, in demselben, wo wir letzthin unsere Unterredung hatten. Ich lasse ihn durch die Tür herein und führe ihn in das kleine Wohnzimmer nebenan, wo ich ihn allein lasse, um, wie ich ihm sagen werde, die Papiere zu holen. Das gibt mir die Möglichkeit, euch zu sagen, wie die Sache steht. Darauf gehe ich zu ihm zurück mit gefälschten Aufzeichnungen. Während er diese liest, springe ich von hinten auf ihn los und umklammere seinen rechten Arm. Dann werdet ihr meinen Ruf hören und stürzt herein. Je schneller das geschieht, desto besser, denn er ist so stark wie ich und wird mir vielleicht mehr zu tun geben, als ich schaffen kann. Aber bis ihr kommt, werde ich ihn wohl halten können.«

»Der Plan ist gut,« sagte McGinty. »Die Loge schuldet Ihnen Dank. Ich kann mir wohl denken, wer meinen Platz einmal einnehmen wird, wenn ich nicht mehr Logenmeister sein werde.«

»Aber ich bin doch kaum mehr als ein Rekrut,« sagte McMurdo. Sein Gesicht ließ deutlich erkennen, wie ihm dieses Kompliment des großen Mannes schmeichelte.

Wieder zu Hause angelangt, traf er seine Vorbereitungen für die grimmigen Ereignisse, die ihm bevorstanden. Zuerst reinigte, ölte und lud er seinen Revolver. Dann musterte er das Zimmer, wo der Detektiv in die Falle gelockt werden sollte. Es war ein großer Raum mit einem langen, rohen Tisch in der Mitte und einem mächtigen Ofen in einer Ecke. An jeder der beiden Längswände lagen Fenster. Diese konnten mit leichten Ziehgardinen verhängt werden. McMurdo betrachtete sie aufmerksam. Zweifellos kam ihm zu Bewußtsein, daß man in den Raum, der für eine streng geheim zu haltende Angelegenheit bestimmt war, ziemlich leicht hineinsehen konnte – ein Nachteil, der indessen durch seine abgeschiedene Lage wieder aufgewogen wurde. Sodann besprach er sich mit seinem Wohngenossen Scalan, der, obgleich Logenbruder, ein harmloses Männchen war, zu verschüchtert, um gegen seine stärkeren Kameraden offen aufzutreten, aber insgeheim entsetzt über die Bluttaten, bei denen er gelegentlich helfen mußte. McMurdo weihte ihn kurz in seine Pläne ein.

»Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, Michel Scalan, so würde ich mich für den Abend freimachen und mich fernhalten. Es wird hier blutige Arbeit geben, bevor der Morgen graut.«

»Paßt mir ausgezeichnet, Freund Mac,« antwortete Scalan. »Mein Wille ist zwar stark, aber mein Fleisch ist schwach. Als ich den Betriebsführer Dunn dort unten im Kohlenbergwerk zusammenbrechen sah, war ich erledigt. Solche Sachen liegen mir nicht so, wie etwa Ihnen oder McGinty. Wenn es mir die Loge nicht übelnimmt, werde ich Ihrem Rat folgen und Sie allein lassen.«

Die Männer kamen pünktlich zu der vereinbarten Zeit. Äußerlich waren sie ehrenwerte Bürger, reinlich und gut gekleidet, aber ein Physiognomiker hätte wenig Hoffnung für Birdy Edwards aus ihren grausamen Lippen und unbarmherzigen Augen herauslesen können. Nicht einen gab es unter ihnen, dessen Hände nicht schon ein dutzendmal mit Blut befleckt worden waren. Sie waren gegen Menschenmord so abgestumpft, wie der Schlächter den Tieren gegenüber. Die erste Stelle nahm der verehrungswürdige Meister ein, sowohl was Aussehen, als was Schuld anbelangte. Harraway, der Sekretär, war ein hagerer, verbitterter Mensch mit langem, dürren Hals und nervös zuckenden Gliedern – von unwandelbarer Ehrlichkeit, soweit die Finanzen des Bundes in Frage kamen, aber sonst ohne Sinn für Recht und Moral. Der Schatzmeister Carter, ein Mann mittleren Alters mit teilnahmslosem Gesicht und pergamentartiger, gelber Haut, war ein fähiger Organisator, und die Ausarbeitung fast jeder Schandtat im einzelnen entsprang seinem beweglichen Gehirn. Die zwei Willabys waren Männer der Tat, große sehnige junge Leute mit entschlossenen Gesichtern, und ihr Gefährte Tiger Comac, ein untersetzter, dunkelhäutiger junger Mensch, wurde selbst von seinen Kameraden wegen seiner unberechenbaren Wildheit gefürchtet. Das waren die Leute, die sich in jener Nacht unter dem Dache McMurdos zur Ermordung des Pinkerton-Detektivs vereinten.

Der Gastgeber hatte Whisky auf den Tisch gestellt und sie zögerten nicht, sich durch ihn für die bevorstehende Arbeit in Stimmung zu versetzen. Baldwin und Cormac waren bereits halb betrunken, und der Alkohol steigerte ihr grausames Ungestüm bis zur Siedehitze. Cormac legte seine Hände einen Augenblick lang auf den Ofen. Er war stark eingeheizt, denn die Frühlingsnächte waren noch kalt.

»Er ist heiß genug,« meinte er vielsagend.

»Ja, ja,« rief Baldwin, der den Wink aufgefangen hatte. »Wenn wir ihn darauf festbinden, werden wir schon die Wahrheit aus ihm herauskriegen.«

»Das werden wir auf jeden Fall, sagte McMurdo. Er hatte Nerven aus Stahl, dieser Mann, denn obwohl die ganze Verantwortung für die Sache auf ihm lastete, war sein Benehmen so kühl und sorglos wie immer. Die anderen bemerkten es beifällig.

»McMurdo ist derjenige, der ihn in Empfang nimmt,« sagte der Meister zustimmend. »Ihm wird der Kerl nichts anmerken, bis er seine Hand an der Gurgel spürt – Es ist zu dumm, daß die Fenster keine Läden haben.«

McMurdo ging von einem Fenster zum anderen und zog die Gardinen fester zu.

»Jetzt kann niemand mehr hereinsehen. Er muß gleich da sein.«

»Vielleicht kommt er nicht. Er hat möglicherweise Lunte gerochen,« sagte der Sekretär.

»Er wird kommen, Sie brauchen keine Angst zu haben,« antwortete McMurdo. »Er ist so begierig zu kommen, wie Sie, ihn zu sehen. Horcht! Was ist das?«

Sie saßen alle wie Wachsfiguren da, mit halb erhobenen Gläsern. In die plötzliche Stille hinein dröhnte heftiges, dreimaliges Pochen an die Außentür.

»Still!«

McMurdo erhob Ruhe gebietend seine Hand. Frohlockende Blicke machten die Runde von einem zum anderen, und die Hände fuhren unwillkürlich nach versteckten Waffen.

»Nicht einen Laut, wenn euch euer Leben lieb ist,« zischte ihnen McMurdo zu, als er das Zimmer verließ und die Türe sorgfältig hinter sich schloß.

Die Mordgesellen warteten mit gespitzten Ohren. Sie zählten die Schritte ihres Kameraden, als dieser den Korridor entlang ging. Dann hörten sie ihn die Außentür öffnen und darauf einige Worte der Begrüßung mit jemandem wechseln. Sie vernahmen einen fremden Tritt und eine unbekannte Stimme. Einen Augenblick später hörten sie die Außentür zuschlagen und einen Schlüssel sich im Schloß drehen. Ihr Opfer saß in der Falle. Tiger Cormac konnte ein höhnisches Lachen nicht unterdrücken, so daß ihm McGinty mit seiner großen Hand an den Mund fuhr.

»Ruhig, du Narr,« flüsterte er. »Du wirst uns noch alle verderben.«

Aus dem Nebenzimmer hörte man das Gemurmel eines Gesprächs, das ihnen endlos schien. Dann öffnete sich die Tür, und McMurdo trat ein, einen Finger an den Lippen.

Er kam bis ans Kopfende des Tisches und ließ seine Blicke über die Tafelrunde schweifen. Eine merkliche Veränderung war mit ihm vorgegangen. Seine Haltung war die eines Mannes, der einem Wendepunkt seines Lebens gegenübersteht. Sein Gesicht schien wie aus Stein gemeißelt zu sein, und seine Augen funkelten hinter den Brillen in leidenschaftlicher Erregung. Der geborene Führer von Menschen war in ihm in Erscheinung getreten. Die anderen betrachteten ihn in atemloser Spannung, sagten aber nichts. Mit einem sonderbaren Ausdruck in den Augen wanderten seine Blicke von Mann zu Mann.

»Nun?« rief Meister McGinty endlich. »Ist Birdy Edwards da?«

»Jawohl,« antwortete McMurdo langsam, jedes Wort abwägend, »Birdy Edwards ist da. Er steht vor euch. Ich selbst bin Birdy Edwards.«

Etwa zehn Sekunden folgten diesen wenigen Worten, während deren man im Zimmer eine Stecknadel hätte fallen hören können. Das Zischen eines Kessels auf dem Ofen drang scharf und schneidend in die Ohren, sieben leichenblasse Gesichter waren mit dem Ausdruck eines lähmenden Schreckens zu dem Mann erhoben, der mit Herrschermiene vor ihnen stand. Dann erfolgte plötzlich das Klirren von Glas, und eine Anzahl Gewehrläufe erschienen in jedem Fenster, wobei die Vorhänge aus ihren Haken gerissen wurden. Bei diesem Anblick erhob McGinty ein Brüllen wie ein verwundeter Löwe und stürzte auf die halbgeöffnete Tür zu. Dort wurde er von einem auf ihn gerichteten Revolver begrüßt, hinter dessen Korn die kalten, blauen Augen Kapitän Marvins von der Kohlen- und Eisenpolizei zu sehen waren. McGinty warf sich zurück und fiel in seinen Stuhl.

»Sie haben recht, Rat McGinty,« sagte der Mann, den sie bisher als McMurdo gekannt hatten. »Sie sein sicherer dort, wo Sie sitzen. – Baldwin, wenn Sie nicht sofort Ihre Hand von Ihrer Waffe wegnehmen, werden Sie noch den Henker um sein Werk betrügen. Heraus damit und weggelegt, oder bei meinem Erzeuger – so ist es recht. Das Haus ist von vierzig bewaffneten Männern umstellt, und ihr könnt euch ausmalen, was für Aussichten zur Flucht ihr habt. Nehmen Sie ihnen die Waffen ab, Marwin.« –

Unter der Drohung der auf sie gerichteten Gewehre erschien jeder Widerstand vergeblich. Die Leute wurden sämtlich entwaffnet. Trotzig, niedergedrückt und noch immer verblüfft, saßen sie schweigend um den Tisch herum.

»Ich möchte noch einige Worte an euch richten, bevor wir uns trennen,« sagte der Mann, in dessen Falle sie gegangen waren. »Wir werden uns wahrscheinlich erst vor Gericht wiedersehen. Ich gebe euch für die Zwischenzeit einiges zum Nachdenken auf. Ihr wißt jetzt, wer ich bin. Endlich ist die Zeit gekommen, wo ich meine Karten offen auf den Tisch legen kann. Ich bin Birdy Edwards von den Pinkertons. Man hat mich dazu auserwählt, eure Bande zu vernichten. Es war eine schwere und gefährliche Aufgabe. Keine Menschenseele, nicht einmal jene, die mir am nächsten steht und mir die teuerste ist, wußte davon, außer Kapitän Marvin und meinen Auftraggebern. Aber ich habe getan, was ich konnte, und Gott sei gedankt, ich bin Sieger geblieben.«

Die sieben blassen, regungslosen Gesichter stierten ihn mit Blicken tödlichen Hasses an. Er las die aus ihren Augen sprühenden Drohungen.

»Ihr glaubt vielleicht, daß die Sache für mich nicht erledigt ist. Nun, wir werden ja sehen. Wenigstens einige von euch werden keine Hand mehr gegen mich erheben können, und außer euch werden heute nacht noch sechzig andere das Innere eines Gefängnisses zieren. Ich will euch gestehen, als man mir den Auftrag gab, glaubte ich nicht an die Existenz eines Bundes wie des euren. Ich habe alles für Zeitungstratsch gehalten, und wollte dafür den Nachweis erbringen. Man sagte mir, daß euer Bund etwas mit den Freimännern zu tun habe; ich ging daher nach Chicago und ließ mich dort aufnehmen. Danach war ich überzeugter als je, daß eure Bande nur in der Einbildung der Zeitungen existiere, denn ich fand die Gesellschaft der Freimänner durchaus harmlos und sogar Gutes tuend. Immerhin hatte ich meinen Auftrag auszuführen und kam daher in eure Stadt. Als ich hier anlangte, mußte ich nur zu bald erfahren, daß ich mich im Irrtum befunden hatte, daß also die Sache keineswegs ein Hintertreppenroman war. Daher blieb ich hier, um vollen Einblick zu gewinnen. Ich habe niemals einen Mann in Chicago getötet und niemals einen Dollar gefälscht. Die Banknoten, die ich euch gab, waren so echt wie irgendwelche anderen, und sie waren wohl verwendet. Ich wußte, wie ich mich bei euch in Gunst setzen konnte, und darum täuschte ich euch vor, daß die Polizei hinter mir her sei. Es kam alles so, wie ich es mir ausgedacht hatte.

Darauf trat ich in eure verdammte Loge ein und nahm an euren Beratungen teil. Vielleicht werdet ihr von mir sagen, daß ich so schlecht sei, wie ihr selbst. Aber das ist mir gleichgültig, da ich meinen Zweck erreicht habe. Überdies, was ist denn Wahres daran? In der Nacht meines Eintritts habt ihr den alten Stanger halbtot geschlagen. Ich konnte ihn nicht warnen – dazu war keine Zeit –, aber ich bin dazwischen getreten, als Baldwin ihn umbringen wollte. Wenn ich euch Vorschläge machte, geschah es, um den Anschein zu wahren, und nur in Dingen, von denen ich wußte, daß ich sie verhindern konnte. Ich habe Dunn und Menzies nicht retten können, denn ich wußte von der Sache nicht genug; aber ich werde alles daransetzen, daß ihre Mörder an den Galgen kommen. Ich habe Chestor Wilcox gewarnt, und als ich sein Haus in die Luft sprengte, waren er und seine Leute bereits in Sicherheit. Viele Verbrechen sind begangen worden, die ich nicht verhüten konnte, aber wenn ihr nachdenkt und euch überlegt, wie oft, wenn eure Anschläge erfolgen sollten, eure Opfer auf einem anderen Weg als dem gewöhnlichen zurückkehrten, abwesend waren oder im Hause blieben, wenn ihr dachtet, daß sie ausgehen würden, so werdet ihr mein Werk erkennen.«

»Sie Teufel von einem Verräter,« zischte McGinty durch seine fest zusammengepreßten Zähne.

»Sie mögen mich wohl so nennen, John McGinty, wenn Sie damit Ihren Schmerz lindern können. Sie und Ihresgleichen waren das Werkzeug des Teufels in dieser Gegend. Es bedurfte eines ganzen Mannes, um sich zwischen Sie und die armen Leute, die Sie in Ihrer Gewalt hielten, zu stellen. Es konnte nur auf eine einzige Weise bewerkstelligt werden, und nach der habe ich gehandelt. Sie nennen mich einen Verräter, aber ich bin überzeugt, daß mich viele Tausende eher einen Erlöser nennen werden, der in die Hölle hinuntergestiegen ist, um sie zu retten. Drei Monate habe ich dazu gebraucht, und ich sage euch, daß ich für alle Schätze der Welt nicht noch einmal drei solche Monate durchmachen möchte. Ich mußte bleiben, bis ich alle und alles in der Hand hatte, jedes eurer Geheimnisse und jeden von euch. Ich hätte vielleicht noch länger gezögert, aber ich mußte befürchten, daß mein Geheimnis herauskommen würde. Ein Brief ist nach der Stadt gelangt, der euch auf meine Spur gebracht hätte. Darum mußte ich handeln, und zwar sofort. Das ist alles, was ich euch zu sagen habe. Nur noch das eine: wenn einmal meine Zeit abgelaufen ist, werde ich leichter sterben, wenn ich an das Werk denke, das ich hier in diesem Tal vollbracht habe. Nun, Marvin, will ich Sie nicht länger aufhalten. Nehmt sie in Empfang und laßt uns die Szene beschließen.«

Es bleibt nur noch wenig zu erzählen. Scanlan hatte einen versiegelten Brief empfangen, mit dem Auftrag, ihn Miß Ettie Shafter zu überbringen, was er mit einem vielsagenden Lächeln zu tun versprach. In den ersten Morgenstunden des folgenden Tages bestiegen ein schönes Mädchen und ein schwervermummter Mann einen Sonderzug, der von der Eisenbahngesellschaft nach Vermissa geschickt worden war, und traten eine rasche, aufenthaltslose Fahrt aus dem Lande der Gefahr an. Es war das letztemal, daß Ettie und ihr Liebster den Fuß in das Tal des Grauens setzten. Zehn Tage später fand in Chicago ihre Hochzeit statt, mit dem alten Jakob Shafter als Trauzeugen.

Die Gerichtsverhandlung über die Rächer wurde in einem weit von der Stätte der Verbrechen gelegenen Ort abgehalten, wo keine Gefahr der Einschüchterung der Hüter des Gesetzes bestand. Sie kämpften bis zum letzten Moment, aber vergebens. Das Geld der Loge – Erpressergeld im wahrsten Sinne des Worts – floß wie Wasser in dem vergeblichen Versuch, sie zu retten. Die klare, leidenschaftslose Zeugenaussage eines, der jede Einzelheit ihrer Lebensführung, ihrer ganzen Organisation und alle ihre Verbrechen kannte, war auch durch die geschickteste Verteidigung nicht zu erschüttern. Endlich, nach so vielen Jahren, ereilte die Rächer ihr Schicksal. Die Wolke, die so lange das Tal verdunkelt hatte, zerteilte sich. McGinty fand sein Ende auf dem Schaffott, winselnd und jammernd, als seine letzte Stunde herannahte. Acht seiner Spießgesellen teilten dieses Schicksal. Über fünfzig erhielten mehr oder minder schwere Gefängnisstrafen. Das Werk Birdy Edwards war vollbracht.

Es sollte aber, wie er immer befürchtet hatte, ein Nachspiel haben. Ted Baldwin war seinem Henker entgangen, ebenso die Willabys und einige andere der verwegensten Geister der Bande. Zehn Jahre blieben sie unschädlich, und dann kam der Tag, da man sie wieder freiließ – ein Tag, von dem Edwards wußte, daß er das Ende seiner Ruhe sein werde. Sie hatten bei allem, das sie für heilig hielten, einen Eid geschworen, an ihm für ihre Kameraden blutige Rache zu nehmen. Diese Rache war ihre Lebensaufgabe geworden. Edwards wurde aus Chicago vertrieben, nach zwei Anschlägen, die dem Erfolg so nahe kamen, daß es als sicher gelten konnte, der nächste werde Erfolg haben. Von da ging er unter angenommenem Namen nach Kalifornien, wo ihm die Freude am Leben eine Zeitlang erlosch, als Ettie Edwards starb. Noch einmal später wurde er fast getötet, als er unter dem Namen Douglas in einer einsamen Schlucht mit einem englischen Partner, namens Barker, arbeitete und ein Vermögen zusammenraffte. Er wurde gewarnt, daß die Bluthunde wieder auf seiner Fährte seien. Es gelang ihm gerade noch im letzten Augenblick, nach England zu fliehen. Und so kam es, daß John Douglas, der in England das zweitemal eine würdige Lebensgefährtin fand, sich dort als Gutsbesitzer niederließ und fünf Jahre in Sussex in Frieden leben konnte – ein Leben, das in die ungewöhnlichen Geschehnisse auslief, von denen wir gehört haben.

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8. Kapitel. Das Ende.

8. Kapitel. Das Ende.

Der Polizeigerichtshof hatte den Fall John Douglas einem höheren Gericht überwiesen. Von diesem wurde Douglas mit der Begründung, daß seine Tat in Selbstverteidigung erfolgt sei, freigesprochen.

»Sehen Sie, daß er sofort aus England fortkommt,« schrieb Holmes seiner Frau. »Es sind hier Kräfte am Werk, die vielleicht noch gefährlicher sind, als jene, denen er entronnen ist. Es gibt für Ihren Mann in England keine Sicherheit.«

Zwei Monate waren vergangen, und die Sache war bereits etwas in unserer Erinnerung verblaßt. Da geschah es, daß eines Tages eine rätselhafte Epistel in unseren Briefkasten eingeschmuggelt wurde.

»Du liebe Zeit, Mr. Holmes! Du liebe Zeit!« lautete die sonderbare Mitteilung. Sie trug weder Überschrift noch Unterschrift. Ich lachte über ihren wunderlichen Inhalt, aber Holmes zeigte einen ungewöhnlichen Ernst.

»Das ist wieder eine Teufelei, Watson,« bemerkte er und versank mit umwölkter Stirn in tiefes Nachdenken.

Am späten Abend desselben Tages brachte uns Frau Hudson, unsere Wirtin, die Botschaft, daß ein Herr Mr. Holmes sofort in einer höchst dringenden Sache zu sprechen wünsche. Dicht auf den Fersen folgte ihr Mr. Cecil Barker, unser Freund aus dem Herrenhause in Birlstone. Sein Gesicht trug den Stempel tiefster Trauer.

»Ich habe schlechte Nachrichten, entsetzliche Nachrichten, Mr. Holmes,« sagte er.

»Ich dachte es mir,« antwortete Holmes.

»Haben Sie etwa ein Kabel erhalten?«

»Nein, aber eine kurze Mitteilung von jemandem, der eins erhalten hat.«

»Der arme Douglas! Man sagt, daß er eigentlich Edwards hieß, aber für mich wird er immer Jack Douglas bleiben. Ich habe Ihnen mitgeteilt, daß er vor etwa drei Wochen mit seiner Frau auf der ›Palmyra‹ nach Südafrika abgedampft ist.«

»Sehr richtig.«

»Der Dampfer ist gestern abend in Kapstadt angekommen. Heute morgen erhielt ich von seiner Frau das folgende Kabel: ›Jack im Sturm bei St. Helena anscheinend über Bord gespült, niemand weiß Näheres über Unfall. Ivy Douglas‹«

»Also das! So wurde es bewerkstelligt!« sagte Holmes nachdenklich. »Ich zweifle nicht, daß die Sache gut inszeniert war.«

»Sie glauben also nicht an einen Unfall?«

»Ganz unbedingt nicht.«

»Er wurde ermordet?«

»Zweifellos.«

»Auch ich glaube es. Diese teuflischen Rächer, diese verdammte, rachsüchtige Verbrecherbande.«

»Nein, nein, mein lieber Herr,« sagte Holmes, »in der Sache erkenne ich eine Meisterhand. Es ist kein Fall mit abgesägten Schrotflinten und plumpen Revolvern. Man erkennt einen alten Meister an seinen Pinselstrichen. Ich kenne einen Moriarty, wenn ich ihn sehe. Das Verbrechen rührt von London her und nicht von Amerika.«

»Aber was wäre der Beweggrund?«

»Der Beweggrund ist, daß es von einem Mann geplant wurde, der keinen Fehlschlag dulden kann; einem Menschen, dessen ganze und einzigartige Stellung davon abhängt, daß alles, was er tut, erfolgreich ist. Ein großer Geist und eine Riesenorganisation haben sich zur Vernichtung eines einzigen Mannes vereinigt. Es ist, als ob man eine Nuß mit einem Hammer aufknacken würde: eine lächerliche Vergeudung von Energie, aber die Nuß ist zerschmettert.«

»Und wie ist denn der Mann in die Sache hineingezogen worden?«

»Ich kann Ihnen nur sagen, daß das erste, was wir darüber hörten, von einem seiner Untergebenen kam. Diese Amerikaner waren gut beraten. Da sie sich auf fremdem Boden befanden, hatten sie sich, wie jeder ausländische Verbrecher es tun würde, mit diesem gefährlichen Ratgeber der Verbrecherwelt in Verbindung gesetzt. Von jenem Moment an war das Schicksal unseres Mannes besiegelt. Zuerst wird ›Er‹ sich vielleicht damit begnügt haben, seinen Apparat in Bewegung zu setzen, um das Opfer aufzuspüren. Dann dürfte er seinen Rat gegeben haben, wie die Sache anzulegen sei. Als er schließlich in den Zeitungen von dem erfolglosen Versuch seines Klienten las, beschloß er offenbar, selbst in dessen Fußstapfen zu treten und die Sache mit seiner Meisterhand zu Ende zu führen. Sie haben gehört, wie ich Douglas in Birlstone darauf vorbereitet habe, daß die kommende Gefahr größer sein werde als die vergangene. Ich habe recht behalten.«

Barker schlug sich mit geballten Fäusten in ohnmächtiger Wut an die Stirn.

»Und wollen Sie damit sagen, daß wir dies ruhig hinnehmen sollen? Daß man mit diesem Teufel nicht Abrechnung halten kann?«

»Das möchte ich nicht behaupten,« sagte Holmes mit einem abwesenden Blick. »Ich möchte nicht behaupten, daß man mit ihm nicht abrechnen kann. Aber ich brauche Zeit dazu, noch viel Zeit.«

Wir saßen einige Minuten in tiefem Schweigen, während seine schicksalsschweren Augen den Schleier der Zukunft zu durchdringen suchten.

Ende.

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2. Kapitel. Sherlock Holmes tritt in Tätigkeit.

2. Kapitel. Sherlock Holmes tritt in Tätigkeit.

Es war einer jener dramatischen Momente, die für meinen Freund die Höhepunkte des Lebens darstellten. Zu sagen, daß er von der Mitteilung des Inspektors erschüttert war oder darüber Erregung verriet, wäre unbedingt eine Übertreibung. Er hatte zwar nicht den geringsten Zug von Grausamkeit in seiner eigenartigen Veranlagung, aber ständige Nervenanspannung hatte ihn gegen Sensationen unempfindlich gemacht. Obgleich also seine Gefühle stumpf waren, besaß sein Geist eine überaus große Regsamkeit. Nicht eine Spur des Entsetzens, das ich bei der Mitteilung McDonalds fühlte, zeigte sich bei ihm. Sein Gesicht trug lediglich einen still interessierten Ausdruck, etwa den des Chemikers im Augenblick der eintretenden Niederschlagsbildung.

»Bemerkenswert,« sagte er, »sehr bemerkenswert.«

»Das scheint Sie nicht überrascht zu haben?«

»Überrascht nicht, Mr. Mac, nur interessiert. Warum sollte ich auch überrascht sein. Ich habe eine anonyme Mitteilung von einer Seite, die ich als unbedingt zuverlässig kenne, dahingehend, daß einer bestimmten Person unmittelbar eine große Gefahr drohe. Innerhalb einer Stunde stellt sich dann heraus, daß sich diese Drohung bereits verwirklicht hat und die betreffende Person tot ist. Ich bin interessiert, aber, wie Sie erkannt haben, keineswegs überrascht.«

In einigen kurzen Sätzen erläuterte er dann dem Inspektor den Vorfall mit dem Brief und der Chiffre. McDonald saß da, das Kinn in die Hände gestützt, noch immer mit dem Ausdruck des Staunens in seinen großen, starren Augen. »Ich bin im Begriffe, nach Birlstone zu fahren,« sagte er, »und bin nur zu Ihnen gekommen, um Sie zu fragen, ob Sie mittun wollen – Sie und Ihr Freund. Nach dem, was Sie sagen, möchte ich indessen fast annehmen, daß wir hier in London Wichtigeres zu tun haben als in Birlstone.«

»Dieser Meinung bin ich nicht,« sagte Holmes.

»Das verstehe ich nicht, Mr. Holmes,« sagte der Inspektor. »Die Zeitungen werden morgen oder übermorgen voll sein von dem ›Geheimnis in Birlstone‹. Die Lösung des Rätsels scheint indessen in London zu liegen, da es hier einen Mann gibt, der von dem Verbrechen schon wußte, bevor es begangen wurde. Wir brauchen nur diesen Mann in die Hände zu bekommen, und das Weitere wird sich finden.«

»Unzweifelhaft, Mr. Mac, aber wie wollen Sie es bewerkstelligen, den angeblichen Porlock in die Hände zu bekommen?«

McDonald nahm den Brief, den ihm Holmes überreichte und betrachtete ihn eingehend.

»Aufgegeben in Camberwell; das will wenig besagen. Der Name ist, wie Sie meinen, fingiert? Das ist nicht viel für den Anfang. Sagten Sie nicht, daß Sie ihm Geld geschickt haben?«

»Jawohl, zweimal.«

»Und wie?«

»In Banknoten, postlagernd Camberwell.«

»Haben Sie sich die Mühe genommen, festzustellen, wer die Briefe abgeholt hat?«

»Nein.«

Der Inspektor blickte überrascht und etwas ärgerlich auf.

»Warum denn nicht?«

»Einfach, weil ich gewohnt bin, mein Wort zu halten. Ich hatte ihm, als er das erstemal schrieb, versprochen, ihm nicht nachzuspüren.«

»Sie glauben, daß irgend jemand hinter ihm steht?«

»Ich glaube es nicht, ich weiß es.«

»Dieser Professor, den Sie schon mehrmals erwähnt haben?«

»So ist es.«

McDonald konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, und seine Augen blitzten vielsagend, als er mich anblickte.

»Ich kann Ihnen nicht verschweigen, Mr. Holmes, daß wir in der Kriminalabteilung Ihre Sache mit dem Professor für eine Art fixer Idee halten. Ich bin der Geschichte nachgegangen und habe herausgefunden, daß er ein sehr angesehener und gelehrter Herr ist.«

»Ich freue mich, daß Sie sich wenigstens schon über seine Gelehrsamkeit im klaren sind.«

»Mein lieber Herr, das war nicht schwierig. Nachdem Sie mir Ihre Ansicht über ihn mitgeteilt hatten, hielt ich es für meine Pflicht, ihn mir einmal zu besehen. Ich plauderte mit ihm über die Eklipse. Wie wir auf dieses Thema gekommen sind, weiß ich nicht. Da er mich unwissend fand, holte er eine Projektionslampe und einen Globus hervor und machte mir im Nu die Sache klar. Auch lieh er mir ein Buch, von dem ich allerdings sagen muß, daß es etwas über meinen Horizont geht, obwohl ich doch eine ziemlich gute Schulbildung genossen habe. Der Mann hätte einen prächtigen Pfarrer abgegeben mit seinem hageren Gesicht, seinem grauen, ehrwürdigen Haar und der feierlichen Manier, in der er spricht. Als er beim Abschied die Hand auf meine Schulter legte, kam er mir vor wie ein Vater, der seinen Sohn segnet, der sich in die kalte, grausame Welt hinausbegibt.«

Holmes rieb sich frohlockend die Hände.

»Großartig,« rief er, »großartig. Sagen Sie einmal, mein lieber Freund McDonald, diese niedliche und gemütliche Plauderei hat wohl in der Bibliothek des Professors stattgefunden?«

»Stimmt.«

»Ein schöner Raum, nicht wahr?«

»Prachtvoll – hochelegant, Mr. Holmes.«

»Sie saßen seinem Schreibtisch gegenüber?«

»Jawohl.«

»Das Licht in Ihrem Gesicht und seines im Schatten?«

»Nun ja, das dürfte stimmen. Es war am Abend und ich erinnere mich, daß die Studierlampe mir zugedreht war.«

»Selbstverständlich. Bemerkten Sie auch ein Bild an der Wand hinter dem Professor?«

»Mir entgeht nicht so leicht etwas, Mr. Holmes. Wahrscheinlich habe ich das von Ihnen gelernt. Jawohl, ich sah das Bild – eine junge Frauensperson, das Gesicht in die Hände gestützt, den Blick seitwärts gerichtet.«

»Ein Gemälde von Jean Baptiste Greuze.«

Der Inspektor gab sich alle Mühe, interessiert zu scheinen.

»Jean Baptiste Greuze«, fuhr Holmes fort, die Fingerspitzen der ausgebreiteten Hände aneinandergepreßt und sich dabei weit in seinen Stuhl zurücklehnend, »war ein französischer Maler, der zwischen 1705 und 1800, zu seinen Lebzeiten also in hohem Ansehen stand. Die Nachwelt hat bekanntlich die Geltung, die er schon bei seinen Zeitgenossen hatte, in vollem Maße bestätigt.«

Ein abwesender Blick machte sich in den Augen des Inspektors bemerkbar.

»Wollen wir nicht lieber – –,« sagte er.

»Nein, wir wollen nicht, denn wir sind ohnedies dabei,« unterbrach ihn Holmes. »Was ich Ihnen sage, hat ganz unmittelbar Bezug auf das, was Sie das Geheimnis von Birlstone nennen. Tatsächlich möchte ich sagen, daß es geradezu dessen Ausgangspunkt ist.«

»Ihre Gedanken laufen mir zu schnell, Mr. Holmes. Sie lassen meistens ein Glied oder mehrere sogar aus in der Kette, und ich verliere darüber den Anschluß. Was, um des lieben Himmels willen, hat dieser tote Maler mit der Sache in Birlstone zu tun?«

»Für den Detektiv ist Wissen jeder Art nützlich,« bemerkte Holmes. »Selbst die anscheinend belanglose Tatsache, daß im Jahre 1865 das Bild von Greuze, das unter der Bezeichnung. ›Das junge Mädchen mit dem Lamm‹ bekannt ist, bei der Portalis-Auktion nicht weniger als 4000 Pfund brachte, sollte Ihnen zu denken geben.«

Das tat es anscheinend auch. Der Inspektor war höchlich interessiert.

»Vielleicht vergegenwärtigen Sie sich,« fuhr Holmes fort, »daß das Gehalt des Professors aus verschiedenen Nachschlagewerken unzweifelhaft festgestellt werden kann. Es beträgt genau 700 Pfund pro Jahr.«

»Wie konnte er denn dann –«

»Sehr richtig, wie konnte er?«

»Jawohl, das ist sonderbar,« sagte der Inspektor nachdenklich. »Schießen Sie los, Mr. Holmes. Ich bin auf das höchste gespannt. Sie machen derartige Sachen wunderbar.«

Holmes lächelte. Für ehrliche Bewunderung war er in hohem Maße empfänglich, das Kennzeichen einer wahrhaften Künstlernatur.

»Über was wollen Sie etwas hören? Über Birlstone?« fragte er.

»Das hat noch Zeit,« sagte der Inspektor, indem er einen Blick auf seine Uhr warf. »Ich habe einen Wagen unten, und wir brauchen nur zwanzig Minuten bis zum Viktoriabahnhof. Ich möchte über dieses Bild etwas Näheres wissen. – Ich war der Ansicht, Sie und Professor Moriarty seien sich noch nicht begegnet.«

»So ist es auch.«

»Woher kennen Sie dann seine Wohnung?«

»Ah, lieber McDonald, das ist etwas anderes. Ich war bereits dreimal in seiner Wohnung. Zweimal wartete ich auf ihn unter verschiedenen Vorwänden, und das letztemal – nun, darüber kann ich mit Ihnen als Amtsperson nicht sprechen. Nur das eine kann ich Ihnen sagen, daß ich mir bei dem letzten Besuch gestattete, seine Papiere durchzugehen, mit den überraschendsten Ergebnissen.«

»Sie haben also kompromittierendes Material gefunden?«

»Nicht das geringste, und gerade das war das Überraschende daran. Nun, Sie haben bereits erkannt, daß in der Sache mit dem Bild etwas nicht stimmt. Der Besitz des Bildes läßt ihn als einen wohlhabenden Menschen erscheinen. Woher aber dieser Reichtum? Er ist unverheiratet, sein jüngerer Bruder ist Stationsvorsteher im Westen Englands. Sein Einkommen beträgt 700 Pfund pro Jahr, und trotzdem besitzt er einen Greuze.«

»Nun also?«

»Die Schlußfolgerung ist doch einfach.«

»Nach Ihrer Meinung stammt sein Einkommen aus dunklen Quellen?«

»Sehr richtig. Ich habe natürlich noch andere Gründe für meine Annahme, Dutzende von geheimnisvollen Fäden, die sich in undefinierbarer Weise zu dem Mittelpunkt des Netzes hinspinnen, in dem eine giftgefüllte, regungslose Kreatur lauert. Ich habe den Greuze nur erwähnt, weil er die Angelegenheit in den Bereich Ihrer eigenen Beobachtungen bringt.«

»Ich gebe zu, Mr. Holmes, daß das, was Sie sagen, höchst interessant ist. Mehr als das – es ist geradezu wundervoll. Aber wollen wir uns nicht etwas klarer fassen, wenn dies möglich ist? Denken Sie an Fälschung, Falschmünzerei, Einbruch? Wo kommt das Geld her?«

»Haben Sie je etwas über Jonathan Wild gelesen?«

»Der Name kommt mir bekannt vor, eine Figur in einer Novelle, nicht wahr? Ich halte nicht viel von Detektiven in Novellen. Das sind Leute, die immer Erfolg haben, ohne daß man weiß, wie er zustande kommt. Die Leute arbeiten mit Einbildungskraft anstatt mit nackten Tatsachen.«

»Jonathan Wild war kein Detektiv, auch keine Novellenfigur. Er war ein Meisterverbrecher, der im achtzehnten Jahrhundert, so um 1750 herum, lebte.«

»Dann interessiert er mich nicht. Für mich als Mann der Praxis gibt es nur die Jetztzeit.«

»Nun, Mr. Mac, dann möchte ich Ihnen raten, wenn Sie tatsächlich ein Mann der Praxis sein wollen, sich zunächst einmal auf drei Monate in Ihren vier Wänden einzuschließen und zwölf Stunden täglich die Annalen des Verbrechers nachzulesen. Alles bewegt sich im Kreislauf, selbst der Typ des Professors Moriarty. Jonathan Wild war der geistige Mittelpunkt der Londoner Verbrecherwelt, der er seinen Kopf und seine Organisation gegen eine fünfzehnprozentige Provision zur Verfügung stellte. Das Rad dreht sich ständig weiter, und dieselben Speichen kommen immer wieder empor. Alles ist schon einmal dagewesen und alles wird wieder geschehen. Ich möchte Ihnen ein oder zwei Dinge über Moriarty erzählen, die Sie vielleicht interessieren werden.«

»Davon können Sie überzeugt sein.«

»Ich weiß z. B., wer das erste Glied in seiner Kette ist – einer Kette, an deren einem Ende sich dieser Napoleon der Verbrecher befindet während sie am anderen in eine Unzahl dunkler Existenzen ausmündet, – Rowdies, Taschendiebe, Erpresser, Falschspieler und noch viele andere. Tatsächlich ist jede Form des Verbrechens darin vertreten. Sein Generalstabschef ist Oberst Sebastian Moran, ein Mensch, der über die Verbrecherwelt ebenso hoch erhaben scheint und dem Gesetz gegenüber genau so unangreifbar ist, wie Moriarty selbst. Was glauben Sie, daß er ihm bezahlt?«

»Das möchte ich gerne wissen.«

»Sechstausend Pfund pro Jahr. Ein fürstliches Gehalt. Er hält sich die besten Leute und bezahlt sie entsprechend: das amerikanische Geschäftsprinzip. Ich bin ganz durch Zufall dahinter gekommen. Der Moran erhält ein höheres Gehalt als der Ministerpräsident. Das mag Ihnen einen Begriff davon geben, welche Einkünfte Moriarty bezieht, und in welchem Maßstab er seine Tätigkeit ausübt. Und dann noch etwas. Ich habe es mir kürzlich angelegen sein lassen, einigen von Moriartys Schecks nachzugehen – ganz gewöhnliche, harmlose Schecks, mit denen er seine Haushaltsrechnungen bezahlt. Nach denen zu schließen, die ich fand, unterhält er Konten bei nicht weniger als sechs verschiedenen Banken. Macht das einen Eindruck auf Ihr Gehirn?«

»Höchst merkwürdig, ohne Zweifel. Und was schließen Sie daraus?«

»Er will nicht, daß man über seine Geldmittel spricht. Niemand soll wissen, was er hat. Ich bin ganz sicher, daß er einige zwanzig Bankkonten hat, mit dem Großteil seines Vermögens wahrscheinlich im Ausland, bei der Deutschen Bank oder in Amerika. Wenn Sie einmal etwas Zeit übrig haben, so etwa ein oder zwei Jahre, empfehle ich Ihnen, sich mit Professor Moriarty zu beschäftigen.«

Auf Inspektor McDonald hatten Holmes‘ Ausführungen, je weiter das Gespräch fortschritt, einen immer tieferen Eindruck gemacht. Er ging geradezu darin auf. Aber sein praktisches Tatsachengehirn, eine Eigenart seiner schottischen Heimat, führte ihn bald wieder in die Welt der Wirklichkeit zurück.

