Die Geschichte des Beryll-Kopfschmuckes

Die Geschichte des Beryll-Kopfschmuckes

»Holmes«, sagte ich eines Morgens, während ich am Erkerfenster stand und auf die Straße hinabschaute, »da kommt ein Verrückter die Straße herab. Ich finde es ja eigentlich unrecht, daß man so einen Menschen allein umherlaufen läßt.« Mein Freund erhob sich träge aus dem Armstuhl und trat, die Hände in den Taschen seines Hausrocks, hinter mich, um mir über die Schulter zu sehen. Es war ein klarer, frischer Februarmorgen, der tags zuvor gefallene, tiefe Schnee bedeckte den Boden und glitzerte hell in der Wintersonne. In der Mitte der Straße war er durch den Verkehr bereits in eine braune Masse verwandelt; zu beiden Seiten dagegen und auf den erhöhten Rändern der Fußsteige lag er noch so weiß, wie er gefallen war. Das graue Pflaster dazwischen war, obwohl gekehrt und abgekratzt, noch gefährlich glatt und vielleicht deshalb weniger belebt als sonst. Tatsächlich war auch der Herr, dessen sonderbares Benehmen meine Aufmerksamkeit erregt hatte, der einzige Fußgänger, der aus der Richtung des Metropolitan-Bahnhofs herkam. Es war ein Mann in den fünfziger Jahren, groß und stattlich, eine vornehme Erscheinung mit breitem, scharfgeschnittenem Gesicht und von achtunggebietender Gestalt. Er war auffallend gut gekleidet. Zu dem würdigen Eindruck seines ganzen Äußern stand jedoch sein Benehmen in schroffem Gegensatz; er lief nämlich in großer Hast und machte dabei von Zeit zu Zeit einen kleinen Sprung, wie es bei eintretender Ermüdung Leute zu tun pflegen, die nicht gewohnt sind, ihren Beinen viel zuzumuten. Dabei fuhr er mit den Händen in der Luft umher, wackelte mit dem Kopf und verzerrte sein Gesicht aufs sonderbarste.

»Was in aller Welt mag nur mit ihm los sein?« fragte ich. »Er schaut an allen Häusern hinauf.«

»Ich glaube, er kommt zu uns«, versetzte Holmes und rieb sich die Hände.

»Zu uns?«

»Jawohl; ich vermute stark, er beabsichtigt, mich zu Rate zu ziehen. Es hat ganz den Anschein danach. Nun – habe ich es nicht gesagt?«

Der Mann war pustend und schnaubend auf unsere Haustür losgestürzt und läutete, daß das ganze Haus davon widerhallte.

Wenige Augenblicke darauf stand er im Zimmer, noch immer keuchend und mit den Händen umherfahrend, aber mit einem so kummervollen und verzweifelten Ausdruck in dem starren Blick, daß unsere unwillkürliche Heiterkeit sich mit einem Schlage in Schrecken und Mitleid verwandelte. Eine Zeitlang vermochte er kein Wort hervorzubringen; er wiegte sich nur hin und her und zerrte an seinen Haaren, als wäre er nahe daran, den Verstand zu verlieren. Holmes drückte ihn in den Armstuhl, setzte sich neben ihn, streichelte ihm die Hand und sprach ihm in der heiteren, beruhigenden Art zu, auf die er sich so gut verstand.

»Sie haben mich aufgesucht, um mir Ihre Geschichte zu erzählen, nicht wahr?« begann er. »Das rasche Gehen hat Sie müde gemacht. Bitte, warten Sie nur, bis Sie sich erholt haben, dann wird es Ihnen leichter fallen, mir alles der Reihe nach zu sagen, was Sie bedrückt.«

Eine oder zwei Minuten saß der Mann mit schwer arbeitender Brust da, gegen seine Erregung kämpfend. Dann fuhr er sich mit dem Taschentuch über die Augen, preßte die Lippen zusammen und wandte uns sein Gesicht zu.

»Sie halten mich sicherlich für verrückt«, begann er.

»Soviel ich sehe, hat Sie irgend ein schwerer Kummer getroffen«, antwortete Holmes.

»Gott weiß es, ja! – Ein Kummer, so plötzlich und so furchtbar, daß ich den Verstand darüber verlieren möchte. Die Schande vor der Öffentlichkeit würde ich zu ertragen gewußt haben, obwohl an meinem Namen bisher noch nie ein Flecken gehaftet hat; Kummer im Privatleben bleibt ja keinem Menschen erspart, aber daß beides zusammen und in so schrecklicher Gestalt über mich hereinbricht, das hat mich im Innersten erschüttert. Außerdem betrifft die Sache nicht mich allein. Eine sehr hochstehende Persönlichkeit in England kann dadurch in Mitleidenschaft gezogen werden, wenn sich nicht ein rettender Ausweg aus dieser schauderhaften Geschichte findet.«

»Bitte, beruhigen Sie sich«, erwiderte Holmes, »und sagen Sie mir klar und deutlich, wer Sie sind und was Ihnen begegnet ist.«

»Meinen Namen«, fuhr der andere fort, »haben Sie vermutlich schon oft gehört. Ich bin Alexander Holder, Teilhaber der Bankfirma Holder & Stevenson in der Threadneedle-Straße.«

Der Name war uns gut bekannt als der des älteren Teilhabers im zweitgrößten Privatbankinstitut der City. Was konnte nur geschehen sein, um einen der angesehensten Bürger Londons in diese wahrhaft klägliche Verfassung zu bringen? In höchster Spannung harrten wir, bis er sich mit erneuter Kraftanstrengung dazu aufraffte, seine Geschichte zu erzählen.

»Ich fühle«, begann er, »daß die Zeit kostbar ist. Deshalb habe ich mich augenblicklich hierher auf den Weg gemacht, nachdem mir der Polizeiinspektor nahegelegt hatte, mich Ihrer Mitwirkung zu versichern. Ich fuhr mit der Untergrundbahn und bin dann bis nach der Bakerstraße vollends zu Fuß gelaufen, denn die Wagen fahren so langsam bei diesem Schnee. Deshalb war ich so außer Atem; ich mache mir nämlich sonst nur sehr wenig Bewegung. Jetzt ist mir wieder besser, und ich will Ihnen die Tatsachen möglichst kurz und klar vortragen.

Sie werden wohl wissen, daß es in einem Bankgeschäft ebensoviel auf lohnende Anlagen für die Kapitalien ankommt, als auf die stete Erweiterung der Verbindungen und die immer ausgedehntere Heranziehung von Depositoren. Zu den einträglichsten Geldanlagen gehört die Gewährung von Darlehen gegen unzweifelhafte Pfandsicherheit. Wir haben in den letzten Jahren viel in dieser Richtung gearbeitet und zahlreichen vornehmen Familien erhebliche Summen auf ihre Gemäldesammlungen, ihre Bibliotheken oder ihr Silberzeug vorgestreckt. Gestern vormittag saß ich in meinem Büro, als mir einer der Angestellten unseres Bankhauses eine Visitenkarte überbrachte. Wie ich den Namen las, war ich zuerst sehr verblüfft, denn es war kein anderer als – doch es ist vielleicht auch Ihnen gegenüber besser, wenn ich nur sage, daß dieser Name jedermann überall bekannt ist, einer der höchsten, vornehmsten, angesehensten in ganz England. Überwältigt von der Ehre, versuchte ich beim Eintritt des Herrn etwas derartiges zu sagen, allein er brachte sofort sein geschäftliches Anliegen vor, als sei es ihm darum zu tun, mit einer unangenehmen Aufgabe möglichst rasch fertig zu werden.

›Herr Holder‹, begann er,›ich habe gehört, daß Sie sich mit Vorschußgeschäften befassen.‹

›Allerdings, gegen gute Sicherheit‹, erwiderte ich.

›Ich brauche auf der Stelle sehr notwendig fünfzigtausend Pfund. Natürlich könnte ich diese Summe zehnmal bei meinen Bekannten borgen, allein es paßt mir weit besser, die Sache in geschäftlicher Weise abzumachen, und zwar persönlich. Bei einer Stellung wie ich sie bekleide, ist es nicht klug, sich auf private Verbindlichkeiten einzulassen.‹

›Auf wie lange brauchen Sie diese Summe, wenn ich fragen darf?‹

›Nächsten Montag wird ein großer Betrag fällig, und dann werde ich den Vorschuß sofort zurückzahlen, samt den Zinsen, die Sie dafür zu berechnen haben. Mir ist hauptsächlich daran gelegen, das Geld unverzüglich in die Hand zu bekommen.‹

›Ich würde Ihnen sehr gerne die Summe aus meiner eigenen Tasche vorstrecken, aber es ist mehr, als ich auf mich nehmen darf. Tue ich es jedoch im Namen der Firma, so muß ich aus Rücksicht für meinen Teilhaber selbst Ihnen gegenüber auf der Beachtung aller geschäftsmäßigen Vorsichtsmaßregeln bestehen.‹

›Es ist mir viel lieber so‹, bemerkte er, indem er ein viereckiges schwarzes Maroquin-Etui zur Hand nahm, das er neben seinen Stuhl gelegt hatte. ›Sie haben ohne Zweifel schon von dem Beryll-Diadem gehört?‹

›Eines der kostbarsten Stücke unserer Reichskleinodien‹, versetzte ich.

›Gewiß‹. Er öffnete das Etui, und darin lag in weichen fleischfarbenen Samt gebettet das wundervolle Schmuckstück.

›Es enthält neununddreißig Berylle von außerordentlicher Größe, und der Wert der Goldfassung läßt sich gar nicht berechnen. Die niedrigste Schätzung würde als Wert des Schmuckes das Doppelte der Summe ergeben, die ich verlangt habe. Ich bin bereit, das Stück als Pfand in Ihren Händen zu lassen.‹ Er reichte mir das Etui, und ich blickte in einiger Verwirrung erst auf dessen kostbaren Inhalt und dann auf meinen hohen Besuch.

›Sie haben Zweifel über den Wert des Schmuckes?‹ fragte er.