»Das muß noch etwas warten,« sagte er. »Wir sind durch Ihre interessanten Erzählungen auf ein Nebengeleise geraten, Mr. Holmes. Was mich betrifft, so interessiert mich zunächst seine angebliche Verbindung mit dem Verbrechen in Birlstone. Diese nehmen Sie an, wegen der Warnung, die Sie von dem Mann Porlock erhalten haben. Ergibt sich daraus etwas für unsere gegenwärtigen praktischen Bedürfnisse?«

»Wir können dadurch vielleicht hinter die Beweggründe des Verbrechens kommen. Aus Ihren ersten Bemerkungen schließe ich, daß der Mord unerklärlich oder bisher wenigstens ungeklärt ist. Wenn wir nun als Ausgangspunkt des Verbrechens den annehmen, von dem ich Ihnen eben sprach, kommen zwei mögliche Motive in Frage. Das erste ist, daß, wie ich Ihnen sagen kann, Moriarty über seine Leute mit einer eisernen Rute regiert. Die Disziplin, die er hält, ist beispiellos. Als Bestrafung kennt er nur eines, nämlich den Tod. Wir können z. B. annehmen, daß der ermordete Mann, dieser Douglas, dessen fürchterliches Schicksal einem Untergeordneten des Erzverbrechers vorher bekannt war, ein Mitglied dieser Organisation war, das in irgendeiner Weise Verrat geübt hat. Die Bestrafung folgte auf dem Fuße und würde natürlich der ganzen Organisation bekanntgemacht werden, um den Leuten Furcht vor einem ähnlichen Schicksal einzuflößen.«

»Nun, das ist die eine Hypothese, Mr. Holmes.«

»Die andere ist, daß die Sache eines seiner dunklen Geschäfte ist und von Moriarty in diesem Sinne geleitet und ausgeführt wurde. Ist irgend etwas geraubt worden?«

»Ich habe nichts davon gehört.«

»Wenn dem so wäre,« fuhr Holmes fort, »würde das natürlich ohne weiteres für die zweite Annahme sprechen. Moriarty wurde vielleicht dazu gewonnen, das Verbrechen auf Teilung des Raubes auszuführen, oder man hat ihm eine bestimmte Summe für die Ausführung des Mordes bezahlt. Beides ist möglich. Aber wie dem auch sei, und selbst wenn es noch eine dritte Möglichkeit gäbe, müssen wir in Birlstone nach der Lösung suchen. Ich kenne unseren Mann zu genau, um nicht überzeugt zu sein, daß er hier keine Spur hinterlassen hat, die auf ihn zurückführen könnte.«

»Also, dann auf nach Birlstone!« rief McDonald von seinem Stuhl auffahrend. »Verdammt! Es ist später geworden, als ich dachte. Ich kann euch beiden Herren höchstens noch fünf Minuten für eure Reisevorbereitungen geben.«

»Für uns ist das reichlich«, sägte Holmes, sprang auf und schlüpfte eiligst aus seinem Schlafrock und in seinen Rock. »Unterwegs, Mr. Mac, werden Sie vielleicht so gut sein und mir alles erzählen, was Sie wissen.«

Dieses alles war, wie sich herausstellte, enttäuschend wenig. Trotzdem ergab sich unzweifelhaft, daß der Fall der sorgfältigsten Bearbeitung eines Meisters wert war. Holmes‘ Gesicht heiterte sich auf, als er, seine dünnen Hände reibend, der mageren, aber ungewöhnlichen Aufzählung der vorliegenden Tatsachen lauschte. Eine lange Reihe stiller Wochen lag hinter uns. Hier endlich fand sich wieder ein Objekt, würdig der erstaunlichen Gaben meines Freundes, die stets nach Handlung drängten und daher ihrem Besitzer unbequem wurden, wenn sich keine Gelegenheit bot, sie auszuüben. Selbst der schärfste Geist stumpft sich durch Untätigkeit ab. Sherlock Holmes‘ Augen funkelten, seine bleichen Wangen übergoß eine wärmere Farbe, sein Gesicht nahm einen durchgeistigten Ausdruck an, wie stets, wenn ihn ein Ruf zur Arbeit erreichte. Den Kopf vorgebeugt, hörte er mit angestrengter Aufmerksamkeit McDonalds kurzer Schilderung der Aufgabe zu, die uns in Birlstone erwartete. Alles, was der Inspektor darüber zur Hand hatte, war, wie er uns erklärte, ein kurzer Bericht, der mit dem frühmorgendlichen Milchzug nach London gesandt worden war. White Mason, das Haupt der Grafschaftspolizei, dem die Untersuchung offiziell unterstand, war einer seiner persönlichen Freunde, weshalb McDonald dessen Benachrichtigung schneller empfing, als sonst geschieht, wenn die Zentrale in Scotland Yard von der Provinzpolizei um Beistand angerufen wird. Der hauptstädtische Detektiv findet meistens schon eine recht kalte Spur vor, wenn er zur Stätte eines Verbrechens gerufen wird.

»Mein lieber Inspektor McDonald«, lautete der Brief, den er uns vorlas. »Die amtliche Anforderung Ihrer Dienste finden Sie unter besonderem Umschlag. Das Folgende ist für Sie privat. Drahten Sie mir, mit welchem Zug Sie morgens in Birlstone eintreffen werden. Ich werde Sie entweder selbst erwarten, oder, wenn meine Zeit dies nicht erlaubt, Sie abholen lassen. Der Fall ist eine Sensation. Zögern Sie nicht einen Moment. Wenn Sie Mr. Holmes mitbringen können, tun Sie es. Er wird die Sache nach seinem Geschmack finden. Man möchte glauben, daß die Geschichte direkt auf einen Bühneneffekt angelegt war, wenn nicht ein Toter in ihrem Mittelpunkt stände. Sie können mir glauben, es ist eine Sensation.«

»Ihr Freund scheint kein Dummkopf zu sein«, bemerkte Holmes.

»Nein, Herr, White Mason hat es in sich, wenn Sie meinem Urteil glauben wollen.«

»Haben Sie sonst noch irgend etwas zu berichten?«

»Nein, er wird uns alles sagen, wenn wir ihn treffen.«

»Es stand aber doch in dem Brief nicht ein Wort von Mr. Douglas und daß er in schrecklicher Weise ermordet wurde. Woher wissen Sie denn das?«

»Das war in dem anliegenden Bericht enthalten. Das Wort ›schrecklich‹ kommt darin allerdings nicht vor; dergleichen kennt die amtliche Ausdrucksweise nicht. Lediglich der Name John Douglas ist angeführt und dazu bemerkt, daß der Tod von einem Kopfschuß herrühre, der aussehe wie von einem Schrotgewehr. Auch ist angeführt, wann das Verbrechen entdeckt wurde, nämlich gestern nahe an Mitternacht. Schließlich steht noch darin, daß es sich zweifellos um Mord handele, daß bisher niemand verhaftet wurde und der Fall einige ungewöhnliche und erstaunliche Eigenarten aufweise. Das ist alles, was uns bisher vorliegt, Mr. Holmes.«

»Wenn Sie gestatten, Mr. Mac, wollen wir es zunächst dabei bewenden lasse». Die Versuchung, sich auf Grund ungenügenden Tatsachenmaterials vorschnelle Ansichten zu bilden, ist eines der größten Übel unseres Berufes. Sicher ist bisher nur das Folgende: das Vorhandensein eines gefährlichen Kopfes in London und eines Toten in Sussex. Alles, was dazwischen liegt, müssen wir noch herausfinden.«

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3. Kapitel. Das Drama von Birlstone.

3. Kapitel. Das Drama von Birlstone.

Nunmehr möchte ich mir erlauben, meine eigene unbedeutende Persönlichkeit im weiteren Verlauf dieser Erzählung auszuschalten und die Ereignisse, die sich vor unserer Ankunft an der Stätte des Mordes abgespielt hatten, so zu schildern, wie sie im Lichte späterer Aufklärung erschienen sind. Dies ist, wie ich glaube, die einzige Art, wie ich den Leser mit den handelnden Personen und der eigenartigen Umgebung, in der sich ihr Schicksal abspielte, vertraut machen kann.

Das Dorf Birlstone liegt am Nordrande der Grafschaft Sussex und besteht aus einer kleinen Gruppe altertümlicher Fachwerkgebäude. Nachdem Jahrhunderte vorübergezogen waren, ohne irgendein Zeichen an dem Dörfchen zu hinterlassen, hatten sich in den letzten Jahren, offenbar von der malerischen Lage angezogen, eine Anzahl wohlhabender Leute, deren Villen aus den umliegenden Wäldern hervorblickten, darin niedergelassen. Diese Wälder sind der äußerste Kranz des großen Weal-Forstes, der sich von dort bis in die nördlichen Kalkdünen erstreckt. Einige kleine Kaufmannsläden traten ins Leben, um den Bedürfnissen der vermehrten Bevölkerung Rechnung zu tragen, und es hat fast den Anschein, als ob sich Birlstone aus einem altehrwürdigen Anscheinend verfügte er über reichliche Geldmittel, die, wie man sagte, aus den kalifornischen Goldfeldern stammten. Aus Gesprächen mit ihm und Andeutungen, die seine Frau fallen ließ, ging klar und deutlich hervor, daß er einen Teil seines Lebens in Amerika verbracht hatte. Der gute Eindruck, den er durch seine Freigebigkeit und seine leutseligen Manieren erweckt hatte, wurde noch erhöht durch den Ruf vollkommenster Furchtlosigkeit. Obgleich ein miserabler Reiter, ließ er es sich nicht entgehen, an jeder Fuchsjagd teilzunehmen, und er hatte bereits eine Anzahl schwerer Stürze erlitten in seinem zähen Bemühen, es den Besten gleichzutun. Als im Pfarrhaus einmal ein Brand ausbrach, zeichnete er sich durch den Mut aus, mit dem er in das brennende Gebäude eindrang, um Einrichtungsgegenstände zu retten, nachdem die Ortsfeuerwehr dies bereits als unmöglich aufgegeben hatte. Auf diese Weise war es gekommen, daß John Douglas, der Besitzer des Herrenhauses, sich in den fünf Jahren seines Aufenthaltes in Birlstone zu einer weithin und bestens bekannten Persönlichkeit gemacht hatte.

Auch seine Frau war bei allen, die sie genauer kannten, sehr beliebt. Sicher gab es allerdings, angesichts der dem Engländer eigenen scheuen Reserve gegenüber Fremden, die sich, ohne über gute Empfehlungen zu verfügen, auf dem Lande niederlassen, nicht sonderlich viele. Daran schien ihr indessen nicht im mindesten zu liegen, denn ihr Wesen neigte nicht zur Geselligkeit, und sie ging ganz in ihren ehelichen und hausfraulichen Pflichten auf. Man wußte von ihr nur, daß sie Engländerin war und Douglas, der damals Witwer war, in London kennengelernt hatte. Sie war eine Schönheit, hoch und schlank gewachsen, dunkel, etwa zwanzig Jahre jünger als ihr Mann, ein Altersunterschied, der in keiner Nacht des 6. Januar abspielten, in keinerlei Beziehung getreten.

Es war um ¾12 Uhr nachts, als die Nachricht von dem Verbrechen im Polizeibüro des Dorfes, das unter der Leitung des Sergeanten Wilson von der Sussex-Polizei stand, einlief. Mr. Cecil Barker war es, der in höchster Aufregung auf die Tür des Polizeibüros zugestürzt kam und heftig klingelnd Einlaß begehrte. Ein schreckliches Drama habe sich im Herrenhaus abgespielt, Mr. John Douglas sei ermordet worden. Das war der Inhalt der atemlos hervorgestoßenen Nachricht. Er eilte wieder zum Hause zurück, wohin ihm einige Minuten später der Sergeant folgte, nachdem er schnell seine vorgesetzte Behörde in Kenntnis gesetzt hatte, daß etwas Ernstliches vorgefallen sei. Sergeant Wilson traf einige Minuten nach 12 Uhr auf der Stätte des Mordes ein.

Als er das Herrenhaus erreichte, fand er die Zugbrücke heruntergelassen, die Fenster erleuchtet und den ganzen Haushalt in einem Zustand wildester Aufregung und größten Schreckens. Die Dienerschaft bildete mit bleichen Gesichtern eine Gruppe in der Halle; Ames stand händeringend im Torweg. Nur Cecil Barker schien Herr seiner Gefühle und Handlungen zu sein. Er öffnete die dem Eingang zunächst liegende Tür und winkte dem Sergeanten, ihm zu folgen. In diesem Augenblick traf auch Dr. Wood, der energische und tüchtige Arzt des Dorfes ein. Die drei Männer betraten das Schreckensgemach zu gleicher Zeit. Ames, der noch an allen Gliedern bebte, folgte ihnen und schloß die Tür, um dem draußenstehenden weiblichen Dienstpersonal den schauerlichen Anblick, der sich bot, zu entziehen.

Der Tote lag auf dem Rücken, ungefähr in der Mitte des Zimmers, alle Glieder von sich gestreckt. Er war nur mit einem Nachtanzug und einem rosafarbigen Schlafrock bekleidet. Seine bloßen Füße steckten in Pantoffeln. Der Arzt kniete neben ihm nieder und beleuchtete ihn mit der Handlampe, die auf dem Tisch stand. Ein Blick auf das Opfer genügte dem Mann der ärztlichen Wissenschaft, um zu erkennen, daß hier jede weitere Mühe vergeblich war. Der Tote war entsetzlich entstellt. Quer über seiner Brust lag eine sonderbare Waffe, ein Schrotgewehr, dessen Läufe etwa 30 cm, von den Drückern an gemessen, abgesägt waren. Es lag auf der Hand, daß das Gewehr aus nächster Nähe abgefeuert worden war, denn der Tote hatte die ganze Ladung ins Gesicht bekommen, wobei sein Kopf förmlich zertrümmert worden war. Die zwei Drücker waren mit Draht verbunden, um beide Läufe gleichzeitig abfeuern zu können und dadurch die entsetzliche Wirkung noch zu erhöhen. Der Dorfpolizist war völlig entnervt von dem Anblick und in größter Sorge über die Verantwortung, die unvermutet auf seine Schultern gefallen war.

»Wir wollen nichts anrühren, bis meine Vorgesetzten hier sind«, sagte er mit halblauter Stimme, den entsetzlich verstümmelten Kopf des Toten schaudernd anstarrend.

»Nichts ist berührt worden,« sagte Cecil Barker, »dafür stehe ich ein. Sie sehen alles so, wie ich es vorgefunden habe.«

»Wann war das?« Der Sergeant hatte sein Notizbuch hervorgezogen und hielt den Bleistift in Bereitschaft.

»Genau um ½12. Ich war noch vollständig angekleidet und saß am Kaminfeuer in meinem Schlafzimmer, als der Schuß ertönte. Er klang nicht sonderlich laut, eher gedämpft. Darauf stürzte ich hinunter. Ich glaube nicht, daß mehr als dreißig Sekunden verflossen waren, bis ich hier ankam.«

»War die Tür offen?«

»Jawohl, sie war offen. Der arme Douglas lag genau so da, wie Sie ihn jetzt sehen. Seine Schlafzimmerkerze stand brennend auf dem Tisch. Ich war es, der sie auslöschte und die Lampe anzündete.«

»Haben Sie irgend jemanden gesehen?«

»Nein, ich hörte Mrs. Douglas hinter mir die Treppe herabkommen und eilte ihr entgegen, um sie daran zu hindern, sich dem entsetzlichen Anblick auszusetzen. Dann kam Frau Allen, die Haushälterin, und führte sie hinweg. Auch Ames war unterdessen angelangt, und ich ging mit ihm wieder in das Zimmer zurück.«

»Die Zugbrücke wird doch, wie ich höre, jeden Abend aufgezogen?«

»Jawohl, sie war auch aufgezogen. Ich habe sie wieder heruntergelassen.«

»Wie war es dann aber möglich, daß der Mörder entkommen konnte? Es steht ganz außer Frage: Mr. Douglas muß sich selbst erschossen haben.«

»Das war auch unser erster Gedanke, aber hier, sehen Sie einmal!« Barker zog den Vorhang beiseite und enthüllte das lange, mit rhombischen Scheiben versehene Fenster, das in voller Breite offen stand. »Und hier, sehen Sie dies an.« Er nahm die Lampe und beleuchtete, das Fensterbrett auf dem sich Spuren einer Fußsohle mit Blut vermischt abhoben. »Jemand hat hier gestanden, um hinauszugelangen.«

»Sie meinen also, daß der Betreffende den Festungsgraben durchwatet hat?«

»Sehr richtig.«

»Wenn Sie also innerhalb einer halben Minute nach dem Schuß im Zimmer waren, muß sich der Mann gerade zu der Zeit im Wasser befunden haben.«

»Ich zweifle nicht daran. Wollte Gott, daß ich zum Fenster gesprungen wäre. Aber es war hinter dem Vorhang verborgen, so wie Sie es sahen und ist mir daher nicht in den Sinn gekommen. Dann hörte ich den Schritt von Mrs. Douglas, und es mußte natürlich meine Aufgabe sein, zu verhindern, daß sie in das Zimmer kam. Es wäre zu schrecklich gewesen.«

»Schrecklich ist nicht zuviel gesagt«, bemerkte der Doktor, der den zerschmetterten Kopf und den grauenerregenden Zustand der unmittelbaren Umgebung betrachtete. »Ich habe seit dem großen Eisenbahnunglück in Birlstone keine so fürchterlichen Verletzungen gesehen.«

»Sagen Sie mir bitte,« bemerkte der Polizeibeamte, dessen ländliches, langsam denkendes Gehirn sich noch immer mit dem offenen Fenster beschäftigte, »es ist alles recht gut und schön, was Sie da sagen von dem Mann, der den Festungsgraben durchwatet hat und dadurch entkommen ist, aber, und das möchte ich Sie hiermit fragen, wie kann er überhaupt ins Haus gekommen sein, wenn die Brücke aufgezogen war?«

»Das möchte ich auch wissen«, sagte Barker.

»Um wieviel Uhr wurde sie aufgezogen?«

»Es ging gerade auf sechs«, bemerkte Ames.

»Ich habe gehört,« sagte der Sergeant, »daß dies gewöhnlich um Sonnenuntergang herum geschieht. Das wäre um diese Jahreszeit eher etwa um halb fünf als sechs.«

»Frau Douglas hatte Besuch zum Tee«, antwortete Ames. »Ich konnte die Brücke nicht gut aufziehen, bevor die Besucher gegangen waren.«

»Die Sache ist also die,« meinte der Sergeant, »wenn irgend jemand von außen hereingekommen ist, – wenn, sage ich, – so muß dies schon vor sechs geschehen sein, und der Betreffende muß sich dann versteckt gehalten haben, bis Mr. Douglas nach elf das Zimmer betrat.«

»So ist es. Mr. Douglas machte jede Nacht vor dem Schlafengehen eine Runde durch das Haus, um zu sehen, ob alle Lichter ausgemacht seien. Zu diesem Zweck ist er auch hierher gekommen. Der Mann hat hier gewartet und ihn niedergeschossen, dann machte er sich durch das Fenster davon, ließ aber sein Gewehr zurück. Das ist meine Ansicht von der Sache, – die einzige, die mir auf Grund der vorliegenden Tatsachen möglich erscheint.«

Der Sergeant hob eine Karte auf, die neben dem Toten auf dem Fußboden lag. Darauf befanden sich nur zwei Buchstaben V V mit der Zahl 341 darunter, grob mit Tinte geschrieben.

»Was ist das?«, fragte er, indem er die Karte hochhielt.

Barker betrachtete sie neugierig.

»Die Karte ist mir noch gar nicht aufgefallen«, sagte er. »Die muß der Mörder hinterlassen haben.«

»V V 341, was kann das wohl bedeuten?«

Der Sergeant drehte sie mit seinen dicken Fingern von einer zur anderen Seite.

»Was ist V V? Jemandes Anfangsbuchstaben wahrscheinlich. Und was haben Sie da, Dr. Wood?«

Es war ein ziemlich großer Hammer, der auf dem Teppich vor dem Kaminfeuer gelegen hatte, ein kräftiges, solides Handwerkszeug. – Cecil Barker wies auf eine Schachtel mit Messingnägeln, die auf dem Kaminsims stand.

»Mr. Douglas hat gestern einige Bilder umgehängt«, sagte er. »Ich sah ihn auf jenem Stuhl stehen und das darüberhängende Bild befestigen. Daher wohl der Hammer.«

»Wir wollen ihn lieber auf den Teppich zurücklegen, wo wir ihn gefunden haben«, bemerkte der Sergeant und kratzte sich verlegen den Kopf. »Wenn wir der Sache auf den Grund kommen wollen, brauchen wir die klügsten Köpfe, die wir in der Polizei haben. Das wird ein Fall für die Londoner Herren werden, denke ich mir.« Er nahm die Handlampe auf und wandelte damit langsam durch das Zimmer. »Hallo!« rief er aufgeregt, indem er den Vorhang zur Seite zog. »Um wieviel Uhr wurden diese Vorhänge zugezogen?«

»Als wir die Lampen anzündeten«, antwortete Ames. »Das wird ungefähr um vier Uhr gewesen sein.«

»Hier hat sich jemand versteckt gehalten, das ist sicher.« Er hielt das Licht zu Boden, wodurch die Spuren schmutziger Stiefel sichtbar wurden. »Das stimmt mit Ihrer Theorie überein, Mr. Barker. Es sieht so aus, als ob der Mann nach vier Uhr, als die Vorhänge bereits zugezogen waren, und vor sechs Uhr, bevor die Zugbrücke aufgezogen wurde, ins Haus gelangte. Er schlüpfte in dieses Zimmer, weil es das erste war, das er sah. Da kein anderer Platz da war, wo er sich verstecken konnte, hat er sich hier hinter diesen Vorhang gedrückt. Das ist alles ganz klar. Wahrscheinlich war es ihm darum zu tun, zu stehlen, aber Mr. Douglas hat ihn zufällig gesehen, worauf der Mann ihn niederschoß und dadurch entwischen konnte.«

»So stelle auch ich mir die Sache vor«, sagte Barker. »Aber meinen Sie nicht, daß wir kostbare Zeit verlieren. Sollten wir nicht hinaus und die Gegend absuchen, bevor der Mann entweichen kann?«

Der Sergeant dachte eine zeitlang nach.

»Vor sechs Uhr morgens geht kein Zug mehr. Auf diese Weise kann er also nicht entfliehen. Wenn er in seinen nassen Kleidern über die Landstraße marschiert, wird er sicherlich jemandem auffallen, überhaupt kann ich mich von hier nicht wegrühren, bevor ich nicht abgelöst werde. Trotzdem bin ich der Meinung, daß ein paar Leute die Spur aufnehmen sollten, bis wir soweit sind, klarer zu sehen.«

Der Doktor hatte die Lampe ergriffen und untersuchte den Körper des Toten.

»Was ist das für ein Zeichen?« fragte er. »Könnte das eine Beziehung zu dem Verbrechen haben?«

Der rechte Arm des Toten stak, bis zum Ellbogen entblößt, aus dem Schlafrock heraus. Ungefähr in der Mitte des Unterarms befand sich ein sonderbares braunes Mal, ein Dreieck innerhalb eines Kreises, das sich von der milchweißen Haut in scharfem Kontrast abhob.

»Es ist keine Tätowierung«, sagte der Doktor, indem er es durch seine Gläser betrachtete. »Ich sah niemals etwas Dergleichen. Der Mann ist einmal mit einem Brand gezeichnet worden, so wie man Vieh brandet. Was halten Sie davon?«

»Ich habe keine Idee, was es bedeutet, aber ich habe das Brandzeichen an Douglas während der letzten zehn Jahre häufig bemerkt.«

»Auch ich«, sagte Ames, der Diener. »Oftmals, wenn sich der gnädige Herr die Hemdärmel aufgekrempelt hat, habe ich das Zeichen beobachtet und war begierig zu wissen, was es bedeuten könne.«

»Dann hat es also mit dem Verbrechen nichts zu tun«, sagte der Polizeibeamte. »Aber merkwürdig ist es trotzdem. Alles in dieser Geschichte ist merkwürdig. Nun was gibt’s schon wieder?«

Der Diener hatte einen Ausruf der Verwunderung ausgestoßen, indem er auf die ausgestreckte Hand des Toten wies. »Sie haben seinen Ehering genommen«, stieß er hervor.

»Was!«

»Jawohl, tatsächlich. Der gnädige Herr hat immer einen einfachen goldenen Trauring auf dem kleinen Finger der linken Hand getragen. Dieser Ring da, mit dem Goldklümpchen darauf, stak darüber und jener mit der gewundenen Schlange am dritten Finger. Der mit dem Goldklümpchen ist da und auch der Schlangenring, aber der Ehering fehlt.«

»Stimmt«, sagte Barker.

»Wollen Sie damit sagen,« fragte der Sergeant, »daß der Ehering hinter dem anderen saß?«

»Immer!«

»Dann muß also der Mörder, wer immer er war, zuerst den einen Ring abgezogen haben, den Sie den Goldklümpchen-Ring nennen und hinterher den Ehering, und dann den ersteren wieder aufgesteckt haben.«

»So ist es.«

Der ehrenwerte Dorfpolizist schüttelte den Kopf.

»Es scheint mir, je schneller wir London an die Sache bekommen, desto besser. White Mason ist sicherlich ein kluger Mann, kein Provinzfall war ihm jemals zu viel. Es wird nicht mehr lange dauern, bis er hier ist und uns helfen kann. Aber ich glaube, wir werden auch die Londoner Herren brauchen. Jedenfalls schäme ich mich nicht, zu sagen, daß so etwas für unser einen zu hoch ist.«

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4. Kapitel. In der Dunkelheit.

4. Kapitel. In der Dunkelheit.

Um drei Uhr morgens traf der oberste Beamte der Grafschafts-Polizei auf den dringenden Anruf des Sergeanten Wilson, in einem leichten Dogcart, das von einem dampfenden Traber gezogen wurde, auf der Stätte des Mordes ein. Mit dem Zug um 5.40 Uhr morgens schickte er seine Nachricht an Scotland Yard in London und war um zwölf Uhr am Bahnhof in Birlstone, um uns zu erwarten.

Mr. White Mason war ein ruhiger, gemütlich aussehender Mensch, in losem Tweedanzug, mit glattrasiertem, sonnengebräunten Gesicht, etwas beleibt. Seine mächtigen O-Beine steckten in Gamaschen, die ihm das Aussehen eines kleinen Grundbesitzers oder eines pensionierten Forstbeamten, jedenfalls aber nicht das der weniger beliebten Gattung des Provinzdetektivs verliehen.

»Eine richtiggehende Sensation, sage ich Ihnen, Mr. McDonald«, wiederholte er in einem fort. »Es wird hier von Reportern wimmeln, wenn die Sache ruchbar wird. Ich will nur wünschen, daß wir mit unserer Arbeit zu Ende sind, bevor die Zeitungsmenschen ihre Nasen hineinstecken und uns alle Spuren ruinieren. Etwas Ähnliches habe ich noch nicht erlebt. Verschiedene Punkte sind auch für Sie da, Mr. Holmes, wenn ich mich nicht täusche, und auch für Sie, Mr. Watson, denn die Herren Ärzte werden noch ein gewichtiges Wort mitzusprechen haben, bevor wir durch sind. Ich habe für Sie ein Zimmer im Dorfgasthaus bestellt, dem einzigen, das es gibt. Kommen Sie, meine Herren, wenn ich bitten darf.«

Er war ein sehr geschäftiger und gesprächiger Mann, dieser Provinzdetektiv. In zehn Minuten befanden wir uns alle in unserem Quartier. In weiteren zehn saßen wir im Salon des Gasthofes und empfingen eine kurze Schilderung der Ereignisse, die im vorangegangenen Kapitel beschrieben sind. McDonald machte sich gelegentlich eine Notiz, während Holmes mit dem Ausdruck überraschter und andächtiger Bewunderung dasaß, etwa wie der Botaniker, der eine seltene und kostbare Blume betrachtet.

»Bemerkenswert«, sagte er, als die Schilderung zu Ende war. »Höchst bemerkenswert. Ich kann mich kaum an einen Fall erinnern, der solche Eigenarten aufwies.«

»Ich dachte mir, daß Sie das sagen würden, Mr. Holmes«, meinte White Mason höchst erfreut. »Wir hier in Sussex sind auf der Höhe der Zeit. Ich habe Ihnen nun erzählt, wie ich die Sache vorgefunden habe, als ich sie von Sergeant Wilson zwischen drei und vier des Morgens übernahm. Donnerwetter, habe ich meine alte Mähre in Schwung gebracht. Aber diese Eile war höchst überflüssig, wie sich hinterher herausstellte, denn es gab für mich tatsächlich nichts weiter zu tun. Sergeant Wilson hatte bereits den ganzen Tatbestand aufgenommen. Ich bin ihm durchgegangen, habe mir alles überdacht und habe vielleicht noch ein paar Kleinigkeiten zugefügt.«

»Welche?«

»Also, in erster Linie ließ ich den Hammer untersuchen. Dr. Wood half mir dabei. Wir fanden nicht das geringste Merkmal eines Schlages gegen einen menschlichen Körper daran. Ich hatte gehofft, daß, wenn sich Mr. Douglas mit dem Hammer verteidigt hatte, Spuren an dem Werkzeug zurückgeblieben sein würden. Aber wir konnten keinen Blutfleck daran entdecken.«

»Das beweist natürlich nicht das geringste«, bemerkte Inspektor McDonald. »Viele Leute sind schon mit einem Hammer ermordet worden, ohne daß diesem etwas anzusehen war.«

»Sehr richtig, es beweist nicht, daß der Hammer nicht gebraucht worden ist, aber es hätte sein können, daß Spuren zu sehen waren, das wäre für uns ein wertvoller Anhaltspunkt gewesen. Wie dem auch sei, die Untersuchung hat zu nichts geführt. Dann untersuchte ich die Flinte. Sie war mit Rehpfosten geladen gewesen und, worauf schon Sergeant Wilson hingewiesen hatte, die Drücker waren in der Weise miteinander verbunden, daß beide Läufe gleichzeitig losgingen, wenn man den hinteren abzog. Wer das bewerkstelligt hat, war fest entschlossen, seinem Opfer keine Chance eines Davonkommens zu geben. Die abgesägte Flinte war nur etwa 60 Zentimeter lang. Man kann sie bequem unter dem Rock tragen. Der Name des Fabrikanten war unvollständig, man konnte nur die Silbe ›Pen‹ auf der Rille zwischen den beiden Läufen lesen; das übrige war offenbar auf dem abgesägten Teil.«

»Ein großes ›P‹ mit einem Schnörkel darüber und dann e und n etwas kleiner?« fragte Holmes.

»Sehr richtig.«

»Pennsylvania Small Arms Co., eine wohlbekannte amerikanische Firma«, erklärte mein Freund.

White Mason blickte ihn mit ebensolcher Ehrfurcht an, wie etwa der Dorfarzt einen Universitätsprofessor, der durch ein Wort Schwierigkeiten löst, die für jenen eine unübersteigbare Mauer bilden.

»Ausgezeichnet, Mr. Holmes! Sie haben Recht, ohne Zweifel. Wundervoll, wundervoll! Sagen Sie, haben Sie die Namen aller Waffenfabriken der ganzen Welt im Kopf?«

Holmes machte eine abwehrende Bewegung.

»Zweifellos ist es eine amerikanische Flinte«, fuhr White Mason fort. »Ich glaube irgendwo gelesen zu haben, daß abgeschnittene Schrotflinten in Amerika sehr gebräuchlich sind. Ich dachte schon daran, unabhängig von dem Namen auf dem Lauf. Wir können dies als einen Beweis auffassen, daß der Mann, der sich in das Haus geschlichen und den Hausherrn getötet hat, ein Amerikaner ist.«

McDonald schüttelte den Kopf.

»Mensch, halten Sie Ihre Gedanken im Zaum«, sagte er. »Wir haben noch gar keinen Beweis, daß sich überhaupt jemand ins Haus geschlichen hat.«

»So! Und das offene Fenster, das Blut am Fensterbrett, die sonderbare Karte, die Fußspuren in der Ecke, die Flinte, ist das gar nichts?«

»Es ist nichts, was nicht auch absichtlich hätte inszeniert werden können. Mr. Douglas war Amerikaner oder hat lange in Amerika gelebt, desgleichen Mr. Barker. Sie brauchen nicht erst einen Amerikaner von außen zu importieren, um eine Erklärung für amerikanische Vorkommnisse im Hause zu haben.«

»Ames, der Diener, –«

»Was ist’s mit ihm? Ist er zuverlässig?«

»Er war zehn Jahre bei Sir Charles Chandos. Er ist unbedingt einwandfrei. Hier bei Douglas war er während der ganzen fünf Jahre, die dieser das Haus bewohnt hat. Er sagte mir, daß er niemals eine Flinte dieser Art im Hause bemerkt hat.«

»Die Flinte ist leicht zu verstecken und offenbar auch dazu bestimmt; darum die abgesägten Läufe. Sie geht in jede größere Schachtel. Wie kann er mit Bestimmtheit sagen, daß keine solche Flinte im Hause war.«

»Jedenfalls hat er keine gesehen.«

McDonald schüttelte seinen störrischen Kopf.

»Ich bin gar nicht überzeugt, daß jemand von außen ins Haus gekommen ist«, sagte er. »Überlegen Sie sich einmal, was es bedeuten würde, wenn tatsächlich jemand die Flinte ins Haus gebracht hätte und alle diese sonderbaren Dinge von einer Außenperson verübt worden wären. Mensch, es ist geradezu undenkbar. Es widerspricht jeder gesunden Logik. Was ist Ihre Meinung, Mr. Holmes, nach dem, was wir bisher gehört haben?«

»Zunächst legen Sie uns einmal den Fall dar, Mr. Mac«, sagte Holmes im Tone des Untersuchungsrichters.

»Der Mann war kein Einbrecher, wenn wir schon annehmen, daß ein solcher Mann überhaupt existiert hat. Die Sache mit dem Ring und die Karte deuten auf persönliche Motive hin. Nun gut. Denken wir uns einen Mann, der sich in das Haus schleicht mit dem bestimmten Vorsatz, jemanden umzubringen. Er weiß und mußte wissen, daß für ihn ein Entrinnen äußerst schwierig ist, weil das Haus ringsum von Wasser umgeben ist. Was für eine Waffe würde er verwenden? Ich würde sagen, die geräuschloseste, die es gibt, denn er mußte doch trachten, nach vollbrachter Tat Zeit zu gewinnen, um aus dem Fenster zu steigen, den Wassergraben zu durchwaten und sich auf der anderen Seite davonmachen zu können. Das wäre verständlich. Aber es ist nicht verständlich, daß er etwas so Ausgefallenes tun würde, eine Waffe zu wählen, die nach menschlichem Ermessen jeden Hausbewohner in kürzester Zeit zur Stelle bringen würde, bevor er den Wassergraben durchqueren konnte. Halten Sie das für logisch, Mr. Holmes?«

»Ich muß sagen,« antwortete mein Freund nachdenklich, »Sie haben starke Gründe für sich. Sicherlich wäre die Erklärung einer solchen Handlungsweise nicht ganz einfach. Darf ich Sie fragen, Mr. White Mason, ob Sie den Boden auf der anderen Seite des Wassergrabens untersucht haben und Spuren eines Menschen, der aus dem Wasser gestiegen war, entdeckten?«

»Nicht das geringste von Spuren, Mr. Holmes. Die Böschung ist gepflastert, und wir konnten natürlich nichts anderes erwarten.«

»Keinerlei Anzeichen irgendwelcher Art?«

»Keine.«

»Haben Sie etwas dagegen, Mr. White Mason, wenn wir jetzt zum Haus hinuntergehen? Vielleicht finden wir noch irgend etwas, das uns einen Anhaltspunkt bieten könnte.«

»Das wollte ich soeben vorschlagen, Mr. Holmes. Ich habe es nur für ratsam gehalten, Ihnen zuerst alles mitzuteilen, was ich weiß. Ich denke mir, daß, wenn Sie irgend etwas finden, –« White Mason betrachtete den Amateurdetektiv zweifelnd.