›Durchaus nicht, ich bezweifle nur –‹

›Meine Befugnis zur Verpfändung desselben? Darüber können Sie sich beruhigen. Ich würde mir nicht im Traume einfallen lassen, es zu verpfänden, hätte ich nicht die unumstößliche Gewißheit, daß ich es binnen vier Tagen wieder einlösen kann. Es ist eine reine Formsache. Genügt die Sicherheit?‹

›Reichlich.‹

›Sie sehen ein, Herr Holder, daß ich Ihnen einen sehr großen Beweis des Vertrauens gebe. Ich verlasse mich darauf, daß Sie nicht nur verschwiegen sind und sich jedes Wortes über die Angelegenheit enthalten, sondern vor allem, daß Sie dieses Stück mit jeder möglichen Vorsicht aufbewahren, da die geringste Beschädigung schon einen gewaltigen öffentlichen Skandal nach sich ziehen würde. Eine Beschädigung wäre fast so schlimm wie ein völliger Verlust, denn es gibt in der ganzen Welt keine Berylle mehr, die diesen gleichkommen, sie wären überhaupt gar nicht zu ersetzen. Trotzdem überlasse ich Ihnen den Schmuck mit vollem Vertrauen und werde ihn Montag vormittag persönlich wieder abholen.‹

Da ich sah, daß es meinem Besuch darum zu tun war, möglichst rasch fortzukommen, sagte ich weiter nichts, sondern wies meinen Kassier an, dem Herrn fünfzig Tausendpfundnoten einzuhändigen. Als ich jedoch allein war und das Etui mit seinem kostbaren Inhalt vor mir auf dem Tische stand, vermochte ich nur mit Unbehagen an die ungeheure Verantwortung zu denken, die ich mir damit aufgeladen hatte. Da das Stück zum Reichsschatz gehörte, so mußte unfehlbar das geringste Mißgeschick, das ihm begegnete, großes Aufsehen verursachen. Ich bedauerte bereits, daß ich mich überhaupt zu einer Annahme hatte bestimmen lassen. Allein es war jetzt nichts mehr an der Sache zu ändern; so schloß ich denn den Schmuck in meinen eigenen Sicherheitsschrank ein und ging wieder an meine Arbeit. Als es Abend wurde, dachte ich, daß es eine Unvorsichtigkeit wäre, einen solchen Wertgegenstand im Büro zu lassen. Diebessichere Schränke bei Banken waren schon öfters erbrochen worden, warum sollte das nicht auch bei dem meinigen denkbar sein? Welch gräßliche Lage für mich, wenn so etwas vorkäme! Ich beschloß deshalb, während der nächsten Tage das Etui auf Schritt und Tritt bei mir zu tragen und es so tatsächlich keinen Augenblick aus meinem Bereich kommen zu lassen. Mit diesem Vorsatz fuhr ich nach meinem Hause in Streatham und nahm das Schmuckstück mit. Erst als ich es in meinen Schreibtisch oben in meinem Ankleidezimmer eingeschlossen hatte, atmete ich wieder frei.

Und nun ein Wort über mein Hauswesen, Herr Holmes, denn ich möchte Ihnen einen gründlichen Einblick in die Sachlage verschaffen. Der Stallbursche und der Hausbursche schlafen außerhalb des Hauses und können somit außer Betracht bleiben. Meine drei Dienstmädchen sind sämtlich schon seit einer Reihe von Jahren bei mir, und ihre Zuverlässigkeit ist über jeden Zweifel erhaben. Dann ist noch ein zweites Kammermädchen da, namens Lucy Parr, das erst seit wenigen Monaten in meinem Hause ist. Sie brachte jedoch ein ausgezeichnetes Zeugnis mit, und ich war stets zufrieden mit ihr. Sie ist sehr hübsch und hat viele Verehrer, die sich gelegentlich wohl einmal um das Haus herumtrieben. Das ist das einzige, was wir an ihr auszusetzen fanden, allein wir halten sie für ein durchaus braves Mädchen.

So viel von den Dienstboten. Meine Familie ist klein. Ich bin Witwer und habe einen einzigen Sohn namens Arthur. Dieser Junge hat mich in meinen Hoffnungen getäuscht, Herr Holmes, schmerzlich getäuscht! Gewiß bin ich selbst dabei nicht ohne Schuld. Man sagt, ich habe ihn verzogen. Das mag wohl sein. Als ich meine Frau verlor, übertrug ich meine ganze Liebe auf ihn. Ich habe ihm nie einen Wunsch abgeschlagen. Vielleicht wäre es für uns beide besser gewesen, ich hätte mehr Strenge gezeigt, aber ich meinte es herzlich gut.

Ich hatte natürlich vor, ihn zu meinem Nachfolger im Geschäft heranzubilden, allein er zeigte gar keine Neigung für den Beruf eines Bankbeamten. Er war unbeständig und launisch, und, um die Wahrheit zu gestehen, ich hätte ihm nicht die Verfügung über eine größere Geldsumme anvertrauen mögen. Schon in früher Jugend trat er in einen vornehmen Klub ein, wo er sich durch sein liebenswürdiges Wesen mit einer Reihe von Leuten eng befreundete, die volle Brieftaschen und kostspielige Gewohnheiten hatten. Er verstand es bald meisterhaft, sein Geld im Kartenspiel und auf dem Rennplatz zu vergeuden, so daß er mich immer wieder um Vorschuß auf sein Taschengeld angehen mußte, um seine Ehrenschulden begleichen zu können. Mehr als einmal versuchte er, sich von dieser gefährlichen Gesellschaft loszumachen, allein dem Einfluß seines Freundes Sir George Burnwell gelang es jedesmal, ihn wieder in diesen Kreis hineinzuziehen.

Daß ein Mann wie Sir George Burnwell Einfluß auf ihn gewonnen hatte, war wirklich nicht zu verwundern; er hat ihn oft zu mir ins Haus gebracht, und ich muß gestehen, daß ich selbst kaum imstande war, mich seinem anziehenden Wesen zu entziehen. Er ist älter als Arthur, ein vollendeter Weltmann, der schon überall war und alles gesehen hat, ein glänzender Redner und ein auffallend schöner Mensch. Und doch, wenn ich ihn mir bei vernünftiger Überlegung und völlig frei von der Wirkung seiner Gegenwart vorstelle, so kann ich bei seinen zynischen Reden und dem Blick, den ich gelegentlich schon an ihm bemerkt habe, nicht anders, als ihm gründlich mißtrauen. Darin ist auch meine Nichte Mary, die den echt weiblichen Scharfblick für Menschenherzen besitzt, mit mir einverstanden.

Mary ist die einzige, die ich noch zu schildern habe. Als mein Bruder vor fünf Jahren starb und sie allein in der Welt dastand, nahm ich sie an Kindesstatt an und betrachte sie seitdem als meine Tochter. Sie ist ein Sonnenstrahl für mein Haus, freundlich, liebevoll, schön; sie leitet das ganze Hauswesen und ist sehr umsichtig, sanft und ruhig. Sie ist sozusagen meine rechte Hand. Ich weiß nicht, was ich ohne sie anfangen sollte. Nur in einem einzigen Punkt ist sie meinen Wünschen nicht entgegengekommen. Zweimal hat mein Junge um ihre Hand angehalten, denn er liebt sie aufrichtig, aber beidemale hat sie ihn ausgeschlagen. Ich glaubte, sie allein wäre imstande, ihn auf den rechten Weg zu bringen; an ihrer Seite hätte er vielleicht ein ganz neues Leben angefangen, aber jetzt ist es zu spät – für immer zu spät!

Nun, Herr Holmes, kennen Sie alle, die mit mir unter einem Dache leben, und ich will in meinem Bericht fortfahren.

Beim Kaffee nach dem Essen im Wohnzimmer teilte ich Arthur und Mary mit, was mir begegnet war, und was für einen kostbaren Schatz wir unter unserem Dache hatten; ich verschwieg dabei nur den Namen des Verpfänders. Lucy Parr, die den Kaffee hereingebracht hatte, war schon nicht mehr im Zimmer, das weiß ich gewiß; ob jedoch die Türe geschlossen war, kann ich nicht beschwören. Mary und Arthur interessierten sich sehr für die Sache und hätten das berühmte Schmuckstück gerne gesehen, allein ich dachte, es sei besser, es an seinem Platze zu lassen.

›Wo hast du es aufgehoben?‹ fragte Arthur.

›In meinem Schreibtisch.‹

›Ich will nur hoffen, daß heute nacht nicht im Hause eingebrochen wird‹, fuhr er fort.

›Der Schreibtisch ist verschlossen.‹

›Oh, auf den paßt jeder alte Schlüssel. Als kleiner Junge habe ich ihn schon selbst mit dem Schlüssel zum Büfett aufgemacht.‹

Er führte oft so kecke Reden, deshalb achtete ich nicht viel auf seine Bemerkung. Nun ging er mir aber gerade diesen Abend mit sehr ernstem Gesicht in mein Zimmer nach.

›Sag mal, Papa‹, sagte er und heftete dabei die Augen auf den Boden, ›kannst du mir zweihundert Pfund geben?‹

›Nein, gewiß nicht?‹ erwiderte ich scharf. ›Ich bin in Geldsachen schon viel zu nachsichtig gegen dich gewesen.‹

›Du warst allerdings sehr gut gegen mich‹, versetzte er, ›aber ich muß diese Summe haben, oder ich kann mich nie wieder im Klub blicken lassen.‹

›Das wäre ja ein wahres Glück!‹ rief ich aus.

›Jawohl; aber du wirst doch nicht wollen, daß ich mit Schimpf und Schande abziehe. Ich könnte die Schmach nicht ertragen. Ich muß das Geld irgendwo auftreiben; und wenn du es mir nicht geben willst, so muß ich andere Mittel und Wege versuchen.‹

Ich war sehr aufgebracht; denn das war das drittemal in einem Monat, daß er mich um Geld anging. ›Keinen Deut bekommst du von mir!‹ rief ich. Darauf verließ er wortlos das Zimmer.

Als ich allein war, öffnete ich den Schreibtisch und überzeugte mich, daß mein Schatz noch unversehrt darin lag, dann schloß ich wieder ab. Ich machte noch einen Gang durch das Haus, um nachzusehen, ob alles verwahrt sei – eine Obliegenheit, die ich gewöhnlich Mary überlasse, die ich jedoch heute selbst erfüllen wollte. Unten an der Treppe angelangt, sah ich Mary am Seitenfenster des Hausgangs, das sie zumachte und verriegelte, während ich näher trat.

›Sag‘ einmal, Papa‹, fragte sie mich in etwas erregtem Ton, ›hast du Lucy heute abend Erlaubnis zum Ausgehen gegeben?‹

›Gewiß nicht.‹

›Sie kam soeben durch die Hintertür herein. Ich bin zwar ganz sicher, daß sie nur an der Seitenpforte mit irgend jemand zusammengetroffen ist, aber wir sollten doch jetzt gerade, da der Schmuck im Hause ist, sehr vorsichtig sein und es nicht so hingehen lassen.‹

›Du mußt morgen früh mit ihr sprechen, oder ich will es tun, wenn dir das lieber ist. Hast du dich überzeugt, daß alles gut verschlossen ist?‹

›Vollkommen, Papachen.‹

›Dann gute Nacht.‹ Ich gab ihr einen Kuß und ging wieder in mein Schlafzimmer hinauf, wo ich bald einschlief.

Ich bestrebe mich, Ihnen alles zu sagen, Herr Holmes, was für den Fall irgend von Bedeutung sein kann. Aber ich möchte bitten, daß Sie mich über jeden Punkt, der ihnen nicht völlig verständlich ist, ruhig befragen.«

»Ihre Darstellung ist im Gegenteil ganz ausnehmend klar.«

»Nun komme ich zu einem Abschnitt meiner Geschichte, bei dem es mir ganz besonders darum zu tun ist, Ihnen alles anschaulich zu machen. Ich habe keinen sehr festen Schlaf, und die Unruhe in meinem Innern trug wohl dazu bei, daß dies noch weniger der Fall war als sonst.