»Ich habe mit Mr. Holmes schon öfter gearbeitet,« sagte Inspektor McDonald, »man kann sich auf ihn verlassen.«

»Wenigstens soweit, als ich dies für notwendig erachte«, bemerkte Holmes lächelnd. »Wenn ich mich je von der Seite der Polizei getrennt habe, so geschah dies, weil sie sich von mir trennte. Ich arbeite, um der Polizei und der Rechtspflege zu nützen. Es liegt mir nicht das geringste daran, einen Triumph auf deren Kosten einzuheimsen. Dagegen beanspruche ich für mich, Mr. White Mason, auf meine eigene Weise vorgehen und was ich finde, zu der Zeit preisgeben zu dürfen, die ich für die geeignete halte, – vollständig und nicht ratenweise.«

»Ihre Mitwirkung ehrt uns sehr, das kann ich Ihnen versichern, Mr. Holmes, und wir werden Ihnen gern alles zur Verfügung stellen, was wir wissen«, erklärte White Mason herzlich. »Kommen Sie, Dr. Watson, wir hoffen alle noch in Ihr Buch zu kommen.«

Wir schritten die wunderliche, auf beiden Seiten von gestutzten Ulmen eingefaßte Dorfstraße entlang. Jenseits sahen wir zwei altertümliche Steinpfeiler, verwittert und mit Flechten besät, die oben ein unbestimmtes Etwas, das einmal der Wappenlöwe der Capus von Birlstone gewesen sein mochte, trugen. Dann folgte ein kurzer gewundener Weg zwischen Wiesen, flankiert von Eichen, wie man sie nur im ländlichen England findet. Nach einer unvermittelten Wendung lag das langgestreckte, niedrige Haus aus der jakobinischen Periode mit seinem dunkelbraunen Ziegelmauerwerk, umgeben von seinem altmodischen Garten mit zahlreichen beschnittenen Eibenbäumen vor uns. Als wir uns näherten, gewahrten wir die hölzerne Zugbrücke und den schönen breiten Festungsgraben, in dem das stille Wasser wie Quecksilber in dem kalten Wintersonnenschein glitzerte. Drei Jahrhunderte waren an dem alten Herrenhaus vorbeigezogen, Jahrhunderte, die viele Menschen darin geboren werden, ausziehen und wiederkehren sahen, Jahrhunderte, erfüllt von Lustbarkeiten und ländlich-sportlichem Zeitvertreib. Es war ein eigenartiges Verhängnis, daß jetzt, in seinen alten Tagen, der Schatten dieses düsteren Ereignisses auf seine ehrwürdigen Mauern fallen mußte. Und doch bildeten diese sonderbar gegiebelten Dächer, mit ihren altmodischen, wunderlichen Vorsprüngen, die stimmungsvolle Bedachung eines ernsten, schrecklichen Geschehnisses. Als ich die tief eingelassenen Fenster und die lang hingestreckte, dunkle, vom Wasser bespülte Fassade sah, kam mir zum Bewußtsein, daß kaum ein passenderes Milieu für ein solches Drama denkbar war.

»Das ist das Fenster,« sagte White Mason, »jenes, unmittelbar zur Rechten der Zugbrücke. Wir haben es offen gelassen, genau wie wir es gestern abend fanden.«

»Es sieht etwas schmal aus für einen erwachsenen Mann.«

»Nun, er kann eben nicht besonders beleibt gewesen sein. Wir brauchen nicht Ihre Schlußfolgerungen, Mr. Holmes, um das zu wissen. Aber jeder von uns beiden könnte sich leicht durchzwängen.«

Holmes schritt bis an den Rand des Festungsgrabens und blickte nach der anderen Seite hinüber. Dann untersuchte er die steinerne Böschung und deren Graseinfassung.

»Ich habe mich schon genau umgesehen, Mr. Holmes,« sagte White Mason, »es ist nichts da; nicht das geringste deutet darauf hin, daß einer da herausgestiegen ist. Aber wie könnte er auf den Steinen eine Spur hinterlassen?«

»Sehr richtig, wie könnte er. Ist das Wasser immer trübe?«

»Gewöhnlich hat es diese Färbung. Der Zufluß macht es so lehmig.«

»Wie tief ist es?«

»Ungefähr zwei Fuß am Rand und drei in der Mitte.«

»Wir können demnach dem Gedanken, daß der Mann vielleicht darin ertrunken ist, außer acht lassen.«

»Sicherlich, nicht einmal ein Kind könnte darin ertrinken.«

Wir gingen dann über die Zugbrücke und wurden an der Eingangstür von einem wunderlichen, verschrumpften Männchen, dem Diener Ames, in Empfang genommen. Er war noch immer blaß und zitterte am ganzen Leibe in Erinnerung an den ausgestandenen Schrecken. Der Polizeibeamte des Dorfes, ein großer, ernst und gewissenhaft aussehender Mensch, hielt noch Wache in dem Totengemach. Der Arzt war schon fortgegangen.

»Etwas Neues, Sergeant Wilson?« fragte White Mason.

»Nein, Herr.«

»Dann können Sie nach Hause gehen, Sie haben schon genug getan. Wenn wir Sie brauchen, werden wir nach Ihnen schicken. Der Diener soll lieber draußen warten. Sagen Sie ihm, er soll Mr. Cecil Barker, Frau Douglas und die Haushälterin verständigen, sich bereitzuhalten, weil wir einiges mit ihnen zu besprechen haben. Nun, meine Herren, möchte ich mir gestatten, Ihnen die Ansicht, die ich mir gebildet habe, auseinanderzusetzen. Dann wird es an Ihnen sein, sich Ihre Meinungen zu bilden.«

Er gefiel mir, dieser provinzielle Spezialist. Er hatte ein klares Auge für Tatsachen und einen kühlen, praktischen Kopf, der ihn in seinem Berufe ein gutes Stück vorwärts bringen mußte. Holmes hörte ihm aufmerksam zu, ohne ein Zeichen jener Ungeduld, die beamtete Detektive so oft in ihm erregten.

»Ist es Selbstmord oder Mord – das ist unsere erste Frage, meine Herren. Wenn es Selbstmord wäre, müßten wir als erwiesen ansehen, daß der Mann damit begonnen hat, seinen Ehering abzulegen und ihn zu verbergen; daß er, der in einem Schlafrock herunterkam, mit schmutzigen Stiefeln in jener Ecke hinter dem Vorhang herumtrampelte, um vorzutäuschen, daß hier jemand auf ihn gelauert hat; daß er das Fenster öffnete, Blutspuren auf dem –«

»Diesen Gedanken wollen wir als erledigt betrachten«, sagte Holmes.

»Das ist auch meine Meinung. Selbstmord steht außer Frage. Dann war es also Mord. In diesem Falle müssen wir uns darüber klar werden, ob er von jemandem aus dem Hause oder von einem Außenstehenden verübt wurde.«

»Nun gut, lassen Sie uns weiterhören.«

»Es gibt eine Reihe von Umständen, die gegen beide Möglichkeiten sprechen, und trotzdem muß eine davon die richtige sein. Wir wollen zunächst annehmen, daß das Verbrechen von einem Hausbewohner begangen wurde. Es geschah in einer Zeit, als zwar alles schon in tiefster Ruhe lag, aber trotzdem noch niemand schlief. Dann benutzte der Mörder eine der eigenartigsten und geräuschvollsten Waffen, die es gibt, gerade so, als ob er es darauf angelegt hätte, das ganze Haus so rasch als möglich zusammenzutrommeln; und zwar eine Waffe, die noch niemand im Hause vorher gesehen hat. Das klingt nicht wahrscheinlich.«

»So ist es.«

»Wir dürfen es als feststehend annehmen, daß kaum eine Minute verging, nachdem der Schuß gefallen war, bis sich die gesamten Hausbewohner – keineswegs Mr. Cecil Barker allein, obgleich er angibt, der erste gewesen zu sein, sondern auch Ames und alle anderen – an der Mordstelle versammelten. Will irgend jemand behaupten, daß in dieser kurzen Zeit die schuldige Person Fußspuren in der Ecke machen, das Fenster öffnen, das Fensterbrett mit Blut beschmieren, den Ehering von dem Finger des Toten abziehen und alles übrige tun konnte? Das ist ganz unmöglich.«

»Was Sie da sagen, ist ganz klar«, sagte Holmes. »Ich bin geneigt, mich Ihrer Meinung anzuschließen.«

»Nun also, dann müssen wir wieder zu der ersten Annahme zurückkehren, nämlich, daß die Tat von einer Außenperson verübt wurde. Auch hier stehen wir schwerwiegenden Bedenken gegenüber, aber keinen Unmöglichkeiten mehr. Der Mann ist zwischen ½5 und 6 Uhr, also während der Dämmerung und bevor die Zugbrücke aufgezogen wurde, ins Haus gelangt. Es waren Gäste da, die Eingangstür war offen. Es war also nicht schwierig, sich einzuschleichen. Der Mann war entweder ein ganz gewöhnlicher Einbrecher oder jemand, der eine persönliche Angelegenheit mit Mr. Douglas austragen wollte. Da Mr. Douglas einen großen Teil seines Lebens in Amerika zugebracht hat, und diese Flinte amerikanischer Herkunft ist, würde ich die letztere Annahme für die wahrscheinlichere halten. Er schlich sich in dieses Zimmer, weil es das nächstgelegene war, und verbarg sich hinter dem Vorhang. Dort verblieb er bis nach 11 Uhr abends. Zu jener Zeit betrat Mr. Douglas das Zimmer. Die Unterredung kann nur ganz kurz gewesen sein, wenn überhaupt eine stattgefunden hat, denn Mrs. Douglas erklärt, daß ihr Mann sie kaum ein paar Minuten verlassen hatte, als sie den Schuß hörte.«

»Auch die Kerze deutet darauf hin«, sagte Holmes.

»Sehr richtig, die Kerze, die ganz frisch war, ist kaum einen halben Zoll heruntergebrannt. Er muß sie auf den Tisch gestellt haben, bevor er angegriffen wurde, sonst würde sie natürlich zu Boden gefallen sein. Dies würde besagen, daß er nicht sofort nach seinem Eintritt überfallen wurde. Als Mr. Barker kam, zündete er die Lampe an und löschte die Kerze aus.«

»Das ist einleuchtend.«

»Nun also, dann wollen wir uns den Vorgang auf dieser Grundlage rekonstruieren. Mr. Douglas tritt in das Zimmer und stellt die Kerze auf den Tisch. Ein Mann kommt hinter dem Vorhang hervor, mit dieser Flinte bewaffnet. Er verlangt den Ehering, – der Himmel weiß allein, warum, aber er muß es getan haben. Mr. Douglas gibt ihn ab. Dann hat der Mann entweder kaltblütig, oder im Verlauf eines Kampfes – Douglas hat vielleicht den Hammer ergriffen, den wir auf dem Boden liegen sahen, – Douglas auf diese entsetzliche Weise getötet. Er ließ sein Gewehr fallen und anscheinend auch diese wunderliche Karte V V 341, – was das bedeutet, wissen wir nicht. Er sprang aus dem Fenster und durchquerte den Festungsgraben, gerade als Cecil Barker das Verbrechen entdeckte. Wie wäre das, Mr. Holmes?«

»Sehr interessant, aber nicht sonderlich überzeugend.«

»Mann, ich würde es unbedingt für Unsinn halten, wenn nicht alles andere noch unsinniger wäre«, rief McDonald. »Jemand hat diesen Mann getötet und derjenige, der es war, hätte nach allen Regeln der Vernunft ganz anders vorgehen müssen. Was konnte ihn z. B. veranlassen, sich seinen Rückzug zu gefährden, indem er eine Schußwaffe verwendet, wo doch in der Geräuschlosigkeit die einzige Möglichkeit seines Entweichens lag. Lieber Mr. Holmes, es ist nun an Ihnen, uns einen Weg zu zeigen, nachdem Sie behaupten, daß Mr. White Masons Theorie nicht überzeugend ist.«

Holmes hatte während dieser langen Unterredung den angestrengt aufmerksamen Beobachter gespielt. Nicht ein Wort von dem, was gesagt wurde, war ihm offenbar verloren gegangen. Seine scharfen Augen blitzten von links nach rechts, und seine Stirn trug die Falten angestrengtesten Nachdenkens.

»Bevor ich meine Ansicht äußere, Mr. Mac, möchte ich noch einiges Tatsächliche genauer untersuchen«, sagte er, indem er sich neben der Leiche niederkniete. »Großer Gott! Diese Verletzungen sind wirklich entsetzlich. Können wir den Diener ein paar Minuten hier haben? – – – Ames, ich höre, daß Sie verschiedene Male dieses ungewöhnliche Zeichen, ein Dreieck innerhalb eines Kreises, das auf Mr. Douglas‘ Unterarm eingebrannt ist, gesehen haben.«

»Jawohl, sehr oft, Herr.«

»Sie haben niemals eine Vermutung darüber äußern gehört, was es bedeutet?«

»Nein, Herr. Das Einbrennen muß seinerzeit sehr schmerzhaft gewesen sein. Zweifellos ist es ein Brand.«

»Sodann, Ames, bemerke ich, daß Ihr Herr hier am Kinn ein kleines Pflaster kleben hat. Haben Sie dieses schon bemerkt, als er noch am Leben war?«

»Jawohl, Herr, er hat sich gestern Morgen beim Rasieren geschnitten.«

»Hat er dies öfter getan?«

»Schon lange nicht mehr, Herr.«

»Das gibt zu denken«, sagte Holmes. »Vielleicht ist es nur ein zufälliges Zusammentreffen, vielleicht aber deutet es auf eine gewisse Nervosität hin, die besagen würde, daß er sich in Gefahr wußte. Haben Sie in der letzten Zeit etwas Auffälliges in seinem Benehmen bemerkt, Ames?«

»Es ist mir aufgefallen, daß er ein bißchen aufgeregt und unruhig war.«

»Na also, der Überfall war vielleicht nicht ganz unerwartet. Es scheint, wir machen schon einige Fortschritte, nicht wahr? Wollen Sie vielleicht jetzt die Fragestellung übernehmen, Mr. Mac?«

»Nein, Mr. Holmes, sie ist bei Ihnen in besseren Händen.«

»Also, dann wollen wir jetzt zu dieser Karte übergehen. Sie enthält die sonderbare Inschrift V V 341 und ist aus grobem Karton. Haben Sie etwas dergleichen im Hause?«

»Ich glaube nicht.«

Holmes ging hinüber zum Schreibtisch und betupfte das Löschpapier mit Proben aus jeder der beiden Tintenfässer.

»Die Schrift ist nicht in diesem Zimmer ausgeführt worden«, sagte er. »Dies ist schwarze Tinte, während die auf der Karte rötlich ist. Dann wurde sie mit einer breiten Feder geschrieben, während diese spitzig ist. Nein, die Inschrift rührt von wo anders her. Haben Sie eine Ahnung, Ames, was sie bedeuten könnte?«

»Nicht die geringste, Herr.«

»Und Sie, Mr. Mac?«

»Ich halte dafür, daß es das Zeichen irgend eines Geheimbundes ist.«

»Das glaube ich auch,« sagte White Mason.

»Nun also, dann wollen wir dies unseren weiteren Schlußfolgerungen zugrunde legen und sehen, wohin sie uns führen. Ein Abgesandter einer geheimen Verbindung schleicht sich ins Haus, wartet auf Mr. Douglas, trennt ihm fast den Kopf vom Leibe mit dieser Waffe und entweicht durch den Festungsgraben, nachdem er eine Karte neben der Leiche zurückgelassen hat, die, wenn sie in den Zeitungsberichten erwähnt wird, den anderen Mitgliedern des Geheimbundes bekannt gibt, daß der Racheakt vollzogen ist. Das erscheint logisch. Aber warum verwandte er gerade diese Art Waffe?«

»Jawohl, das möchte ich auch wissen.«

»Und wie verhält es sich mit dem fehlenden Ehering?«

»Sehr richtig.«

»Und warum noch keine Verhaftung? Es ist jetzt zwei Uhr vorüber. Ich darf doch annehmen, daß seit heute Morgen jeder Polizist innerhalb vierzig Meilen auf einen Fremdling mit durchnäßten Kleidern aufpaßt?«

»Das können Sie annehmen, Mr. Holmes.«

»Nun denn, wenn er nicht hier in der Nähe einen Unterschlupf hat, oder seine Kleider wechseln konnte, kann er ihnen nach menschlichem Ermessen nicht entgehen. Und doch ist er ihnen offenbar schon entgangen.«

Holmes war zum Fenster gegangen, wo er mit einem Vergrößerungsglas die Blutspuren auf dem Fensterbrett untersuchte.

»Eine Fußspur, unbedingt. Ungewöhnlich breit, anscheinend ein Plattfuß. Sonderbar, denn die Fußspuren in der Ecke drüben rühren von einer weit besser geformten Sohle her. Immerhin, sie sind höchst undeutlich. Und was haben wir hier, unter diesem Tischchen?«

»Die Hanteln von Mr. Douglas«, bemerkte Ames.

»Hanteln, in der Mehrzahl? Ich sehe nur ein Stück, wo ist die andere?«

»Ich weiß nicht, Mr. Holmes, vielleicht war nur eine da. Ich habe schon seit Monaten nicht darauf geachtet.«

»Eine Hantel –«, sagte Holmes nachdenklich, aber was er sagen wollte, blieb ungesprochen, denn von der Tür her ertönte ein kräftiges Pochen. Ein großer, sonngebräunter, energisch aussehender, glattrasierter Mann trat ein. Es war nicht schwierig, in ihm Mr. Cecil Barker, von dem wir schon verschiedentlich gehört hatten, zu erkennen. Seine kalten Augen, die von einem zum anderen wanderten, warfen fragende Blicke auf uns.

»Bitte die Störung zu entschuldigen,« sagte er, »aber Sie müssen das Neueste sofort erfahren.«

»Eine Festnahme?«

»Leider nicht, aber man hat das Zweirad gefunden, das der Mann zurückgelassen hat. Kommen Sie und sehen Sie selbst. Es liegt etwa hundert Schritt vom Eingangstor entfernt.«

Neben dem Zufahrtsweg fanden wir eine kleine Gruppe von Stallbediensteten und anderem Dienstpersonal, die ein Zweirad betrachteten, das man, in einem Gestrüpp von Immergrün verborgen, gefunden hatte. Es war ein ziemlich abgenutztes Fahrzeug, von unten bis oben mit Kot bespritzt. In der Satteltasche befanden sich ein Schraubenschlüssel und eine Schmierkanne. Irgend welche Hinweis auf den Eigentümer fehlten.

»Es wäre für die Polizei eine große Unterstützung, wenn diese Dinger numeriert und eingetragen werden müßten. Aber wir müssen die Dinge nehmen, wie wir sie finden. Wenn wir auch nicht wissen, wohin er sich gewandt hat, so können wir nun doch erfahren, woher er gekommen ist. Aber bei allem, was wunderbar ist, warum hat der Mann das Rad zurückgelassen, und wie ist er ohne das Ding durchgekommen? Ich sehe noch keinen Lichtstrahl, Mr. Holmes.«

»Wirklich?« sagte mein Freund nachdenklich. »Nun, man kann nicht wissen.«

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1. Kapitel. Die Warnung.

I. Teil.
Der Mord in Birstone

1. Kapitel. Die Warnung.

»Ich bilde mir ein, –« sagte ich.

»Ich würde mir nichts einbilden,« unterbrach mich Sherlock Holmes spöttisch.

Ich bin sicherlich einer der fügsamsten und geduldigsten Menschen dieser Welt, aber dieser Ausfall meines Freundes brachte mein Blut doch etwas in Wallung.

»Mein lieber Holmes,« antwortete ich mit aller Schärfe, deren ich fähig bin, »Sie sind manchmal unleidlich.«

Er war so sehr in Gedanken vertieft, daß er meinen Einwand völlig überhörte. Den Kopf in die Hände gestützt, das unberührte Frühstück vor sich, starrte er auf einen Streifen Papier, den er soeben einem Kuvert entnommen hatte. Dann ergriff er das Kuvert, hielt es ans Licht und prüfte es sorgfältig, sowohl die Vorderseite wie die Klappe.

»Es ist Porlocks Handschrift,« murmelte er nachdenklich; »unverkennbar, obwohl ich sie erst zweimal gesehen habe. Er schreibt das e wie das griechische epsilon, mit einem eigenartigen Schnörkel darüber; wenn der Brief von Porlock ist, muß es eine Sache von höchster Wichtigkeit sein.«

Diese halb im Selbstgespräch geäußerten Worte waren eigentlich nicht an mich gerichtet, aber mein Verdruß schwand über dem Interesse, das sie in mir erweckten.

»Und wer, wenn ich fragen darf, ist Porlock?«

»Porlock, mein lieber Watson, ist ein Deckname, nichts weiter als ein einfaches Unterscheidungswort, aber dahinter steckt eine äußerst gewandte und schwer faßbare Persönlichkeit. In einem seiner früheren Briefe hat er mir ganz offen mitgeteilt, daß es nicht sein Name sei und mir zu verstehen gegeben, daß er allen Nachforschungen, ihn in unserer Millionenstadt aufzuspüren, trotzen würde. Porlock ist mir wichtig, nicht wegen seiner selbst, sondern wegen seiner Beziehungen zu einem bedeutenden Manne. Zu diesem steht er in einem Verhältnis, etwa wie der Lotsenfisch zum Hai oder der Schakal zum Löwen. Die beiden stellen eine Vereinigung des Unbedeutenden mit dem Schrecklichen dar. Nicht bloß schrecklich, mein lieber Watson, sondern unheildrohend im höchsten Grade. In diesem Zusammenhang ist Porlock in meinen Gesichtskreis getreten. Habe ich Ihnen nicht schon von Professor Moriarty erzählt?«

»Dem bekannten wissenschaftlichen Verbrecher, der in der Unterwelt dieser Stadt ebenso berühmt ist wie –«

»Sie machen mich erröten, Watson«, murmelte Holmes, bescheiden abwehrend.

»Ich wollte sagen, wie er dem großen Publikum unbekannt ist.«

»Sehr geschickt, äußerst geschickt. Sie entwickeln neuerdings einen überraschend, schelmischen Humor, lieber Watson, gegen den ich noch nicht gewappnet bin. Wenn Sie aber Moriarty einen Verbrecher nennen, so begehen Sie damit im Sinne des Gesetzes eine Beleidigung, und darin gerade liegt der eigenartige Reiz der ganzen Sache. Der größte Bösewicht aller Zeiten, der Organisator teuflischer Verbrechen, das geistige Haupt der Unterwelt – ein Kopf, der ein ganzes Volk zum Guten oder Bösen lenken könnte, das ist das Bild des Mannes. Aber so hoch ist er über jeden Verdacht, selbst über schüchterne Kritik erhaben, so bewunderungswürdig weiß er seine Handlungen zu bemänteln und sich selbst im Dunkeln zu halten, daß er Sie wegen der paar Worte, die Sie eben geäußert haben, vors Gericht schleppen könnte, und daß ihm dieses zweifellos Ihre volle Jahrespension als Entschädigung für die erlittene Ehrenkränkung zusprechen würde. Ist er doch der gefeierte Autor der ›Dynamik eines Asteroiden‹, eines Werkes, das sich zu den höchsten Höhen der Mathematik erhebt, so daß behauptet wird, es gäbe keinen Menschen in der Fachpresse, der fähig wäre, es zu begutachten. Einen solchen Mann darf man nicht ungestraft beleidigen. Der ehrabschneidende Arzt und der gekränkte Professor – das wären die Rollen, die Ihr beide vor Gericht spielen würdet. Darin liegt Genie, Watson. Aber auch mein Tag wird kommen, wenn mich meine Feinde kleineren Formats am Leben lassen.«

»Ich wollte, ich könnte dabei sein,« rief ich andächtig. »Sie wollten mir jedoch etwas von dem Mann Porlock erzählen.«

»Ja so – also der sogenannte Porlock ist ein Glied in der Kette, allerdings eines, das ziemlich weit von dem Kettenschloß entfernt ist. Außerdem ist er, unter uns gesagt, ein etwas schadhaftes Glied, tatsächlich der einzige schwache Punkt darin, den ich bisher feststellen konnte.«

»Nach einem Grundsatz der Mechanik ist aber eine Kette nicht stärker als ihr schwächstes Glied.«

»Sehr richtig, mein lieber Watson. Darin besteht auch die außerordentliche Bedeutung von Porlock. Er leidet offenbar an zarten Anwandlungen zum Guten, die ich gelegentlich durch die Übersendung einer Zehn-Pfund-Note, die ich ihm auf Umwegen zukommen ließ, zu ermutigen getrachtet habe. Daraus entsprangen seine Mitteilungen an mich, von höchstem Wert für den, der Verbrechen lieber verhütet als rächt. Wenn wir jetzt die Chiffre hätten, würde sich, wie ich fest überzeugt bin, herausstellen, daß das, was hier auf dem Papier steht, eine solche Mitteilung ist.«

Abermals glättete Holmes das Papier auf seinem unbenutzten Teller. Ich erhob mich, beugte mich über seine Schulter, und gewahrte auf dem Papier eine sonderbare Inschrift, die wie folgt lautete:

534, K 2, 13, 127, 36 Douglas
10, 9, 293, 5, 37 Birlstone
26 Birlstone, 9, 127

»Was halten Sie davon, Holmes?«

»Es ist offenbar ein Versuch, mir eine geheime Nachricht zu übermitteln.«

»Aber was haben wir von einer Chiffrenachricht ohne den Schlüssel dazu?«

»In diesem Falle nicht das geringste.«

»Warum sagen Sie: in diesem Fall?«

»Sehr einfach, weil ich eine ganze Menge Chiffren so leicht lese, wie die geheimnisvoll abgefaßten Inserate in den Zeitungen. Solche plumpen Versuche, Nachrichten geheim zu halten, sind für mich eher belustigend als ermüdend. Aber dies hier ist etwas anderes. Die Chiffrezeichen beziehen sich offenbar auf eine bestimmte Seite in einem bestimmten Buche, und solange ich nicht weiß, um welche Seite und welches Buch es sich handelt, kann ich natürlich nichts damit anfangen.«

»Aber was soll dann ›Douglas‹ und ›Birlstone‹ bedeuten?«

»Das sind zweifellos Worte, die auf der betreffenden Seite nicht enthalten sind.«

»Warum hat er dann aber nicht angedeutet, auf welches Buch er sich bezieht?«

»Ihre angeborene Schlauheit, mein lieber Watson, jene natürliche Listigkeit in Ihrem Wesen, die das Entzücken Ihrer Freunde ist, würde es sicherlich nicht zulassen, daß Sie eine Chiffrenachricht und den Schlüssel dazu im selben Kuvert versenden. Wenn es in falsche Hände geriete, wären Sie erledigt. Getrennt verschickt, müßten jedoch beide in falsche Hände geraten, damit ein Schaden entstehen könnte. Die zweite Post ist schon überfällig. Ich würde mich nicht wundern, wenn sie uns entweder einen erklärenden Brief oder, was noch wahrscheinlicher ist, das Buch, auf das sich die Zahlen beziehen, bringt.«

Holmes‘ Voraussage sollte nur zu bald in Erfüllung gehen. Billy, unser kleiner Diener, trat wenige Minuten später mit dem Brief ein, den wir erwartet hatten.

»Dieselbe Handschrift,« bemerkte Holmes, als er das Kuvert öffnete, »und tatsächlich auch mit voller Unterschrift,« fügte er freudig hinzu, als er den Brief entfaltete. »Nun werden wir sehen, Watson.«

Sein Gesicht verdüsterte sich jedoch, als er den Inhalt des Briefes überflog.

»Donnerwetter, das ist enttäuschend. Ich fürchte, Watson, daß aus unseren hochgespannten Erwartungen nichts wird. Ich will nur wünschen, daß unserem Porlock kein Unheil zustößt.«

›Sehr geehrter Herr Holmes,‹ lautete der Brief, ›ich kann in der Sache nichts weiter tun. Es ist zu gefährlich. Er hat Verdacht gegen mich geschöpft, wie ich deutlich erkennen kann. Heute kam er ganz unerwarteterweise zu mir herein, als ich bereits dieses Kuvert, in der Absicht, Ihnen damit den Schlüssel der Chiffre zu senden, mit der Anschrift versehen hatte. Ich konnte es gerade noch zudecken. Wenn er es gesehen hätte, würde es mir schlecht ergangen sein. Er ist höchst argwöhnisch, ich lese es in seinen Augen. Bitte verbrennen Sie die chiffrierte Nachricht, die nun für Sie wertlos ist. Fred Porlock.‹

Holmes versank danach in tiefes Schweigen und starrte finster ins Kaminfeuer, indem er den Brief in seinen Fingern zerknüllte.

»Vielleicht,« sagte er, »ist nichts daran. Möglicherweise war es nur sein schuldbeladenes Gewissen, das ihm, dem bewußten Verräter, Argwohn in den Augen des anderen vortäuschte.«

»Unter dem anderen verstehen Sie wohl Professor Moriarty?«

»Niemanden Geringeren. Wenn irgend einer der Bande von ihm spricht, weiß ich, wen er damit meint.«

»Was ist nun zu tun?«

»Ja, das ist nun die große Frage. Da wir einen der klügsten Köpfe ganz Europas gegen uns haben, mit allen dunklen Gewalten ausgerüstet, ergeben sich für uns geradezu unbeschränkte Möglichkeiten. Jedenfalls ist unser Freund Porlock in tödlicher Angst. Vergleichen Sie einmal die Handschrift in diesem Brief mit der auf dem Kuvert, das, wie er angibt, von ihm beschrieben wurde, bevor er den unheilvollen Besuch empfing. Auf dem Kuvert ist sie fest und klar, in dem Brief kaum leserlich.«

»Warum hat er überhaupt geschrieben und die Sache nicht einfach fallen lassen?«

»Wahrscheinlich, weil er befürchtete, ich würde Nachforschungen nach ihm anstellen, die ihm Ungelegenheiten bereiten könnten.«

»Ohne Zweifel,« sagte ich, indem ich die chiffrierte Nachricht aufhob und gedankenvoll betrachtete. »Es ist wirklich zum Verzweifeln, wenn man denkt, daß dieser Streifen Papier wahrscheinlich ein wichtiges Geheimnis enthält, dem man auf keine Weise beikommen kann.«

Sherlock Holmes schob sein unberührtes Frühstück beiseite und zündete sich seine Pfeife an, die ständige Gefährtin seiner tiefsten Gedanken.

»Vielleicht,« sagte er, sich zurücklehnend, den Blick an die Decke geheftet, »vielleicht finden wir etwas heraus, das Ihrem Machiavelli-Gehirn bisher verborgen geblieben ist. Betrachten wir uns einmal das Problem im Lichte der reinen Logik. Die Andeutungen des Mannes beziehen sich auf ein Buch. Das ist klar und davon wollen wir ausgehen.«

»Eine recht unsichere Spur, nach meiner Meinung.«

»Zugegeben; aber vielleicht können wir den Bereich der Möglichkeiten etwas enger umgrenzen. Je stärker ich mein Gehirn darauf konzentriere, desto weniger undurchdringlich erscheint mir das Geheimnis. Welche Anzeichen haben wir, was dieses Buch betrifft?«

»Keine«.

»Na, na, so schlimm wird die Sache nicht sein. Die Chiffre beginnt mit der Zahl 534, und wir wollen annehmen, daß diese Zahl sich auf die Seite in dem Buch, um das es sich handelt, bezieht. Das würde heißen, daß es ein dickes Buch ist, womit wir schon ein Stück weitergekommen sind. Und was für andere Anzeichen haben wir noch, hinsichtlich dieses dicken Buches? Das nächste Zeichen, K 2, was kann das bedeuten, Watson?«

»Zweites Kapitel, ohne Zweifel.«

»Kaum, Watson. Sie werden mir zugeben, daß, wenn er uns die Seite bezeichnet, die Kapitelzahl gleichgültig ist. Außerdem, wenn Sie annehmen, daß die Seite 534 erst im zweiten Kapitel ist, müßte das erste Kapitel schauderhaft lang sein.«

»Kolumne,« rief ich.

»Fabelhaft, Watson. Sie sprühen heute geradezu von Geist. Kolumne ist es, wenn uns nicht alles täuscht. Sie sehen also, vor unseren Augen zeigt sich bereits ein dickes Buch, doppelspaltig gedruckt, mit Spalten von erheblicher Länge, denn eines der darin vorkommenden Worte ist mit 293 bezeichnet. Nun frage ich Sie, haben wir damit schon die Grenze der logischen Ableitung erreicht?«

»Es scheint leider so.«

»Sie sind ungerecht gegen sich selbst. Ich erwarte von Ihnen einen weiteren Geistesblitz, eine neue Gedankenwelle. Wäre der Band ein seltenes Buch, würde er ihn mir geschickt haben. Er spricht aber lediglich von dem Schlüssel, den er in das Kuvert stecken wollte, bevor seine Pläne vereitelt wurden. Das steht klar in seinem Brief. Dies würde also bedeuten, daß es sich um ein Buch handelt, von dem er annehmen mußte, daß ich es mir leicht selbst beschaffen könne. Er hatte das Buch und vermutete, daß auch ich es habe. Mein lieber Watson, es handelt sich also um ein sehr gebräuchliches Werk.«

»Das klingt allerdings glaubhaft.«

»Wir haben somit das Feld unserer Nachforschungen auf ein dickes Buch, doppelspaltig und weitverbreitet, eingeschränkt.«

»Die Bibel,« rief ich triumphierend.

»Ausgezeichnet, Watson, ganz ausgezeichnet. Aber, wie ich leider sagen muß, noch nicht gut genug. Vielleicht darf ich mir schmeicheln, daß jedermann dieses Buch in meinem Besitz vermutet, aber ich halte es für ausgeschlossen, daß einer von Moriartys Bande es im Bereich seiner Hände stehen hat. Außerdem sind die Ausgaben der Heiligen Schrift so zahlreich, daß nicht ohne weiteres angenommen werden kann, je zwei Leute würden Exemplare mit übereinstimmenden Seitenbezeichnungen haben. Es handelt sich also um ein Normalwerk. Er mußte sicher sein, daß meine Seite 534 mit der seinen, gleicher Zahl, genau übereinstimme.«

»Aber das wird auf die wenigsten Werke zutreffen.«

»Sehr richtig; und gerade darin liegt unsere Rettung. Unsere Suche beschränkt sich daher auf ein Werk, von dem anzunehmen ist, daß jedermann ein Exemplar hat.«

»Das Kursbuch.«

»Nicht so schnell, lieber Watson. Der Wortschatz des Kursbuches ist zwar glatt und sauber, aber beschränkt. Es ist kaum anzunehmen, daß jemand im Kursbuch alle die Wörter finden würde, die er für eine Nachricht braucht. Wir wollen es daher ausschalten. Ein Wörterbuch ist, wie ich glaube, aus denselben Gründen ungeeignet. Was bleibt also noch übrig?«

»Ein Almanach.«

»Großartig, Watson, wenn ich mich nicht irre, haben Sie diesmal den Nagel auf den Kopf getroffen. Ein Almanach! Besehen wir uns z. B. einmal Whitakers Almanach. Er ist weit verbreitet, hat die erforderliche Anzahl Seiten und ist doppelspaltig. Obgleich im ersten Teil kurz gefaßt, wird er gegen den Schluß zu recht wortreich.« Er nahm den Band von seinem Pult. »Hier haben wir Seite 534 Spalte 2. Ein umfangreicher Artikel, der, wie ich sehe, sich mit dem Handel und den Bodenprodukten Indiens beschäftigt. Schreiben Sie die Worte nieder, Watson: 13 ist Mahratta, kein besonders vielversprechender Anfang, fürchte ich. 127 ist Regierung, was immerhin einigen Sinn gibt, obwohl mir unerklärlich ist, was die Regierung von Mahratta mit uns und Professor Moriarty zu tun hat. Und nun zum nächsten. Was tut also die Regierung von Mahratta? O weh, das nächste Wort ist Schweineborsten. Wir sind erledigt, lieber Watson, am Ende unserer Weisheit angelangt.«

Obwohl er sich den Anschein gab, belustigt zu sein, sah ich an dem Zucken seiner buschigen Augenbrauen, wie verärgert und enttäuscht er war. Ich fühlte mich hilflos und unglücklich, als ich so dasaß und ins Feuer starrte. Ein langes Schweigen folgte, das jedoch plötzlich durch einen Ausruf von Holmes unterbrochen wurde, der von seinem Sitz aufsprang, zum Bücherregal eilte, von dem er mit einem zweiten, gelbgebundenen Buche zurückkehrte.

»Das kommt davon, Watson, wenn man allzusehr auf der Höhe ist. Wir sind unserer Zeit voraus und müssen, wie üblich, dafür büßen. Es ist heute der 7. Januar, und wir haben natürlich schon die neue Ausgabe des Almanachs. Wahrscheinlich hat aber Porlock seine Mitteilung nach der alten zusammengestellt. Das hätte er uns sicherlich auch gesagt, wenn er uns den Schlüssel hätte senden können. Nun wollen wir einmal sehen, was die Seite 534 uns für Überraschungen bringt. Wort 13 ist Gefahr, was schon recht bedeutungsvoll klingt. 127 bedeutet droht – Gefahr droht –« Holmes‘ Augen funkelten vor Erregung und seine dünnen, nervösen Finger zuckten, als er das nächste Wort auszählte. »Famos! Schreiben Sie nieder, Watson: Gefahr droht unmittelbar; dann kommt das Wort Douglas, reicher Besitzer, jetzt in Birlstone-Haus, Birlstone – Vertrauen – dringend. Da haben wir’s, Watson. Was sagen Sie nun zu der Bedeutung der logischen Ableitung? Wenn unser Gemüsekrämer so etwas wie einen Lorbeerkranz hätte, würde ich Billy hinschicken und ihn holen lassen.«

Ich starrte auf die sonderbare Mitteilung, deren Dechiffrierung ich auf einem Bogen Papier über meinem Knie niedergekritzelt hatte.

»Eine eigenartige, zusammenhangslose Weise, sich auszudrücken,« sagte ich.

»Im Gegenteil, ich finde, er hat die Sache äußerst geschickt gemacht«, sagte Holmes. »Wenn Sie eine Spalte in einem Buch durchsuchen nach Wörtern, mit denen Sie eine bestimmte Mitteilung zusammenstellen wollen, werden Sie sicherlich auf Schwierigkeiten stoßen. Sie können kaum erwarten, darin alle Worte zu finden, die Sie brauchen. Ein gut Teil werden Sie der Kombinationsgabe des Empfängers überlassen müssen. Der Sinn seiner Nachricht ist völlig klar. Auf einen Menschen namens Douglas soll ein Anschlag verübt werden. Ich weiß nicht, wer er ist. Er wird uns als ein reicher Grundbesitzer bezeichnet. Das Wort Vertrauen bedeutet zweifellos vertraulich, welch letzteres offenbar nicht in der Spalte enthalten war. Dringend will sicherlich ganz besonders betonen, daß der Anschlag unmittelbar bevorsteht. Ich bin der Meinung, daß wir tatsächlich ein wertvolles Stück Arbeit geleistet haben.«

Holmes hatte mit dem wahren Künstler gemein, daß ihm die Lösung einer schwierigen Aufgabe die größte persönliche Genugtuung bereitete, selbst wenn sie hinter seinen Erwartungen zurückblieb. Er frohlockte noch über seinen Erfolg, als Billy die Tür öffnete und den Kriminalinspektor McDonald von Scotland Yard in das Zimmer führte.

Zu jener Zeit hatte Alec McDonald noch nicht die Höhe seines Ruhmes erreicht, die er später erklomm. Er war noch ein junges, aber schon vielversprechendes Mitglied des Detektivpersonals und hatte sich bereits in einigen Fällen, die ihm ausschließlich überantwortet waren, ausgezeichnet. Seine hohe, knochige Gestalt sprach von ungewöhnlicher körperlicher Stärke, während in seiner breiten Stirn und den tiefliegenden, lebhaften Augen, die unter buschigen Brauen hervorblitzten, eine ebenso hohe Intelligenz erkennbar war. Er war ein schweigsamer, ruhiger Mensch, der einen etwas versauerten Eindruck machte und in dem harten Akzent seiner schottischen Heimat sprach. Bei zwei früheren Gelegenheiten hatte ihm Holmes bereits geholfen, einen großen Erfolg einzuheimsen, ohne dabei auf eine andere Belohnung Anspruch zu erheben, als ihm die Mitwirkung an interessanten Aufgaben bot. Mittelmäßigkeit erkennt nichts Höheres an als sich selbst, aber das Talent weiß Genie zu würdigen. Talent besaß McDonald genügend, um keine Herabwürdigung seiner selbst darin zu fühlen, die Hilfe eines Mannes zu erbitten, der einzig in seiner Art in Europa dastand, sowohl was seine geistigen Gaben wie seine Erfahrung anbelangte. Holmes war zwar nicht ein Mann, der leicht Freundschaft schloß, aber zu dem schweigsamen Schotten hatte er eine gewisse Zuneigung gefaßt. Ein freundliches Lächeln erhellte seine Züge, als er ihn begrüßte.

»Sie sind ein Frühaufsteher, Mr. Mac,« sagte er. »Ich wünsche Ihnen alles Gute für Ihre Morgenspaziergänge, die wohl bedeuten, daß irgendetwas Besonderes im Winde ist.«

»Hierbei ist wohl die Hoffnung der Vater des Gedankens, scheint mir, Mr. Holmes,« antwortete der Inspektor mit einem vielsagenden Grinsen. »Wie wäre es mit einem kleinen Schluck von irgendetwas, um mir die Morgenkühle aus den Knochen zu treiben? Nein, danke, ich rauche nicht. Ich muß gleich wieder weiter, denn die ersten Stunden sind bei einem Kriminalfall die kostbarsten, wie niemand besser weiß, als Sie selbst. Aber, aber –«

Der Inspektor hielt plötzlich inne. Seine Blicke waren mit dem Ausdruck ungläubigen Staunens auf dem Stück Papier haften geblieben, das noch auf dem Tische lag; jenem Bogen Papier, aus dem ich die Lösung der chiffrierten Nachricht niedergeschrieben hatte.

»Douglas!« stammelte er, »Birlstone! Was soll das bedeuten, Mr. Holmes? Mensch, das ist ja geradezu Hexerei. Bei allem, was wunderbar ist, wo haben Sie denn diese Namen her?«

»Es ist eine Chiffrenachricht, die Mr. Watson und ich Anlaß hatten zu lösen. Aber was wollen Sie damit sagen? – Was ist denn los mit den Namen?«

Der Inspektor ließ seine Blicke verwirrt und staunend von einem zum anderen schweifen.

»Das Folgende ist los,« sagte er, »Mr. Douglas von Birlstone ist heute morgen in schrecklicher Weist ermordet worden.«

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Einleitung

Die Haushälterin hatte eben den Nachmittagstee hereingebracht. Nun zog sie die Vorhänge vor den Fenstern zu und zündete die Stehlampe an, die ein warmes Licht über den gedeckten Tisch warf. Das Feuer im Kamin verbreitete eine angenehme Wärme. Doktor Watson saß in einem bequemen Sessel und las, als sich die Türe öffnete und Sherlock Holmes eintrat. »Das ist heute mal wieder ein Nebel!« sagte er und rieb sich die Hände vor dem Feuer warm. »Ein scheußliches Wetter draußen! Keinen Hund möchte man da hinausjagen!« Dann wandte er sich dem Hausgenossen zu: »Was liest du denn da so interessiert, Doktor?«

Watson legte rasch, fast in leichter Verlegenheit, die Blätter beiseite. Es waren eine Anzahl fortlaufender Nummern des »Telegraph«.

»Ach, nichts weiter«, sagte er in offensichtlichem Bemühen, der Sache keine weitere Bedeutung zuzuschreiben. »Komm, setz dich lieber her und trinke gleich einen heißen Tee, wenn du so ausgefroren bist.«

Damit füllte er ihm eine Tasse, rückte einen Sessel zurecht und bot ihm einen Teller mit belegten Broten an. Kaum hatte Holmes sich gesetzt, so klingelte es. Sie stellten beide zugleich, wie auf Verabredung, ihre Tassen nieder und lauschten.

War es ein Besuch oder ein Ruf? Und wem von ihnen beiden mochte er gelten?

Dr. Watson hatte zwar seit seiner Rückkehr aus dem afghanischen Feldzug, an dem er als Militärarzt teilnahm, offiziell noch keine Praxis aufgenommen. Aber es kam doch vor, daß er gelegentlich, etwa bei Unglücksfällen, zur dringenden Hilfeleistung geholt wurde und sie dann selbstverständlich nicht verweigerte.

Die Haushälterin kam herein. »Ein Kind ist überfahren worden, Herr Doktor – –«

»Ich komme«, unterbrach Watson ihren Bericht und stand sofort auf. Ein Mensch in Gefahr – da wurde jede Frage nach Zeit und Wetter gleichgültig für ihn. Er eilte hinaus, und Holmes hörte noch, wie er draußen mit einem Mädchen verhandelte, sich Name und Wohnung sagen ließ, während er alles Nötige zur Hilfeleistung einpackte. Gleich darauf fiel die Haustüre ins Schloß. Frau Hudson kam mit ihrem schweren Schritt die Treppe herauf und verschwand in der Küche.

Es war wieder still geworden im Hause. Nichts war mehr zu hören, als das Aufflackern des Feuers im Kamin. Der Lärm der Straße und der vorbeifahrenden Wagen drang nur gedämpft herauf, wie etwas Fernes, das die Abgeschlossenheit dieses Raumes nicht stören konnte.

Sherlock Holmes hatte seinen Tee getrunken. Nun saß er in behaglicher Entspannung zurückgelehnt in seinem Sessel und blickte gedankenverloren den blauen Wolken seiner Pfeife nach. Da fiel sein Blick auf die Zeitungen, die Watson achtlos liegengelassen hatte und er griff danach. Zuerst blieb sein Blick auf einem Artikel haften, in dem jemand sich weit und breit über die Notwendigkeit frühzeitiger Zahnpflege beim Kleinkind ausließ, dann folgte ein Bericht über den Stand der übertragbaren Krankheiten. Fachsimpelei, die nur Watson angeht, dachte Holmes und war schon im Begriff, den »Telegraph« wieder wegzulegen, als er plötzlich seinen eigenen Namen darin entdeckte. »Aha, Watson scheint mal wieder unter die Schriftsteller gegangen zu sein!« murmelte Holmes vor sich hin. Er überflog einige Spalten, lächelte, legte die Pfeife aus der Hand, setzte sich bequem zurecht, suchte den Anfang und las:

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Das getupfte Band

Das getupfte Band

Wenn ich meine Aufzeichnungen von den vielen absonderlichen Fällen überblicke, an denen ich während der letzten Jahre das Verfahren meines Freundes Sherlock Holmes studiert habe, so finde ich darunter manche von tragischer, einige auch von komischer Art; viele lassen sich einfach nur als merkwürdig bezeichnen, aber keiner als alltäglich; denn da Holmes sich bei seiner Tätigkeit weit mehr von der Liebe zu seinem Beruf als von materiellem Gewinn bestimmen ließ, so lehnte er seine Mitwirkung stets ab, wenn die Nachforschungen sich nicht auf einen ungewöhnlichen oder geradezu rätselhaften Vorgang richteten. Unter all diesen verschiedenartigen Fällen weiß ich mich jedoch keines zu entsinnen, der eine gleiche Fülle merkwürdiger Züge dargeboten hätte, wie der, welcher in der bekannten Familie der Roylotts von Stoke Moran in Surrey spielte. Dieses Ereignis fiel in die erste Zeit unseres gemeinsamen Junggesellenlebens in der Bakerstraße. Ich würde es vielleicht früher schon veröffentlicht haben, wäre mir nicht Stillschweigen darüber auferlegt gewesen – eine Pflicht, von der mich erst jetzt der Tod der Dame entbunden hat, in deren Interesse jenes Versprechen gegeben worden war. Vielleicht ist es ganz gut, daß der wahre Sachverhalt jetzt ans Licht kommt, denn wie ich hörte, haben sich über den Tod des Dr. Grimesby Roylott in weiten Kreisen Gerüchte verbreitet, die jene Ereignisse noch gräßlicher ausmalten, als sie in Wirklichkeit waren.

An einem Aprilmorgen erblickte ich beim Erwachen Holmes vollständig angekleidet an meinem Bett. Er stand sonst gewöhnlich spät auf, und da die Uhr auf dem Kaminsims erst ein Viertel nach sieben zeigte, so blinzelte ich ihn einigermaßen überrascht, vielleicht sogar etwas ärgerlich an, denn ich ließ mich selbst nicht gerne in meinen Gewohnheiten stören.

»Es tut mir sehr leid, daß ich dich wecken muß, Watson,« sagte er, »aber es geht heute morgen keinem im Hause besser. Frau Hudson ist zuerst herausgeklopft worden, sie hat mich aufgeweckt, und jetzt kommt die Reihe an dich.«

»Was gibt es denn? Brennt es?«

»Nein, eine Klientin ist da. Eine junge Dame von auswärts, die mich durchaus sprechen will. Sie soll in großer Aufregung sein. Sie wartet unten im Empfangszimmer. Wenn sich aber eine junge Dame in solcher Morgenfrühe nach London aufmacht und die Leute aus den Federn treibt, so wird sie wohl einen triftigen Grund dafür haben. Einen wirklich interessanten Fall würdest du doch gewiß gern von Anfang an verfolgen. Ich wollte dich deshalb unter allen Umständen wecken, um dich dieser Gelegenheit nicht zu berauben.«

»Das war sehr nett von dir, mein lieber Junge, natürlich möchte ich sie um keinen Preis verpassen.«

Ich kannte keinen größeren Genuß, als Holmes bei den Untersuchungen, die sein Beruf mit sich brachte, Schritt für Schritt zu begleiten und seine kühnen Schlußfolgerungen zu bewundern, die blitzschnell, als entstammten sie höherer Eingebung, und doch stets auf streng logischer Grundlage aufgebaut, Licht in das Dunkel der ihm vorgelegten rätselhaften Fälle brachten. Ich warf mich also rasch in die Kleider und war nach wenigen Minuten so weit, um meinem Freund nach dem Empfangszimmer folgen zu können.

Eine schwarzgekleidete, verschleierte Dame saß am Fenster und erhob sich bei unserem Eintritt.

Holmes stellte sich vor, begrüßte sie freundlich und erklärte ihr, indem er auf mich deutete: »Hier ist mein vertrauter Freund und Kollege Dr. Watson, vor dem Sie Ihre Sache ohne Scheu vorbringen können. – Frau Hudson hat ja Feuer angemacht, wie ich sehe, das war vernünftig von ihr. Bitte, setzen Sie sich nur an den Kamin; ich lasse Ihnen gleich eine Tasse heißen Kaffee bringen, Sie zittern ja ordentlich.«

»Aber nicht vor Kälte,« antwortete die Dame mit leiser Stimme, indem sie der Aufforderung Folge leistete.

»Weshalb denn sonst?«

»Vor Angst, Herr Holmes, vor Schrecken.« Bei diesen Worten schlug sie den Schleier zurück, und wir sahen nun, daß sie sich tatsächlich in einem Zustand starker Erregung befand; ihr Gesicht war ganz verzerrt und aschfahl, und sie blickte angstvoll um sich wie ein gehetztes Wild. Ihren Zügen und ihrer Figur nach mußte man sie für dreißigjährig halten, allein ihr Haar zeigte bereits Spuren von Grau, und es lag etwas Müdes und Abgezehrtes in ihrer ganzen Erscheinung.

Holmes musterte sie mit seinem alles durchdringenden Blick. »Sie müssen keine Angst haben,« sagte er in beruhigendem Tone, indem er sich über sie beugte. »Wir werden gewiß bald alles in Ordnung bringen. Sie sind heute früh mit der Bahn angekommen, wie ich sehe.«

»Kennen Sie mich denn?«

»Nein, ich bemerke nur die eine Hälfte der Rückfahrkarte, die Sie in Ihrem linken Handschuh stecken haben. Sie müssen früh aufgebrochen sein und hatten dann bis zur Bahn eine tüchtige Fahrt in einem Jagdwagen auf schlechten Wegen zu machen.«

Mit dem Ausdruck höchsten Erstaunens starrte die Fremde meinen Freund an.

»Sie brauchen sich nicht zu verwundern,« fuhr Holmes lächelnd fort. »Ich treibe keine Hellseherei. Aber der linke Ärmel Ihrer Jacke ist an nicht weniger als sieben Stellen mit noch ganz nassem Schmutz bespritzt. Kein anderes Fuhrwerk wirft aber so viel Schmutz auf wie ein Jagdwagen, und am allerschlimmsten ist es vollends, wenn man vorne links neben dem Kutscher sitzt.«

»Das mag sein, wie es will, jedenfalls treffen Sie mit Ihren Schlüssen das Richtige,« versetzte sie. »Ich fuhr vor 6 Uhr daheim fort, brauchte 20 Minuten bis nach Leatherhead und traf mit dem ersten Zuge hier an der Waterloo-Station ein. – Es kann nicht länger so fortgehen, ich halte es nicht mehr aus, ich werde wahnsinnig! Ich habe gar niemand, an den ich mich wenden könnte – niemand; nur ein einziger Mensch nimmt Anteil an mir, aber helfen kann er mir auch nicht. Man hat mir von Ihnen erzählt, Herr Holmes. Eine meiner Bekannten, Frau Farintosh, der Sie einmal in ihrer schrecklichen Bedrängnis Beistand leisteten, hat mir Ihre Adresse gegeben. Ach, meinen Sie nicht, Sie könnten mir vielleicht ebenfalls helfen und die furchtbare Finsternis, die mich umgibt, wenigstens durch einen schwachen Schimmer erhellen? Ich habe freilich jetzt kein Geld, aber in sechs Wochen oder einem Monat, wenn ich verheiratet und im Besitz meines Vermögens bin, sollen Sie mich nicht undankbar finden.«

Holmes entnahm seinem Schreibtisch ein kleines Buch mit Aufzeichnungen über frühere Fälle und schlug darin nach.

»Farintosh,« murmelte er, »ach ja, jetzt erinnere ich mich des Falles. Es handelte sich um einen Opalkopfschmuck. Das war noch vor deiner Zeit, Watson. – Ich kann Ihnen die Versicherung geben, daß ich mich Ihres Falles mit demselben Interesse annehmen werde, wie damals der Angelegenheit von Frau Farintosh. Über die Geldfrage möchte ich Sie beruhigen, meine Belohnung finde ich einzig in meiner Tätigkeit selbst; doch steht es Ihnen frei, mir meine etwaigen Auslagen bei gelegener Zeit zu ersetzen. Und nun bitte ich Sie, uns alles mitzuteilen, was für die Beurteilung des Falles irgend von Wert sein kann.«

»Ach«, begann die Fremde, »das Schreckliche an meiner Lage ist gerade, daß meine Befürchtungen so unbestimmter Natur sind und mein Verdacht sich nur auf geringfügige Umstände stützt, die jedem andern bedeutungslos erscheinen. Selbst mein Verlobter betrachtet alle meine Vermutungen nur als Eingebungen meiner überreizten Nerven. Er sagt es nicht gerade heraus, allein ich merke es an seinen beschwichtigenden Antworten und ausweichenden Blicken. Aber Sie, Herr Holmes, sollen ja imstande sein wie nur wenige, das menschliche Herz zu durchschauen. Ihr Rat wird mir gewiß einen Weg durch all die Gefahren zeigen, von denen ich jetzt umgeben bin.« Fragend hob sie den Blick zu Holmes.

»Bitte, fahren Sie ruhig fort«, ermunterte er sie.

»Ich heiße Helene Stoner und wohne zusammen mit meinem Stiefvater an der Westgrenze von Surrey. Er ist der letzte der Roylotts von Stoke Moran, die eine der ältesten Familien Englands waren.«

Sherlock Holmes nickte. »Der Name ist mir bekannt«, sagte er.

»Die Familie gehörte einst zu den reichsten in ganz England und ihre Besitzungen erstreckten sich bis über die Grenzen der benachbarten Grafschaften hinaus. Im vorigen Jahrhundert jedoch kam der Besitz viermal hintereinander in leichtsinnige Hände, und als dann noch einer der Erben sich dem Spiel ergab, war der Ruin der Familie besiegelt. Ein paar Hufen Landes und der zweihundert Jahre alte Familiensitz, auf dem aber hohe Hypotheken lasteten, war alles, was übrig blieb. Der vorige Gutsherr harrte noch bis zu seinem Tode dort aus, indem er das schwere Los eines verarmten Edelmannes trug; sein einziger Sohn dagegen, mein jetziger Stiefvater, sah ein, daß er sich den neuen Verhältnissen anpassen mußte; er verschaffte sich ein Darlehen von einem Verwandten, das ihm das Studium der Medizin ermöglichte. Dann ließ er sich in Kalkutta nieder, wo er sich mit großer Willenskraft und durch seine tüchtigen Kenntnisse eine ausgebreitete Praxis erwarb. Im Jähzorn über einen Diebstahl in seinem Hause erschlug er jedoch einen eingeborenen Diener und entging nur mit Mühe einem Todesurteil. Er erhielt eine lange Freiheitsstrafe, nach deren Verbüßung er verbittert und enttäuscht nach England zurückkehrte. Während seines Aufenthalts in Indien heiratete Dr. Roylott meine Mutter, die junge Witwe des Generalmajors Stoner von der bengalischen Artillerie. Meine Zwillingsschwester Julia und ich waren damals erst zwei Jahre alt. Die Mutter besaß ein Vermögen, das etwa tausend Pfund im Jahr einbrachte und das sie unserem Stiefvater vollständig überließ mit der Bedingung, im Falle unserer Verheiratung jeder von uns beiden eine gewisse Summe jährlich auszuzahlen. Bald nach unserer Rückkehr nach England kam meine Mutter bei einem Eisenbahnunfall ums Leben – es sind jetzt acht Jahre her. Nun gab Dr. Roylott seine Versuche auf, sich in London eine ärztliche Praxis zu gründen, und zog mit uns in das alte Stammschloß in Stoke Moran. Da die Hinterlassenschaft meiner Mutter unsere Bedürfnisse reichlich deckte, so hätten wir ein zufriedenes und glückliches Leben führen können.

Allein mit unserem Stiefvater ging plötzlich eine schreckliche Veränderung vor. Anstatt freundschaftlichen Verkehr mit unseren Nachbarn anzuknüpfen, die anfangs hoch erfreut darüber waren, wieder einen Stoke Moran auf dem alten Familiensitz einziehen zu sehen, schloß er sich in sein Haus ein, und wenn er es jemals verließ, bekam er mit jedem, der ihm in den Weg lief, den heftigsten Streit. Ein förmlich krankhafter Jähzorn war überhaupt ein Erbstück der Männer in der Familie, und bei meinem Stiefvater mochte durch seinen langen Aufenthalt in den Tropen diese Eigenschaft wohl noch verstärkt worden sein. Die Folge war, daß er in eine Reihe häßlicher Streitigkeiten verwickelt wurde, die ihn zweimal vor Gericht brachten, bis er zuletzt der Schrecken des ganzen Dorfes war und alles bei seinem bloßen Anblick die Flucht ergriff, denn er besitzt eine riesige Stärke und kennt in seiner Wut keine Grenzen.

Vorige Woche erst warf er den Dorfschmied über das Brückengeländer ins Wasser, und ich mußte alles, was ich an Geld hatte, opfern, damit die Angelegenheit nicht vor Gericht gebracht wurde. Mit keinem Menschen hielt er Freundschaft, außer mit den herumziehenden Zigeunern; sie durften auf den paar Morgen Brachland, die von dem ganzen Besitztum noch geblieben sind, ihr Lager aufschlagen. Oft kehrte er in ihren Zelten ein, ja er begleitete sie sogar wochenlang auf ihren Wanderzügen. Eine leidenschaftliche Vorliebe hat er für indische Tiere, die er sich aus Kalkutta kommen läßt; gegenwärtig besitzt er einen Leoparden und einen Pavian, die er in seinem Anwesen frei umherlaufen läßt und die den Dorfbewohnern denselben Schrecken einjagen wie ihr Herr selbst.

Nach dieser Schilderung werden Sie mir sicher glauben, daß meine Schwester und ich kein leichtes Leben geführt haben. Niemand wollte bei uns bleiben, und lange Zeit mußten wir die ganze Hausarbeit allein verrichten. Obgleich Julia erst dreißig Jahre alt war, als sie starb, hatte sie doch bereits graue Haare wie ich auch.«

»Ihre Schwester ist also gestorben?«

»Ja; es ist gerade zwei Jahre her; und von ihrem Tode möchte ich Ihnen eben Genaueres mitteilen. Sie werden es verstehen, daß wir unter diesen Umständen wenig Gelegenheit zum Verkehr mit unseresgleichen hatten. Nur bei unserer Tante Honoria Westphail durften wir von Zeit zu Zeit einen kurzen Besuch machen. Sie ist eine unverheiratete Schwester meiner Mutter und wohnt in der Nähe von Harrow. Vor zwei Jahren lernte Julia bei einem solchen Besuch über Weihnachten einen auf Halbsold gesetzten Major der Marine kennen, mit dem sie sich verlobte. Unser Stiefvater erhob gegen die Verbindung keine Einwendung; allein vierzehn Tage vor der Hochzeit trat das schreckliche Ereignis ein, das mich meiner einzigen Gefährtin beraubte.«

Holmes, der mit geschlossenen Augen in seinen Armstuhl zurückgelehnt, den Kopf im Kissen vergraben, zugehört hatte, schlug nun die Lider ein wenig auf und warf einen Blick auf die Erzählerin.

»Bitte, vergessen Sie auch nicht den kleinsten Umstand«, sagte er.

»Das wird mir nicht schwer fallen, denn alle Vorgänge dieser entsetzlichen Zeit stehen mir unauslöschlich im Gedächtnis. – Das Wohnhaus ist, wie gesagt, sehr alt, auch wird zur Zeit nur der eine Flügel bewohnt. Die Schlafzimmer befinden sich im Erdgeschoß, während die Wohnzimmer im mittleren Stockwerk liegen. Von den Schlafzimmern hatte das erste unser Stiefvater, das zweite meine Schwester und das dritte ich selbst. Eine Verbindung zwischen ihnen besteht nicht, dagegen führen alle drei Türen auf denselben Gang. – Ich spreche doch verständlich?«

»Vollkommen.«

»Die Fenster der drei Zimmer gehen auf den Rasenplatz vor dem Hause. An jenem schrecklichen Abend also zog sich unser Stiefvater zeitig in sein Schlafzimmer zurück; trotzdem wußten wir wohl, daß er sich noch nicht zur Ruhe begeben hatte, denn meine Schwester wurde durch den Geruch der starken indischen Zigarre belästigt, die er zu rauchen pflegte. Sie kam deshalb in mein Zimmer herüber, um noch eine Zeitlang mit mir über ihre bevorstehende Hochzeit zu plaudern. Es war elf Uhr, als sie mich wieder verließ; an der Tür blieb sie jedoch stehen und schaute noch einmal zurück.

›Sag‘ mir, Helene‹, fragte sie, ›hast du jemals ein Pfeifen vernommen, wenn nachts alles totenstill ist?‹

›Nein, niemals.‹

›Ich habe auch schon gedacht, vielleicht seist du es, die nachts im Schlafe pfeift. Aber du glaubst doch auch nicht, daß das sein kann?‹

›Gewiß nicht, warum denn?‹

›In den letzten Nächten ertönte etwa um drei Uhr morgens ein leiser heller Pfiff. Ich habe einen leichten Schlaf und bin daran aufgewacht. Woher der Laut kam, kann ich nicht sagen, – vielleicht aus dem Nebenzimmer, vielleicht auch vom Vorplatz herauf. Ich dachte, ich wollte dich doch fragen, ob du es auch gehört hast.‹

›Nein, ich habe nichts gehört. Das muß von dem Zigeunergesindel unten im Park herkommen.‹

›Höchst wahrscheinlich; aber es wundert mich doch, daß du es nicht auch gehört hast, wenn es wirklich von unten kam.‹

›Ich schlafe eben fester als du.‹

›Nun, es ist ja jedenfalls nichts von Bedeutung‹, versetzte sie lächelnd; damit schloß sie die Tür, und wenige Augenblicke darauf hörte ich, wie sie ihre Türe abschloß.«

»Schlossen Sie sich denn nachts regelmäßig ein?« fragte Holmes.

»Stets.«

»Und warum taten Sie das?«

»Ich glaube, ich habe bereits erwähnt, daß unser Stiefvater eine Tigerkatze und einen Pavian hielt; wir fühlten uns deshalb nicht sicher, wenn unsere Türen nicht verschlossen waren.‹

»Ja freilich. Bitte, fahren Sie nur fort.«

»Ich konnte in jener Nacht keinen Schlaf finden. Ein unbestimmtes Vorgefühl drohenden Unheils bedrückte mich. Sie erinnern sich, daß ich und meine Schwester Zwillinge waren, und Sie wissen sicher auch, wie eng man da miteinander verbunden ist. Es war eine unheimliche Nacht. Draußen heulte der Wind, und der Regen schlug klatschend gegen die Läden. Plötzlich ertönte mitten durch das Tosen des Sturmes ein wilder Angstschrei. Ich erkannte die Stimme meiner Schwester. Rasch sprang ich aus dem Bett und stürzte auf den Gang hinaus. Während ich meine Tür öffnete, war es mir, als hörte ich ein leises Pfeifen, wie meine Schwester es beschrieben hatte, und wenige Augenblicke darauf ein klingendes Geräusch wie vom Fall eines schweren metallenen Gegenstandes. Die Zimmertüre meiner Schwester war schon aufgeklinkt und öffnete sich langsam. Starr vor Angst wartete ich auf den Anblick, der sich mir bieten würde; da sah ich beim Schein der Flurlampe meine Schwester unter der Tür erscheinen; schreckensbleich, die Hände hilfesuchend ausgestreckt, schwankte sie hin und her, als wäre sie berauscht. Ich eilte auf sie zu und schlang die Arme um sie, aber gerade in diesem Augenblick versagten ihr die Knie. Sie stürzte zu Boden, wand und krümmte sich wie in furchtbaren Schmerzen, und ihre Glieder zogen sich krampfhaft zuckend zusammen. Ich meinte zuerst, sie habe mich nicht erkannt, aber als ich mich über sie beugte, stieß sie plötzlich mit einer Stimme, die ich nie vergessen werde, die abgebrochenen, undeutlichen Worte hervor: ›Oh, mein Gott! Helene! Es war . . . Band . .! . . . getupfte Band . . .!‹ Sie machte den Versuch, noch etwas zu sagen, wobei sie in der Richtung nach unseres Stiefvaters Schlafzimmer deutete, als ein neuer gräßlicher Krampfanfall ihr die Worte im Munde erstickte. Ich wollte eben unsern Stiefvater herbeiholen und rief laut nach ihm; da kam er mir bereits im Schlafrock entgegengeeilt. Als er zu meiner Schwester trat, hatte sie das Bewußtsein schon verloren. Er flößte ihr noch Kognak ein und ließ auch ärztliche Hilfe aus dem Dorfe herbeiholen, aber es nützte alles nichts mehr, sie wurde immer schwächer und starb, ohne daß sie noch einmal zu sich gekommen wäre. Dies waren die Umstände, unter denen ich meine geliebte Schwester verloren habe.«

»Einen Augenblick!« unterbrach sie Holmes, »haben Sie das Pfeifen und den metallenen Klang ganz bestimmt wahrgenommen? Könnten Sie darauf schwören?«

»Dasselbe fragte mich auch der Gerichtsarzt bei der Totenschau. Ich habe zwar den durchaus sicheren Eindruck, als hätte ich beides gehört, doch kann ich mich am Ende auch getäuscht haben; bei dem Tosen des Sturmes krachte ja das alte Haus in allen Fugen.«

»War ihre Schwester angekleidet?«

»Nein, sie trug nur ihr Nachtgewand. In der rechten Hand hielt sie noch ein herabgebranntes Lichtstümpfchen und in der linken eine Zündholzschachtel. Sie hatte keinen Lichtschalter am Bett, es war auch kein Steckkontakt vorhanden, um eine Nachttischlampe anzuschließen. Deshalb hielt sie sich immer Kerze und Streichhölzer auf dem Nachttisch bereit.«

»Sie hat also noch Licht gemacht und sich umgeschaut, als das Geräusch entstand. Das ist von Wichtigkeit. Und zu welchem Ergebnis gelangte der Leichenbeschauer?«

»Er untersuchte den Fall sehr sorgfältig, denn das auffallende Treiben unseres Stiefvaters war in der ganzen Grafschaft bekannt; er war jedoch nicht imstande, eine bestimmte Todesursache zu entdecken. Aus meinen Mitteilungen ging hervor, daß die Tür von innen verschlossen gewesen war, und die Fenster waren durch altmodische Läden mit breiten Eisenstäben verrammelt, die jede Nacht vorgelegt wurden. Auch die Wände und der Fußboden wurden untersucht, aber nirgends wurde ein Anhaltspunkt gefunden. Der Kamin ist zwar weit, aber mit vier starken Eisenstäben vergittert. Meine Schwester war also zweifellos ganz allein, als ihr Geschick sie ereilte. Auch von einer Einwirkung äußerer Gewalt war keine Spur an ihr zu entdecken.«

»Und Gift – wie steht es damit?«

»Die Leiche wurde von ärztlicher Seite daraufhin untersucht, aber ohne Erfolg.«

»Was ist nun Ihre Ansicht über die Ursache dieses bedauerlichen Todesfalls?«

»Ich bin der Meinung, daß meine Schwester nur infolge einer durch Schrecken hervorgerufenen Nervenerschütterung starb, obwohl ich von der Ursache dieses Schreckens keine Ahnung habe.«

»Hielten sich zu jener Zeit Zigeuner in der Nähe des Hauses auf?«

»Jawohl; es sind fast immer einige da.«

»Und was glauben Sie, daß Ihre Schwester mit der Andeutung von einem ›getupften Band‹ oder auch einer ›getupften Bande‹ meinte?«

»Das möchte ich fast für eine Ausgeburt des Fieberwahns halten; dann meine ich aber auch wieder, es könnte sich auf eine Bande von Menschen, vielleicht gerade auf die Zigeuner im Park, bezogen haben. Vielleicht haben ihr die getupften Tücher, die viele von ihnen um den Kopf tragen, zu der auffallenden Bezeichnung Anlaß gegeben.«

Holmes schüttelte den Kopf, als sei er ganz und gar nicht befriedigt.

»Wir tappen noch ganz im Dunkeln«, meinte er, »aber bitte, erzählen Sie nun weiter.«

»Zwei Jahre sind seitdem vergangen, und mein Leben wurde einsamer als je. Vor einem Monat jedoch hat ein lieber langjähriger Bekannter namens Percy Armitage um mich angehalten. Mein Stiefvater hat nichts dagegen, und so wollen wir noch in diesem Frühjahr heiraten. Seit zwei Tagen werden an dem westlichen Flügel unseres Wohnhauses Ausbesserungen vorgenommen. Dabei wurde eine Wand meines Schlafzimmers durchbrochen. Ich mußte deshalb das Zimmer, in dem meine Schwester starb, beziehen und in ihrem Bett schlafen. Stellen Sie sich nun meinen wahnsinnigen Schrecken vor, als ich in der letzten Nacht plötzlich ebenfalls das leise Pfeifen vernahm, das ihren Tod vorherverkündet hatte. Ich sprang aus dem Bett und schaltete das Licht an, vermochte aber nichts Beunruhigendes im Zimmer zu entdecken. Zu aufgeregt, um wieder einschlafen zu können, kleidete ich mich an und schlich mich, sobald es dämmerte, aus dem Hause, ließ mir in dem gegenüberliegenden Gasthaus zur Krone einen Wagen anspannen und fuhr nach Leatherhead und von da mit dem Morgenzug weiter nach London, um Sie aufzusuchen und um Ihren Rat zu bitten.«

»Das war das Vernünftigste, was Sie tun konnten«, versetzte Holmes. »Aber haben Sie mir auch alles gesagt?«

»Gewiß, alles.«

»Ich bin nicht ganz überzeugt davon, Fräulein Stoner. Sie schonen Ihren Stiefvater.«

»Warum? Was wollen Sie damit sagen?«

Statt einer Antwort schlug Holmes die Manschette über dem rechten Handgelenk der Erzählerin zurück.

Fünf kleine blaue Male, sichtlich von fünf Fingern herrührend, zeichneten sich auf ihrem Arm ab.

»Sie sind mißhandelt worden,« sagte Holmes.

Tief errötend bedeckte sie die Stelle wieder. »Er ist ein rauher Mann,« sagte sie, »der vielleicht selbst kaum weiß, wie stark er ist.«

Ein langes Schweigen folgte; das Kinn in die Hand stützend, blickte Holmes in das prasselnde Kaminfeuer. »Eine höchst rätselhafte Sache,« sagte er zuletzt. »Ich hätte noch tausenderlei Fragen, ehe ich mich über den Weg schlüssig mache, den wir einschlagen müssen. Und doch dürfen wir keinen Augenblick verlieren. Ließe es sich wohl machen, daß wir die drei Schlafzimmer ohne Wissen Ihres Stiefvaters besichtigen können, wenn wir heute nach Stoke Moran fahren?«

»Er hat zufällig erwähnt, daß er heute in einer sehr wichtigen Angelegenheit hierher fahren werde. Vermutlich wird er den ganzen Tag fort sein, und dann wären Sie völlig ungestört. Wir haben zwar gegenwärtig eine Haushälterin, aber die ist alt und einfältig und ich könnte sie leicht eine Weile entfernen.«

»Ausgezeichnet. Du hast doch nichts gegen diesen Ausflug, Watson?«

»Nicht das geringste.«

»Dann werden wir uns also beide im Laufe des Tages einfinden. Und was tun Sie selbst, jetzt?«

»Ich möchte gerne noch ein paar Sachen besorgen, weil ich gerade hier bin. Doch will ich mit dem Zwölfuhrzug wieder zurück fahren, so daß Sie mich rechtzeitig zu Hause treffen werden.«

»Sie können uns bald nach Mittag schon erwarten. Ich habe selbst zuerst noch einige Angelegenheiten zu erledigen. Wollen Sie nicht noch bleiben und etwas frühstücken?«

»Nein, ich muß gehen. Es ist mir schon leichter ums Herz, seit ich Ihnen anvertraut habe, was mich bedrückt. Auf Wiedersehen also heute nachmittag.« Sie zog den schwarzen Schleier wieder über ihr Gesicht und verließ das Zimmer.

»Nun, was hältst du von der Sache, Watson?« fragte Holmes, sich in seinen Stuhl zurücklehnend.

»Es scheint mir eine dunkle, unheimliche Geschichte.«

»Sehr dunkel und sehr unheimlich sogar.«

»Und doch, wenn tatsächlich Fußboden und Wände ganz in Ordnung sind, und durch Tür, Fenster und Kamin nichts hereinkommen konnte, muß unzweifelhaft die Schwester zur Zeit ihres rätselhaften Todes allein gewesen sein.«

»Wie erklärst du dir dann aber das nächtliche Pfeifen und die eigentümliche Äußerung der Sterbenden?«

»Das kann ich mir nicht denken.«

»Dieses nächtliche Pfeifen, die Anwesenheit einer Zigeunerbande, die mit dem alten Doktor auf vertrautem Fuß stand, und die Tatsache, daß dieser offenbar das größte Interesse daran hatte, eine Heirat seiner Stieftochter zu verhindern, sind starke Verdachtsmomente. Wenn ich sie mit der Andeutung der Sterbenden zusammenhalte und schließlich mit dem metallenen Klang, den Fräulein Stoner gehört hat und der sehr wohl von der Wiederbefestigung der Vorlegestange an einem Fensterladen herrühren konnte, so will es mir doch scheinen, als dürften wir hoffen, von dieser Grundlage aus des Rätsels Lösung zu finden.«

»Aber was sollen denn die Zigeuner getan haben?«

»Davon habe ich allerdings auch keine Ahnung.«

»Ich meine, gegen diese ganze Auffassung ließe sich doch sehr viel einwenden.«

»Das muß ich freilich selbst zugeben; gerade deswegen gehen wir noch heute nach Stoke Moran. Ich muß mich überzeugen, ob die Einwendungen stichhaltig sind oder sich beseitigen lassen. – Aber was ist denn hier eigentlich los!« rief er plötzlich aus.