Etwa um zwei Uhr morgens erwachte ich von einem Geräusch im Hause. Es hörte bereits auf, ehe ich völlig wach war; aber ich hatte davon den Eindruck behalten, als wäre irgendwo im Hause ein Fenster zugemacht worden. Voll Spannung horchend lag ich da. Plötzlich vernahm ich zu meinem Entsetzen ganz deutlich leise Tritte im Nebenzimmer. Bebend vor Angst schlüpfte ich aus dem Bett und spähte vorsichtig durch die Türe in das Nebenzimmer.

›Arthur‹, rief ich, ›du Elender, du Dieb! Wie kannst du dich unterstehen, dich an dem Schmuck zu vergreifen?‹

Die Schreibtischlampe brannte noch, wie ich sie gelassen hatte, und mein unseliger Junge, nur mit Hemd und Hosen bekleidet, stand daneben, das Schmuckstück in der Hand. Es sah aus, als ziehe oder biege er daran herum mit aller Kraft. Auf meinen Zuruf ließ er es fallen und wurde blaß wie der Tod. Ich hob es auf und besichtigte es. Eine der goldenen Ecken, welche drei Berylle enthielt, fehlte.

›Du Lump!‹ schrie ich, außer mir vor Wut, ›du hast es zerbrochen, du hast mich in ewige Schande gestürzt! Wo sind die Steine, die du gestohlen hast?‹

›Gestohlen!‹ rief er dagegen.

›Jawohl, du Dieb!‹ schrie ich wieder und schüttelte ihn dabei an der Schulter.

›Es fehlt keiner. Es kann keiner fehlen‹, entgegnete er.

›Es fehlen drei. Und du weißt wohl, wo sie sind. Ist es nicht genug, daß du ein Dieb bist, muß ich dich auch noch einen Lügner heißen? Habe ich nicht mit eigenen Augen gesehen, wie du noch ein Stück davon abbrechen wolltest?‹

›Du hast mich genug beschimpft‹, versetzte er, ›ich lasse mir das nicht länger gefallen. Kein Wort kommt in dieser Angelegenheit mehr über meine Lippen, nachdem du mich ohne weiteres wie einen ehrlosen Menschen behandelt hast. Morgen früh verlasse ich dein Haus. Ich werde schon allein weiterkommen.‹

›Die Polizei wird die Sache in die Hand nehmen‹, rief ich, halb wahnsinnig vor Kummer und Wut. ›Ich werde dafür sorgen, daß alles gründlich untersucht wird.‹

›Von mir werdet ihr nichts erfahren!‹ erwiderte er mit einer Leidenschaftlichkeit, die ich gar nicht in ihm gesucht hätte. ›Beliebt es dir, die Polizei zu rufen, so mag sie auch sehen, wie sie fertig wird.‹

Inzwischen war alles im Hause wach geworden, denn ich hatte im Zorn laut genug gesprochen. Mary kam zuerst angelaufen. Beim ersten Blick auf den Schmuck und auf Arthurs Gesicht erriet sie alles und stürzte mit einem Schrei ohnmächtig zu Boden. Ich schickte das Hausmädchen auf die Polizei, damit die weiteren Nachforschungen gleich eingeleitet werden sollten. Als der Inspektor mit einem Schutzmann eintraf, richtete Arthur, der die ganze Zeit über mit gekreuzten Armen finster dagestanden, die Frage an mich, ob ich wirklich gesonnen sei, ihn des Diebstahls zu bezichtigen. Ich erklärte ihm, daß die Sache keine Privatangelegenheit mehr, sondern ein öffentliches Vergehen sei, da das beschädigte Schmuckstück zum Nationaleigentum gehöre. Ich sei entschlossen, dem Gesetz seinen vollen Lauf zu lassen. ›Dann wirst du doch wenigstens nicht auf einer sofortigen Festnahme bestehen‹, sagte er jetzt. ›Es wäre ebensosehr in deinem Interesse wie in meinem eigenen, wenn ich das Haus auf fünf Minuten verlassen dürfte.‹

›Um zu entfliehen, oder vielleicht um deinen Raub zu verstecken‹, erwiderte ich bitter. Dann stellte ich ihm die schreckliche Lage vor, in die ich mich versetzt sah; ich bat ihn, doch zu bedenken, wie nicht nur meine Ehre, sondern auch die einer viel höheren Persönlichkeit auf dem Spiele stehe, und daß er einen Skandal heraufbeschwöre, der die ganze Nation in Aufregung versetzen würde. Das alles ließe sich aber noch abwenden, wenn er mir nur sagen wollte, was er mit den drei fehlenden Steinen angefangen hätte.

›Du bist auf frischer Tat ertappt worden‹, fuhr ich fort, ›mache die Sache wenigstens so weit wieder gut, als es in deiner Macht steht; sage mir, wo die Steine sind, und alles soll vergeben und vergessen sein.‹

›Behalte deine Vergebung für Leute, die dich darum bitten‹, gab er zur Antwort und kehrte mir höhnisch den Rücken. Ich sah, daß sein Trotz ihn für alles Zureden taub machte. Nun gab es keine andere Wahl mehr. Ich rief den Inspektor herein und ließ Arthur verhaften. Sofort wurde eine Durchsuchung vorgenommen, nicht allein an ihm, sondern auch in seinem Zimmer und überall sonst im Hause, wo er möglicherweise die Steine versteckt haben konnte. Doch es fand sich keine Spur davon, und aus dem nichtsnutzigen Burschen war weder durch Überredung, noch durch Drohung eine Silbe herauszubringen.

Heute früh wurde er in Gewahrsam gebracht, und nach Erledigung der polizeilichen Förmlichkeiten bin ich sofort hierher geeilt, um Sie dringend zu bitten, all Ihren Scharfsinn an die Aufklärung dieser Angelegenheit zu setzen. Auf der Polizei hat man offen eingestanden, daß man mir vorläufig nicht zu helfen wisse. Wegen der Kosten brauchen Sie sich keinerlei Beschränkung aufzuerlegen. Ich habe bereits tausend Pfund Belohnung ausgesetzt. Mein Gott, was soll ich machen? In einer Nacht habe ich die Juwelen verloren und meinen Sohn dazu! Oh, was soll ich nur tun!«

Er fuhr sich mit beiden Händen an die Schläfen, wiegte sich hin und her und stöhnte dabei wie ein Kind, das für seine Betrübnis keinen Ausdruck mehr findet.

Holmes saß einige Minuten lang mit gerunzelten Brauen und starr auf das Kaminfeuer gerichtetem Blick schweigend da.

»Führen Sie ein großes Haus?« fragte er dann. »Geben Sie viele Einladungen?«

»Ich lade niemand ein außer gelegentlich meinen Teilhaber mit seiner Familie oder mal einen Bekannten von Arthur. Sir George Burnwell war in letzter Zeit mehrmals da. Sonst glaube ich, kein Mensch.«

»Gehen Sie viel in Gesellschaft?«

»Arthur, ja; ich und Mary bleiben zu Hause. Wir machen uns beide nichts daraus.«

»Das ist auffallend bei einem jungen Mädchen.«

»Sie ist ein ruhiges, anspruchsloses Wesen. Außerdem ist sie nicht mehr so jung. Sie ist vierundzwanzig.«

»Der Vorfall, den Sie uns soeben geschildert haben, hat anscheinend auch sie schwer getroffen.«

»Furchtbar. Sie ist noch fassungsloser als ich.«

»Und Sie haben beide durchaus keinen Zweifel an der Schuld Ihres Sohnes?«

»Wie wäre das möglich, da ich doch mit eigenen Augen sah, wie er den Schmuck in der Hand hielt!«

»Ich vermag dies kaum als einen zwingenden Beweis anzusehen. War das Diadem selbst sonst noch beschädigt?«

»Ja, es war verbogen.«

»Glauben Sie nicht, daß Ihr Sohn vielleicht versuchte, es wieder zurechtzubiegen?«

»Gott lohne Ihnen! Sie tun für ihn und mich, was Sie können; aber das geht über Ihre Kräfte. Was hatte er überhaupt dort zu schaffen? Wenn seine Absicht unsträflich war, warum sagte er es nicht?«

»Ganz richtig. Aber, wenn er schuldig war, warum brachte er nicht eine Lüge vor? Ich finde, sein Stillschweigen läßt sich in diesem wie in jenem Sinne deuten. Der Fall bietet mehrere eigentümliche Momente. Wie erklärte die Polizei das Geräusch, von dem Sie aufwachten?«

»Sie meinte, das werde wohl durch das Schließen von Arthurs Schlafzimmertür entstanden sein.«

»Außerordentlich glaubhaft! Als ob ein Mensch, der sich zur Ausführung eines Verbrechens anschickt, seine Tür zuschlägt, daß das ganze Haus davon wach wird. Und was meinten sie wegen des Verschwindens der Steine?«

»Sie sind noch dabei, die Fußböden und das Mobiliar zu untersuchen, in der Hoffnung, sie aufzufinden.«

»Hat man daran gedacht, auch außen um das Haus herum nachzusehen?«

»Jawohl. Die Polizei betreibt die Sache mit großem Eifer. Der ganze Garten ist bereits aufs genaueste abgesucht worden.«

»Nun, mein lieber Herr«, sagte Holmes, »Sie werden wohl selbst einsehen, daß die Sache nicht so klar auf der Hand liegt, wie Sie oder die Polizei von vornherein anzunehmen geneigt waren. – Der Fall kam Ihnen einfach vor, mir scheint er äußerst verwickelt. Vergegenwärtigen Sie sich nur einmal, was Ihre Auffassung alles in sich schließt. Sie nehmen an, Ihr Sohn sei aus seiner Stube heruntergekommen, habe unter großer Gefahr Ihr Ankleidezimmer betreten, Ihren Schreibtisch geöffnet, den Schmuck herausgenommen, an diesem ein Stück gewaltsam abgebrochen, sich sodann an einen dritten Ort begeben und daselbst drei Steine von den neununddreißig so schlau versteckt, daß kein Mensch sie zu finden imstande ist, um dann mit den übrigen sechsunddreißig nach dem Zimmer zurückzukommen, wo er die größte Gefahr lief, entdeckt zu werden. Nun frage ich Sie: ist das eine haltbare Auffassung?«

»Aber was läßt sich sonst annehmen?!« rief der Bankier mit einer Gebärde der Verzweiflung. »Warum redet er nicht, wenn er keine bösen Absichten hatte?«

»Das herauszubringen, ist unsere Sache«, erwiderte Holmes. »Wenn es Ihnen recht ist, Herr Holder, so wollen wir jetzt zusammen nach Streatham fahren und eine Stunde darauf verwenden, uns die Sache ein wenig genauer zu besehen.«

Mein Freund bestand auf meiner Begleitung, und ich war sehr gerne bereit dazu, denn die Erzählung, deren Ohrenzeuge ich gewesen war, hatte meine Neugier und Teilnahme erregt. Ich gestehe, daß mir die Schuld des jungen Mannes nicht minder zweifellos erschien, als dessen unglücklichem Vater, aber trotzdem hatte ich solches Vertrauen zu Holmes Urteil, daß ich überzeugt war, die Sache stehe noch nicht hoffnungslos, solange er sich mit der vorliegenden Erklärung nicht zufrieden gab. Holmes sprach unterwegs kaum ein Wort, vielmehr saß er, das Kinn auf die Brust gesenkt und den Hut über die Augen gedrückt, in tiefstes Nachdenken versunken da. Der Bankier war angesichts des schwachen Hoffnungsschimmers, den man ihm gezeigt hatte, wie neu belebt, so daß er sich sogar mit mir in eine gleichgültige Unterhaltung über seine Geschäftsangelegenheiten einließ. Nach kurzer Eisenbahnfahrt und einem noch kürzeren Weg zu Fuß erreichten wir Fairbank, den bescheidenen Wohnsitz des reichen Finanzmannes.

Es war ein stattliches viereckiges Gebäude aus weißem Werkstein, das etwas hinter der Straßenlinie zurückstand. Ein doppelter Fahrweg, der in der Mitte einen schneebedeckten freien Platz bildete und gegen die Straße durch zwei große Gittertore abgeschlossen war, führte von vorne auf das Haus zu. Rechts davon befand sich ein kleines Gehölz, durch das man zu einem schmalen Weg gelangte, der zwischen zwei sauberen Hecken von der Straße aus nach der Küche hinführte und den Eingang für die Lieferanten bildete. Links, und zwar bereits außerhalb des Anwesens, lief ein Gäßchen vorbei, durch das man zu den Ställen kam und das als allgemeine, wenn auch selten benutzte Durchfahrt diente. Holmes ließ uns an der Haustür stehen und ging langsam um das ganze Haus herum, vor demselben auf und ab, den Weg zur Küche entlang, dann hinten herum durch den Garten nach dem Weg zu den Ställen. Er hielt sich dabei so lange auf, daß Herr Holder mit mir unterdessen ins Speisezimmer ging, wo wir beim Feuer auf ihn warteten. Da saßen wir schweigend beisammen, als die Tür aufging und eine junge Dame eintrat. Sie war über mittelgroß, schlank, schwarzhaarig und schwarzäugig, was bei ihrer bleichen Gesichtsfarbe um so mehr hervortrat. Ich glaube, ich habe in meinem ganzen Leben keine solche Todesblässe auf einem Frauenangesicht gesehen. Auch ihre Lippen waren blutlos, dagegen ihre Augen vom Weinen gerötet. Wie sie schweigend in das Zimmer glitt, machte sie auf mich einen noch kummervolleren Eindruck als der Bankier am Morgen. Dies war bei ihr um so auffallender, als sie offenbar einen starken Charakter und eine außerordentliche Fähigkeit der Selbstbeherrschung besaß. Ohne mich zu beachten, ging sie geradeswegs auf ihren Onkel zu und streichelte ihm sanft und zärtlich die Wangen.

»Du hast Weisung gegeben, daß Arthur wieder auf freien Fuß gesetzt wird, nicht wahr, Papa?« fragte sie.

»Nein, nein, mein Kind; die Sache muß erst gründlich untersucht werden.«

»Aber ich bin so gewiß, daß er unschuldig ist. Mein Gefühl täuscht mich nicht. Ich weiß, er hat nichts Unrechtes begangen, und es wird dir noch leid tun, daß du so streng verfahren bist.«

»Warum spricht er denn nicht, wenn er unschuldig ist?«

»Wer kann das wissen? Vielleicht aus Unwillen über den Verdacht, den du gegen ihn hast.«

»Konnte ich denn anders als ihn in Verdacht haben, da er den Schmuck vor meinen Augen in der Hand hielt?«

»Ach, er hatte ihn doch nur aufgehoben, um ihn anzusehen. Glaube mir, er ist unschuldig. Laß die Sache auf sich beruhen und sprich nicht mehr davon. Es ist so entsetzlich, sich unsern guten Arthur im Gefängnis vorstellen zu müssen.«

»Ich werde die Sache niemals ruhen lassen, bis die Steine gefunden sind – niemals, Mary. Deine Anhänglichkeit an Arthur macht dich blind für die furchtbaren Folgen, die die Angelegenheit für mich hat. Ich werde sie keineswegs vertuschen, im Gegenteil, ich habe aus London einen Herrn mitgebracht, der sich noch eingehender damit befassen soll.«

»Diesen Herrn?« fragte sie, sich nach mir umwendend.

»Nein, seinen Freund. Er wünschte, wir sollen ihn allein lassen. Er ist eben drüben in dem Gäßchen bei den Ställen.«

»Bei den Ställen?« Sie zog ihre dunklen Brauen in die Höhe. »Was mag er denn dort suchen? Ach, das ist er vermutlich. Ich hoffe fest«, wandte sie sich an den eben eintretenden Holmes, »daß Sie imstande sein werden, die Unschuld meines Vetters Arthur nachzuweisen, von der ich ganz fest überzeugt bin.«

»Ich teile Ihre Anschauung vollkommen und nicht minder Ihre Hoffnung, daß wir den Beweis dafür erbringen werden«, entgegnete Holmes, indem er nochmals zur Fußmatte zurückging, um den Schnee von seinen Schuhen abzuklopfen. »Ich habe wohl die Ehre, mit Fräulein Mary Holder zu sprechen. Dürfte ich vielleicht eine oder zwei Fragen an Sie stellen?«

»Gewiß, wenn es zur Aufklärung dieser schrecklichen Sache dienen kann.«

»Sie haben vergangene Nacht selbst nichts gehört?«

»Nichts, bis mein Onkel hier laut zu sprechen anfing. Das hörte ich, und daraufhin kam ich herunter.«

»Sie haben am Abend vorher die Fenster und Türen verschlossen. Haben Sie sämtliche Fenster fest zugemacht?«

»Jawohl.«

»Waren heute früh noch alle fest zu?«

»Gewiß.«

»Eines Ihrer Dienstmädchen hat einen Liebhaber? Sie machten, soviel ich weiß, gestern abend Ihren Onkel darauf aufmerksam, daß sie das Haus verlassen hätte, um mit ihm zusammenzutreffen.«

»Jawohl, und sie war es eben, die im Wohnzimmer bediente, und die dabei vielleicht Onkels Äußerung über den Schmuck mit angehört hat.«

»Aha. Sie vermuten, sie habe dies ihrem Liebhaber mitgeteilt, und darauf haben dann die beiden zusammen den Diebstahl verabredet.«

»Aber was sollen denn diese unbestimmten Vermutungen!« rief der Bankier ungeduldig dazwischen, »wenn ich Ihnen doch sage, daß ich sah, wie Arthur den Schmuck in der Hand hatte!«

»Gedulden Sie sich ein wenig, Herr Holder, wir müssen noch darauf zurückkommen. Was dieses Mädchen anbelangt, Fräulein Holder, so sahen Sie mit an, wie es wieder zur Küchentür hereinkam, nicht wahr?«

»Jawohl. Als ich eben nachsehen wollte, ob die Türe gut geschlossen sei, schlüpfte sie herein; ich bemerkte auch den Mann draußen im Dunkeln.«

»Kennen Sie ihn?«

»O freilich, es ist ein Gemüsehändler, der uns den Küchenbedarf ins Haus liefert. Er heißt Francis Prosper.«

»Er stand«, fuhr Holmes fort, »links von der Tür, etwas weiter unten an der Hecke?«

»Allerdings.«

»Und er hat einen Stelzfuß!«

Hier blitzte etwas wie Angst in den ausdrucksvollen Augen des jungen Mädchens auf. »Sie sind ja ein wahrer Hexenmeister«, sagte sie, »woher wissen Sie das?« Dabei lächelte sie, aber auf Holmes magerem, scharfgeschnittenem Gesicht fand dies Lächeln keine Erwiderung.

»Ich möchte nun sehr gerne in den oberen Stock gehen. Nachher werde ich voraussichtlich noch einmal die Runde um das Haus machen müssen. Vielleicht ist es übrigens zweckmäßiger, ich besichtige die Fenster unten, ehe ich hinaufgehe.«

Rasch ging er von einem zum andern; nur bei dem einen großen Fenster, das vom Hausgang nach dem Gäßchen hinaussah, hielt er sich länger auf. Dies öffnete er und untersuchte die Fensterbank aufs sorgfältigste mit einem starken Vergrößerungsglas. »Jetzt wollen wir hinaufgehen«, sagte er endlich.

Des Bankiers Ankleidezimmer war ein einfach ausgestatteter kleiner Raum, mit einem grauen Teppich belegt, und enthielt einen großen Schreibtisch und einen hohen Spiegel. Holmes ging zunächst auf den Schreibtisch zu und unterzog das Schloß einer genauen Besichtigung.

»Mit welchem Schlüssel ist es geöffnet worden?« fragte er.

»Mit dem Schlüssel zum Büfett unten, den mein Sohn selbst bezeichnet hat.«

»Haben Sie ihn hier?«

»Dort liegt er auf dem Toilettentisch.«

Holmes nahm ihn und schloß den Schreibtisch damit auf. »Er schließt lautlos. Kein Wunder, daß Sie nicht davon aufwachten. In diesem Etui hier befindet sich wohl der Schmuck. Wir müssen einen Blick darauf werfen.« Er öffnete das Etui, nahm den Schmuck heraus und legte ihn auf den Tisch. Es war ein Prachtstück der Goldschmiedekunst, und die sechsunddreißig Steine waren die schönsten, die ich je gesehen. An dem einen Ende war ein Stück abgebrochen; es fehlte eine Zacke mit drei Steinen.

»Nun, Herr Holder«, sagte Holmes, »wir wollen jetzt versuchen, eine der andern Zacken abzubrechen. Dürfte ich Sie bitten, das vorzunehmen?«

Der Bankier wich vor Schrecken einen Schritt zurück. »Es fällt mir nicht im Traum ein, so etwas zu versuchen«, versetzte er.

»Dann will ich es tun.« Holmes versuchte seine ganze Stärke daran, allein ohne Erfolg. »Ich fühle, daß sie ein wenig nachgibt«, sagte er; »aber obwohl ich ausnahmsweise große Kraft in den Fingern habe, würde ich doch geraume Zeit brauchen, eine der Zacken auszubrechen. Ein gewöhnlicher Mensch wäre dazu gar nicht imstande.«

»Ich weiß nicht, was ich denken soll. Es ist mir völlig rätselhaft.«

»Nun, vielleicht wird es Ihnen doch mit der Zeit klarer werden. – Was halten Sie davon, Fräulein Holder?«

»Ich gestehe, daß ich vorläufig noch ebensowenig klug daraus werde, wie mein Onkel.«

»Ihr Sohn hatte keine Schuhe oder Pantoffeln an, als Sie ihn überraschten?« fragte er darauf Herrn Holder.