Mit einemmal war nämlich die Zimmertür aufgeflogen, und eine gewaltige Männergestalt in einem sonderbaren, halb gelehrten, halb bäuerischen Aufzug hatte sich in ihrem Rahmen aufgepflanzt. Der Eindringling trug einen hohen schwarzen Hut und einen Rock mit langen Schößen, dazu Stulpenstiefel, und in den Händen eine Reitpeitsche. Er war so groß, daß er buchstäblich oben am Türbalken anstieß, und so umfangreich, daß er die Öffnung völlig auszufüllen schien. Auf seinem breiten, mit zahllosen Runzeln übersäten, sonnenverbrannten Gesicht spiegelten sich alle schlechten Leidenschaften. Er wandte den Blick bald mir, bald meinem Freunde zu, und dabei gaben ihm seine tiefliegenden, gelb unterlaufenen Augen und die weitvorstehende schmale, fleischlose Nase das Aussehen eines grimmigen alten Raubvogels.

»Welcher von euch beiden ist Holmes?« fragte er in unverschämtem Tone.

»So heiße ich; aber ich habe nicht das Vergnügen …« antwortete mein Freund ruhig.

»Ich bin Dr. Grimesby Roylott von Stoke Moran.«

»Darf ich bitten, daß Sie Platz nehmen, Herr Doktor«, sagte Holmes verbindlich.

»Fällt mir nicht ein. Meine Stieftochter ist dagewesen. Ich bin ihr nachgegangen. Was wollte sie bei Ihnen?«

»Es ist noch etwas kalt für die Jahreszeit!«, gab Holmes zur Antwort.

»Was sie Ihnen gesagt hat, will ich wissen!« schrie der andere wütend.

»Trotzdem soll sich, wie ich höre, die Krokusblüte ganz gut anlassen«, fuhr Holmes unerschütterlich fort.

»Machen Sie nur keine Winkelzüge«, rief jetzt der grobe Kerl, indem er einen Schritt vortrat und die Reitpeitsche schwang. »Ich kenne Sie, Schurke. Habe schon längst von Ihnen gehört. Sie sind Holmes, der Schnüffler!«

Mein Freund lächelte.

»Holmes, der Allerweltslückenbüßer!«

Sein Gesicht erheiterte sich immer mehr.

»Holmes, der General-Kriminalpolizeispitzel!«

Jetzt lachte Holmes hell auf. »Sie sind ja äußerst witzig«, sagte er. »Wenn Sie hinausgehen, machen Sie auch die Tür zu, es zieht ganz entschieden.«

»Erst sage ich meine Sache, und dann gehe ich. Lassen Sie sich nur nicht einfallen, Ihre Nase in meine Angelegenheiten zu stecken. Meine Tochter war da – ich weiß es, ich bin ihr nachgegangen! Ich rate keinem, mir in die Quere zu kommen! Da, sehen Sie her!« Damit trat er rasch auf den Kamin zu, nahm den Schürhaken und bog ihn mit seinen mächtigen braunen Händen vollständig krumm.

»Sehen Sie zu, daß Sie mir nicht unter die Finger kommen!« schrie er Holmes noch zu, warf den verbogenen Schürhaken wieder in den Kamin und schritt hinaus.

»Nun, das ist ja ein recht liebenswürdiger Kumpan«, meinte Holmes lachend. »Ich bin zwar nicht ganz so vierschrötig wie er, aber wenn er noch einen Augenblick dageblieben wäre, hätte ich ihm zeigen können, daß meine Finger an Kraft den seinen nicht viel nachgeben.« Dabei nahm er den stählernen Schürhaken und bog ihn mit einem Ruck wieder gerade.

»Ein selten unverschämter Mensch! Dieser Zwischenfall verleiht übrigens unserem Vorhaben nur noch einen Reiz mehr. Ich hoffe bloß, daß unsere Schutzbefohlene ihre Unvorsichtigkeit nicht zu büßen bekommt. – Aber nun wollen wir frühstücken, Watson, und dann will ich nach der Gerichtsregistratur gehen, wo ich mir einige Daten zu verschaffen hoffe, die uns in dieser Sache vielleicht von Nutzen sein können.«

Es war ungefähr ein Uhr, als Holmes von seinem Ausgang zurückkam. Er hatte ein Blatt Papier in der Hand, das ganz mit Notizen und Zeichnungen bedeckt war.

»Ich habe mir das Testament der Frau Roylott zeigen lassen«, sagte er. »Um ihre Willensmeinung ganz genau festzustellen, mußte ich den heutigen Wert der Anlagepapiere ausrechnen, um die es sich dabei handelt. Der Gesamtertrag, der zur Zeit ihres Todes fast elfhundert Pfund betrug, beläuft sich jetzt infolge des Rückgangs im Werte höchstens noch auf siebenhundertfünfzig Pfund. Nun kann jede der Töchter im Falle ihrer Verehelichung eine Rente von zweihundertfünfzig Pfund ansprechen. Es ist also augenscheinlich, daß, falls beide Töchter sich verheiratet hätten, von der ganzen Herrlichkeit blutwenig übrig geblieben wäre, ja, daß sogar schon die Abfindung einer Tochter dem Doktor eine ganz empfindliche Einbuße verursacht hätte. Mein Vormittag war also gut angewendet; ich habe jetzt den Beweis in Händen, daß ihm alles daran gelegen sein mußte, die Heirat zu hindern. Wir wollen nun in dieser wichtigen Sache keine Zeit mehr verlieren, zumal der Alte Wind davon hat, daß wir uns mit seinen Angelegenheiten beschäftigen. Wenn du also bereit bist, wollen wir uns einen Wagen nach der Waterloostation bestellen. Bitte, stecke auch deinen Revolver ein. Damit kommt man gegenüber Herrschaften, die stählerne Schürhaken krumm biegen, am besten aus. Wenn wir dann noch Kamm und Zahnbürste mitnehmen, so denke ich, daß wir alles haben, was wir brauchen.«

Am Bahnhof hatten wir das Glück, gerade einen Zug nach Leatherhead zu treffen; dort nahmen wir einen Wagen, mit dem wir vier oder fünf Meilen weit durch die freundlichen Gelände von Surrey fuhren. Es war ein herrlicher Tag, klarer Sonnenschein und kaum ein Wölkchen am Himmel. Die Bäume und Hecken am Wege erglänzten im ersten Grün, und die Luft war von dem erfrischenden Geruch des feuchten Erdreichs erfüllt. Lebhaft empfand wenigstens ich für meine Person den eigentümlichen Gegensatz zwischen dem lieblichen Frühlingsbilde und der unheimlichen Aufgabe, die unsrer wartete. Holmes saß, den Hut tief ins Gesicht gedrückt, mit untergeschlagenen Armen und gesenktem Haupte, in tiefes Nachdenken versunken da. Plötzlich fuhr er auf, klopfte mir auf die Schulter und deutete nach rechts. »Sieh dorthin!« rief er.

Ein dichter Park zog sich jenseits der Wiesen einen sanften Abhang hinauf, der oben von einem Wäldchen bekränzt war; mitten aus dem Dickicht ragte der altersgraue Dachfirst eines Herrenhauses hoch hervor.

»Stoke Moran?«, fragte er.

»Jawohl, Herr, das ist Dr. Grimesby Roylotts Haus«, erwiderte der Fahrer.

»Wo der Umbau gemacht wird? Das ist unser Ziel.«

»Dort drüben liegt das Dorf«, fuhr der Mann fort, indem er auf die Dächer deutete, die in einiger Entfernung zur Linken sichtbar wurden; »aber wenn Sie zu Roylotts Hause wollen, so sind Sie früher dort, wenn Sie hier die Steige hinaufgehen und dann den Fußweg über die Felder einschlagen. Dort drüben, wo die Dame geht.«

»Die Dame ist Fräulein Stoner, wie mir scheint«, sagte Holmes und hielt die Hand über die Augen. »Ja, ich glaube, es wird das Einfachste sein, wenn wir Ihrem Rat folgen.«

Wir stiegen aus und bezahlten unser Fahrgeld. Der Wagen wendete und fuhr nach Leatherhead zurück.

»Ich hielt es für zweckmäßig«, meinte Holmes, während wir die Steige hinaufgingen, »den Mann glauben zu lassen, wir seien wegen der Bauarbeit oder zu irgend einem andern geschäftlichen Zweck hergekommen. Das beugt vielleicht unnützem Gerede vor. – Guten Tag, Fräulein Stoner, Sie sehen, wir haben Wort gehalten.«

Mit offener Herzlichkeit kam unsere Schutzbefohlene uns entgegengelaufen. »Ich habe Sie sehnlich erwartet!« rief sie und drückte uns warm die Hand. »Es hat sich alles geschickt gefügt. Der Vater ist nach London gegangen und wird schwerlich vor Abend zurückkommen.«

»Wir haben unterdessen das Vergnügen gehabt, des Herrn Doktors Bekanntschaft zu machen«, entgegnete Holmes und gab ihr mit ein paar Worten eine flüchtige Schilderung unseres Erlebnisses.

Sie wurde bei dieser Kunde weiß bis zu den Lippen. »Er ist mir also nachgegangen?« fragte sie fassungslos.

»So scheint es.«

»Er ist sehr schlau, man ist eigentlich nie sicher vor ihm. Ich habe so Angst, bis er jetzt nach Hause kommt.«

»Seien Sie unbesorgt. Vielleicht sind wir noch schlauer als er. Auf jeden Fall müssen Sie sich heute nacht vor ihm einschließen. Wird er gewalttätig, so bringen wir Sie zu Ihrer Tante nach Harrow. Jetzt müssen wir aber unsere Zeit nach besten Kräften ausnützen, also führen Sie uns bitte gleich in die Zimmer, die wir zu besichtigen haben.«

Das Gebäude mit seinen grauen, moosbewachsenen Quadersteinen bestand aus einem hohen Mittelbau, von dem an jedem Ende ein geschweifter Flügel auslief. An dem linken Flügel waren die zerbrochenen Fenster mit Brettern vernagelt, und das Dach teilweise eingestürzt – ein Bild des Verfalls. Der Mittelbau befand sich schon in etwas besserem Stand, und der rechte Flügel machte einen verhältnismäßig neuen Eindruck; die Vorhänge an den Fenstern und der blaue Rauch, der sich über den Schornsteinen kräuselte, zeigten an, daß hier die Familie wohnte. An der Außenwand war ein Gerüst aufgeschlagen und das Mauerwerk durchgebrochen; von einem Arbeiter war jedoch zur Zeit weit und breit nichts zu sehen. Holmes ging langsam auf dem schlecht gepflegten Rasenplatz auf und ab und untersuchte die Fenster aufs peinlichste von außen.

»Dies hier gehört wohl zu Ihrem früheren Schlafzimmer, das mittlere zu dem Ihrer Schwester, und das letzte zunächst dem Mittelbau zu Dr. Roylotts Schlafzimmer?«

»Ganz richtig. Aber gegenwärtig schlafe ich in dem mittleren.«

»Während der baulichen Arbeiten vermutlich, übrigens kommt es mir nicht gerade vor, als ob hier an der Außenwand die Ausbesserung dringend nötig gewesen wäre.«

»Ganz und gar nicht. Ich glaube, daß es lediglich ein Vorwand war, um mich aus meinem Zimmer zu vertreiben.«

»Möglich. Und an der andern Seite des schmalen Flügels läuft wohl der Gang hin, auf den die drei Zimmer münden? Natürlich hat er auch Fenster.«

»Aber nur ganz kleine, durch die ein Mensch nicht hereinkommen kann.«

»Da Ihre Schwester und Sie Ihre Zimmer nachts ja abschlossen, so waren sie sowieso von dieser Seite her unzugänglich. Und jetzt schließen Sie bitte einmal die Läden in Ihrem Zimmer.«

Nachdem die Läden vorgelegt waren, untersuchte sie Holmes sorgfältig von innen und außen, dann machte er auf jede mögliche Weise den Versuch, sie aufzubrechen, jedoch ohne Erfolg. Nirgends war der geringste Spalt, in dem sich hätte etwa ein Messer ansetzen lassen, um die Stange zu lockern. Dann untersuchte er auch die Angeln, allein sie waren aus starkem Eisen und saßen fest in dem massiven Mauerwerk. »Hm«, meinte er und rieb sich verlegen das Kinn, »meine Annahme stößt allerdings auf Schwierigkeiten. Hier konnte kein Mensch hereinkommen, wenn die Läden geschlossen waren. Nun, wir werden ja sehen, ob die innere Besichtigung vielleicht Licht in die Sache bringt.«

Eine kleine Seitentüre führte in den weißgetünchten Gang, auf den die drei Schlafzimmer mündeten. Das äußerste wollte Holmes nicht sehen, deshalb begaben wir uns sogleich nach dem mittleren, worin Fräulein Stoner gegenwärtig schlief und in dem ihre Schwester gestorben war. Es war ein gemütlicher kleiner Raum mit niederer Decke und großem Kamin, wie man sie in alten Landsitzen oft trifft. Eine braune Kommode stand in der einen Ecke, ein schmales, weiß bezogenes Bett in einer anderen und ein Toilettentisch zur Linken des Fensters. Diese Möbel bildeten zusammen mit zwei geflochtenen Stühlen und einem Teppich in der Mitte die ganze Einrichtung. Das eichene Holzwerk des Bodens und der Wände war alt und wurmstichig, es mochte wohl noch aus der Zeit stammen, als das Haus erbaut wurde. Holmes schob sich einen Stuhl in eine Ecke, ließ von diesem Platz aus den Blick ringsumher laufen und musterte stumm den ganzen Raum mit größter Genauigkeit.

»Wohin geht diese Klingel?« fragte er zuletzt und deutete dabei auf einen dicken Klingelzug, der neben dem Bett herabhing, so daß die Quaste auf dem Kissen ruhte.

»In das Zimmer der Haushälterin.«

»Sie scheint neuer zu sein als die übrige Einrichtung.«

»Ja, sie wurde erst vor ein paar Jahren angebracht.«

»Vermutlich auf Verlangen Ihrer Schwester?«

»Nein, soviel ich weiß, hat Julia sie nie benützt. Wir waren gewohnt, uns alles, was wir brauchten, selbst zu holen.«

»Nun, dann war es wahrhaftig recht überflüssig, einen so schönen Klingelzug anzubringen. Sie erlauben wohl, daß ich mich jetzt ein paar Minuten auf dem Boden umsehe.« Er legte sich mit der Lupe in der Hand nieder und kroch behende vor- und rückwärts, um jede Spalte zwischen den Dielen auf das genaueste zu untersuchen. Hierauf prüfte er die Holztäfelung des Zimmers ebenso sorgfältig. Zuletzt trat er an das Bett und betrachtete es längere Zeit, während er gleichzeitig den Blick an der Wand hinter demselben auf- und abgleiten ließ. Schließlich faßte er den Glockenzug und tat einen tüchtigen Ruck daran.

»Das ist ja nur eine Scheinklingel!« sagte er.

»Läutet sie nicht?«

»Nein, es ist nicht einmal ein Draht daran befestigt. Das ist höchst interessant. Sehen Sie nur, sie ist gerade über dem kleinen Luftloch an einem Haken festgemacht.«

»Wie seltsam! Das ist mir noch nie aufgefallen.«

»Höchst wunderlich!« murmelte Holmes, indem er nochmals an der Klingel zog. »Einiges in diesem Zimmer ist wirklich ganz merkwürdig. Zum Beispiel muß ja der Baumeister ein vollkommener Narr gewesen sein, daß er ein Luftloch ins Nebenzimmer gemacht hat, während es gerade so gut ins Freie hinausgehen konnte.«

»Es stammt ebenfalls erst aus neuerer Zeit«, bemerkte Fräulein Stoner.

»Es wurde wohl zugleich mit dem Glockenzug angebracht?«

»Ja, damals hat man verschiedene kleine Änderungen vorgenommen.«

»Die recht interessanter Art sind – Scheinklingeln und Luftlöcher, die keine frische Luft zuführen. Mit Ihrer Erlaubnis, Fräulein Stoner, wollen wir jetzt unsere Besichtigung in Dr. Roylotts Zimmer fortsetzen.«

Dieses war größer, aber ebenso einfach eingerichtet. Ein Feldbett, ein kleines Gestell mit Büchern, zumeist medizinischen Inhalts, ein Lehnstuhl neben dem Bett, ein einfacher Holzstuhl an der Wand, ein runder Tisch und ein großer eiserner Geldschrank fielen zunächst ins Auge. Holmes ging langsam durch das Zimmer und besichtigte ein Stück um das andere mit der schärfsten Aufmerksamkeit.

»Was ist hier drinnen?« fragte er, an den Eisenschrank klopfend.

»Meines Stiefvaters Geschäftspapiere.«

»So! – Sie haben also schon hineingesehen?«

»Nur ein einziges Mal, vor Jahren. Es war nichts darin als Papiere, soviel ich mich erinnere.«

»Ist nicht vielleicht eine Katze drinnen?«

»Eine Katze? Nein! Wie kommen Sie auf den sonderbaren Einfall?«

»Sehen Sie mal hierher!« Er nahm eine kleine Untertasse voll Milch von dem Schrank herunter, die oben gestanden hatte.

»Nein; wir halten keine Katze. Aber ein Leopard und ein Pavian sind im Hause.«

»Ja – so! Nun, ein Leopard ist ja eben nichts als eine große Katze, allerdings dürfte eine Untertasse voll Milch für seine Bedürfnisse nicht weit reichen. Nun möchte ich nur noch eines ergründen.« Damit kniete er vor den Holzstuhl hin und prüfte den Sitz mit größter Aufmerksamkeit.

»Danke. Das wäre also festgestellt«, sagte er, indem er aufstand und seine Lupe einsteckte. »Hallo! Da sehe ich noch etwas Interessantes!«

Der Gegenstand, der seinen Blick auf sich gezogen hatte, war eine kleine Hundepeitsche, die an der einen Ecke des Bettes hing und deren Schnur so zusammengeknüpft war, daß sie eine runde Schleife bildete.

»Was hältst du davon, Watson?«

»Das ist eine ganz gewöhnliche Hundepeitsche. Nur kann ich mir nicht denken, wozu die Schleife daran dienen soll.«

»Also ist sie doch nicht so ganz gewöhnlicher Art, nicht wahr? Ach ja, es ist eine schlechte Welt! Und am allerschlimmsten ist es, wenn ein fähiger Kopf seine Gaben zu verbrecherischen Gedanken gebraucht. – Ich glaube, ich habe jetzt genug gesehen, Fräulein Stoner; wir wollen jetzt wieder auf den Rasenplatz hinausgehen.«

Noch nie hatte ich meinen Freund mit so grimmiger Miene und so finster zusammengezogenen Brauen gesehen, als nun, da wir den Schauplatz der Untersuchung verließen. Mehrmals gingen wir auf dem Rasen auf und ab, aber weder ich noch Fräulein Stoner mochten ihn durch eine Frage in seinen Gedanken stören, bis er selbst sich dem tiefen Nachsinnen entriß.

»Es ist unbedingt nötig, Fräulein Stoner«, begann er endlich, »daß Sie meinem Rat in jeder Hinsicht strengstens Folge leisten.«

»Sie können sich darauf verlassen.«

»Der Fall ist zu ernst, um die geringste Unschlüssigkeit zu gestatten. Ihr Leben hängt möglicherweise von Ihrem unbedingten Gehorsam ab.«

»Ich verspreche Ihnen, daß ich alle Ihre Anweisungen genau befolgen werde.«

»Vor allem muß ich mit meinem Freund diese Nacht in Ihrem Zimmer verbringen.«

Ganz verwundert starrten wir ihn beide an.

»Jawohl, das muß sein. Sie sollen gleich das Nähere darüber hören. Das Haus dort drüben ist doch das Dorfwirtshaus?«

»Jawohl, das ist die ›Krone‹.«

»Sehr gut. Sieht man Ihre Fenster von dort aus?«

»Ja.«

»Wenn Ihr Stiefvater heimkommt, müssen Sie Kopfweh vorschützen und sich in Ihr Zimmer einschließen. Sobald Sie dann hören, daß er sich zur Ruhe begeben hat, öffnen Sie die Riegel am Fenster und den Laden, stellen ein Windlicht – so etwas werden Sie ja wohl im Hause haben – zum Zeichen für uns ans Fenster und ziehen sich dann in aller Stille nach Ihrem früheren Schlafzimmer zurück. Sie können sich doch sicher trotz der Bauarbeiten für eine Nacht darin einrichten.«

»O ja, ganz gut.«

»Das Weitere überlassen Sie uns.«

»Was haben Sie vor?«

»Wir werden die Nacht in Ihrem Zimmer verbringen, um dem Geräusch, das Sie so erschreckt hat, auf die Spur zu kommen.«

»Ich habe das Gefühl, Herr Holmes, als hätten Sie schon einen bestimmten Verdacht, als wüßten Sie mehr, als Sie mir zugeben wollen«, sagte Fräulein Stoner und legte ihm die Hand auf den Arm.

»Das kann wohl sein.«

»Dann sagen Sie mir ums Himmels willen, was an dem Tod meiner Schwester schuld war.«

»Ich möchte gern erst noch sichere Beweise haben.«

»Könnte ich nicht wenigstens erfahren, ob meine Ansicht zutrifft, daß sie an einem plötzlichen Schrecken gestorben ist.«

»Nein, das glaube ich nicht. Nach meiner Überzeugung lag wohl eine greifbare Ursache vor. Nun aber, Fräulein Stoner, müssen wir gehen; denn wenn Dr. Roylott zurückkäme und uns sähe, wäre unser ganzer Besuch umsonst gewesen. Leben Sie wohl und halten Sie sich tapfer; wenn Sie meinen Anweisungen pünktlich nachkommen, dürfen Sie versichert sein, daß wir Ihnen alle Gefahren bald aus dem Wege geräumt haben werden.«

Drüben in der »Krone« verschafften wir uns im oberen Stockwerk zwei Zimmer, deren Fenster gerade nach dem Parktor und dem bewohnten Flügel des Herrenhauses hinüberschauten. In der Dämmerung kam Dr. Roylott angefahren; seine Riesengestalt ragte hoch empor neben dem schmächtigen Burschen, der den Wagen lenkte. Als dieser das Gittertor nicht ohne weiteres aufbrachte, hörten wir den Doktor mit seiner heiseren Stimme wütend auf ihn einschreien, am liebsten wäre er mit den geballten Fäusten auf ihn losgegangen. Einige Minuten später blitzte plötzlich aus einem der Wohnzimmer das Licht einer Lampe durch das Laubwerk herüber.

»Weißt du, Watson«, sagte Holmes, als wir in der zunehmenden Dunkelheit beisammen saßen, »es ist mir wirklich nicht ganz wohl dabei, daß ich dich heute nacht mitnehmen soll. Die Sache ist durchaus nicht ohne ernstliche Gefahr.«

»Aber du glaubst, daß ich dir dabei von Nutzen sein kann?«

»Deine Gegenwart ist möglicherweise von ganz unbezahlbarem Werte.«

»Dann werde ich selbstverständlich mitgehen.«

»Das ist sehr freundlich von dir.«

»Du sprichst von Gefahr. Offenbar hast du in den Zimmern mehr gesehen, als ich entdecken konnte.«

»Nein, ich habe wahrscheinlich nur mehr Schlüsse daraus abgeleitet. Gesehen hast du wohl gerade so viel wie ich.«

»Außer dem Klingelzug habe ich nichts Bemerkenswertes wahrgenommen. Zu welchem Zweck der aber dienen sollte, kann ich mir nicht vorstellen, das gestehe ich ehrlich.«

»Hast du auch das Luftloch gesehen?«

»Ja, aber ich meine, eine kleine Öffnung, die aus einem Zimmer ins andere führt, ist doch nichts so ganz Ungewöhnliches. Sie ist ja so klein, daß kaum eine Ratte durchschlüpfen kann.«

»Ich wußte schon, ehe wir hierher kamen, daß wir ein solches Luftloch finden würden.«

»Aber, bester Holmes – –!«

»Du erinnerst dich gewiß, daß uns Fräulein Stoner berichtete, ihre Schwester habe Dr. Roylotts Zigarre gerochen. Nun, das brachte mich sogleich auf den Gedanken, daß zwischen den beiden Zimmern eine Verbindung bestehen muß; natürlich konnte sie nur klein sein, sonst wäre sie bei der gerichtlichen Untersuchung bemerkt worden; so kam ich zu dem Schluß, daß es sich um ein Luftloch handeln werde.«

»Aber was kann denn dabei Schlimmes sein?«

»Es ist doch zum mindesten ein merkwürdiges Zusammentreffen, daß das Mädchen, das in seinem Bett schläft, plötzlich stirbt, gerade nachdem man über demselben ein Luftloch angebracht und daneben einen Klingelzug befestigt hat. Kommt dir das nicht auch auffallend vor?«

»Ich vermag noch immer nicht einzusehen, wie das alles zusammenhängen soll.«

»Hast du vielleicht etwas Besonderes an dem Bett bemerkt?«

»Nein.«

»Es ist am Fußboden angenagelt. Ist dir das sonst schon jemals vorgekommen?«

»Nein, das ist allerdings sonst nicht gerade üblich.«

»Fräulein Stoner konnte also ihr Bett nicht von der Stelle rücken. Es muß gerade unter dem Luftloch und dem Seil stehen bleiben – ein Seil müssen wir es doch eigentlich nennen, da es auf einen Klingelzug offenbar überhaupt nicht abgesehen war.«

»Holmes!« rief ich aus, »ich glaube, mir dämmert allmählich eine Ahnung auf, wohin deine Andeutungen zielen. Wir sind wohl gerade zur rechten Zeit gekommen, um ein raffiniert ausgedachtes Verbrechen zu verhindern.«

»Jawohl, raffiniert ausgedacht! Wenn ein Arzt zum Verbrecher wird, so tut er es allen andern zuvor; denn er besitzt die nötigen Kenntnisse und hat starke Nerven. So war es zu allen Zeiten. Der Mensch, mit dem wir es zu tun haben, stellt zwar selbst berüchtigte Vorbilder in den Schatten, aber wir werden es trotzdem wagen, den Kampf mit ihm aufzunehmen. Es warten unsrer noch Aufregungen genug, bevor die Nacht um ist; deshalb laß uns jetzt in aller Ruhe und Gemütlichkeit eine Pfeife zusammen rauchen und ein paar Stunden an etwas Heiteres denken.«

Etwa um neun Uhr erlosch der Lichtschein zwischen den Bäumen, und das Herrenhaus lag nun in tiefem Dunkel. Zwei Stunden waren langsam dahingeschlichen, als plötzlich, mit dem Schlag elf Uhr, ein einzelnes Licht gerade uns gegenüber aufblitzte.

»Es ist das Zeichen für uns«, sagte Holmes aufspringend; »es kommt aus dem Mittelfenster.«

Beim Verlassen des Hauses erklärten wir dem Wirt mit ein paar Worten, daß wir noch einen späten Besuch bei einem Bekannten machen wollten, wo wir möglicherweise auch die Nacht zubringen würden. Im nächsten Augenblick blies uns bereits der kalte Wind auf der finsteren Landstraße ins Gesicht, und der kleine Lichtschein vom Herrenhause war nun unser einziger Leitstern auf dem dunkeln, unheimlichen Pfade.

In den Park hineinzukommen kostete uns wenig Mühe, denn in der alten Umfassungsmauer gähnten an mehreren Stellen weite Lücken. Wir hielten uns unter den Bäumen, bis wir auf dem Rasenplatz waren. Als wir ihn eben überschritten hatten und im Begriff waren, durch das Fenster einzusteigen, schoß aus dem dichten Lorbeergebüsch ein Wesen hervor, das einem häßlichen, mißgestalteten Kinde ähnlich sah. Zuerst ließ es sich unter allerlei Gliederverrenkungen ins Gras niederfallen, dann rannte es eilig über den Rasen davon und verschwand wieder in der Dunkelheit.

Entsetzt waren wir beide stehengeblieben. Holmes war im ersten Augenblick nicht weniger erschrocken als ich selbst. In seiner Aufregung preßte er mir das Handgelenk zusammen, daß ich hätte aufschreien mögen. Dann aber brach er in ein unterdrücktes Lachen aus und legte seine Lippen an mein Ohr.

»Diesmal haben wir uns schön anführen lassen«, flüsterte er, »das ist ja der Pavian.«

Ich hatte die ausgefallenen Liebhabereien des Hausherrn ganz vergessen. Ein Leopard war überdies ja auch noch da und konnte uns jeden Augenblick auf den Schultern sitzen. Ich gestehe, daß ich mich erst etwas erleichtert fühlte, als ich mich im Innern des Schlafzimmers befand, nachdem ich zuvor, dem Beispiel meines Freundes folgend, die Schuhe ausgezogen hatte. Holmes schloß nun geräuschlos die Läden, stellte das Windlicht auf den Tisch und ließ dann seinen Blick im Zimmer umherschweifen. Es war noch alles genau so, wie wir es am Tage gesehen hatten. Durch die hohle Hand flüsterte mir Holmes so leise zu, daß ich ihn eben noch verstehen konnte:

»Das geringste Geräusch kann uns alles verderben.«

Ich nickte, zum Zeichen, daß ich verstanden habe.

»Wir dürfen das Licht nicht brennen lassen. Er würde den Schein durch das Luftloch sofort bemerken.«

Ich nickte wieder.

»Schlafe nur nicht ein; es könnte dich das Leben kosten. Halte deine Pistole für den Notfall bereit; ich will mich auf das Bett setzen, und du nimmst den Stuhl dort.«

Ich zog meinen Revolver aus der Tasche und legte ihn auf den Tischrand.

Holmes hatte eine lange dünne Gerte mit hereingebracht, die er nun samt einer Taschenlampe neben sich auf das Bett legte. Dann löschte er den kleinen Docht zwischen den Fingern aus und wir saßen im Dunkeln.

Niemals werde ich diese entsetzliche Wache je vergessen können. Kein Laut, nicht der leiseste Atemzug war vernehmbar, und doch wußte ich, daß mein Begleiter kaum ein paar Schritte von mir mit offenen Augen in derselben Erregung und Spannung aller Nerven dasaß, wie ich selbst. Die Läden ließen nicht die kleinste Nachthelle herein, und die Finsternis, die uns umgab, war undurchdringlich. Draußen ließ sich von Zeit zu Zeit der Schrei eines Nachtvogels und einmal auch, gerade vor unserem Fenster, ein langgezogenes katzenartiges Wimmern hören, das uns bewies, daß der Leopard wirklich frei umherlief. Aus weiter Ferne klangen die tiefen Töne der Kirchenuhr herüber, die alle Viertelstunden schlug. Wie lang wurden sie uns, diese Viertelstunden! Es schlug zwölf, eins, zwei, drei – und noch immer saßen wir da und harrten stumm der Dinge, die da kommen sollten.

Plötzlich blitzte an dem Luftloch ein flüchtiger Lichtschein auf, der sofort wieder verschwand, während sich nun ein starker Geruch von brennendem Öl und erhitztem Metall bemerkbar machte. Im Nebenzimmer war eine Blendlaterne angezündet worden. Ich hörte, daß sich etwas leise bewegte. Dann war wieder alles still, während der Geruch sich immer mehr ausbreitete. Eine halbe Stunde saßen wir so und lauschten mit allen Sinnen. Nun ließ sich mit einemmal ein anderer Laut vernehmen – ein ganz leises, sanftes Zischen, wie wenn ein dünner Dampfstrahl längere Zeit aus einem Kessel ausströmt. Augenblicklich sprang Holmes vom Bette auf, knipste seine Taschenlampe an und hieb mit seiner Gerte wütend auf den Klingelzug los.

»Du siehst es doch, Watson?« rief er, »siehst du es?«

Aber ich sah nichts. In dem Augenblick, als Holmes Licht machte, vernahm ich zwar ein sanftes helles Pfeifen, aber bei der plötzlichen Helle, die meine müden Augen traf, war ich nicht imstande, zu unterscheiden, auf was mein Freund so grimmig hineinschlug. Doch bemerkte ich wohl, daß er totenblaß war, und daß sich Entsetzen und Abscheu in seinen Zügen malten.

Jetzt hatte er aufgehört zu schlagen und blickte noch zu dem Luftloch empor, als plötzlich aus der nächtlichen Stille der schauerlichste Schrei hervordrang, den ich je vernommen habe. Er schwoll immer lauter und lauter an; Schmerz, Angst und Wut – das alles klang vereint aus diesem gräßlichen, unbeschreiblichen Laut an unser Ohr. Später erfuhren wir, daß drunten im Dorf, ja sogar in dem entlegenen Pfarrhause bei diesem Schrei die Schläfer aufgefahren waren. Uns stockte vor Entsetzen der Atem, und starr blickten wir einer den andern an, bis auch der letzte Widerhall in der tiefen Stille erstorben war.

»Was mag das bedeuten?« brachte ich mühsam hervor.

»Das bedeutet, daß alles vorüber ist«, gab Holmes zur Antwort, »und vielleicht ist es schließlich am besten so. Nimm deine Pistole zur Hand, dann wollen wir in Dr. Roylotts Zimmer hinübergehen.«

Mit leichenblassem Gesicht schritt er voran auf den Gang hinaus. Zweimal klopfte er an des Doktors Zimmertür, ohne daß von drinnen eine Antwort kam. Nun drückte er die Klinke auf und trat ein, ich mit gespannter Pistole dicht hinter ihm.

Ein eigentümlicher Anblick bot sich unseren Augen. Auf dem Tische stand eine Blendlaterne, aus deren halbgeöffnetem Türchen ein greller Lichtstrahl auf den Eisenschrank fiel, dessen Türe weit offen stand. Neben dem Tisch auf dem Holzstuhl saß Dr. Roylott in einem langen grauen Schlafrock, aus dem unten seine bloßen Knöchel hervorschauten, während seine Füße in roten türkischen Pantoffeln steckten. Auf seinem Schoße lag die Hundepeitsche mit der langen Schleife, die uns am Tage zuvor in die Augen gefallen war. Sein Kinn war aufwärts gezogen, und seine glasigen Augen starrten schauerlich nach einer Ecke der Stubendecke empor. Um die Stirne hatte er ein eigentümliches gelbes Band mit bräunlichen Tupfen, das anscheinend fest um seinen Kopf gewunden war. Bei unserem Eintreten gab er keinen Laut von sich und rührte sich nicht.

»Das Band! Das getupfte Band!« flüsterte Holmes.

Ich machte einen Schritt vorwärts. Auf einmal begann der eigentümliche Kopfschmuck sich zu bewegen, und mitten aus den Haaren des Dasitzenden erhob sich der platte, spitzige Kopf und der aufgeblasene Hals einer Schlange.

»Es ist eine Sumpfotter!« rief Holmes aus, »die giftigste aller indischen Schlangen. Zehn Sekunden nach ihrem Biß lebte er schon nicht mehr. Hier ist in Wahrheit das Böse auf seinen Urheber zurückgefallen, und der Verbrecher stürzte selbst in die Grube, die er andern gegraben. Wir wollen das Tier vor allem wieder in seinen Behälter befördern; dann können wir Fräulein Stoner wegbringen und die Behörde von dem Vorgefallenen in Kenntnis setzen.«

Bei diesen Worten nahm er dem Toten rasch die Peitsche vom Schoß, warf die Schleife um den Hals der Schlange und zog sie von ihrem struppigen Lager weg. Dann trug er sie auf Armeslänge vor sich her nach dem Schrank, legte sie hinein und verschloß ihn wieder.

*

Dies ist der wahre Hergang beim Tode des Dr. Grimesby Roylott von Stoke Moran. Meine Erzählung ist bereits sehr lang geworden; ich will es mir deshalb ersparen, noch ausführlich zu berichten, wie wir die traurige Kunde Fräulein Stoner mitteilten, als wir sie mit dem Frühzug in die Obhut ihrer Tante nach Harrow brachten, und wie die Behörde auf dem Wege ihres langsamen Verfahrens endlich zu dem Schlusse gelangte, daß der Doktor sein plötzliches Lebensende durch unvorsichtiges Spielen mit einem gefährlichen Lieblingstier verschuldet habe. Das wenige, was ich über den Fall noch weiter erfuhr, teilte mir Holmes unterwegs auf der Heimfahrt am nächsten Tage mit.

»Ich war«, erklärte er mir, »zu einer gänzlich irrigen Schlußfolgerung gelangt, woraus du siehst, mein lieber Watson, wie gefährlich es stets ist, seine Schlüsse auf ungenügender Grundlage aufzubauen. Die Anwesenheit der Zigeuner und die doppelsinnige Äußerung der unglücklichen Julia, durch die sie zweifellos den Eindruck bezeichnen wollte, den die Gestalt der Schlange im Scheine des Zündhölzchens auf sie gemacht hatte, genügten, um mich auf eine völlig falsche Spur zu bringen. Ich kann nur das Verdienst für mich in Anspruch nehmen, daß ich augenblicklich davon abging, als es mir klar wurde, daß jede Gefahr, welcher Art sie auch sei, die der Bewohnerin des Zimmers drohte, weder durch die Tür noch durch das Fenster nahen könne. Sofort fiel mir nun das Luftloch auf mit dem Klingelzug daneben, der auf das Bett herabhing. Als ich dann entdeckte, daß es gar keine Klingel war, und ich überdies das Bett am Boden befestigt fand, erwachte in mir augenblicklich der Verdacht, daß das Seil nur dazu diene, um irgend etwas an ihm durch das Luftloch auf das Bett herunterzulassen. Sofort dachte ich an eine Schlange; hielt ich mir dazu weiter vor Augen, daß der Doktor sich beständig Tiere aus Indien schicken ließ, so glaubte ich wirklich annehmen zu dürfen, daß ich mich nun auf der richtigen Spur befinde. Der Gedanke, sich einer Art von Gift zu bedienen, das sich durch keinerlei chemische Untersuchung nachweisen ließ, war einem Menschen mit den Kenntnissen und der Gewissenlosigkeit des Doktors, der lange im Orient gelebt hatte, ganz besonders zuzutrauen. Die rasche Wirkung eines solchen Giftes mußte ihm von seinem Standpunkt aus ebenfalls sehr erwünscht sein. Der Leichenbeschauer hätte wirklich ein scharfes Auge haben müssen, um die zwei winzigen dunklen Pünktchen wahrzunehmen, die einzige Spur, die der Biß der Giftzähne hinterließ. Dann dachte ich über das Pfeifen nach. Er mußte natürlich die Schlange wieder zurückrufen, ehe es hell wurde, damit das Opfer sie nicht erblicken konnte. Deshalb hatte er sie, wahrscheinlich mittels der Milch, die wir bei ihm vorfanden, so abgerichtet, daß sie auf seinen Pfiff zu ihm kam. Zur geeigneten Zeit ließ er sie allemal durch das Luftloch hinüberschlüpfen; er konnte sich darauf verlassen, daß sie an dem Klingelzug auf das Bett hinunterkroch. Ob sie die Schlafende sofort beißen würde, war allerdings nicht sicher; möglich, daß diese eine ganze Woche lang der Gefahr Nacht für Nacht entging; aber früher oder später mußte sie doch zum Opfer fallen.