»Nichts als Hosen und Hemd.«

»Danke. Wir sind bei der Untersuchung wirklich außerordentlich vom Glück begünstigt, und es wird lediglich unsere eigene Schuld sein, wenn es uns nicht gelingt, die Sache aufzuklären. Wenn Sie erlauben, Herr Holder, will ich jetzt meine Nachforschungen draußen fortsetzen.« Wir ließen ihn dabei auf seine ausdrückliche Bitte wiederum allein; er hatte nämlich erklärt, daß alle unnötigen Fußspuren ihm seine Aufgabe nur erschweren könnten. Eine Stunde oder darüber brachte er damit zu, dann kam er zurück mit einer Masse Schnee an den Stiefeln und einer Miene, die völlig undurchdringlich war.

»Ich habe, glaube ich, jetzt alles gesehen, was es zu sehen gibt, Herr Holder«, sagte er, »ich kann nun nichts Besseres für Sie tun als wieder nach Hause gehen.«

»Aber die Steine, Herr Holmes, wo sind die?«

»Das kann ich nicht sagen.«

Der Bankier rang die Hände. »Ich sehe sie nie wieder!« rief er aus. »Und mein Sohn? Sie geben mir Hoffnung?«

»Meine Überzeugung hat sich nicht im mindesten geändert. Wenn Sie mich morgen vormittag zwischen neun und zehn Uhr in meiner Wohnung besuchen können, so werde ich Ihnen mit Vergnügen Aufschluß darüber geben, soweit dies irgend in meinen Kräften steht. Doch setze ich dabei voraus, daß Sie mir unbeschränkte Freiheit lassen, für Sie zu handeln und Sie mit jeder Summe zu belasten, die ich für nötig halte.«

»Mein ganzes Vermögen gebe ich hin, wenn ich nur die Steine wieder erlange!«

»Ganz gut; ich werde inzwischen die Sache weiter zu ergründen suchen. Leben Sie wohl. Es kann leicht sein, daß ich vor Abend noch einmal hierherkommen muß.«

Ich erkannte klar, daß mein Freund sich nunmehr seine Ansicht über den Fall gebildet hatte, obwohl ich mir von seinen Schlußfolgerungen auch nicht einmal eine dunkle Vorstellung machen konnte. Mehrmals bemühte ich mich auf unserer Heimfahrt, ihn darüber auszuholen, aber er ging immer wieder unmerklich auf einen anderen Gegenstand über, bis ich es schließlich als hoffnungslos aufgab. Vor drei Uhr befanden wir uns bereits wieder zu Hause. Er eilte auf sein Zimmer und erschien schon nach wenigen Minuten wieder in der Verkleidung eines gewöhnlichen Trödlers. Mit seinem aufgeschlagenen Kragen, dem ausgewaschenen, fadenscheinigen Rock, einem roten Halstuch und abgetragenen Stiefeln war er ein vollendetes Muster dieser Menschenklasse.

»Ich denke, so wird es gehen«, sagte er, in den Spiegel über dem Kamin blickend. »Ich möchte nur, du könntest mich begleiten, Watson, aber ich glaube, es geht wohl doch nicht an. Jedenfalls werde ich bald wissen, ob ich auf der richtigen Spur bin oder einem Irrlicht nachjage. Ich hoffe, in ein paar Stunden wieder da zu sein.« Er steckte sich ein belegtes Brötchen in die Tasche und machte sich auf den Weg.

Ich hatte eben meinen Tee getrunken, als er wieder eintraf, in ausgezeichneter Laune, einen alten Zugstiefel in der Hand schwingend, den er sofort in eine Ecke warf, um sich eine Tasse Tee einzuschenken. »Ich bin nur im Vorbeigehen schnell auf einen Augenblick hereingekommen. Ich muß sogleich weiter.«

»Wohin?«

»Hinüber nach der andern Seite des Westends. Ich bleibe vielleicht ziemlich lange aus. Warte nicht auf mich, falls ich spät heimkomme.«

»Wie macht sich die Sache?«

»Ganz leidlich. Kann nicht klagen. Ich bin seither draußen in Streatham gewesen, aber ohne im Hause vorzusprechen. Ein hübscher kleiner Fall, den ich nicht um vieles hergäbe! Aber ich darf die Zeit nicht länger verplaudern und muß aus dieser schnöden Hülle wieder in meine anständigen Kleider schlüpfen.«

Sein Wesen zeigte mir, daß er mehr Grund zur Befriedigung hatte, als seine Äußerungen erraten ließen. Es zuckte in seinen Augen, und auf seinen blassen Wangen zeigte sich sogar eine Spur von Farbe. Rasch ging er nach oben, und schon nach wenigen Minuten hörte ich an dem Zuschlagen der Haustür, daß er sich bereits wieder an die Verfolgung des Zieles gemacht hatte, das auf seinen Scharfsinn eine so unwiderstehliche Anziehung ausübte. Ich wartete bis Mitternacht, aber er kam nicht; ich zog mich deshalb auf mein Zimmer zurück. Es geschah nicht selten, daß er ganze Tage und Nächte ausblieb, wenn er eine Spur verfolgte. So hatte sein Ausbleiben nichts Überraschendes für mich. Wann er heimkam, weiß ich nicht, aber als ich mich morgens zum Frühstück einfand, saß er schon mit einer Kaffeetasse in der einen Hand und einer Zeitung in der andern, ganz frisch und sorgfältig angekleidet da.

»Entschuldige, daß ich nicht auf dich gewartet habe, Watson«, rief er mir entgegen, »aber du weißt ja, daß unser Klient heute schon zu ziemlich früher Stunde vorsprechen will.«

»Ich glaube, es kommt eben jemand«, versetzte ich. »Es ist ja schon neun Uhr vorüber; es sollte mich nicht wundernehmen, wenn er es wäre.«

Es war wirklich unsere neue Bekanntschaft, der Bankier. Ich war ganz betroffen über die Veränderung, die mit ihm vorgegangen war; er sah schlecht und eingefallen aus, und sein Haar kam mir um eine Schattierung weißer vor. Er trat mit einer Müdigkeit und Gleichgültigkeit ein, die einen noch betrübenderen Eindruck machte, als seine gestrige Aufregung, und ließ sich schwer in den Armstuhl fallen, den ich ihm hinschob.

»Ich weiß nicht, womit ich diese harte Prüfung verdient habe«, begann er. »Noch vor zwei Tagen war ich ein glücklicher wohlhabender Mann und ohne die geringste Sorge; nun gehe ich einem einsamen, ehrlosen Alter entgegen. Ein Schlag folgt dem andern auf dem Fuße. Meine Nichte Mary hat mich verlassen.«

»Sie verlassen?« –

»Jawohl. Ihr Bett war heute früh unberührt, ihr Zimmer leer und auf dem Tisch im Salon lag ein Brief an mich. Gestern abend hatte ich ihr gegenüber geäußert, – aber nur aus Betrübnis, nicht im Bösen – wenn sie meinen Jungen geheiratet hätte, so wäre er vielleicht auf gutem Wege geblieben. Es war wohl eine unbedachte Äußerung von mir. Sie spielt in dem Brief hier darauf an. ›Liebster Onkel!‹ schreibt sie, ›ich sehe ein, daß ich Dich betrübt habe, und daß, wenn ich anders gehandelt hätte, dieses schreckliche Mißverständnis vielleicht niemals eingetreten wäre. Mit diesem Gefühl im Herzen kann ich unter Deinem Dache nicht wieder glücklich werden und muß Dich daher auf immer verlassen; mache Dir keinen Kummer um meine Zukunft, denn dafür ist gesorgt; und vor allem forsche nicht nach mir; es wäre vergebliche Mühe und mir ein schlechter Dienst. Im Leben wie im Tode verbleibe ich stets

Deine Dich liebende Mary.‹

Was kann der Brief zu bedeuten haben, Herr Holmes? Glauben Sie, daß er auf Selbstmord hindeutet?«

»Nein, nein; kein Gedanke daran. Diese Lösung ist vielleicht die allerbeste. Ich glaube, Herr Holder, Sie sind dem Ende Ihrer Kümmernisse nahe.«

»Was sagen Sie da? – Sie haben etwas gehört, Herr Holmes, Sie haben etwas erfahren? Wo sind die Steine?«

»Würden Ihnen tausend Pfund für das Stück zu hoch erscheinen?«

»Ich gebe das Zehnfache dafür.«

»So viel braucht es nicht. Mit dreitausend Pfund ist die Sache gedeckt. Um eine kleine Belohnung wird es sich freilich auch noch handeln. Haben Sie Ihr Scheckbuch bei sich? Hier ist eine Feder. Schreiben Sie lieber viertausend Pfund.«

Mit ganz verdutzter Miene fertigte der Bankier den verlangten Scheck aus. Holmes ging nun an sein Schreibpult, nahm ein kleines dreieckiges Stück Gold heraus, an dem sich drei Steine befanden, und legte es auf den Tisch.

Der Bankier stieß einen Freudenschrei aus und griff danach.

»Sie haben es!« stammelte er. »Ich bin gerettet, ich bin gerettet!«

Der Ausbruch seiner Freude war jetzt ebenso leidenschaftlich, als es zuvor sein Kummer gewesen.

»Sie haben noch eine Schuld zu tilgen, Herr Holder«, bemerkte Holmes ziemlich ernst.

»Noch eine Schuld?« Er griff nach einer Feder. »Nennen Sie nur die Summe, und ich werde sie bezahlen.«

»Nein. Die Schuld betrifft nicht mich. Ihrem Sohn schulden Sie eine recht demütige Abbitte. Der hochherzige junge Mann hat sich in dieser Sache so brav gehalten, daß ich stolz auf meinen eigenen Sohn sein würde, falls ich je einen bekommen sollte, wenn er im gleichen Fall ebenso handeln würde.«

»Also ist Arthur nicht der Dieb?«

»Nein, wie ich Ihnen gestern schon sagte und heute wiederhole.«

»Sie wissen es gewiß? Dann lassen Sie uns gleich zu ihm eilen, um ihm zu sagen, daß sich der wahre Sachverhalt herausgestellt hat.«

»Er weiß bereits alles. Sobald ich selbst in der Sache zur Klarheit gekommen war, suchte ich ihn auf. Da er sich nicht dazu verstehen wollte, mir den Hergang zu erzählen, so erzählte ich ihm denselben. Darauf konnte er nicht anders als alles zuzugeben und die wenigen Einzelheiten beizufügen, die mir noch unverständlich waren. Die Neuigkeit, die Sie heute mitgebracht haben, öffnet ihm vielleicht vollends die Lippen.«

»So sagen Sie mir um des Himmels willen, was ist das für ein unbegreifliches Rätsel?«

»Das will ich, und ich werde Ihnen auch sagen, was für Schritte ich getan habe, um zur Lösung zu gelangen. Vor allem lassen Sie mich Ihnen mitteilen, was für mich auszusprechen und für Sie zu hören am schmerzlichsten ist: Ihre Nichte Mary handelte im Einverständnis mit Sir George Burnwell. Sie sind jetzt zusammen entwichen.«

»Meine Mary – unmöglich!«

»Es ist leider mehr als möglich, es ist sicher. Weder Sie selbst noch Ihr Sohn kannten den wahren Charakter dieses Menschen, als Sie ihm in Ihrem häuslichen Kreise Aufnahme gewährten. Er ist eines der gefährlichsten Subjekte in ganz England – ein heruntergekommener Spieler, ein ganz verzweifelter Schurke, ein Mensch ohne Herz und Gewissen. Ihre Nichte hat keine Ahnung davon, daß es solche Menschen auf der Welt gibt. Als er ihr seine Liebe gestand, wie hundert anderen vor ihr, schmeichelte sie sich, die einzige zu sein, die sein Herz gerührt habe. Der Teufel mag wissen, wie er es anfing, aber er brachte es dahin, daß sie zu seinem willenlosen Werkzeug wurde und fast jeden Abend mit ihm zusammentraf.«

»Ich kann, ich will es nicht glauben!« rief der Bankier mit aschfahlem Gesicht.

»Nun, dann will ich Ihnen erzählen, was vorletzte Nacht in Ihrem Hause vorging. Als Ihre Nichte annahm, Sie hätten sich in Ihr Zimmer zurückgezogen, schlüpfte sie hinunter und unterhielt sich mit ihrem Liebhaber durch das Fenster, das nach dem Gäßchen bei den Ställen hinausgeht. Seine Fußstapfen haben sich ganz durch den Schnee durchgedrückt, so lange hat er dortgestanden. Sie erzählte ihm von dem Schmuck. Diese Kunde entflammte seine verruchte Gier nach Gold, und er gewann sie für seine Pläne. Ich zweifle nicht an ihrer Anhänglichkeit für Sie, allein es gibt Frauen, bei denen neben der Anhänglichkeit an einen Geliebten keine andere mehr Raum findet, und zu diesen muß sie wohl gehört haben. Sie hatte kaum die nötigen Vorschriften für ihr Verhalten von ihm empfangen, als Sie die Treppe herunterkamen, worauf sie das Fenster eiligst schloß und ihnen die Geschichte von dem Dienstmädchen erzählte, das sich zu dem stelzfüßigen Liebhaber hinausgeschlichen habe, womit es auch seine volle Richtigkeit hatte.

Ihr Sohn begab sich nach der Unterredung mit Ihnen wohl zu Bett, konnte aber vor Sorgen wegen seiner Schulden im Klub nicht schlafen. Mitten in der Nacht hörte er jemand mit leisem Tritt an seiner Tür vorbeischleichen. Er stand auf, schaute hinaus und sah zu seiner größten Verwunderung seine Base verstohlen durch den Gang gleiten und in Ihrem Ankleidezimmer verschwinden. Rasch warf er ein paar Kleidungsstücke über und harrte im Dunkeln auf die weitere Entwicklung dieser merkwürdigen Geschichte. Nun kam sie wieder aus dem Zimmer heraus, und beim Schein der Flurlampe sah Ihr Sohn, daß sie das kostbare Schmuckstück in der Hand hatte. Sie ging die Treppe hinunter, und er eilte, zitternd vor Schrecken, zu dem Vorhang bei Ihrer Tür, um, dahinter versteckt, sehen zu können, was unten im Hausgang vorgehe. Er sah, wie sie vorsichtig das Fenster aufmachte und das Schmuckstück jemand im Dunkeln reichte, dann das Fenster wieder schloß und eiligst den Rückweg nach ihrem Zimmer einschlug, der sie ganz dicht an seinem Versteck vorbeiführte. Solange sie sich auf dem Schauplatz befand, konnte er nichts unternehmen, ohne das Mädchen, das er liebte, aufs furchtbarste bloßzustellen. Aber sobald sie verschwunden war, machte er sich klar, was für ein namenloses Unglück für Sie daraus entstehen müßte, und wie unendlich wichtig es sei, das Kleinod zurückzubekommen. Barfuß, wie er ging und stand, eilte er hinab, öffnete das Fenster, sprang in den Schnee hinaus und rannte das Gäßchen entlang, wo er eine dunkle Gestalt im Mondschein bemerkte. Es war Sir George, der sich aus dem Staube zu machen suchte, allein Arthur holte ihn ein und rang mit ihm, wobei beide an dem Schmuckstück zerrten, Ihr Sohn am einen Ende, sein Gegner am andern. Auf einmal knackte es, und Ihr Sohn sah, daß ihm der Schmuck in der Hand geblieben war. Er eilte nun ins Haus zurück, machte das Fenster wieder zu und ging hinauf in Ihr Ankleidezimmer. Dort bemerkte er, daß der Schmuck im Handgemenge verbogen worden war. Als er noch versuchte, ihn wieder zurechtzubiegen, erschienen Sie auf dem Schauplatz.«

»Ist es möglich?« stammelte der Bankier.

»Nun brachten Sie ihn in Wut, indem Sie ihm alle möglichen Schimpfreden in das Gesicht schleuderten, in einem Augenblick, wo er sich bewußt war, Ihren wärmsten Dank verdient zu haben. Den wahren Sachverhalt konnte er nicht enthüllen, ohne ein Mädchen zu verraten, das sicherlich keine große Rücksicht von seiner Seite verdient hatte. Er stellte sich jedoch auf den ritterlichen Standpunkt und wahrte ihr Geheimnis.«

»Also darum ihr Schrecken und ihre Ohnmacht beim Anblick des Schmuckes!« rief Herr Holder aus. »Oh, mein Gott, was war ich doch für ein blinder Narr! Und seine Bitte, auf fünf Minuten vor das Haus gehen zu dürfen! Der Junge wollte nur sehen, ob das fehlende Stück nicht noch auf dem Kampfplatz liege. Wie grausam von mir, wie habe ich ihn verkannt!«

»Sogleich nach meinem Eintreffen ging ich sorgfältig um das ganze Haus herum, um nach Spuren im Schnee zu suchen, die mir von Wert sein könnten. Ich wußte, daß seit dem Abend vorher kein Schnee mehr gefallen war, und bei dem starken Frost hatten sich auch die Eindrücke unverändert erhalten. Ich ging den Lieferantenweg entlang. Hier war jedoch alles zusammengetreten, so daß man nichts zu unterscheiden vermochte. Nur gerade oberhalb des Eingangs zur Küche hatte eine Frau bei einem Manne gestanden, der, nach den runden Spuren seines einen Fußes zu schließen, ein hölzernes Bein trug. Man vermochte sogar zu erkennen, daß sie gestört worden waren, denn die Frau war rasch zur Tür zurückgelaufen, wie die leichten Eindrücke ihrer Zehen im Gegensatz zur Ferse bewiesen, während der Stelzfuß noch eine Zeitlang gewartet und sich dann erst entfernt hatte. Ich dachte mir gleich, es werde das Dienstmädchen und ihr Liebhaber gewesen sein, von denen Sie bereits gesprochen hatten, und meine weiteren Nachforschungen bestätigten dies auch. Auf dem Gang durch den Garten konnte ich zahlreiche regellos durcheinanderlaufende Fußspuren bemerken, die ich den Polizeileuten zuschrieb. Als ich jedoch in das Stallgäßchen kam, stand dort in den Schnee geschrieben eine ganze lange, verwickelte Geschichte vor meinen Augen.

Da war eine zweifache Reihe von männlichen Stiefelspuren und eine weitere Doppelreihe von Eindrücken, die – wie ich zu meiner Freude sah – von den bloßen Füßen eines Mannes herrührten. Auf Grund Ihrer Erzählung war ich augenblicklich überzeugt, daß dieser Mann Ihr Sohn sein müsse. Der erste war hinauf- und heruntergegangen, der mit den bloßen Füßen dagegen war rasch gelaufen, und da sein Tritt an manchen Stellen über den des ersten fortging, so war er offenbar nach diesem gekommen. Ich folgte den Spuren und fand, daß sie zu dem Fenster im Hausgang führten, wo der mit den Stiefeln so lange gestanden hatte, daß der Schnee völlig weggetreten war. Dann ging ich ihnen bis zu ihrem andern Ende nach, vielleicht sechzig Meter das Gäßchen hinunter. Ich fand eine Stelle, wo der mit den Stiefeln sich umgewendet hatte und der Schnee aufgewühlt war, als ob ein Kampf stattgefunden hätte, eine Vermutung, welche durch ein paar Blutstropfen im Schnee ihre Bestätigung fand. Der Mann mit den Schuhen war dann rasch das Gäßchen hinabgelaufen, und eine zweite kleine Blutspur zeigte mir, daß er es war, der die Verwundung erhalten hatte. Auf der Straße draußen ließ sich die Spur nicht weiter verfolgen, da der Fußsteig inzwischen gesäubert worden war.

Nach meiner Rückkehr ins Haus untersuchte ich, wie Sie sich erinnern können, den Sims und den Rahmen an dem Gangfenster mit einem Vergrößerungsglas und konnte dabei sogleich erkennen, daß jemand hinausgestiegen war. Ferner vermochte ich die Umrisse eines nassen Fußes zu unterscheiden, den jemand beim Hereinsteigen aufgesetzt hatte. Nun fühlte ich mich allmählich imstande, mir ein Bild von den Vorgängen zu machen. Ein Mann hatte vor dem Fenster gewartet, bis ihm jemand die Steine hinausbrachte, Ihr Sohn hatte die Tat mit angesehen, den Dieb verfolgt und mit diesem gerungen, wobei sie beide an dem Schmuckstück zogen und dieses so mit vereinter Kraft in einer Weise beschädigten, wie dies keinem von beiden allein möglich gewesen wäre. Ihr Sohn brachte wohl das Schmuckstück an sich, mußte aber ein Stück davon in den Händen seines Gegners lassen. So weit war ich im reinen. Nun entstand die Frage, wer war dieser Mann und wer hatte ihm den Schmuck hinuntergebracht?

Es ist ein alter Grundsatz von mir: Nachdem alles Unmögliche ausgeschlossen worden ist, muß man in dem, was übrig bleibt, so unwahrscheinlich es sein mag, die Wahrheit finden. Nun wußte ich, daß Sie den Schmuck nicht hinunter gebracht hatten, demnach blieben nur noch Ihre Nichte und die Dienstmädchen übrig. Aber wenn es eines der Dienstmädchen war, warum hatte sich Ihr Sohn an ihrer Stelle beschuldigen lassen? Dafür war kein vernünftiger Grund zu finden. Er liebte jedoch seine Base, und darin lag die einzige Erklärung für sein Bestreben, ihr Geheimnis zu wahren – um so mehr, als es ein entehrendes Geheimnis war. Wenn ich ferner bedachte, daß Sie Ihre Nichte an jenem Fenster gesehen hatten, und sie in Ohnmacht gefallen war, als sie den Schmuck wieder erblickte, so wurde meine Vermutung zur Gewißheit.