Zu diesen Schlußfolgerungen war ich bereits gelangt, ehe ich überhaupt des Doktors Zimmer betreten hatte. An seinem Stuhl sah ich dann, daß er sich regelmäßig darauf zu stellen pflegte; natürlich, denn er hätte ja sonst nicht zu dem Luftloch hinaufzureichen vermocht. Der Anblick des eisernen Schrankes, der Untertasse mit Milch und der Schlinge an der Peitschenschnur genügten dann vollends, um jeden Zweifel bei mir zu verscheuchen. Der metallene Klang, den Fräulein Stoner hörte, rührte offenbar von der Tür des Schrankes her, den ihr Vater hinter seiner grausigen Bewohnerin hastig zuschlug. Welche Schritte ich dann tat, und wie sehr sich die Richtigkeit meiner Auffassung bestätigt hat, ist dir ja bekannt. Sobald ich die Schlange zischen hörte, was du ohne Zweifel gleichfalls gehört hast, machte ich augenblicklich Licht und ging auf sie los …«

»Was zur Folge hatte, daß sie sich schleunigst durch das Luftloch davon machte.«

»Und zur weiteren Folge, daß sie sich drüben auf ihren Herrn stürzte. Ein paar von den Hieben mit meiner Gerte saßen ganz gehörig; dadurch erwachte bei der Schlange ihre natürliche Bösartigkeit, so daß sie auf den nächsten besten losging. In dieser Beziehung trage ich zweifellos mittelbar die Schuld an des Doktors Tode, aber ich glaube kaum, daß sie mein Gewissen sonderlich schwer bedrücken wird.«

*

Als der einsame Leser in dem stillen Raum bis hierher gekommen war, sagte er plötzlich laut mitten ins Zimmer hinein:

»Nein, an dieser Schuld hab ich wahrhaftig noch nie schwer getragen.« Seine Hand ließ das Blatt sinken und sein Blick ging weit in die Ferne. Das altersgraue, verwahrloste Gemäuer von Stoke Moran wuchs noch einmal für eine Weile vor ihm auf mit allen Einzelheiten jener Schreckensnacht. Dann zerflatterte es wieder wie ein Nebelgebilde und nichts blieb zurück als die innere Gewißheit, daß er die Verantwortung für diesen Ausgang der Tragödie auf Stoke Moran mit gutem Gewissen tragen konnte.

Mit ruhiger Miene griff Holmes nach der nächsten Nummer des »Telegraph«. »Sieh da«, sagte er vor sich hin, »das ist ja diese merkwürdige Geschichte mit der hydraulischen Presse:

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Der Daumen des Ingenieurs

Der Daumen des Ingenieurs

Von all den schwierigen Kriminalfällen, die meinem Freunde Sherlock Holmes zur Lösung übertragen wurden, erhielt er nur zwei durch meine Vermittlung. Einer davon betraf Hatherleys Daumen. Wenn sich auch das großartige Kombinationstalent meines Freundes, dem er so wunderbare Erfolge zu verdanken hatte, hier weniger dabei entfalten konnte, so fing diese Aufgabe doch so toll an und verlief so dramatisch, daß sie mir wohl der Aufzeichnung wert erscheint. Jedenfalls hat sich der tiefe Eindruck, den ich damals erhielt, noch heute, nach zwei Jahren, kaum abgeschwächt.

*

Es war an einem Sommertag. Ein Bahnbeamter, den ich bei einem Unfall behandelt hatte, verkündete mein Lob in allen Tonarten und hätte mir am liebsten jeden Patienten geschickt, dessen er nur habhaft werden konnte.

Eines Morgens, kurz vor sieben, wurde mir gemeldet, daß eben jener Bahnbeamte mit einem andern, offenbar verletzten Herrn gekommen wäre, um mich zu sprechen. Ich eilte die Treppe hinunter, da ich vermutete, es könne sich wieder um einen Eisenbahnunfall handeln, bei dem rasche Hilfe notwendig sei. Mein alter Freund kam mir vor dem Zimmer schon entgegen.

»Ich hab‘ ihn hergebracht«, flüsterte er, mit dem Daumen über die Schulter deutend, »den hätten wir sicher.«

»Was fehlt ihm denn?« fragte ich, denn das sonderbare Benehmen des Bahnbeamten verriet mir, daß es eine ganz besondere Bewandtnis mit dem Verletzten haben mußte, den er so sorglich in mein Zimmer gesperrt hatte. »Es ist ’n neuer Patient«, raunte er mir in seiner treuherzigen Art leise zu. »Ich hielt es für schlauer, ihn gleich selbst herzubringen, so konnte er mir nicht mehr entwischen. Nun kann er nicht mehr weg. Aber jetzt muß ich gehen, Doktor, die Pflicht ruft.« Und fort war er, ehe ich noch Zeit gefunden hatte, ihm für diese gutgemeinte Belebung meiner garnicht beabsichtigten Praxis zu danken.

Im Empfangszimmer fand ich einen Herrn am Tische sitzen, der einen schlichten, bräunlichen Anzug trug, seine einfache Tuchmütze hatte er auf die dort aufgelegten Bücher gelegt. Eine seiner Hände war in ein völlig mit Blut durchtränktes Taschentuch gewickelt. Er war vielleicht 25 Jahre alt; sein Gesicht war ernst und männlich, aber so bleich, daß es mir den Eindruck machte, als wenn er eben eine schwere Nervenerschütterung durchgemacht hätte, die er trotz aller Anstrengung noch nicht überwinden konnte.

»Verzeihen Sie die frühe Störung, Herr Doktor«, sagte er, »ich habe in dieser Nacht einen ernsten Unfall gehabt. Ich kam heute morgen mit dem Zuge hier an und erkundigte mich bei einem Bahnbeamten, wo ich einen Arzt finden könnte. Dieser Herr hatte die Güte, mich hierher zu begleiten. Ich übergab dem Mädchen meine Karte, doch wie ich sehe, liegt sie noch dort auf dem Tischchen.«

Ich nahm sie auf und las: Victor Hatherley, Ingenieur, Victoriastraße 16a III. Das war also Namen, Beruf und Wohnung meines Morgenbesuches. Dann setzte ich mich zu ihm. »Sie sind also die Nacht durchgefahren?« fragte ich. »Das ist gewöhnlich recht ermüdend und langweilig.«

»Oh, in diesem Falle trifft das nicht zu«, sagte er und dann lachte er, so laut und gellend, daß er sich im Stuhl zurückwarf und sich die Seiten halten mußte. Es lag etwas Krankhaftes in dieser übertriebenen Heiterkeit, das erkannte ich sofort. »Hören Sie auf«, rief ich, »nehmen Sie sich doch zusammen!« Er hatte einen regelrechten hysterischen Anfall, wie er zuweilen bei sehr starken Naturen vorkommt, die eine große Aufregung hinter sich haben.

Erst allmählich beruhigte er sich und nun wurde er dunkelrot vor Verlegenheit.

»Ich habe mich schön lächerlich gemacht vor Ihnen«, keuchte er.

»Durchaus nicht. Bitte, nehmen Sie.« Ich gab ihm etwas Kognak mit Wasser zu trinken.

»Das tut wohl«, sagte er. »Und nun haben Sie vielleicht die Güte, Herr Doktor, und sehen sich einmal meinen Daumen an oder vielmehr die Stelle, wo er gesessen hat.« Er band das Tuch ab und hielt mir die Hand entgegen, deren Anblick selbst mich erschütterte. Neben den vier ausgestreckten Fingern war statt des Daumens nur eine fürchterlich rote, schwammige Fläche. Er mußte bis zur Wurzel abgehackt oder abgerissen worden sein.

»Das ist ja eine furchtbare Wunde, Sie müssen einen bedeutenden Blutverlust gehabt haben.«

»O ja«, antwortete er. »Ich wurde sofort ohnmächtig, nachdem es geschehen war, und muß wohl längere Zeit besinnungslos gelegen haben. Ich blutete noch, als ich wieder zu mir kam, und umschnürte deshalb mein Handgelenk mit dem Taschentuch, das ich mit einem Holzpflock möglichst fest drehte.«

»Das war sehr richtig. – Die Wunde wurde jedenfalls durch ein schweres und scharfes Instrument verursacht?«

»Durch eine Art Schlächterbeil.«

»Vermutlich ein unglücklicher Zufall?«

»O nein, ganz und gar nicht.«

»Also ist es mit Absicht geschehen?«

»Sehr richtig geraten.«

»Aber das ist ja fürchterlich!«

Ich wusch die Wunde aus und legte dann einen antiseptischen Verband an. Er zuckte nicht mit der Wimper und biß sich nur zuweilen auf die Lippen.

»Wie fühlen Sie sich jetzt?« fragte ich nach beendeter Arbeit.

»Es ist mir jetzt wieder viel besser. Ich war wirklich dem Umsinken nahe, aber ich habe auch recht viel durchgemacht.«

»Vielleicht wäre es richtiger, Sie würden jetzt nicht davon sprechen. Es greift Sie sicher sehr an.«

»Jetzt durchaus nicht mehr. Ich muß die Sache so bald wie möglich der Polizei melden, aber wenn meine Wunde nicht einen sehr deutlichen Beweis lieferte, würde ich wahrscheinlich mit meiner Erzählung dort wenig Glauben finden, besonders da ich so gut wie keine sicheren Anhaltspunkte geben kann.«

»Oho!« rief ich, »falls die Geschichte etwas rätselhafter Natur ist und einer Lösung bedarf, dann würde ich Ihnen eigentlich raten, zuerst mit meinem Freund Holmes zu sprechen, ehe Sie auf die Polizei gehen.«

»Von diesem Herrn habe ich schon gehört«, sagte mein Patient, »und ich würde ihm nur zu gern meine Angelegenheit übergeben, obgleich die Polizei natürlich auch benachrichtigt werden muß. Würden Sie so freundlich sein und mir einige Empfehlungsworte mitgeben?«

»Herr Holmes wohnt hier im Hause, ich kann Sie gleich zu ihm führen«, antwortete ich.

Wir gingen nach oben. Sherlock Holmes saß noch im Schlafanzug im Wohnzimmer, las die Polizeiberichte in der »Times« und rauchte seine Morgenpfeife, die er mit allen Stummeln und Endchen der Zigarren stopfte, welche er tags zuvor geraucht hatte und sorgfältig zu sammeln und auf dem Kaminsims zu trocknen pflegte. Er empfing uns in seiner urgemütlichen Art und Weise und ließ frisch gerösteten Speck und Eier bringen, so daß wir uns bald recht behaglich fühlten. Als wir fertig waren, mußte unser neuer Freund in einem bequemen Liegestuhl Platz nehmen, Holmes unterstützte seinen Kopf mit einem Kissen und stellte ihm ein Glas Wasser und Kognak in die Nähe.

»Es scheint mir, Herr Hatherley, als wäre Ihre Angelegenheit nicht ganz gewöhnlicher Natur«, sagte er. »Bitte, machen Sie es sich vollständig bequem und betrachten Sie sich ganz wie zu Hause. Erzählen Sie uns alles so genau wie möglich, aber halten Sie bei der geringsten Ermüdung ein und gebrauchen Sie ab und zu dies kleine Stärkungsmittel.«

»Besten Dank«, sagte mein Patient. »Nachdem Doktor Watson mir den Verband angelegt hat, fühle ich mich wieder ganz gut, und Ihr Frühstück hat die Kur vollendet. Ich will mich so kurz wie möglich fassen, um Ihre Zeit nicht übermäßig in Anspruch zu nehmen.«

Holmes saß in seinem Lehnstuhl; sein gleichgültiges Gesicht mit den halb geschlossenen Augen verriet nichts von seiner scharfsinnigen Forschernatur. Ich saß ihm gegenüber, und wir hörten beide stillschweigend dem seltsamen Bericht des Fremden zu.

»Zuerst muß ich Ihnen sagen«, begann er, »daß ich alleinstehender Junggeselle bin und in einer Mietwohnung in London lebe. Von Beruf bin ich Ingenieur und habe während der sieben Jahre, die ich bei der Ihnen sicher bekannten Firma Venner & Matheson in Grennwich beschäftigt war, mir gute Kenntnisse angeeignet.

Als vor zwei Jahren meine Ausbildung beendet war, und ich durch meines Vaters Tod in den Besitz seines Vermögens kam, entschloß ich mich, selbständig zu werden, und ließ mich in der Victoriastraße nieder. Vermutlich wird jeder Mensch bei diesem ersten Schritt auf die Bahn der Unabhängigkeit ziemlich trübselige Erfahrungen machen; mir ging es jedenfalls nicht anders. In zwei Jahren wurde mein Rat im ganzen dreimal begehrt, und nur einmal wurde mir ein sehr unbedeutender Auftrag erteilt, das war alles! Meine Gesamteinnahmen beliefen sich auf 27 Pfund 10 Schillinge. Von neun Uhr morgens bis vier Uhr nachmittags lag ich täglich auf der Lauer, bis ich wirklich mutlos wurde und sich der Gedanke in mir festsetzte, daß ich es in einem selbständigen Geschäft nie zu etwas bringen würde. Gestern jedoch, als ich eben im Begriff stand, das Büro zu verlassen, meldete man mir, es wäre ein Herr draußen, der mich zu sprechen wünschte. Ich sah mir seine Karte an, sie trug den Namen Oberst Lysander Stark. Ich ließ den Oberst hereinbitten. Er war etwas über Mittelgröße und von erschreckender Magerkeit, ich entsinne mich nicht, jemals einen so hageren Menschen gesehen zu haben. Sein Gesicht bestand eigentlich nur aus Nase und Kinn, und die Haut war straff über die Backenknochen gespannt. Und doch sah er eigentlich nicht krank aus, denn seine Augen blickten völlig klar, sein Schritt war sicher und sein ganzes Benehmen sehr selbstbewußt. Seine Kleidung war ziemlich einfach, aber sauber; er mochte ungefähr vierzig Jahre zählen.

›Herr Hatherley?‹ fragte er mit deutschem Akzent. ›Sie sind mir als ein Mann empfohlen worden, der nicht nur in seinem Berufe sehr tüchtig ist, sondern auf dessen Verschwiegenheit man sich verlassen kann.‹

Ich verbeugte mich. ›Darf ich fragen, wem ich dieses günstige Zeugnis zu verdanken habe?‹

›Vielleicht ist es richtiger, ich teile es Ihnen nicht sofort mit. Aus derselben Quelle erfuhr ich auch, daß Sie ohne Angehörige und Junggeselle sind und allein in London wohnen.‹

›Das stimmt. Aber ich begreife nicht, was das mit meiner Tüchtigkeit als Fachmann zu tun hat, denn ich muß doch annehmen, daß Sie mich in einer geschäftlichen Angelegenheit zu sprechen wünschen.‹

›Ihre Vermutung ist ganz richtig, und Sie werden gleich sehen, wie sehr meine Fragen damit zusammenhängen. Ich habe allerdings einen Auftrag für Sie, doch er erfordert absolutes, unverbrüchliches Stillschweigen, und Sie werden wohl begreifen, daß solch ein Geheimnis bei einem alleinstehenden Manne besser aufgehoben ist, als bei einem, der eine große Familie hat.‹

›Wenn ich Ihnen etwas verspreche, können Sie sich völlig auf meine Verschwiegenheit verlassen.‹

Ich erinnere mich nicht, je in meinem Leben einem so scharfen, argwöhnischen Blick begegnet zu sein, wie ihn mein Besucher jetzt auf mich warf.

›Ich habe also Ihr Wort?‹ fragte er.

›Sie haben es.‹

›Sie werden über die ganze Sache jetzt und für immer tiefstes Stillschweigen bewahren?‹

›Ich versprach das schon.‹

›Gut‹, sagte er, sprang dann plötzlich auf, war wie der Blitz an der Tür und riß sie auf. Der Vorraum war leer.

›Alles in Ordnung!‹ sagte er zurückkehrend, ›die Angestellten interessieren sich oft mehr als nötig für die Angelegenheiten ihrer Chefs. Nun können wir in Ruhe weiter verhandeln.‹

Er rückte seinen Stuhl dicht an den meinen, und wieder ruhte sein Blick so forschend und lauernd auf mir wie vorhin. Ein abstoßendes Gefühl, ja fast Furcht, stieg in mir auf bei dem seltsamen Gebaren der klapperdürren Gestalt. Selbst auf die Gefahr hin, meinen Auftraggeber wieder zu verlieren, konnte ich meine Ungeduld nicht länger bezwingen.

›Dürfte ich Sie jetzt bitten, mein Herr, Ihre geschäftliche Angelegenheit zur Sprache zu bringen‹, sagte ich. ›Meine Zeit ist kostbar.‹ Der Himmel möge mir diese Lüge vergeben, aber die Worte traten mir unwillkürlich auf die Lippen.

›Würden Ihnen 50 Guineen für die Arbeit einer Nacht genügen?‹

›Selbstverständlich.‹

›Das heißt, ich sage die Arbeit einer Nacht, obgleich es wohl richtiger wäre, von einer Stunde zu sprechen. Wir möchten Sie nur bitten, Ihr Gutachten über eine hydraulische Presse abzugeben, die nicht mehr tadellos funktioniert. Wenn Sie uns zeigen wollten, wo der Fehler steckt, könnten wir die Sache leicht in Ordnung bringen. Wie denken Sie über diesen Auftrag?‹

›Im Vergleich zu der Vergütung erscheint er mir sehr unbedeutend.‹

›Das ist er auch. Nur wünschen wir, daß Sie erst abends mit dem letzten Zuge kommen.‹

›Und wohin?‹

›Nach Eyford in Berkshire. Es ist ein kleiner Ort an der Grenze von Oxfordshire, ungefähr sieben Meilen von Reading. Sie treffen mit dem Auge von Paddington um 11.15 ein.‹

›Das würde ja sehr gut passen.‹

›Ich werde Sie mit dem Wagen abholen, denn unsere Besitzung liegt abseits in ländlicher Einsamkeit. Sie ist stark sieben Meilen von der Station Eyford entfernt.‹

›Aber dann können wir ja kaum vor Mitternacht dort eintreffen und vermutlich ist mir damit jede Gelegenheit zur Rückfahrt abgeschnitten, so daß ich übernachten müßte?‹

›Darüber machen Sie sich keine Sorgen. Ein Nachtlager finden Sie auch bei uns.‹

›Das wäre doch eigentlich sehr umständlich. Könnte ich nicht zu einer besser gelegenen Zeit kommen?‹

›Wir halten gerade diese Stunde für die geeignetste. Für die kleine Unbequemlichkeit, die damit verbunden ist, erhalten Sie als junger, unbekannter Mann ja ein Honorar, wie es Ihre gesuchtesten Kollegen kaum für ihre Gutachten fordern würden. Wenn Sie jedoch mein Anerbieten noch überlegen wollen, so haben Sie ja noch reichlich Zeit.‹

Ich dachte daran, wie gut ich augenblicklich die 50 Guineen brauchen könnte, und erwiderte deshalb: ›Durchaus nicht, ich werde mich sehr gern Ihren Wünschen anpassen; nur möchte ich Sie bitten, mir ein wenig genauer auseinanderzusetzen, um was es sich handelt.‹

›Natürlich. Es ist mir durchaus begreiflich, daß die Verpflichtung, über alles zu schweigen, Ihre Neugierde erregt. Ehe wir Ihnen daher ein bindendes Versprechen abfordern, sollen Sie vollständig klar sehen. Hoffentlich ist hier kein Lauscher zu befürchten?‹

›Das ist ausgeschlossen.‹

›Dann will ich Ihnen alles erklären: Sie wissen wahrscheinlich, daß Walkererde ein sehr kostbarer Artikel ist, den man in England nur an ein bis zwei Orten findet.‹

›Ich habe davon gehört.‹

›Vor einiger Zeit kaufte ich eine sehr kleine Besitzung ungefähr zehn Meilen von Reading. Ich hatte das Glück, auf einem Feld ein Lager von Walkererde zu entdecken. Bei näherer Untersuchung stellte es sich indessen heraus, daß der Fund nur sehr unbedeutend war, daß er eigentlich nur die Verbindung zwischen zwei größeren Lagern bildete, die sich rechts und links davon ausdehnten und meinen beiden nächsten Nachbarn gehörten. Die guten Leute hatten natürlich keine blasse Ahnung, daß ihre Grundstücke so viel wie eine Goldmine enthielten, und es lag daher in meinem Interesse, ihnen das Land abzukaufen, ehe sie seinen wahren Wert kennen lernten. Leider fehlten mir die Mittel zum Kauf. Einige Freunde, denen ich meine Entdeckung mitgeteilt hatte, rieten mir, mein eigenes Lager im geheimen auszunutzen, um auf diese Weise die Mittel zur Erwerbung der Nachbarbesitzungen zu bekommen. Diesen Rat habe ich nun seit längerer Zeit befolgt und bei meinem Unternehmen eine hydraulische Presse benutzt. Wie gesagt, funktioniert diese nun nicht mehr richtig, und ich möchte Sie daher um Ihr Gutachten in dieser Angelegenheit bitten. Jetzt werden Sie sich aber denken können, wie sehr ich auf die Wahrung meines Geheimnisses bedacht sein muß. Käme es jemand zu Ohren, daß ein Ingenieur mein kleines Grundstück besichtigt, so würde das selbstverständlich die Neugierde meiner Nachbarn erregen, und falls die Sache bekannt würde, könnte ich bestimmt jede Hoffnung aufgeben, die Felder zu erwerben und meine Pläne zur Ausführung zu bringen. Aus diesem Grunde habe ich Sie um die größte Diskretion gebeten. Hoffentlich habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?‹

›Ich bin völlig orientiert‹, sagte ich. ›Nur das eine bleibt mir unverständlich, wie Sie die Walkererde vermittels einer hydraulischen Presse gewinnen wollen, man muß sie doch ausgraben wie den Kies aus einer Grube.‹

›Ach‹, sagte er leichthin, ›dabei haben wir unser eigenes Verfahren. Wir pressen Ziegel aus der Erde, um sie leichter und ohne Verdacht zu erregen, fortschaffen zu können. Doch das gehört nicht hierher. Sie sehen, Herr Hatherley, ich habe Ihnen mein ganzes Vertrauen geschenkt und verlasse mich fest auf Sie.‹ Er erhob sich bei diesen Worten.

›Ich erwarte Sie also in Eyford um 11.15.‹

›Ich werde pünktlich erscheinen.‹

›Und Sie sagen bestimmt zu keinem Menschen ein Wort.‹

Noch einmal traf mich ein letzter argwöhnischer, mißtrauischer Blick, und fort war er.

Als ich mir dann später alles in Ruhe überlegte, war ich doch, wie Sie sich wohl denken können, etwas erstaunt über diesen Auftrag, der mir so ganz unerwartet anvertraut worden war. Einerseits stimmte mich das hohe Honorar natürlich sehr froh, denn es überstieg mindestens das Zehnfache dessen, was ich dafür gefordert hätte, auch konnte dieser Auftrag leicht andere nach sich ziehen. Andererseits erschienen mir Gesicht und Benehmen meines neuen Auftraggebers wenig vertrauenerweckend, ebensowenig wie seine Erklärung die Notwendigkeit meines Kommens um Mitternacht rechtfertigte, und seine Angst, ich könnte mein Schweigen brechen, glaubhaft erscheinen ließ. Aber ich verscheuchte all die Gedanken, machte mich nach einem kräftigen Abendessen auf den Weg und fuhr von Paddington ab, ohne einem Menschen von meinem Vorhaben erzählt zu haben.

In Reading hatte ich nicht nur den Zug, sondern auch den Bahnhof zu wechseln, doch ich erreichte gerade noch den Anschluß nach Eyford und langte kurz nach elf auf der kleinen, schlecht beleuchteten Station an. Ich war der einzige Reisende, der hier ausstieg, und außer einem schläfrigen Stationsbeamten mit einer Laterne war kein Mensch weiter zu erblicken. Ich hatte jedoch kaum den Bahnhof verlassen, so fand ich auch meinen Bekannten vom Morgen, er wartete auf der andern Seite des Bahnhofs, die in tiefster Dunkelheit lag. Ohne ein Wort ergriff er meinen Arm und schob mich durch die offenstehende Tür eines Wagens. Dann zog er beide Fenster in die Höhe, ließ die Vorhänge herunter, und fort ging es, so schnell das Pferd laufen konnte.«

»Ein Pferd?« unterbrach Holmes.

»Ja, nur eins.«

»Konnten Sie die Farbe erkennen?«

»Ja, das Licht der Wagenlaterne fiel darauf, als ich einstieg. Es war ein Brauner.«

»War das Tier ermüdet oder frisch?«

»Vollständig frisch.«

»Danke sehr. Entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbrach, und fahren Sie bitte in Ihrer höchst interessanten Erzählung fort.«

»Es ging also los, und zwar fuhren wir mindestens eine Stunde. Oberst Stark hatte nur von sieben Meilen gesprochen, aber meiner Ansicht nach waren es wohl zwölf. Während der ganzen Zeit saß er schweigend neben mir, doch ich war mir bewußt, und ein rascher Seitenblick überzeugte mich davon, daß er mich scharf beobachtete. Die dortigen Landwege schienen in ziemlich traurigem Zustande zu sein, wir wurden furchtbar hin und her geschüttelt. Zuweilen versuchte ich aus dem Fenster zu sehen, doch sie bestanden aus Eisglas, und ich gewahrte nur gelegentlich den hellen Schein eines vorüberfliegenden Lichtes. Hin und wieder versuchte ich auch durch eine Bemerkung die Einförmigkeit der Fahrt zu unterbrechen, aber der Oberst anwortete nur sehr einsilbig, und bald stockte die Unterhaltung wieder. Schließlich hörte das Stoßen des Wagens auf, wir rollten auf einem knirschenden Kiesweg dahin und hielten plötzlich. Oberst Lysander sprang heraus und zog mich, als ich mich anschickte, ihm zu folgen, blitzschnell in einen offenstehenden Torweg. Der Wagen hielt so dicht vor dem Hause, daß es mir nicht gelang, auch nur einen flüchtigen Blick auf die Außenseite des Gebäudes zu werfen. Wir hatten kaum die Schwelle überschritten, so hörte ich schon die Tür schwer hinter uns ins Schloß fallen und konnte kaum noch das Geräusch der davonrollenden Räder vernehmen. Im Hause war es stockfinster, der Oberst tappte nach dem Lichtschalter und murrte halblaut vor sich hin. Plötzlich wurde am Ende des Ganges eine Tür geöffnet, und ein langer, goldener Lichtstrahl fiel auf uns. Bei dem hellen Schein gewahrte ich eine Frauengestalt unter der Türe, mit vorgebeugtem Gesicht starrte sie uns an. Ich konnte deshalb ihre schönen Züge erkennen und ebenso den kostbaren Stoff ihres dunklen Kleides. Sie richtete an meinen Gefährten einige Worte in fremder Sprache, die fast wie eine Frage klangen. Bei seiner rauhen, kurzen Antwort schrak sie heftig zusammen. Der Oberst trat rasch auf sie zu, flüsterte ihr etwas ins Ohr und schob sie wieder ins Zimmer zurück, dann kehrte er zu mir zurück. ›Würden Sie so freundlich sein, hier einige Minuten zu warten‹, sagte er, eine andere Tür öffnend. Es war ein kleines, einfach ausgestattetes Gemach mit einem runden Tisch in der Mitte, auf dem mehrere deutsche Bücher verstreut lagen. Ein Harmonium stand neben der Tür. ›Ich werde Sie keine Minute warten lassen‹, sagte er und verschwand in der Dunkelheit.

Ich betrachtete die Bücher auf dem Tisch und sah trotz meiner Unkenntnis des Deutschen, daß zwei von ihnen wissenschaftlichen und die andern poetischen Inhalts waren. Dann schritt ich zum Fenster, um einen Blick hinauszuwerfen, aber die schweren eisernen Läden waren geschlossen und fest verriegelt. Es war ein wunderbar stilles Haus. Im Gange hörte man eine alte Uhr laut ticken, sonst herrschte Todesschweigen rings umher. Ein unbestimmtes, unbehagliches Gefühl ergriff mich. Wer waren diese Deutschen, und was taten sie an diesem seltsamen, weltverlorenen Ort? Und wo befand sich dieser Ort überhaupt? Ich war mindestens zwölf Meilen von Eyford entfernt, doch das war auch alles, was ich wußte, ob es nördlich, südlich, westlich oder östlich davon war, entzog sich meiner Vermutung. Die große Stille ringsumher aber machte es mir zur Gewißheit, daß wir uns auf dem Lande befanden. Ich schritt auf und nieder, leise eine Melodie summend, um mich munter zu erhalten.

Plötzlich, ohne daß vorher ein Laut die unheimliche Stille unterbrochen hätte, öffnete sich langsam die Tür meines Zimmers. In der Öffnung stand die Frau, deren schönes, erregtes Gesicht hell von dem Licht meiner Lampe bestrahlt wurde, hinter ihr lag die Halle in tiefer Dunkelheit. Sie schien mir vor Angst halb ohnmächtig zu sein, und dieser Anblick ließ mein eigenes Herz erstarren. Warnend hielt sie einen Finger empor, um mir Schweigen anzudeuten, und flüsterte mir in gebrochenem Englisch einige Worte zu, wobei sie öfter mit scheuem Blick in die Dunkelheit hinter sich spähte.

›Ich würde gehen‹, sagte sie, sich gewaltsam zur Ruhe zwingend, ›ich würde gehen und nicht hier bleiben. Sie tun gut daran.‹

›Aber, gnädige Frau‹, erwiderte ich, ›meine Aufgabe ist noch nicht erfüllt. Ich kann mich doch unmöglich entfernen, ehe ich nicht die Maschine gesehen habe‹.

›Es verlohnt sich nicht der Mühe, hier länger zu warten‹, fuhr sie fort. ›Sie können ruhig durch die Haustür gehen, niemand wird Sie hindern‹. Und dann, als sie sah, daß ich nur lächelnd den Kopf schüttelte, verließ sie plötzlich ihre Selbstbeherrschung, und sie trat, die Hände ringend, auf mich zu. ›Um Gottes willen, fliehen Sie, fliehen Sie, bevor es zu spät ist.‹

Doch ich bin eine sehr hartnäckige Natur, und je mehr Schwierigkeiten sich mir in den Weg stellen, je größeren Reiz bekommt eine Sache für mich. Außerdem dachte ich auch an mein Honorar von 50 Guineen, an die anstrengende Reise und daran, daß ich in dieser Gegend doch ganz fremd war und nicht gewußt hätte, wo ich die Nacht verbringen sollte. Warum sollte ich mich davonstehlen, ohne meinen Auftrag ausgeführt zu haben und ohne die mir zustehende Bezahlung bekommen zu haben? Konnte die Frau nicht eine Wahnsinnige sein? Entschlossen schüttelte ich deshalb den Kopf, trotzdem sie mich stärker erschüttert hatte, als ich zugeben wollte und erklärte fest, daß ich auf jeden Fall bleiben würde. Sie wollte noch weiter in mich dringen, doch über uns wurde eine Tür zugeschlagen, und man hörte deutlich zwei Menschen die Treppe herabkommen. Sie blieb einen Augenblick lauschend stehen, rang nochmals verzweifelnd die Hände und verschwand dann plötzlich und geräuschlos, wie sie gekommen war.

Bald darauf trat Oberst Lysander Stark und ein kleiner, dicker Herr bei mir ein, dessen spärlicher Bart aus den Falten seines Doppelkinns herauswuchs, und der mir als Herr Ferguson vorgestellt wurde.

›Dies ist mein Sekretär und Geschäftsführer‹, sagte der Oberst. ›übrigens glaubte ich bestimmt, diese Tür vorhin fest geschlossen zu haben. Es ist mir leid, es hat Ihnen sicher sehr hereingezogen?‹

›Im Gegenteil‹, antwortete ich, ›ich selbst habe die Tür geöffnet, weil mir die Luft hier im Zimmer etwas dumpf vorkam.‹

Er warf mir einen unruhigen Seitenblick zu. ›Wir wollen nun gleich an das Geschäft gehen. Herr Ferguson und ich werde Ihnen jetzt die Maschine zeigen.‹

Ich griff nach meinem Hut, um ihn aufzusetzen.

›Oh, das ist nicht nötig‹, wehrte der Oberst ab, ›sie befindet sich im Hause.‹

›Wie, Sie bohren im Hause nach Walkererde?‹

›Das nicht, wir pressen sie nur im Hause. Doch das gehört nicht zur Sache. Wir möchten Sie nur bitten, die Maschine zu untersuchen und uns auseinanderzusetzen, wo der Fehler steckt.‹

Wir gingen zusammen nach oben, zuerst der Oberst, dann der korpulente Geschäftsführer und zuletzt ich. Das alte Haus war ein wahres Labyrinth von Winkeln und Gängen, engen Wendeltreppen und kleinen, niedrigen Türen, deren Schwellen im Laufe der Zeit von ganzen Generationen tief ausgetreten waren. Nirgends eine Spur von Tapeten oder Möbeln, von den Wänden war die Bekleidung teilweise abgebröckelt, während sich die Feuchtigkeit in grünlich schillernden Stellen darauf niedergeschlagen hatte. Ich bemühte mich, so unbefangen wie möglich auszusehen, aber mir klangen noch immer die unbeachtet gelassenen Warnungen der Dame im Ohr, und ich behielt meine beiden Gefährten scharf im Auge.

Ferguson schien mir ein mürrischer, schweigsamer Mann, doch aus seinen wenigen Äußerungen entnahm ich, daß er mein Landsmann sei. Oberst Lysander Stark hielt jetzt vor einer niedrigen Tür, die er aufschloß. Sie führte in einen kleinen, rechtwinkligen Raum, in welchem wir drei kaum zu gleicher Zeit Platz hatten. Eine Lichtleitung schien nicht darin, denn der Oberst entzündete eine Petroleumlampe, die vor der Tür an einem Haken gehängt hatte. Ferguson blieb draußen, und der Oberst forderte mich auf, einzutreten.

›Wir befinden uns jetzt in der hydraulischen Presse‹, sagte er, ›und es könnte für uns sehr unangenehm werden, wenn sie plötzlich jemand in Bewegung setzen wollte. Die Decke dieser kleinen Kammer wird nämlich von dem Ende des niedergehenden Kolbens gebildet, der mit ungeheurer Gewalt auf den metallenen Fußboden schlägt. Außen sind seitlich enge Wasserröhren angebracht, durch welche die Kraft aufgenommen und in der Ihnen bekannten Weise verstärkt und fortgepflanzt wird. Die Maschine funktioniert sonst tadellos, aber jetzt scheint ein Hemmnis den Gang zu erschweren und die Kraft zu vermindern. Vielleicht haben Sie die Güte, einmal nachzusehen, wie die Sache wieder in Ordnung gebracht werden könnte.‹

Ich nahm ihm die Lampe ab und untersuchte die Maschine sehr sorgfältig. Sie hatte geradezu riesige Dimensionen und mußte einen enormen Druck erzeugen. Doch als ich draußen die Hebel niederdrückte, welche sie in Gang setzten, belehrte mich sofort der eigentümlich zischelnde Ton, daß sich irgendwo ein Leck gebildet haben mußte, das ein Wiederausströmen des Wassers durch einen der Seitenzylinder verursachte. Eine genauere Prüfung bestätigte dies auch bald; einer der Kautschukreifen am oberen Ende der Triebstange war schadhaft geworden und konnte deshalb den Zylinder, in dem sie auf- und niederging, nicht mehr luftdicht abschließen. Dadurch ließ sich die Verminderung der Kraft leicht erklären; ich setzte dies meinen beiden aufmerksamen Zuhörern auseinander und belehrte sie zugleich eingehend über die Abstellung dieses Übelstandes. Darauf kehrte ich noch einmal in den Hauptraum zurück, hauptsächlich um meine eigene Neugierde zu befriedigen. Daß die Erzählung von dem Pressen der Walkererde nur ein Märchen war, hatte ich auf den ersten Blick gesehen; es wäre ja unvernünftig gewesen, für einen so unbedeutenden Zweck solche Riesenmaschine zu verwenden. Die Wände bestanden aus Holz, doch den Boden bildete eine große, eiserne Platte, die völlig mit einer Kruste von metallischen Abfällen bedeckt war. Ich kniete nieder und versuchte, ein wenig davon abzukratzen, um mich genauer von dem Bestand zu überzeugen, als ich hinter mir einen Ausruf hörte und das gespensterhafte Antlitz des Obersten sich zu mir herabbeugen sah.

›Was machen Sie denn da?‹ fragte er.

Ich fühlte einen heftigen Groll in mir aufsteigen, daß man es versucht hatte, mich so hinters Licht zu führen. ›Ich bewundere nur Ihre Walkererde‹, antwortete ich, ›wahrscheinlich wäre es mir leichter geworden, Ihnen einen Rat wegen Ihrer Maschine zu erteilen, wenn ich ihren wirklichen Zweck gekannt hätte.‹

Augenblicklich bereute ich, daß mir diese Worte entschlüpft waren. Sein Gesicht versteinerte sich förmlich, seine grauen Augen funkelten mich unheilverkündend an.