Wer aber konnte es sein, mit dem sie unter einer Decke steckte? Doch nur ein Geliebter, denn nur ein solcher wäre imstande, über ihre Liebe und Dankbarkeit Ihnen gegenüber den Sieg davon zu tragen. Ich wußte, daß Sie wenig ausgingen und Ihr Bekanntenkreis ein sehr beschränkter war. Allein zu diesem kleinen Kreis gehörte Sir George Burnwell. Ich hatte schon früher erfahren, daß er im Hinblick auf seine Beziehungen zu Frauen berüchtigt war. Von ihm mußten die Stiefelspuren herrühren, in seinem Besitz mußten sich die fehlenden Steine befinden. Trotzdem er von Arthur entdeckt worden war, durfte er sich in der Hoffnung wiegen, unbehelligt zu bleiben, denn der junge Mann konnte ja kein Wort sagen, ohne seine eigene Familie bloßzustellen.

Nun werden Sie sich leicht denken können, welche Schritte ich zunächst tat. Ich begab mich, als Trödler verkleidet, in Sir Georges Wohnung, wo ich mit dessen Diener Bekanntschaft anzuknüpfen wußte, und erfuhr, daß sich sein Herr den Abend vorher am Kopf verletzt habe. Durch eine Ausgabe von sechs Schilling stellte ich dann vollends die ganze Wahrheit fest. Ich kaufte nämlich ein Paar seiner abgelegten Stiefel, nahm sie mit nach Streatham und überzeugte mich, daß sie vollkommen in die Fußspuren paßten.«

»Ich bemerkte gestern allerdings einen Strolch in abgerissener Kleidung vor meinem Hause«, warf Herr Holder ein.

»Ganz recht. Das war ich. Nachdem ich meines Mannes sicher war, wechselte ich zu Hause die Kleider. Nun harrte meiner noch eine heikle Aufgabe; denn ich sah ein, daß, um Aufsehen zu vermeiden, keine Verfolgung der Sache stattfinden dürfe, und wußte, ein solch abgefeimter Schurke würde sofort durchschauen, daß uns in dieser Sache die Hände gebunden seien. Ich suchte ihn also auf. Zuerst leugnete er natürlich alles. Als ich ihm jedoch sämtliche Einzelheiten des Hergangs vorhielt, machte er Miene, gewalttätig zu werden, und nahm einen Totschläger von der Wand. Ich kannte meinen Mann und drückte ihm, ehe er zuschlug, eine Pistole an die Stirn. Nun wurde er etwas vernünftiger. Ich erklärte ihm, wir seien bereit, ihm die Steine abzukaufen, und zwar um tausend Pfund das Stück. Diese Eröffnung entlockte ihm zum erstenmal ein Zeichen des Bedauerns. ›Verwünscht!‹ rief er, ›ich habe sie alle zusammen für sechshundert Pfund losgeschlagen.‹ Durch die Zusage, daß jede Verfolgung der Sache unterbleibe, brachte ich ihn bald so weit, mir die Adresse des Käufers der Steine zu geben. Augenblicklich machte ich mich dorthin auf und erhielt endlich nach langem Feilschen unsere Steine für tausend Pfund das Stück. Dann sprach ich noch bei Ihrem Sohne vor, um ihm mitzuteilen, daß alles in Ordnung sei, und ging endlich gegen zwei Uhr in mein Bett, nach einem Tagewerk, das gewiß ein schweres genannt werden darf.«

»Einem Tagewerk, durch das Sie einen großen öffentlichen Skandal verhindert haben«, versetzte der Bankier, indem er sich erhob. »Die Worte fehlen mir, um Ihnen meinen Dank auszudrücken, aber Ihre Leistung soll nicht unbelohnt bleiben. Ihr Scharfsinn übersteigt in der Tat alles, was ich je Ähnliches gehört habe. Aber jetzt muß ich zu meinem Jungen eilen, um ihm das Unrecht abzubitten, das ich ihm angetan habe. Was die arme Mary betrifft, so bin ich durch Ihre Auskunft über sie im Innersten erschüttert. Mir zu sagen, wo sie jetzt sein mag, dazu wird aber freilich selbst Ihr Scharfsinn nicht hinreichen.«

»Ich glaube, wir dürfen ruhig behaupten«, erwiderte Holmes, »sie befindet sich da, wo Sir George Burnwell ist. Wie groß aber auch ihr Unrecht sein mag, so wird sie sicher gar bald die Strafe dafür in mehr als genügendem Maß erhalten.«

*

Während Holmes das Blatt weglegte und das folgende aufschlug, dachte er: Ja, es ist so, das Leben gleicht immer irgendwie alles wieder aus, ohne unser Dazutun, das Gute und das Böse.

Dann fing er an, die nächste Geschichte zu lesen:

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Silberstrahl

Silberstrahl

»Mir wird wohl nichts anderes übrig bleiben, Watson, als hinzugehen«, sagte Holmes eines Morgens zu mir, als wir beim Frühstück saßen.

»So? Wohin denn?«

»Nach Dartmoor – nach Kings Pyland.«

Das überraschte mich nicht; im Gegenteil, ich hatte mich schon gewundert, daß er nicht längst zur Mitarbeit an dem ungewöhnlichen Fall aufgefordert worden war, der in ganz England das Tagesgespräch bildete. Mit gerunzelten Brauen, den Kopf auf die Brust gesenkt, war mein Gefährte einen ganzen Tag lang ruhelos im Zimmer auf- und abgegangen, hatte immer wieder den stärksten schwarzen Tabak in seine Pfeife gestopft und war für alle meine Fragen und Bemerkungen stocktaub gewesen. Die neuesten Nummern sämtlicher Tagesblätter überflog er nur mit einem Blick und warf sie dann in den Winkel. Er blieb stumm, aber ich wußte genau, worüber er brütete. Es lag ja nur ein Fall vor, der genug öffentliches Aufsehen erregte, um ihn zu bewegen, die ganze Kraft seines kritischen Scharfsinns aufzubieten, nämlich das seltsame Verschwinden des Rennpferdes, welches die größte Anwartschaft auf den Ehrenpreis von Wessex gehabt hatte, und die rätselhafte Ermordung des Stallmeisters John Straker. Als Holmes mir daher plötzlich mitteilte, er wolle sich auf den Schauplatz des Dramas begeben, hatte ich bereits auf diesen Entschluß von seiner Seite gewartet und gehofft.

»Ich würde dich sehr gern begleiten, wenn ich dir nicht im Wege bin«, sagte ich.

»Du würdest mir den größten Gefallen damit erweisen, lieber Watson, auch wäre es sicher keine Zeitverschwendung; der Fall enthält nämlich so interessante Einzelheiten, daß er wohl in seiner Art einzig dasteht. Wir können, glaube ich, gerade noch einen Zug erreichen, unterwegs will ich dann eingehender mit dir über die Sache reden. Bitte nimm auch deinen Feldstecher mit, wir brauchen ihn vielleicht.«

So saß ich denn etwa eine Stunde später in der Ecke eines Wagens erster Klasse, und während der Bahnzug mit uns nach Exter davonsauste, vergrub Sherlock Holmes sein scharfgeschnittenes, ausdrucksvolles Gesicht in einen Haufen neuer Zeitungen, die er sich am Zeitungsstand des Bahnhofs in Paddington gekauft hatte. Erst als Reading längst hinter uns lag, warf er die letzte Nummer unter den Sitz und holte seine Zigarrentasche heraus.

»Wir fahren rasch«, sagte er, nachdem er einen Blick aus dem Fenster geworfen und auf seine Uhr gesehen hatte, »unsere Fahrgeschwindigkeit beträgt augenblicklich dreiundachtzig und eine halbe Meile in der Stunde.«

»Ich habe mir nicht die Zeit genommen, die Meilensteine zu zählen.«

»Ich auch nicht«, erwiderte er. »Aber die Telegraphenstangen dieser Linie haben einen Abstand von sechzig Metern; da läßt sich’s leicht berechnen. Vermutlich ist dir die Ermordung John Strakers und das Verschwinden von Silberstrahl schon samt allen näheren Umständen bekannt?«

»Was ›Telegraph‹ und ›Chronicle‹ darüber mitteilen, habe ich gelesen.«

»Bei diesem Fall ist es für die Schlußfolgerung wichtiger, die vorhandenen Angaben genau zu untersuchen, als sich nach immer neuen Beweismitteln umzusehen. Das Trauerspiel ist so ungewöhnlicher Art und für eine große Anzahl Personen von solcher Tragweite, daß uns die Überfülle unbegründeter Annahmen, Mutmaßungen und Voraussetzungen zu verwirren droht. Da gilt es vor allem, die nackten Tatsachen, soweit sie unleugbar und bestimmt feststehen, von dem unnützen Beiwerk zu trennen, welches Berichterstatter und Theoretiker hinzugefügt haben. Erst wenn man eine sichere Grundlage gewonnen hat, wird man Schlüsse ziehen und die besonderen Punkte ins Auge fassen können, um welche sich das ganze Geheimnis dreht. Am Dienstag abend bin ich sowohl von Oberst Roß, dem Eigentümer des Pferdes, als auch von Polizeiinspektor Gregory, dem der Fall übergeben wurde, auf telegraphischem Wege um meine Mitarbeit gebeten worden.«

»Am Dienstag abend!« rief ich. »Und heute ist schon Donnerstag. Warum bist du denn nicht gestern hingefahren?«

»Weil ich mich in einem Irrtum befand, lieber Watson – was leider häufiger vorkommt, als die Leute glauben mögen, die mich aus deinen Aufzeichnungen kennen. Ich hielt es nämlich nicht für möglich, daß das berühmteste Rennpferd Englands lange verborgen bleiben könnte, noch dazu in einer so öden Gegend, wie der Norden von Dartmoor es ist. Von Stunde zu Stunde habe ich gestern auf die Nachricht gewartet, daß man sein Versteck entdeckt hat, und daß der Räuber des Pferdes zugleich John Strakers Mörder ist. Als aber die Zeitungen heute, außer der Festnahme des jungen Fitzroy Simpson, nichts Neues brachten, da fühlte ich wohl, daß etwas geschehen müsse und es für mich an der Zeit sei, tätig einzugreifen. Trotzdem halte ich auch den gestrigen Tag nicht gerade für verloren.«

»Also hast du dir schon eine Ansicht gebildet?«

»Wenigstens ist mir klar geworden, welches die wesentlichen Tatsachen sind. Ich werde sie dir aufzählen, denn es gibt kein besseres Mittel, Licht über einen Fall zu verbreiten, als wenn man ihn jemand auseinandersetzt; auch kann ich ja nur auf deine Mitwirkung rechnen, wenn ich dir zeige, welchen Standpunkt ich selbst einnehme.«

Ich lehnte mich nun in die Kissen zurück und rauchte meine Zigarre, während Holmes vornübergebeugt dasaß, einen kurzen Umriß der Ereignisse entwarf, welche uns zu der Reise veranlaßt hatten, und dabei mit dem langen, dünnen Zeigefinger auf der Fläche seiner linken Hand die verschiedenen Punkte beschrieb, die ihm wichtig erschienen.