›Dann tue ich wohl besser daran, Sie in alles einzuweihen,‹ sagte er. Er machte einen Schritt rückwärts, schlug die kleine Tür zu und drehte den Schlüssel um. Ich stürzte mich darauf und rüttelte an dem Griff, aber das Schloß rührte sich nicht und gab nicht im geringsten meinen verzweifelten Anstrengungen nach. ›Hallo!‹ schrie ich gellend, ›hallo! Oberst Stark! Öffnen Sie sofort!‹

Plötzlich aber klang durch die Stille ein Ton, der mein Herz vor Schrecken stillstehen ließ. Es war das Geklirr der Hebel und das Zischen des schadhaften Zylinders. Großer Gott! Er hatte die Maschine in Gang gesetzt! Die Lampe stand noch auf dem Boden, den ich hatte untersuchen wollen. Bei ihrem Licht konnte ich deutlich erkennen, wie sich die schwarze Decke über mir senkte, langsam, ruckweise, aber keiner wußte besser als ich, mit wie furchtbarer Kraft; in der nächsten Minute mußte ich zu einem formlosen Brei zerstampft sein. Ich warf mich stöhnend gegen die Tür und zerrte mit meinen Nägeln am Schloß. Ich beschwor den Obersten, mir zu öffnen, doch mein Flehen wurde durch das erbarmungslose Rasseln draußen übertönt. Jetzt befand sich die Decke nur noch ein bis zwei Fuß über meinem Kopf, mit ausgestreckter Hand konnte ich ihre harte, rauhe Oberfläche fühlen. Und wie ein Blitz durchzuckte mich der Gedanke, daß ich mir den Todeskampf vielleicht durch meine Lage erleichtern könnte. Würde ich mich auf das Gesicht legen, so würde mir zuerst das Rückgrat zerbrochen werden. Bei dem Gedanken daran überliefen mich kalte Schauer. Legte ich mich aber auf den Rücken, würde ich dann die Kraft haben, diesen tödlichen, schwarzen Koloß auf mich herabkommen zu sehen? Schon war es mir unmöglich geworden, aufrecht zu stehen, da wurde mein Herz plötzlich von neuer Hoffnung erfüllt. Wie schon erwähnt, bestanden nur Decke und Boden aus Eisen, die Wände waren aus Holz. Als ich mich noch einmal verzweifelt nach Rettung umschaute, bemerkte ich zwischen zwei Brettern einen kleinen, gelben Lichtschimmer, der sich schnell verbreiterte, indem eines der Bretter zurückgeschoben wurde. Ich vermochte es zuerst kaum zu fassen, daß ich durch diese kleine Öffnung wirklich dem Tode entrinnen könnte. Doch schon im nächsten Augenblick war ich hindurchgekrochen und lag nun halb ohnmächtig auf der anderen Seite. Die Öffnung hatte sich wieder hinter mir geschlossen, ich hörte nur noch das Klirren der zerbrechenden Lampe und kurz darauf das Aufschlagen der beiden Metallplatten, das mir deutlich bewies, mit wie knapper Not ich dem Tode entronnen war. Als ich wieder zum Bewußtsein erwachte, lag ich auf dem mit Fliesen ausgelegten Boden eines schmalen Ganges. Eine Frau beugte sich über mich und versuchte mich durch heftiges Schütteln mit der linken Hand aus meiner Betäubung zu erwecken, in der rechten hielt sie eine Taschenlampe. Es war jene Frau, deren Warnungen ich törichterweise unbeachtet gelassen hatte.

›Kommen Sie rasch, rasch!‹ rief sie atemlos. ›Sie werden sofort Ihr Verschwinden entdecken. Oh, so beeilen Sie sich doch, es ist keine Sekunde zu verlieren.‹

Diesmal war ihr Rat nicht vergebens. Ich richtete mich taumelnd empor und eilte mit ihr den Gang entlang und dann eine Wendeltreppe hinunter. Die Treppe führte wiederum auf einen breiten Gang. Wir hatten ihn kaum erreicht, als wir schon den Ton von eiligen Schritten und den Klang von zwei Stimmen hörten; die eine sprach dicht in unserer Nähe, die andere antwortete aus der Entfernung. Die Frau stand einen Augenblick völlig fassungslos. Plötzlich stieß sie eine Tür auf; wir standen in einem Schlafzimmer, durch dessen Fenster heller Mondschein flutete.

›Es bleibt kein andrer Weg übrig. Es ist hoch, aber Sie müssen es versuchen.‹

Während sie noch sprach, tauchte am Ende des Ganges ein Licht auf, ich sah die dürre Gestalt des Obersten herbeistürzen, in der Hand hielt er ein großes Beil. Ich flog zum Fenster, öffnete es und schaute hinunter. Wie ruhig und friedlich lag der Garten im Mondlicht! Die Höhe konnte nicht mehr als dreißig Fuß betragen. Ich schwang mich auf das Fensterbrett, aber ich zögerte noch mit dem Sprung. Ich wollte wissen, was zwischen meiner Retterin und meinem Verfolger vorgehen würde. Wenn dieser Schuft sie mißhandelte, war ich unter allen Umständen entschlossen, ihr beizustehen. Im selben Augenblick schon erschien er in der Tür und wollte an ihr vorüberstürzen, sie warf sich ihm jedoch entgegen und klammerte sich fest an ihn.

›Fritz, Fritz!‹ rief sie in englischer Sprache, ›vergiß nicht, was du mir beim letzten Mal geschworen hast. Es sollte nie, nie wieder geschehen. Er wird schweigen, glaub‘ mir, er wird schweigen.‹

Er versuchte sich mit aller Kraft freizumachen. ›Bist du von Sinnen, Elise?‹ rief er. ›Willst du uns an den Galgen bringen? Laß mich los, sag‘ ich dir.‹ Er stieß sie beiseite und stürzte mit erhobenem Beil zum Fenster. Ich hatte mich hinausgeschwungen und hielt mich nur noch mit den Händen an der Fensterbank, als der Schlag niedersauste. Ein heftiger Schmerz durchzuckte mich, ich verlor den Halt und fiel in den Garten hinab.

Ich war bis auf eine heftige Erschütterung unverletzt geblieben, und sobald ich mich einigermaßen erholt hatte, stand ich auf und versuchte, so schnell als möglich hinter einem Gebüsch zu verschwinden; die Gefahr war ja noch nicht vorüber. Aber plötzlich überkam mich eine tödliche Schwäche und Mattigkeit. Meine Hand schmerzte mich furchtbar, und ich bemerkte erst jetzt, daß mein Daumen fehlte und das Blut aus der Wunde strömte. Ich versuchte, mir das Taschentuch umzubinden, dann fühlte ich nur noch ein heftiges Sausen in den Ohren und fiel ohnmächtig im Gebüsch nieder.

Wie lange ich dort gelegen habe, weiß ich nicht. Bis zu meinem Erwachen müssen wohl viele Stunden vergangen sein, denn der Mond war untergegangen, und der Morgen dämmerte herauf. Meine Kleider waren vom Tau durchnäßt, und mein Rockärmel war völlig durchtränkt von Blut. Im Augenblick standen alle Einzelheiten der Nacht vor mir, und ich sprang sofort in die Höhe, weil ich das Gefühl hatte, auch jetzt noch im Bereich meiner Verfolger zu sein. Doch als ich mich umblickte, waren zu meinem Erstaunen weder Haus noch Garten zu entdecken. Ich hatte an der Hecke einer Landstraße gelegen, und gerade vor mir dehnte sich ein längliches Gebäude aus. Beim Näherkommen erkannte ich die Bahnstation, auf der ich gestern angekommen war. Würde mich mein schmerzender Daumen nicht vom Gegenteil überzeugt haben, so hätte ich alle Vorgänge der letzten Nacht nur für einen Traum gehalten. Halb betäubt erkundigte ich mich nach dem Morgenzug und erfuhr, daß in einer knappen Stunde einer nach Reading abgehe. Ich fragte den diensttuenden Stationsbeamten, den ich schon am vorigen Abend gesehen hatte, ob er einen Obersten Stark kenne. Der Name war ihm gänzlich fremd, ebensowenig hatte er gestern einen Wagen bemerkt.

Das nächste Polizeiamt war ungefähr drei Meilen entfernt. Das war für mich zu weit, denn ich fühlte mich krank und schwach. So wollte ich mit einer Anzeige warten, bis ich in die Stadt käme. Kurz nach sechs traf ich ein und ein freundlicher Bahnbeamter führte mich sofort zu Ihnen, um meine Wunde verbinden zu lassen. Es wäre mir lieb, Herr Holmes, wenn ich die ganze Angelegenheit in Ihre Hände legen könnte.«

*

Wir saßen noch eine ganze Weile in tiefem Schweigen, als die Erzählung beendet war. Dann holte Sherlock Holmes einen der riesigen Ordner vom Bücherbrett, in welchem er alle ihm bemerkenswerten Notizen und Zeitungsausschnitte sammelte.

»Diese Anzeige wird Sie wohl interessieren«, sagte er. »Vor ungefähr einem Jahr machte sie die Runde durch alle Zeitungen. Ich will sie Ihnen vorlesen: Verschwunden seit dem 9. d. M. der 26jährige Ingenieur Jeremias Hayling. Er verließ am angegebenen Tage um zehn Uhr abends seine Wohnung, seitdem fehlt jede Spur von ihm. Er war bekleidet u.s.w. Damals ließ der Oberst vermutlich zum letztenmal seine Maschine untersuchen.«

»Großer Gott!« rief Hatherley aus, »jetzt begreife ich erst, was die Frau mit ihrer Äußerung sagen wollte!«

»Ja, es unterliegt gar keinem Zweifel, daß dieser Oberst ein sehr kaltblütiger, zu allem entschlossener Mensch war und genau so handelt wie Piraten, die auch auf dem geenterten Schiff keinen Überlebenden dulden. Doch jetzt ist keine Minute zu verlieren, und wenn es Ihr Zustand erlaubt, müssen wir sofort nach Scotland Yard und dann weiter nach Eyford.«

Ungefähr drei Stunden später saßen wir im Zug, der uns über Reading nach Eyford bringen sollte. Die Gesellschaft bestand aus Sherlock Holmes, dem Ingenieur, Polizeiinspektor Bradstreet nebst einem sehr einfach gekleideten Manne und mir. Inspektor Bradstreet hatte eine Vermessungskarte der Umgegend auf seinem Sitz ausgebreitet und bemühte sich mit seinem Zirkel einen Kreis zu ziehen, dessen Mittelpunkt Eyford bildete.

»Hier liegt Eyford«, sagte er. »Diese Linie umgibt das Dorf in einem Umkreis von ungefähr zwölf Meilen. Der betreffende Ort muß also in der Nähe dieser Linie sein. Sie sprachen doch von zwölf Meilen, Herr Hatherley?«

»Es war jedenfalls eine Fahrt von einer guten Stunde.«

»Und Sie vermuten, daß Sie während Ihrer Bewußtlosigkeit den ganzen Weg zurückgebracht worden sind?«

»Wahrscheinlich. Ich erinnere mich auch dunkel, aufgehoben und getragen worden zu sein.«

»Ich verstehe nur nicht, was die Leute zu dieser Schonung bewogen haben könnte, als sie Sie ohnmächtig im Garten fanden.«

»Vielleicht ließ sich der Schuft durch die Bitten der Frau besänftigen«, meinte ich.

»Das kommt mir unwahrscheinlich vor«, fiel der Ingenieur ein. »Ich habe niemals ein Gesicht gesehen, das so mit Haß erfüllt war wie das seine.«

»Nun, wir werden bald Klarheit hineinbringen«, sagte Bradstreet. »Ich habe also meinen Kreis gezogen und möchte jetzt nur wissen, in welcher Richtung wir das Gesindel zu suchen haben.«

»Ich glaube, ich kann meinen Finger darauf legen«, äußerte Holmes ruhig.

»Wirklich?« rief der Inspektor. »Sie haben schon eine bestimmte Meinung gefaßt? Na, wir wollen mal sehen, wer mit Ihnen übereinstimmt. Ich behaupte, es ist im Süden, da das Land dort wenig bevölkert ist.«

»Ich bin für Osten«, sagte mein Patient.

»Ich stimme für Norden«, sagte ich, »dort ist das Land flach, und Herr Hatherley meinte, der Wagen wäre niemals bergan gefahren.«

»Und ich bin für Westen«, bemerkte der einfach aussehende Mann. »Da liegen mehrere einsame kleine Dörfer.«

»Hallo!« rief der Inspektor lachend. »Unter uns herrscht ja eine nette Meinungsverschiedenheit. Wir haben den Kompaß zwischen uns geteilt. Auf wessen Seite schlagen Sie sich, Herr Holmes?«

»Sie irren sich alle.«

»Aber das ist doch unmöglich!«

»O doch. Dies ist mein Punkt.« Holmes legte den Finger in die Mitte des Kreises. »Hier werden wir sie finden.«

»Und die Fahrt von zwölf Meilen?« warf Hatherley ein.

»Sechs hin und sechs zurück. Das ist sonnenklar. Sie sagten selbst, das Pferd wäre vollständig frisch gewesen, als Sie einstiegen. Wie wäre das möglich, wenn es eine anstrengende Fahrt von zwölf Meilen hinter sich gehabt hätte?«

»Hm, der Kunstgriff ist nicht unwahrscheinlich«, gab Bradstreet nachdenklich zu. »Jetzt müssen wir uns nur noch über den Zweck dieser Bande klar werden.«

»Darüber kann kaum ein Zweifel herrschen«, sagte Holmes. »Es sind Falschmünzer im großen Maßstabe. Die Maschine brauchten sie, um die Metallmischung zu erzeugen, welche die Stelle des Silbers vertreten sollte.«

»Falschmünzer!« rief Bradstreet aus. »Ja – ich erinnere mich: Wir bekamen schon vor längerer Zeit Wind von einer solchen Sache. Diese gefährliche Gesellschaft hat zu Tausenden halbe Kronen in Umlauf gesetzt, und es gelang uns nicht, sie weiter als bis Reading zu verfolgen. Dort hatten sie ihre Spur in einer Weise verwischt, die uns zeigte, daß wir es mit sehr geriebenen, alten Füchsen zu tun hatten. Na, jetzt werden sie uns wohl nicht mehr entwischen.«

Aber der Inspektor irrte sich. Die Verbrecher sollten der Gerechtigkeit nicht überliefert werden. Als wir in den Bahnhof einfuhren, sahen wir ganz in der Nähe eine ungeheure Rauchwolke hinter einer kleinen Baumgruppe aufsteigen, wie eine riesige Straußfeder hing sie über der Landschaft.

»Brennt hier ein Haus?« fragte Bradstreet, nachdem wir den Zug verlassen hatten.

»Jawohl«, antwortete der Stationsvorsteher.

»Wann brach das Feuer aus?«

»Wahrscheinlich schon in der Nacht, doch hat es scheints jetzt weiter um sich gegriffen, die ganze Gegend ist in Rauch gehüllt.«

»Wem gehört die Besitzung?«

»Doktor Becher.«

»Bitte, sagen Sie mir«, fiel der Ingenieur ein, »ist dieser Doktor Becher ein Deutscher, sehr hager, mit langer, scharfer Nase?«

Der Stationsvorsteher lachte herzlich. »Nein, mein Herr, Doktor Becher ist ein Engländer, und Sie werden wahrscheinlich im ganzen Kirchspiel nicht leicht einen wohlbeleibteren Menschen finden. Doch lebt ein Herr bei ihm, ich glaube einer seiner Patienten, der erinnerte eher an die sieben mageren Jahre.«

Er hatte kaum ausgesprochen, so liefen wir auch schon eilig der Richtung des Feuers zu. Wir hatten einen sanft ansteigenden Hügel überschritten und sahen jetzt ein großes, weißes Gebäude vor uns liegen. Es war in ein Flammenmeer eingehüllt, aus jeder Ritze und jeder Fensteröffnung brach die rote Lohe.

Vergeblich bemühte sich die Feuerwehr, mit drei Spritzen des entfesselten Elementes Herr zu werden.

»Hier ist es!« rief Hatherley in fieberhafter Erregung. »Dort ist der Kiesweg, und dort unter dem Gebüsch hab‘ ich gelegen. Aus dem zweiten Fenster sprang ich heraus.«

»Nun«, meinte Holmes, »wenigstens sind Sie an ihnen gerächt. Die hölzernen Wände im Maschinenraum sind sicher durch das Zerbrechen Ihrer Lampe in Brand geraten, und in der Aufregung hat man das wohl nicht sofort bemerkt. Bitte, achten Sie jetzt scharf darauf, ob Sie unter der Zuschauermenge die Frau oder einen der beiden Männer entdecken können. Es ist freilich eher anzunehmen, daß zwischen ihnen und uns schon ein paar hundert Meilen liegen.« Holmes Befürchtung war nur zu sehr begründet. Die drei waren und blieben verschwunden bis heute.

Ein Bauer erzählte, er habe an jenem Morgen in aller Frühe einen Wagen gesehen mit mehreren Personen und großen Kisten beladen, der eilig in der Richtung nach Reading gefahren wäre. Das blieb auch die einzige Spur von den Flüchtlingen; selbst Holmes gelang es nicht, das Rätsel weiter zu lösen.

Die Feuerwehrleute waren nicht wenig über die seltsamen Einrichtungen im Innern des Hauses erstaunt und ihre Verwunderung erreichte den Höhepunkt, als sie auf einer Fensterbank einen abgehackten Daumen fanden. Gegen Abend war endlich das Feuer gelöscht. Das Dach war jedoch schon eingestürzt und das ganze Gebäude so vollständig zerstört, daß nur einige verbogene Zylinder und eiserne Röhren an die Maschine erinnerten, die so viel Unheil verursacht hatte. In einem kleinen, zu dem Anwesen gehörenden Haus entdeckte man große Mengen Nickel und Zinn, dagegen wurde nicht ein einziger Prägestock gefunden, das machte uns die Mitnahme der schon erwähnten großen Kisten erklärlich.

Auf welche Weise unser Ingenieur aus dem Garten fortgeschafft worden war, wäre wohl für ewig ein Geheimnis geblieben, wenn uns nicht die weiche Gartenerde eine sehr einfache Geschichte erzählt hätte. Zwei Personen mußten ihn getragen haben, die eine mit besonders kleinen Füßen, während die andere Fußspur auffallend groß war. Wahrscheinlich hatte der Engländer, weniger rücksichtslos und grausam als sein Gefährte, der Frau geholfen, den bewußtlosen Mann aus der Gefahr zu bringen.

»Ja«, sagte unser Ingenieur kläglich, als wir wieder im Zuge saßen, »das war wirklich ein einträgliches Geschäft. Meinen Daumen hab‘ ich verloren, die Aussicht auf meine Fünfzigpfundnote ist ebenfalls fort, und was hab‘ ich dafür eingetauscht?«

»Erfahrung«, sagte Holmes lachend, »und die kann Ihnen indirekt wieder von Nutzen sein. Sie brauchen die Geschichte nur mit fließenden Worten vorzutragen, um bis zum Ende Ihrer Tage den Ruf eines großartigen Gesellschafters zu genießen.«

Holmes lachte, als er diesen letzten Satz gelesen hatte. »Nun, das wird er wohl auch befolgt haben, der gute Herr Hatherley«, sagte er vor sich hin und griff nach dem nächsten Blatt. »Was wird wohl Freund Watsons nächstes Thema sein? Ah – sieh an:

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Die verschwundene Braut

Die verschwundene Braut

Eines Tages wurde während seiner Abwesenheit ein Brief für Sherlock Holmes abgegeben. Ich hatte den ganzen Tag das Haus nicht verlassen, denn das Wetter war plötzlich regnerisch geworden; ein scharfer Herbstwind wehte, und die Flintenkugel in meinem Bein, die ich als Andenken aus dem afghanischen Feldzug heimgebracht habe, quälte mich mit empörender Hartnäckigkeit. In einem bequemen Stuhl sitzend, hatte ich die Beine auf einem zweiten Stuhl ausgestreckt und mich in einen ganzen Berg von Zeitungen vergraben, bis ich zuletzt die Tagesneuigkeiten satt bekam und die Blätter sämtlich beiseite schob. Während ich nun so in verdrossener Stimmung dalag, betrachtete ich mit träger Neugier das mächtige Wappen und Monogramm, das auf dem Umschlag des vor mir liegenden Briefes prangte, und fragte mich, wer wohl der adlige Briefschreiber sein möchte.

»Da liegt ein höchst vornehmer Brief für dich«, rief ich meinem Freund bei seinem Eintritt entgegen. »Deine Briefe heute früh, von einem Fischhändler und einem Zolleinnehmer, waren weniger vornehm.«

»Ja, mein Briefwechsel besitzt entschieden den Reiz der Abwechslung«, erwiderte er lächelnd, »und je weniger vornehm, desto interessanter sind sie in der Regel. Das da sieht gerade aus wie eine jener unwillkommenen gesellschaftlichen Einladungen, die einen entweder zu einer Marter oder zu einer Lüge verdammen.« Er erbrach das Siegel und überflog den Inhalt. »Warte einmal, das kann am Ende etwas ganz Interessantes geben!« rief er nun plötzlich.

»Also nichts Gesellschaftliches?«

»Nein, durchaus geschäftlich.«

»Und von wem?«

»Von einer der vornehmsten Personen in ganz England.«

»Nun, ich gratuliere, mein lieber Junge.«

»Ich versichere dir, Watson, es ist die Wahrheit, wenn ich sage, daß ich auf den gesellschaftlichen Rang meiner Kunden nicht so viel Wert lege, als auf das Interesse, das die Fälle bieten. Übrigens ist es wohl möglich, daß es bei dieser neuen Aufgabe auch nicht an interessantem Stoff fehlt. Du hast doch in diesen Tagen die Zeitungen genau durchgelesen, nicht wahr?«

»Na, und ob!« erwiderte ich in kläglichem Ton und deutete dabei auf einen mächtigen Stoß, der in einer Ecke aufgehäuft lag; »ich habe ja sonst fast nichts zu tun gehabt.«

»Nun, das kommt mir jetzt vielleicht zustatten, da kannst du mir sicher Auskunft geben. Ich lese nichts als die Kriminalberichte und den Briefkasten. Da erfährt man doch wenigstens immer etwas. Aber wenn du die neuesten Ereignisse so genau verfolgt hast, mußt du wohl auch etwas über Lord St. Simon und seine Hochzeit gelesen haben?«

»O ja, das hat mich sogar sehr interessiert.«

»Das ist schön. Der Brief hier ist von Lord St. Simon. Ich will ihn dir vorlesen, und dafür mußt du mir dann die Zeitungen noch einmal durchgehen und alles zusammensuchen, was sich auf die Angelegenheit bezieht. Er schreibt:

Mein lieber Herr Sherlock Holmes!

Lord Backwater sagt mir, daß ich Ihrem Scharfsinn und Ihrer Verschwiegenheit unbedingtes Vertrauen schenken dürfe. Ich habe mich daher entschlossen, bei Ihnen vorzusprechen und mir Ihren Rat in Beziehung auf das höchst schmerzliche Ereignis zu erbitten, das sich bei Gelegenheit meiner Hochzeit zugetragen hat. Herr Lestrade von der Geheimpolizei ist zwar in der Sache bereits tätig; allein er hat, wie er mir versichert, gegen Ihre Mitwirkung nicht nur nichts einzuwenden, sondern verspricht sich sogar Nutzen davon. Ich beabsichtige, um vier Uhr heute nachmittag bei Ihnen vorzusprechen und hoffe, daß Sie etwaige anderweitige Verpflichtungen auf später verschieben können.

Ihr aufrichtiger

St. Simon.

»Der Brief ist aus Schloß Grosvenor datiert und mit einer Füllfeder geschrieben, wobei dem edlen Lord das Mißgeschick begegnet ist, einen Tintenklecks außen an seinen rechten kleinen Finger zu bringen«, bemerkte Holmes, während er das Schreiben zusammenfaltete.

»Er sagt vier Uhr. Jetzt ist es drei. In einer Stunde ist er da. Bis dahin habe ich gerade noch Zeit, mich mit deiner Hilfe in der Sache aufs Laufende zu bringen. Sieh die Zeitungen durch und ordne die darauf bezüglichen Artikel nach ihrer Reihenfolge, unterdessen will ich einmal feststellen, wer unser Klient eigentlich ist.« Er nahm ein rotgebundenes Nachschlagebuch von dem Bücherbrett neben dem Kamin. »Da haben wir ihn ja«, sagte er, indem er sich niederließ und das Buch aufgeschlagen über seine Knie legte. »Lord Robert Walsingham de Vere St. Simon, zweiter Sohn des Herzogs von Balmoral – Hm! Wappen blau, drei Stachelnüsse im Mittelfeld über einem schwarzen Querbalken. Immerhin schon 41 Jahre alt, also nicht mehr zu jung zum Heiraten. War früher Unterstaatssekretär im Kolonialamt. Der Herzog, sein Vater, war früher Minister der auswärtigen Angelegenheiten. Stammen in gerader Linie von den Plantagenets und weiblicherseits von den Tudors ab. Das ist alles. Wir sind also nicht viel gescheiter als zuvor. Ich muß mich, scheint es, an dich halten, Watson, wenn ich etwas Ausgiebigeres erfahren will.«

»Es ist keine große Mühe, zu finden, was ich suche«, versetzte ich, »denn die Ereignisse sind neuesten Datums, und der merkwürdige Fall fesselte gleich meine Aufmerksamkeit. Trotzdem sah ich davon ab, dir darüber zu berichten, denn ich wußte, daß du gerade mit einer Untersuchung beschäftigt warst und es nicht gerne siehst, wenn man dir mit etwas anderem dazwischen kommt.«

»Ach, der Fall, den du meinst, ist bereits vollständig erledigt und war eigentlich von vornherein ganz klar. Bitte, lies mir nun vor, was du gefunden hast.«

»Dies hier ist, soviel ich finden kann, die erste Notiz. Sie stand vor ein paar Wochen in der ›Morning-Post‹ unter den Personalnachrichten. ›Lord Robert St. Simon‹, heißt es da, zweiter Sohn des Herzogs von Balmoral, beabsichtigt, sich mit Fräulein Hatty Doran, einziger Tochter des Herrn Aloysius Doran aus San Francisco in Kalifornien, ehelich zu verbinden, und zwar soll allem Anschein nach die Vermählung in allernächster Zeit stattfinden‹ Das ist alles.«

»Klipp und klar«, bemerkte Holmes darauf, indem er seine Beine vor dem Kaminfeuer ausstreckte.

»Ein paar Tage später las ich darüber in einer der vornehmen Wochenschriften noch einen Artikel. Ach, da ist er ja:

In Heiratssachen wird man wohl nächstens einen Schutzzoll für unsere heimischen Erzeugnisse verlangen, die allem Anschein nach durch die in Geltung stehenden freihändlerischen Grundsätze stark geschädigt werden. Eine der britischen Adelsfamilien um die andere beugt sich dem Szepter unserer hübschen überseeischen Stammverwandten. Die Zahl der Siegespreise, die diese entzückenden Eroberinnen davon getragen haben, hat in verflossener Woche einen ganz gewichtigen Zuwachs erfahren. Lord St. Simon, der sich seit mehr als zwanzig Jahren gegenüber den Pfeilen des kleinen Gottes als unverwundbar gezeigt hatte, kündigt nunmehr seine baldige eheliche Verbindung mit Miß Hatty Doran, der reizenden Tochter eines kalifornischen Millionärs an. Miß Doran, deren anmutige Erscheinung und blendend schöne Züge bei den Festlichkeiten in Westbury House großes Aufsehen erregten, ist ein einziges Kind, und ihre Mitgift wird, wie wir erfahren, mehr als eine Million betragen, abgesehen von dem, was ihr noch für später in Aussicht steht. Da es ein öffentliches Geheimnis ist, daß sich der Herzog im Lauf der letzten Jahre genötigt sah, seine Gemälde zu verkaufen, und Lord St. Simon außer dem kleinen Gute Birchmoor keinen eigenen Grundbesitz hat, so liegt es auf der Hand, daß die kalifornische Erbin nicht allein die Gewinnende bei dieser Verbindung ist, durch welche eine einfache Republikanerin auf so bequeme und nicht ungewöhnliche Art zur Angehörigen des höchsten britischen Adels erhoben wird.«

»Sonst noch etwas?« fragte Holmes gähnend.

»O freilich; die Hülle und Fülle. Es kommt dann noch eine Notiz in der ›Morning-Post‹, daß die Hochzeit in aller Stille in der St. Georgenkirche stattfinden, daß nur ein halbes Dutzend der nächsten Bekannten Einladungen erhalten, und daß die Gesellschaft sich danach wieder nach dem von Herrn Aloysius Doran gemieteten Hause in Lancastergate begeben werde. Zwei Tage darauf – also vorigen Mittwoch – kommt dann eine kurze Bemerkung, daß die Hochzeit stattgefunden habe, und daß das junge Paar die Flitterwochen auf Lord Backwaters Besitzung bei Petersfield zu verbringen gedenke. Dies ist alles, was die Zeitungen vor dem Verschwinden der jungen Frau über die Sache gebracht haben.«

»Vor was?« fragte Holmes, hoch aufhorchend.

»Vor dem Verschwinden der jungen Frau.«

»Wann verschwand sie denn?«

»Beim Hochzeitsmahl.«

»Wirklich? Nun, die Sache läßt sich ja weit interessanter an, als es den Anschein hatte; sie ist ja direkt hochdramatisch.«

»Ja. Ich war ganz überrascht; ein Fall wie dieser kommt nicht gerade alle Tage vor.«

»Vor der Trauung verschwinden sie oft und viel, gelegentlich kommt es auch einmal während der Flitterwochen vor; aber einen Fall, wo es nach der Trauung mit dem Verschwinden so große Eile hatte, habe ich wirklich noch nicht erlebt. Bitte, laß mich den genauen Bericht hören.«

»Ich will dir nur gleich im voraus sagen, daß er sehr unvollständig ist.«

»Nun, dem können wir ja vielleicht abhelfen.«

»Die Nachricht steht in einem der gestrigen Morgenblätter. Ich will dir den Artikel vorlesen; er trägt die Überschrift ›Merkwürdiger Vorfall bei einer vornehmen Hochzeit‹ und lautet:

Die Familie Lord Robert St. Simons ist durch die rätselhaften und bedauerlichen Vorfälle, die sich bei dessen Hochzeit zugetragen haben, in die größte Bestürzung versetzt worden. Die kirchliche Feier fand, wie wir schon kurz mitgeteilt haben, am gestrigen Vormittag statt; allein es war erst jetzt möglich, den sonderbaren Gerüchten, die sich um dieses Ereignis knüpften, auf den Grund zu kommen. Die Angelegenheit, welche die Näherstehenden vergeblich zu vertuschen suchten, hat die Öffentlichkeit in solchem Grade erregt, daß es keinen vernünftigen Zweck mehr haben könnte, Dinge totschweigen zu wollen, die in jedermanns Munde sind.

Die Feier in der St. Georgenkirche hielt sich im engsten Kreise. Es waren nur zugegen der Vater der Braut, Herr Aloysius Doran, die Herzogin von Balmoral, Lord Backwater, Lord Eustachius und Lady Clara St. Simon (die jüngeren Geschwister des Bräutigams) sowie Lady Alicia Whittington. Die ganze Gesellschaft begab sich darauf nach Herrn Aloysius Dorans Haus in Lancastergate, wo das Festmahl bereit stand. Eine Störung verursachte, wie es scheint, dabei eine weibliche Person, deren Name sich nicht hat feststellen lassen; sie versuchte unter dem Vorgeben, daß sie Ansprüche an Lord St. Simon habe, hinter der Gesellschaft gewaltsam in das Haus einzudringen und konnte nur nach einem längeren peinlichen Auftritt durch zwei Diener fortgebracht werden. Die Braut, welche das Haus glücklicherweise vor diesem unliebsamen Zwischenfall betreten hatte, saß mit der übrigen Gesellschaft zu Tische, als sie plötzlich über Übelbefinden klagte und sich auf ihr Zimmer zurückzog. Als ihre längere Abwesenheit aufzufallen begann, ging der Vater ihr nach, erfuhr jedoch von dem Kammermädchen, seine Tochter sei nur einen Augenblick auf ihr Zimmer gekommen, habe einen Mantel umgeworfen, den Hut aufgesetzt und darauf eilends das Haus verlassen. Ein Diener sagte aus, er habe allerdings eine Dame in dem eben beschriebenen Anzug das Haus verlassen sehen, ohne jedoch an die Möglichkeit zu denken, daß es seine Herrin sein könne, da er geglaubt habe, sie befinde sich bei der Gesellschaft. Sobald festgestellt war, daß die Braut wirklich verschwunden sei, setzten sich Herr Aloysius Doran und der Bräutigam augenblicklich mit der Polizei in Verbindung, und es sind alle Nachforschungen im Gange, um bald Licht in diese höchst merkwürdige Geschichte zu bringen. Bis gestern abend in später Stunde war übrigens von dem Verbleib der Vermißten noch nichts bekannt geworden. Die Polizei hat die Festnahme der Frau veranlaßt, welche die erste Störung herbeigeführt hatte, in der Annahme, daß sie aus Eifersucht oder irgend einem andern Beweggrund bei dem merkwürdigen Verschwinden der Braut beteiligt sein könnte.«

»Und ist das alles?«

»Nur eine kleine, aber wichtige Notiz steht noch in einem andern Morgenblatt.«

»Und was enthält sie?«

»Daß Fräulein Flora Millar, die Störerin der Hochzeitsfeier, wirklich festgenommen ist. Es scheint, daß sie früher Tänzerin am Allegrotheater war und mit dem Bräutigam einige Jahre lang ein Verhältnis unterhielt. Weitere Einzelheiten sind nicht erwähnt.

Das ist das ganze auf diese Hochzeit bezügliche Material – soweit die Tagespresse sich damit beschäftigt hat.«

»Es scheint tatsächlich ein sehr interessanter Fall zu sein, um den ich nicht kommen möchte. Aber da klingelt es, Watson; und da es gerade vier geschlagen hat, so dürfen wir sicher sein, daß es unser vornehmer Besuch ist. Laß dir nur nicht einfallen, Watson, fortgehen zu wollen, es ist mir viel lieber, ich habe einen Zeugen; wäre es auch nur zur Unterstützung meines Gedächtnisses.«

»Lord Robert St. Simon«, meldete unser kleiner Diener, indem er die Tür weit aufmachte. Ein Herr trat ein mit feinen, angenehmen Zügen, vorspringender Nase und blasser Farbe; er hatte einen etwas hochmütigen Ausdruck um den Mund und den festen, offenen Blick eines Mannes, dem das angenehme Los zuteil geworden ist, stets befehlen zu dürfen und jederzeit Gehorsam zu finden. Sein Wesen war lebhaft, und doch machte seine ganze Erscheinung keinen jugendlichen Eindruck mehr, denn er hielt sich ein klein wenig vorgeneigt und sank beim Gehen etwas in die Knie. Als er den hochkrempigen Hut abnahm, zeigte sich auch sein Haar ringsum an den Spitzen ergraut und auf dem Scheitel dünn. Sein Anzug war von einer fast stutzerhaften Eleganz. Er trat mit gemessenem Schritt ein, drehte dabei den Kopf von einer Seite zur andern und ließ den goldenen Nasenklemmer um seine rechte Hand tanzen.

»Guten Tag, Lord St. Simon«, sagte Holmes, indem er aufstand und sich verbeugte; »bitte, nehmen Sie Platz im Armstuhl. Dies ist mein Freund und Kollege, Dr. Watson. Setzen Sie sich etwas näher zum Feuer, dann wollen wir die Angelegenheit besprechen.«

»Eine höchst peinliche Sache für mich, wie Sie sich leicht vorstellen können, Herr Holmes. Der Schlag hat mich bis ins Mark getroffen. Ich habe erfahren, daß Sie schon mehr heikle Fälle dieser Art unter den Händen gehabt haben, jedoch wohl kaum aus unseren Kreisen.«

»Nein, aus weit vornehmeren.«

»Wie sagten Sie, bitte?«

»Mein letzter Klient dieser Art war ein König.«

»O wirklich! Davon hatte ich keine Ahnung. Und welcher König war das?«

»Der König von Schweden.«

»Was? War ihm auch seine Frau abhanden gekommen?«

»Sie werden begreifen«, erwiderte Holmes in sanftem Tone, »daß ich die Verschwiegenheit, die ich Ihnen in Ihren Angelegenheiten zusichere, in gleicher Weise auch meinen übrigen Klienten gegenüber beobachten muß.«

»Natürlich! Ganz recht! Ganz recht! Bitte sehr um Vergebung. Was meinen eigenen Fall betrifft, so bin ich bereit, Ihnen jeden Aufschluß zu geben, der Ihnen förderlich sein kann.«

»Danke. Was in den Tagesblättern darüber steht, weiß ich bereits alles, aber sonst nichts. Ich setze voraus, daß ich den Inhalt der Zeitungen als richtig annehmen darf – so z. B. auch den Artikel, der sich auf das Verschwinden der Braut bezieht.«

Lord St. Simon überflog ihn. »Allerdings; was darin steht, ist richtig.«

»Doch bedarf er noch der Vervollständigung, bevor man sich eine Ansicht in der Sache zu bilden vermag. Ich glaube, ich könnte mir das nötige Material am besten verschaffen, wenn ich Ihnen direkt Fragen stellte.«

»Bitte, tun Sie das nur.«

»Wann trafen Sie zum erstenmal mit Fräulein Doran zusammen?«

»In San Francisco, vor einem Jahr.«

»Sie befanden sich damals auf einer Reise in den Vereinigten Staaten?«

»Ja.«

»Verlobten Sie sich damals schon?«

»Nein.«

»Aber Sie standen auf freundschaftlichem Fuße mit ihr?«

»Ich fand Vergnügen an ihrer Gesellschaft, und sie konnte auch wohl merken, daß dies der Fall war.«

»Ihr Vater ist sehr reich?«

»Er gilt für den reichsten Mann an der ganzen Westküste.«

»Und womit verdiente er sein Geld?«

»Mit Bergbau. Vor wenigen Jahren war er noch ohne Vermögen. Dann grub er auf Gold und machte dabei so glänzende Geschäfte, daß er mit Riesenschritten vorwärts kam.«

»Nun, und was ist Ihr Eindruck von dem Charakter der jungen Dame – Ihrer Gemahlin?«

Der Edelmann ließ seinen Klemmer noch etwas rascher tanzen und blickte starr in das Kaminfeuer. »Sehen Sie, Herr Holmes«, begann er, »meine Gemahlin war schon zwanzig Jahre alt, ehe ihr Vater ein reicher Mann wurde. Bis dahin war sie in einem Goldgräberdorf frei umhergelaufen und durch Wälder und Berge geschweift, so daß ihre Erziehung mehr auf Rechnung der Natur als des Schulmeisters zu setzen ist. Sie ist, was man einen Wildfang nennt, eine starke, ungestüme, freie, durch keinerlei alte Überlieferung beengte Natur. Sie ist rasch fertig mit ihrem Urteil und kennt keine Furcht, wenn es gilt, ihre Entschlüsse auszuführen. Auf der anderen Seite würde ich ihr nicht den Namen gegeben haben, den ich die Ehre habe zu tragen (hier ließ er ein kurzes, vornehmes Hüsteln hören), hätte ich sie nicht für ein durchaus edel geartetes Wesen gehalten. Ich glaube, daß sie heroischer Aufopferung fähig ist, und daß jede Spur von Unehrenhaftigkeit ihr fern liegt.«

»Besitzen Sie ihre Photographie?«

»Dies hier habe ich bei mir.« Damit öffnete er ein Etui und ließ uns ein sehr einnehmendes weibliches Bildnis sehen. Es war keine Photographie, sondern eine Miniaturmalerei auf Elfenbein, in welcher der Künstler das glänzend schwarze Haar, die großen dunklen Augen, den ausgesucht schönen Mund zu voller Wirkung zu bringen verstanden hatte. Holmes betrachtete das Porträt lange und aufmerksam, dann schloß er das Etui wieder und gab es dem Lord zurück.

»Die junge Dame kam hierauf nach London, und Sie knüpften hier die Bekanntschaft wieder an?«

»Jawohl. Ihr Vater brachte sie zur diesjährigen Saison herüber. Ich traf mehrmals mit ihr zusammen, bis ich mich mit ihr verlobte und kürzlich verheiratete.«

»Sie hat, wenn ich recht berichtet bin, eine beträchtliche Mitgift erhalten?«

»Eine ganz hübsche Mitgift. Aber nicht größer, als es in meiner Familie üblich ist.«

»Und diese Mitgift verbleibt nun natürlich Ihnen, nachdem die eheliche Verbindung zur Tatsache geworden ist?«

»Danach habe ich mich wirklich noch nicht erkundigt.«

»Das läßt sich denken. Waren Sie mit Ihrer Braut am Tage vor der Hochzeit zusammen?«

»Jawohl.«

»War sie da guter Laune?«

»In so froher Stimmung als jemals. Sie machte fortwährend Pläne für unsere Zukunft.«

»Wirklich? Das ist höchst merkwürdig. Und am Hochzeitsmorgen?«

»War sie so heiter als nur möglich. Wenigstens bis nach der Trauung.«

»Und haben Sie nach der Trauung eine Veränderung an ihr bemerkt?«

»Nun ja, um die Wahrheit zu gestehen, erfuhr ich bei dieser Gelegenheit zum erstenmal, daß sie auch etwas heftig werden kann. Das Vorkommnis war übrigens zu nebensächlich, um ein Wort darüber zu verlieren, und hat keinerlei Bedeutung für den vorliegenden Fall.«

»Bitte, teilen Sie es uns trotz alledem mit.«

»Ach, es hört sich wirklich kindisch an. Als wir vom Altar zurückgingen, ließ sie ihren Blumenstrauß fallen. Sie schritt gerade an der vordersten Sitzreihe vorüber, und so fiel er in einen der Kirchenstühle hinein. Dies verursachte einen Aufenthalt von einigen Augenblicken, allein der dort sitzende Herr händigte ihr sogleich den Strauß wieder ein, der auch durch den Fall nicht gelitten hatte. Trotzdem gab sie mir auf meine Bemerkungen über den Vorfall nur abgerissene Antworten, und während unserer Fahrt nach Hause zeigte sie eine unbegreifliche Erregung über diese unbedeutende Sache.«

»Wirklich? Wie Sie sagen, befand sich ein Herr in dem Kirchenstuhl. Es waren also fremde Zuschauer zugegen?«

»O ja. Dies läßt sich unmöglich vermeiden, wenn die Kirche offen ist.«

»Jener Herr gehörte nicht zu den Bekannten Ihrer Gemahlin?«

»Nein, nein. Ich nenne ihn nur aus Höflichkeit einen Herrn; es war ein ganz gewöhnlich aussehender Mensch, den ich kaum bemerkt hatte. Aber ich glaube, wir schweifen ziemlich weit von unserem Ziele ab.«

»Ihre Gemahlin war also bei der Rückkehr von der Trauung in einer weniger heiteren Stimmung als auf dem Hinweg. Was tat sie nach der Ankunft im väterlichen Hause?«

»Da sah ich sie im Gespräch mit Alice, ihrem amerikanischen Kammermädchen, das sie aus Kalifornien mitgebracht hat.«

»Wohl eine vertraute Dienerin?«

»Ja, nur etwas zu sehr. Mir scheint, sie gestattet sich ihrer Herrin gegenüber große Freiheiten. Doch sieht man derartige Verhältnisse in Amerika natürlich etwas anders an.«

»Wie lange dauerte dieses Gespräch?«

»Nur ein paar Minuten. Ich dachte gerade an etwas anderes.«

»Sie haben nicht gehört, wovon sie sprachen?«

»Meine Frau sagte etwas von ›in fremdes Gehege kommen‹. Ich habe keine Ahnung, was sie damit meinte.«

»Und was tat Ihre Gemahlin nach dem Gespräch?«

»Sie begab sich in das Speisezimmer.«

»An Ihrem Arm?«

»Nein, allein. In solchen Kleinigkeiten war sie sehr selbständig. Wir mochten etwa zehn Minuten bei Tisch gesessen haben, als sie eilig aufstand, einige Worte der Entschuldigung murmelte und den Saal verließ, um nicht wiederzukehren.«

»Wenn ich recht verstanden habe, so ist sie nach Aussage des Kammermädchens auf ihr Zimmer gegangen, hat einen langen Mantel über ihr Brautkleid geworfen, einen Hut aufgesetzt und das Haus verlassen.«

»Ganz richtig. Darauf wurde sie noch im Hydepark zusammen mit der Flora Millar gesehen, die an jenem Vormittag bereits in Herrn Dorans Hause eine Störung verursacht hatte und inzwischen verhaftet worden ist.«

»Ganz richtig. Ich darf Sie wohl um etwas genauere Auskunft über diese junge Dame und Ihre Beziehungen zu ihr bitten.«

Lord St. Simon zuckte die Achseln und zog die Augenbrauen in die Höhe. »Wir haben ein paar Jahre lang auf freundschaftlichem Fuße miteinander gestanden – ich darf wohl sagen: auf sehr freundschaftlichem Fuße. Sie war meist am ›Allegro‹ beschäftigt. Ich habe nicht unnobel an ihr gehandelt, und sie hatte keinen triftigen Grund zur Klage über mich, aber Sie wissen ja, wie diese Mädel sind, Herr Holmes. Flora war ein ganz nettes, kleines Ding, allein äußerst hitzköpfig und von einer blinden Anhänglichkeit an mich. Sie schrieb mir schreckliche Briefe, als sie erfuhr, daß ich im Begriff stand, mich zu verheiraten; und, um die Wahrheit zu sagen, war der Grund, warum ich die Hochzeit so in der Stille feiern ließ, daß ich fürchtete, es möchte einen Skandal in der Kirche geben. Gerade wie wir von dort zurückkehrten, erschien sie vor Herrn Dorans Hause und suchte sich unter höchst unziemlichen, ja sogar drohenden Äußerungen gegen meine Gattin einzudrängen; allein ich hatte so etwas vorausgeahnt und deshalb zwei Polizisten in bürgerlicher Kleidung aufgestellt, die sie wieder fortbrachten. Sie beruhigte sich schließlich, als sie sah, daß sie mit dem lärmenden Auftritt doch nichts ausrichten konnte.«

»Hat Ihre Gattin das alles mit angehört?«

»Nein, Gott sei Dank, das nicht.«

»Und mit eben diesem Mädchen hat man sie nachher gehen sehen?«

»Jawohl. Dies ist auch der Punkt, den Herr Lestrade als so schwerwiegend ansieht. Man nimmt an, Flora habe meine Frau in irgend eine schreckliche Falle gelockt.«

»Nun, das wäre freilich möglich.«

»Sie sind also auch dieser Ansicht?«

»Für wahrscheinlich halte ich es gerade nicht; aber wie denken Sie selbst darüber?«

»So wie ich Flora kenne, könnte sie keiner Fliege etwas zuleide tun.«

»Die Eifersucht bewirkt aber doch oft ganz merkwürdige Veränderungen im Charakter des Menschen.«

»Sollte Ihnen das Glück beschieden sein, die Lösung dieses Rätsels zu finden –« fuhr unser Besucher fort, indem er sich erhob.

»Ich habe sie gefunden«, unterbrach ihn Holmes.

»Wie? Höre ich recht?«

»Ich habe sie gefunden, sage ich.«

»Nun, wo ist denn meine Frau?«

»Auch auf diesen weiteren Punkt werde ich die Antwort nicht lange schuldig bleiben.«

Lord St. Simon schüttelte das Haupt. »Ich glaube doch fast, dazu gehört mehr Weisheit, als Sie oder ich im Kopfe haben«, versetzte er. Dann zog er sich mit einer vornehmen, altmodischen Verbeugung zurück.

*

»Es ist wirklich recht gnädig von Seiner Lordschaft, daß er meinem Kopf die Ehre erweist, ihn mit dem seinigen auf eine Stufe zu stellen«, meinte Sherlock Holmes lachend. »Auf dieses lange Kreuzverhör hin habe ich aber eine kleine Erfrischung und eine Zigarre verdient. Ich war mit meinen Schlußfolgerungen übrigens im reinen, ehe unser Besuch erschien.«

»Mein lieber Holmes!«

»Ja – es ist so. Unter meinen Aufzeichnungen befinden sich mehrere ähnliche Fälle, aber so flink ist es noch bei keinem gegangen. Das Verhör machte meine Vermutung nur zur Gewißheit. Ein Indizienbeweis ist gelegentlich außerordentlich überzeugend, namentlich wenn auch das übrige so genau dazu paßt.«

»Aber ich habe doch alles mit angehört, so gut wie du!«

»Allerdings, aber ohne die Kenntnis der früheren Fälle, die mir so sehr zustatten kommt. Da war ein Fall vor einigen Jahren, wo –. Doch da kommt ja Lestrade! Hallo, Lestrade, guten Abend! Dort drüben steht Ihr Stammglas, und hier ist die Zigarrenkiste.«

Der kleine Herr erschien in einer hellen Jacke und hellem Halstuch, was ihm ein ganz seemännisches Aussehen gab, in der Hand trug er einen schwarzen Reisekoffer. Nach kurzem Gruß ließ er sich nieder und steckte sich die angebotene Zigarre an.

»Was ist denn los?« fragte Holmes mit einem Zwinkern seiner Augen. »Sie sehen ja recht mißmutig aus.«

»Bin ich auch. Diese Teufelsgeschichte mit der Hochzeit Lord St. Simons! Ich weiß nicht, an welchem Zipfel ich das Geschäft anfassen soll!«

»Wirklich! Das ist mir überraschend.«

»Hat man je von einer so vertrackten Geschichte gehört? Sobald ich meine, ich habe einen Faden gefunden, schlüpft er mir wieder durch die Finger; den ganzen Tag habe ich mich daran abgearbeitet.«

»Und gewaltig naß sind Sie scheint’s dabei geworden«, versetzte Holmes, seinen Rockärmel befühlend.

»Ja. Ich habe den Kanal ausfischen lassen.«

»Wozu denn das, um Gottes willen?«

»Um den Leichnam der Lady St. Simon zu finden.«

Sherlock Holmes lehnte sich in seinem Stuhl zurück und lachte aus vollem Halse.

»Haben Sie auch das Bassin des Springbrunnens auf dem Trafalgarplatz ausfischen lassen?«

»Wieso? Warum das?«

»Weil Sie gerade so viel Aussicht hatten, dort die Leiche zu finden, wie im Kanal.«

Lestrade warf einen zornigen Blick auf meinen Freund. »Es scheint, Sie sind schon vollständig im klaren über alles!« sagte er gereizt.

»Nun, ich habe zwar erst eben den Verlauf der Sache vernommen, aber meine Ansicht habe ich mir gebildet.«

»So! Dann sind Sie wohl der Meinung, der Kanal habe gar nichts mit der Sache zu tun?«

»Ich halte es für höchst unwahrscheinlich.«

»Wollen Sie dann vielleicht die Güte haben, mir zu erklären, wie diese Sachen hier hineingekommen sind?« Damit öffnete er seine Tasche, aus welcher ein Brautkleid aus Seide, ein Paar weiße Atlasschuhe, ein Brautkranz und Schleier herausfielen, alles vom Wasser durchweicht und verdorben. »So«, sagte er, und legte noch einen ganz neuen Ehering oben auf den Haufen, »nun knacken Sie mir mal diese Nuß, Herr Holmes.«

»Also aus dem Kanal sind die Sachen heraufgeholt worden?« versetzte mein Freund und blies dabei blaue Ringe in die Lust.

»Nein, ein Parkhüter sah sie in der Nähe des Ufers schwimmen; man hat sie als der Lady gehörig erkannt; nun dachte ich, sind die Kleider da, so wird die Leiche auch nicht weit davon sein.«

»Dieser wunderbaren Logik zufolge müßte man also die Leiche eines Verstorbenen stets in der Nähe seines Kleiderschrankes finden. Und bitte, sagen Sie mir doch, was hofften Sie denn dadurch zu erreichen?«

»Einen Beweis für die Beteiligung der Flora Millar an dem Verschwinden der Vermißten.«

»Tut mir leid, aber das wird schwer halten.«

»Wirklich, auch jetzt noch?« rief Lestrade in gereiztem Tone. »Und mir tut es leid, Holmes, Ihnen sagen zu müssen, daß Sie mit Ihren Schlüssen und Vermutungen sehr daneben gehauen haben. Sie haben zwei Böcke in den letzten zwei Minuten geschossen. Durch dieses Kleid ist Flora Millar überführt.«

»Und wieso das?«

»In dem Kleid ist eine Tasche. In der Tasche befindet sich ein Visitenkartentäschchen. In diesem Täschchen steckt ein Zettel. Und hier ist der Zettel selbst.« Damit legte er diesen vor Holmes auf den Tisch hin. »Hören Sie nur:

Wenn alles besorgt ist, werde ich erscheinen. Komme unverzüglich. F. H. M.

»Ich war von Anfang an der Überzeugung, daß Lady St. Simon durch Flora Millar weggelockt worden ist, daß diese, ohne Zweifel im Verein mit anderen, an ihrem Verschwinden schuld ist. Dieser Zettel, mit Flora Millars Anfangsbuchstaben unterzeichnet, wurde der Lady ohne Zweifel unter der Tür in aller Stille in die Hände gespielt, um sie vom Hause wegzulocken.«

»Vortrefflich Lestrade«, versetzte Holmes lachend. »Sie sind in der Tat höchst scharfsinnig. Lassen Sie mich mal sehen!« Damit griff er gleichgültig nach dem Zettel, allein plötzlich wurde seine Aufmerksamkeit rege, und ein Ausruf freudiger Überraschung entfuhr ihm. »Das ist wirklich von Bedeutung«, bemerkte er.

»So, sind Sie jetzt auch meiner Meinung?«

»Versteht sich. Ich gratuliere Ihnen aufrichtig.«

Lestrade erhob sich in seiner Siegesfreude und beugte sich gleichfalls über den Zettel. »Aber«, rief er, »Sie schauen ja auf die verkehrte Seite!«

»Durchaus nicht, das ist die richtige Seite.«

»Die richtige Seite? Sie sind nicht bei Trost. Hier steht ja die Notiz mit Bleistift geschrieben.«

»Und dort steht etwas, das einem Stück von einer Hotelrechnung ähnlich sieht und mich außerordentlich interessiert:

4. Okt. Zimmer 8 Schill., Frühst. 2 Schill. 6 Pence, Gabelfrühstück
22 Schill. 6 Pence, ein Glas Sherry 8 Pence. –

»Dahinter steckt nichts. Das habe ich längst gesehen«, erwiderte Lestrade.

»Es hat allerdings ganz den Anschein. Und trotzdem ist es von höchster Bedeutung. Was die Bleistiftnotiz betrifft, so ist sie, oder wenigstens die Anfangsbuchstaben, gleichfalls von Wichtigkeit. Ich gratuliere daher nochmals.«

»Wir haben jetzt genug Zeit vertrödelt«, versetzte Lestrade, indem er sich erhob. »Ich halte mehr davon, eine Aufgabe tüchtig anzupacken, als beim Kaminfeuer geistreiche Annahmen darüber auszuklügeln. Adieu, Herr Holmes, wir werden ja sehen, wer der Sache zuerst auf den Grund kommt!« Er packte die Kleidungsstücke wieder in die Tasche und schritt der Tür zu.

»Einen Wink will ich Ihnen doch noch geben, Lestrade«, rief Holmes gleichmütig seinem abgehenden Kollegen nach, »ich will Ihnen die richtige Lösung des Rätsels verraten: Lady St. Simon gehört ins Fabelreich. Eine solche gibt es nicht und hat es nie gegeben.«

Lestrade warf einen betrübten Blick auf meinen Freund. Dann wandte er sich zu mir, deutete auf seine Stirn und verschwand eiligst unter feierlichem Kopfschütteln.

Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, so erhob sich Holmes und zog seinen Überzieher an. »Es ist etwas Wahres an dem, was der Mensch sagt; es taugt nichts, hier müßig zu sitzen«, äußerte er, »deshalb muß ich dich wohl jetzt mit deinen Zeitungen allein lassen, Watson.«

Es war fünf Uhr vorüber, als Holmes mich verließ; doch hatte ich nicht lange Zeit, mich einsam zu fühlen: es dauerte keine Stunde, so brachten zwei Leute aus einem Delikatessengeschäft eine große flache Kiste herein, der sie zu meinem größten Erstaunen im Handumdrehen ein ganz üppiges kaltes Abendessen entnahmen, das bald auf unserem bescheidenen Junggesellentisch prangte. Da standen Rebhühner, ein Fasan, eine Gänseleberpastete nebst einer ganzen Batterie alter bestaubter Flaschen. Kaum waren der Wein und die leckeren Gerichte aufgestellt, so verschwanden die Überbringer wie die Geister in ›Tausend und eine Nacht‹, ohne sich auf eine weitere Erklärung einzulassen, als daß das alles hierher bestellt und schon bezahlt sei.

Kurz vor neun Uhr trat Holmes mit lebhaftem Schritt ins Zimmer. Seine Züge trugen einen ernsten Ausdruck, doch ersah ich aus einem gewissen Glanz in seinen Augen, daß der Erfolg seinen Schlüssen recht gegeben habe.

»Also das Abendessen ist bereit«, sagte er und rieb sich die Hände.

»Es scheint, du erwartest Gesellschaft; es sind ja fünf Gedecke.«

»Wir müssen uns heute auf einige ungebetene Gäste gefaßt machen«, meinte er. »Mich wundert nur, daß Lord St. Simon noch nicht da ist. Doch eben höre ich seinen Tritt auf der Treppe, wenn mich nicht alles täuscht.«

Es war wirklich unser Besuch vom Nachmittag, der jetzt hereinstürmte und mit verstörtem Ausdruck in den aristokratischen Zügen seinen Zwicker noch eifriger um die Finger schwang als sonst.

»Mein Bote hat Sie also getroffen?« fragte Holmes.

»Jawohl. Und ich muß gestehen, was er mir ausrichtete, hat mich über alle Maßen verblüfft. Haben Sie einen sichern Beweis für Ihre Behauptung?«

»Den besten, der sich denken läßt.«

Lord St. Simon sank auf einen Stuhl und fuhr sich mit der Hand über die Stirn.

»Was wird der Herzog sagen«, murmelte er vor sich hin, »wenn er hört, welche Demütigung einem Mitglied seiner Familie widerfahren ist.«

»Es ist lediglich eine unglückliche Verkettung von Umständen. Daß es sich dabei um eine Demütigung handelt, kann ich überhaupt nicht zugeben«, sagte Holmes.

»Sie sehen eben diese Dinge von einem andern Standpunkt an.«

»Ich kann mich nicht überzeugen, daß irgend jemand eine Schuld trifft. Die junge Frau hätte im Grunde kaum anders handeln können. Ihr schroffes Vorgehen ist freilich zu bedauern; aber sie stand ohne Mutter da und hatte somit keinen Menschen, der ihr in dieser kritischen Lage raten konnte.«

»Es war eine entwürdigende Behandlung, eine öffentliche Beschimpfung!« rief Lord St. Simon und trommelte mit den Fingern auf dem Tisch.

»Sie müssen dem armen Mädchen, das sich in einer so überaus schwierigen Lage befand, etwas zugute halten.«

»Ich bin nicht in der Stimmung, irgend jemandem etwas zugute zu halten. Ich bin aufs äußerste empört. Man hat mir schmählich mitgespielt.«

»Ich glaube, es hat geklingelt«, unterbrach ihn Holmes. »Jawohl, man hört schon Schritte heraufkommen. Da ich Sie nicht überreden kann, die Sache in milderem Licht zu sehen, Lord St. Simon, so habe ich hier einen Anwalt bestellt, der es vielleicht besser zu Wege bringt.« Damit öffnete er die Tür und ließ eine Dame und einen Herrn eintreten. »Lord St. Simon«, wandte er sich wieder an diesen, »gestatten Sie mir, Ihnen Herrn und Frau Hay Moulton vorzustellen. Die Dame ist Ihnen wohl bereits bekannt.«

Beim Erscheinen der neuen Ankömmlinge war der Lord sofort von seinem Sitz aufgesprungen; mit zu Boden gesenktem Blick, die rechte Hand vorn in den Rock gesteckt, stand er da – ein Bild beleidigter Würde. Die junge Frau tat einen raschen Schritt auf ihn zu und streckte ihm beide Hände entgegen, aber er schaute nicht empor. Und wenn er fest bleiben wollte, war dies wohl auch das beste, denn dem bittenden Ausdruck ihres Gesichtes war nicht leicht zu widerstehen.

»Du zürnst mir, Robert?« sagte sie. »Freilich, du hast wohl guten Grund dazu.«

»Nur keine Entschuldigung«, erwiderte der Angeredete bitter.

»Ich weiß wohl, ich habe wirklich unrecht an dir gehandelt; ich hätte dir’s sagen sollen, ehe ich davonging. Aber ich war ganz aus dem Häuschen; sobald ich meinen Frank wiedergesehen hatte, wußte ich wirklich nicht mehr, was ich tat und sagte. Ich wundere mich nur, daß ich nicht gleich vor dem Altar ohnmächtig wurde und hinfiel.«

»Vielleicht ist es Ihnen erwünscht, Frau Moulton, wenn ich mit meinem Freund während dieser Erörterungen das Zimmer verlasse?« warf hier Holmes ein.

»Wenn ich meine Meinung äußern darf«, ließ sich jetzt der fremde Herr vernehmen, »so glaube ich, daß wir die Sache bisher schon mit allzuviel Heimlichkeit betrieben haben. Meinetwegen könnte die ganze Welt erfahren, wie alles zugegangen ist.« Es war ein kleiner, geschmeidiger, sonnenverbrannter Mann, glatt rasiert, mit klugem Gesicht und lebhaftem Wesen.

»Dann will ich unsere Geschichte frischweg erzählen«, sagte die junge Frau. »Frank und ich trafen uns vor Jahren in Mc. Quires Camp am Felsengebirge, wo mein Vater eine Grube besaß. Wir verlobten uns miteinander; allein eines Tages stieß mein Vater auf eine reiche Ader in der Grube und gewann mächtig viel Gold, während Frank aus seiner Grube immer weniger herausschlug und zu nichts kam. Je reicher wir wurden, um so ärmer wurde Frank, zuletzt wollte mein Vater nichts mehr von unserer Verlobung hören und schickte mich fort nach Frisco. Aber Frank wollte nicht von mir lassen; er folgte mir und traf ohne meines Vaters Wissen mit mir zusammen. Hätten wir es ihm gesagt, so wäre er nur in Wut geraten, deshalb machten wir die Sache für uns allein ab. Frank erklärte, er wolle fortgehen und auch sein Glück machen; erst wenn er so viel habe wie wir, werde er wiederkommen und seine Rechte an mich geltend machen – nicht früher. So versprach ich ihm denn, auf ihn zu warten in alle Ewigkeit, und gab ihm mein Wort, keinen andern zu heiraten, solange er am Leben sei. ›Warum sollten wir aber nicht einfach heiraten?‹ meinte er, ›dann bist du mir sicher; meine Rechte als Ehemann mache ich erst geltend, wenn ich zurückkomme.‹ Wir kamen bald darüber ins reine, und er hatte alles so hübsch eingefädelt, ein Geistlicher wartete schon, daß wir’s gleich auf der Stelle abmachten; Frank ging dann fort, sein Glück zu suchen, und ich kehrte zu meinem Vater zurück.

Das nächste, was ich von Frank hörte, war, daß er in Montana sei; dann begab er sich nach Arizona, um sich dort umzusehen; und später bekam ich Nachricht von ihm aus Neu-Mexiko. Eines Tages stand eine lange Geschichte in den Zeitungen, wie die Apache-Indianer ein Goldgräberdorf überfallen hätten, und dabei war mein Frank unter den Erschlagenen aufgeführt. Ich fiel um wie tot und war monatelang schwer krank; mein Vater meinte, ich habe eine zehrende Krankheit und brachte mich in Frisco von einem Arzt zu andern. Ein Jahr oder noch länger hörte ich kein Wort mehr von Frank, so daß ich fest glaubte, er sei wirklich tot. Darauf kam Lord St. Simon nach Frisco, später reisten wir nach London, und meine Heirat mit ihm kam zustande. Mein Vater war sehr froh darüber; aber ich fühlte stets, daß kein anderer Mann auf dieser Welt je den Platz in meinem Herzen einnehmen würde, der nur allein Frank gehörte.

Trotzdem wäre ich Lord St. Simon eine pflichtgetreue Gattin gewesen, falls ich seine Frau geworden wäre. Unsere Gefühle haben wir nicht in der Gewalt, wohl aber unsere Handlungen. Als ich mit ihm vor den Altar trat, war es mein fester Vorsatz, ihn glücklich zu machen. Aber Sie können sich denken, wie mir zumute war, als ich gerade beim Hintreten vor den Altar zufällig hinter mich schaute und Franks Augen aus der ersten Sitzreihe unmittelbar auf mich gerichtet sah. Ich meinte zuerst, es sei sein Geist, aber als ich wieder hinschaute, saß er noch immer da und blickte mich mit einem so eigentümlichen Ausdruck an, als wollte er fragen, ob mir seine Gegenwart erwünscht sei oder nicht. Ich wundere mich nur, daß ich nicht in Ohnmacht fiel. Alles drehte sich mit mir im Kreise, und die Worte des Geistlichen klangen mir im Ohr wie Bienensummen. Was sollte ich tun? Sollte ich die Trauung unterbrechen und einen Auftritt in der Kirche veranlassen? Ich blickte noch einmal nach ihm hin, und er schien meine Gedanken zu erraten, denn er legte die Finger an die Lippen, zum Zeichen, daß ich nichts sagen solle. Dann sah ich ihn etwas auf ein Stückchen Papier kritzeln – offenbar eine Notiz für mich. Beim Vorübergehen an seinem Platz ließ ich meine Blumen vor ihm hinfallen, und als er sie mir zurückgab, drückte er mir das Zettelchen in die Hand. Es enthielt nur mit ein paar Worten die Aufforderung, zu ihm zu kommen, sobald er mir ein Zeichen geben würde. Ich war natürlich keinen Augenblick mehr im unklaren darüber, daß meine Pflichten in erster Linie jetzt ihm gehörten, und beschloß deshalb, einfach seinem Ruf zu folgen.

Zu Hause sprach ich mit meinem Mädchen, die ihn schon in Kalifornien gekannt hatte und ihm immer wohlgesinnt gewesen war. Ich hieß sie reinen Mund halten, ein paar Sachen einpacken und mir Hut und Mantel zurecht legen. Ich weiß wohl, ich hätte mich mit Lord St. Simon verständigen sollen, aber das wäre vor seiner Mutter und all den vornehmen Leuten eine furchtbare Aufgabe gewesen. So entschloß ich mich, auf- und davonzugehen und die Erklärung auf später zu verschieben. Ich saß noch keine zehn Minuten bei Tisch, als ich Frank durch das Fenster auf der Straße drüben erblickte. Er nickte mir zu und schlug dann den Weg nach dem Park ein. Ich schlüpfte hinaus, zog meine Sachen an und ging ihm nach. Unterwegs trat eine Frau an mich heran, um mir irgend etwas über Lord St. Simon mitzuteilen – nach dem wenigen, was ich davon verstand, schien es mir, als habe auch er vor der Hochzeit schon eine kleine Heimlichkeit gehabt –, aber ich machte, daß ich von ihr wegkam, und holte Frank bald ein. Darauf fuhren wir zusammen nach Gordon-Square, wo er eine Wohnung genommen hatte, und nun war ich nach den langen Jahren des Harrens wirklich mit meinem Gatten vereint.

Frank war bei den Apachen gefangen gewesen, war aber entflohen und nach Frisco gelangt, wo er erfuhr, daß ich ihn als tot aufgegeben hatte und nach England gegangen war; er reiste mir dahin nach und traf mich schließlich gerade am Morgen meiner zweiten Hochzeit.«

»Ich las davon in einer Zeitung«, erklärte der Amerikaner, »der Name der Braut und die Kirche waren darin genannt, aber ihre Wohnung war nicht angegeben.«

»Wir besprachen uns nun darüber, wie wir uns verhalten sollten«, fuhr die junge Frau fort, »Frank war für volle Offenheit; aber ich schämte mich so sehr, daß ich nur den einen Wunsch hatte, zu verschwinden und von den Hochzeitsgästen keinen je wiederzusehen. Höchstens wollte ich an meinen Vater ein paar Zeilen schreiben, zum Zeichen, daß ich noch am Leben sei. Es war gräßlich für mich, wenn ich mir vorstellte, wie alle die hochadeligen Herren und Damen um die Hochzeitstafel herumsaßen und auf meine Rückkehr warteten. So nahm denn Frank meine Hochzeitskleider, packte sie zusammen, damit man mir nicht auf die Spur käme, und warf das Bündel irgendwo weg, wo kein Mensch es finden könnte. Morgen würden wir höchst wahrscheinlich schon nach Paris abgereist sein, wäre nicht der gute Herr Holmes heute abend bei uns erschienen. Wie es ihm gelungen ist, uns aufzufinden, geht freilich über meinen Verstand; er setzte uns ganz klar und freundlich auseinander, daß Frank recht hätte und ich unrecht, und daß wir beide durch solche Heimlichkeit einen falschen Schein auf uns laden würden. Dann schlug uns Herr Holmes vor, in seiner Wohnung mit Lord St. Simon allein zu einer Besprechung zusammenzutreffen, und wir begaben uns gleich darauf hierher. Nun hast du alles gehört, Robert; es tut mir sehr leid, wenn ich dir weh getan habe, aber ich hoffe, du denkst nicht allzu schlecht von mir.«

Lord St. Simon hatte seine steife Haltung die ganze Zeit über beibehalten und mit gerunzelter Stirn und mit zusammengekniffenen Lippen der langen Erzählung zugehört.

»Sie werden entschuldigen«, erwiderte er, »aber ich bin nicht gewohnt, meine intimsten persönlichen Verhältnisse öffentlich zu erörtern.«

»Dann willst du mir also nicht vergeben – mir nicht noch einmal die Hand reichen, ehe ich fortgehe?«

»O gewiß, wenn es Ihnen Vergnügen macht.« Er streckte die Hand aus und ergriff kalt die ihm dargebotene Rechte der jungen Frau.

»Ich hatte gehofft«, warf Holmes ein, »Sie würden uns bei einem gemütlichen Abendessen Gesellschaft leisten.«

»Damit verlangen Sie denn doch wohl etwas zuviel von mir«, erwiderte Seine Lordschaft. »Es bleibt mir nichts übrig, als mich mit Ihren Enthüllungen abzufinden, aber man kann doch kaum von mir erwarten, daß ich noch gute Miene zum bösen Spiel mache. Gestatten Sie mir, Ihnen insgesamt eine recht gute Nacht zu wünschen.« Damit machte er uns allen eine gemeinsame Verbeugung und schritt zur Tür hinaus.

»Nun, dann werden wenigstens Sie uns doch sicherlich mit Ihrer Gesellschaft beehren«, wandte sich Holmes an Herrn Moulton. »Es ist mir jedesmal eine Freude, wenn ich einen Angehörigen des großen freien Staates treffe, dessen Sternenbanner der ganzen Welt auf der Bahn der Freiheit und des Fortschritts voranleuchtet!«

*

»Das war einmal ein interessanter Fall«, bemerkte Holmes, als unsere Gäste uns verlassen hatten. »Man konnte daran recht deutlich sehen, wie einfach sich oft die Dinge aufklären, die einem auf den ersten Blick ganz rätselhaft vorkommen. Wie klar und natürlich entwickelte sich in der Erzählung der jungen Frau ein Ereignis aus dem andern, und wie verblüffend kam einem die ganze Angelegenheit vor, wenn man sie zum Beispiel mit den Augen des Herrn Lestrade von der Geheimpolizei ansah!«

»So warst du selbst gar nicht auf einer falschen Fährte?«

»Von Anbeginn stand mir zweierlei klar vor Augen: einmal, daß die Braut der Hochzeit ganz freudig entgegenging, und dann, daß sie wenige Minuten nach der Rückkehr aus der Kirche anderen Sinnes wurde. Offenbar war demnach im Laufe des Vormittags etwas vorgefallen, das diese Wirkung hervorbrachte. Was konnte es sein? Gesprochen hatte sie außerhalb des Hauses mit niemand, da sie ihrem Bräutigam nicht von der Seite gegangen war. Hatte sie aber jemand gesehen, so mußte dies jemand aus Amerika gewesen sein, denn während ihres kurzen Aufenthalts hierzulande hatte keiner so viel Einfluß auf sie gewinnen können, daß sein bloßer Anblick eine völlige Sinnesänderung bei ihr bewirkte. Du siehst, durch Ausschließung anderer Möglichkeiten war ich bereits zu der Überzeugung gelangt, daß sie wohl jemand aus Amerika werde gesehen haben. Wer konnte wohl dieser Amerikaner sein, der eine solche Macht über sie besaß? Vielleicht ein Freund, möglicherweise aber auch ein Gatte. Daß sie ihre Jugendjahre in wilden Gegenden und unter eigentümlichen Verhältnissen verlebt hatte, war mir ja bekannt. So weit war ich bereits gelangt, ehe ich das erste Wort aus Lord St. Simons Munde vernahm. Als dieser dann von dem Zuschauer vorn in der ersten Bank und von der Veränderung erzählte, die nachher plötzlich mit der Braut vor sich ging, wie sie ihren Strauß vor den Fremden hinfallen ließ, zu dem sehr durchsichtigen Zweck, sich dabei von ihm einen Zettel zustecken zu lassen, wie sie sich dann mit ihrer Vertrauten besprach und dabei die sehr bezeichnende Andeutung von ›in fremdes Gehege kommen‹ fallen ließ, was in der Goldgräbersprache so viel bedeutet, als Besitz von etwas ergreifen, worauf einem anderen ältere Ansprüche zustehen – da war mir die ganze Sachlage völlig klar. Sie mußte mit einem Mann auf und davongegangen sein, und zwar entweder mit einem Freund oder mit einem Gatten, wobei übrigens die größere Wahrscheinlichkeit für letzteres sprach.«

»Aber wie in aller Welt hast du die beiden aufgefunden?«

»Das wäre freilich schwierig gewesen, allein Freund Lestrade hielt Anhaltspunkte hierfür in Händen, von deren Wert er selbst keine Ahnung hatte. Die Anfangsbuchstaben waren natürlich von großer Wichtigkeit, aber noch viel wertvoller war der Nachweis, daß der Gesuchte im Lauf der letzten Woche sich in einem der ersten Gasthöfe Londons seine Rechnung hatte ausstellen lassen.«

»Was brachte dich darauf, daß es einer der ersten Gasthöfe sein müsse?«

»Die ausgesucht hohen Preise. Acht Schilling für ein Bett und acht Pence für ein Glas Sherry wiesen auf eines der teuersten Hotels hin. Es gibt nicht viele hier, die derartige Preise haben. Schon in dem zweiten Hotel, in der Northumberland-Avenue, erfuhr ich aus dem Fremdenbuch, daß ein Herr Francis H. Moulton aus Amerika erst am Tage vorher ausgezogen war, und bei Durchsicht der auf seinen Namen eingetragenen Posten entdeckte ich wörtlich alle, für die er Rechnung erhalten hatte. Als seine neue Anschrift für etwa noch eintreffende Briefe gab er 226 Gordon-Square an. So fuhr ich dorthin und hatte das Glück, das liebende Paar zu Hause zu treffen. Ich erlaubte mir, ihnen einige väterliche Ratschläge zu erteilen und ihnen klar zu machen, daß sie in jeder Beziehung besser tun würden, weder die Welt noch insbesondere Lord St. Simon über ihr Verhältnis zu einander irgendwie in Zweifel zu lassen. Ich machte ihnen den Vorschlag, hier mit dem Lord zusammenzutreffen, und wie du gesehen hast, sind sie darauf eingegangen.«

»Damit haben sie aber nicht viel erreicht«, bemerkte ich. »Sein Verhalten war kein sehr liebenswürdiges.«

»Ach, Watson«, erwiderte Holmes heiter, »du wärest auch vielleicht nicht gerade besonders liebenswürdig, wenn du dich nach all den Mühen und Sorgen des Brautstandes mit einem Schlage um Gattin und Vermögen betrogen sehen müßtest. Ich meine, wir haben allen Grund, Lord St. Simon recht milde zu beurteilen und unserm Glücksstern zu danken, daß wir voraussichtlich niemals in eine ähnliche Lage geraten werden. Komm, setze dich hierher zum Feuer und reiche mir meine Violine, wir haben ja jetzt nur noch das eine Problem zu lösen, wie wir uns diese finsteren Herbstabende auf möglichst angenehme Weise vertreiben.«

*

Holmes ließ das Blatt sinken.

Ja, das war eine verdrehte Geschichte, dachte er. Und im Grund war sie doch höchst einfach und hat fast alle Beteiligten nichts als ein bissel Lehrgeld gekostet. Vielleicht hat auch der enttäuschte Lord inzwischen eine andere Dollarbraut gefunden.

Er nahm eine neue Zeitung zur Hand.

Als er die Überschrift gelesen hatte, lachte er leise. Watson vergaß doch gar nichts! Auch wenn Holmes selbst schon lang nicht mehr daran dachte, bei Watson tauchten doch alle ihre Erlebnisse eines Tages wieder auf. Und da der Freund noch immer nicht zurückkehrte, so blieb Holmes nichts übrig, als auch sie zu lesen:

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