»Silberstrahl«, sagte er, »ist ein Abkömmling des berühmten Isonomy, und seine Laufbahn war ebenso glänzend wie die seines großen Vorfahren. Das Pferd steht im fünften Jahr und hat seinem Besitzer, Oberst Roß, nacheinander bereits sämtliche Rennpreise eingebracht. Auch der Ehrenpreis von Wessex war ihm so gut wie gewiß; die Wetten verhielten sich wie drei zu eins. – Überhaupt ist Silberstrahl von jeher der bevorzugte Liebling des Rennpublikums gewesen und hat die auf ihn gesetzten Hoffnungen noch nie getäuscht; gelegentlich sind wahrhaft riesige Summen auf das Pferd gewettet worden. Hieraus ist leicht ersichtlich, daß eine ganze Anzahl Leute das stärkste Interesse daran haben mußten, sein Erscheinen auf dem Rennplatz am nächsten Dienstag zu verhindern.

Auch in Kings Pyland, wo Oberst Roß seinen Reitstall hat, war man sich dieser Tatsache wohl bewußt und traf umfassende Maßregeln zum Schutz des edlen Tieres. John Straker, ein früherer Jockey des Obersten, hatte bei allen Wettrennen dessen Farben getragen, bis sein Gewicht zu schwer wurde. Fünf Jahre ist er als Jockey und sieben Jahre als Stallmeister bei seinem Herrn gewesen und hat den Dienst stets mit Treue und Eifer versehen. Sein Amt war übrigens nicht sehr anstrengend, denn für die vier Pferde, die unter seiner Obhut standen, hatte er drei Stallknechte zur Verfügung. Einer pflegte immer die Nacht über im Stall zu wachen, während die beiden andern auf dem Heuboden schliefen. Alle drei standen in bestem Ruf und galten für sehr zuverlässig. Straker war verheiratet und wohnte in einem kleinen Landhaus, das kaum zweihundert Meter von den Stallgebäuden entfernt liegt; er hatte keine Kinder, hielt sich ein Hausmädchen und lebte in guten Verhältnissen. Die Gegend ist wohl einsam, doch hat ein Bauunternehmer aus Tavistock etwa eine halbe Meile nördlich ein kleines Villenviertel errichtet für Erholungsbedürftige und Sommerfrischler, die in der reinen Luft von Dartmoor Stärkung suchen. Der Ort Tavistock selbst liegt zwei Meilen nach Westen; jenseits des Moors befindet sich in gleicher Entfernung die große Pferdezüchterei von Mapleton, welche Lord Backwater gehört; der dortige Aufseher heißt Silas Brown. Nach jeder andern Richtung hin ist das Moor völlig verödet, es halten sich höchstens herumziehende Zigeuner darin auf.

Auch der letzte Montag verlief in Kings Pyland ruhig wie alle Tage. Nachdem die Pferde ihren gewöhnlichen Übungsritt gemacht hatten und getränkt worden waren, verschloß man um neun Uhr den Stall. Zwei von den Knechten begaben sich nach Strakers Haus, wo sie in der Küche zu Abend aßen, während Eduard Hunter, der dritte, als Wächter zurückblieb. Einige Minuten nach neun brachte ihm das Mädchen, Edith Baxter, sein Nachtessen, das in einem Teller voll Hammelragout bestand. Sie nahm kein Getränk mit, da der Stall eine Wasserleitung hatte und es als strenge Regel galt, daß der wachhabende Knecht nichts anderes trinken durfte als Wasser.

Edith Baxters Weg führte über das offene Moor, und da es ganz dunkel war, nahm sie eine Laterne mit. Als sie sich dem Stall bis auf etwa dreißig Meter genähert hatte, tauchte plötzlich aus der Finsternis ein Mann auf und rief sie an. Er trat in den Lichtkreis der Laterne, sie sah, daß er den besseren Ständen angehörte; er trug einen grauen Anzug aus leichtem Wollstoff, Gamaschen und eine Tuchmütze, in der Hand hielt er einen schweren Stock mit dickem Knauf. Was ihr am meisten auffiel, war jedoch die entsetzliche Blässe seines Gesichts und sein ängstliches Benehmen; nach ihrer Ansicht mochte er eher über als unter dreißig Jahre alt sein.

›Können Sie mir vielleicht sagen, wo ich bin?‹ fragte er. ›Ich hatte mich schon darein ergeben, die Nacht auf dem Moor zuzubringen, als ich das Licht Ihrer Laterne sah.‹

›Sie sind dicht bei den Stallgebäuden von Kings Pyland‹, versetzte sie.

›Wirklich! Nun, das nenne ich Glück haben!‹ rief er. ›Man hat mir gesagt, daß dort nur ein Stallknecht wohnt; vielleicht wollen Sie ihm eben sein Abendbrot bringen. Ich denke, Sie werden nicht zu stolz sein, um sich ein neues Kleid zu verdienen, nicht wahr? – Nun gut, wenn Sie dem Knecht noch heute abend dies hier zukommen lassen‹, er nahm ein kleines, zusammengefaltetes Papier aus der Westentasche, ›so sollen Sie das Geld zu einem hübschen Kleid von mir bekommen.‹

Die Magd erschrak, als er sein Anliegen so dringend vorbrachte, sie lief rasch an ihm vorbei nach dem Fenster hin, durch welches sie das Essen hineinzureichen pflegte. Es war schon geöffnet. Hunter saß drinnen an einem kleinen Tisch. Eben erzählte sie ihm, was ihr zugestoßen sei, als der Fremde selbst herzutrat.

›Guten Abend‹, sagte er, durch das Fenster blickend; ›ich möchte gern ein paar Worte mit Ihnen reden.‹ – Das Mädchen hat unter Eid versichert, daß sie, während er sprach, eine Ecke des weißen Papierpäckchens in seiner geschlossenen Hand bemerkte.

›Was haben Sie hier zu suchen?‹ fragte der Knecht.

›Etwas, wobei Sie ein gutes Stück Geld verdienen können‹, lautete die Antwort. ›Sie haben zwei Pferde hier, die für den Wessex-Preis rennen sollen – Silberstrahl und Bayard. Schenken Sie mir klaren Wein ein, und es soll nicht Ihr Schaden sein. Ist es wahr, daß Bayard dem andern beim Proberennen auf fünf Achtelmeilen hundert Meter Vorsprung abgewonnen hat, und daß das Stallpersonal auf ihn wetten will?‹

›Sie sind ein verdammter Schwindler!‹ rief Hunter. ›Warten Sie nur, ich zeige Ihnen gleich, wie wir solchem Pack in Kings Pyland mitspielen.‹ Er sprang auf und lief nach dem Stall hinüber, um den Hund loszuketten. Das Mädchen ergriff eilends die Flucht, blickte jedoch noch einmal zurück und sah, wie der Fremde sich zum Fenster hineinlehnte. Als Hunter gleich darauf mit dem Hund herausgestürzt kam, war jener verschwunden und keine Spur von ihm zu entdecken, obwohl der Stallknecht rings um das Haus herum nach ihm suchte.«

»Warte einen Augenblick«, unterbrach ich den Bericht meines Freundes; »hat der Stallknecht, als er mit dem Hunde herauskam, die Tür hinter sich offen gelassen?«

»Vortrefflich, Watson, vortrefflich«, murmelte Holmes. »Der Umstand schien auch mir von solcher Wichtigkeit, daß ich gestern eigens ein Telegramm nach Dartmoor sandte, um mir Gewißheit darüber zu verschaffen. Der Stallknecht hat aber die Tür zugeschlossen, als er hinausging, und das Fenster ist nicht groß genug, um einem Mann Einlaß zu gewähren.

Hunter wartete bis zur Rückkehr seiner beiden Kameraden und schickte dann seinem Herrn einen Bericht über den Vorfall. Straker war zwar sehr ärgerlich, doch scheint er sich nicht klar gemacht zu haben, was die Sache eigentlich zu bedeuten hatte. Eine unbestimmte Sorge quälte ihn indessen jedenfalls, denn als seine Frau um ein Uhr nachts aufwachte, sah sie, daß er im Begriff war, sich anzukleiden. Auf ihre Fragen erwiderte er, seine Unruhe um die Pferde lasse ihn nicht schlafen, er wolle im Stall nachsehen, ob alles in Ordnung sei. Sie hörte den Regen an die Scheiben klatschen und bat ihren Mann, daheim zu bleiben, aber es war vergebens; er zog seinen Gummimantel an und verließ das Haus.

Als Frau Straker um sieben Uhr erwachte, war ihr Mann noch nicht zurückgekehrt. Rasch kleidete sie sich an, rief das Mädchen und eilte nach den Ställen. Die Tür stand offen; drinnen saß Hunter auf einem Stuhl zusammengesunken und völlig betäubt; die Box, in der Silberstrahl gestanden, war leer und Straker nirgends zu finden.

Man weckte die beiden Stallknechte, die auf dem Heuboden über der Geschirrkammer schliefen. Sie hatten während der Nacht kein Geräusch gehört. Hunter mußte wohl ein starkes Schlafmittel erhalten haben und litt noch an den Folgen; da nichts Vernünftiges aus ihm herauszubringen war, ließ man ihn weiter schlafen. Frau Straker, die Magd und die beiden Knechte machten sich inzwischen auf, um nach dem Stallmeister zu suchen. Sie hegten noch die leise Hoffnung, er könne vielleicht mit dem Pferd einen Morgenritt gemacht haben, und wandten sich nach einer Anhöhe in der Nähe des Hauses, von der aus man das Moor ringsum überblicken kann. Von dem Rennpferd sahen sie nirgends eine Spur, aber nach John Straker brauchten sie nicht lange zu suchen. Etwa eine Viertelmeile von dem Stallgebäude entfernt hing sein Mantel an einem Ginsterbusch, und nicht weit davon, in einer muldenförmigen Vertiefung des Bodens, fand man seine Leiche. Der Schädel war ihm durch einen wuchtigen Schlag mit einem schweren Werkzeug zerschmettert worden, und am Schenkel hatte er eine lange Schnittwunde, die von einer scharfen Waffe herrühren mußte. Offenbar hatte sich Straker, so gut er konnte, gegen seine Angreifer verteidigt, denn in der rechten Hand hielt er ein kleines Messer, das über und über mit geronnenem Blut bedeckt war. Seine Linke aber umklammerte eine rot und schwarz gestreifte seidene Krawatte; eine solche hatte, nach Aussage der Magd, jener Fremde getragen, den sie am Abend zuvor beim Stall getroffen hatte.

Als Hunter aus seiner Betäubung erwachte, bezeugte auch er, daß der Fremde eine solche Krawatte getragen habe. Nach seiner Ansicht hatte ihm der Fremde das Schlafpulver vom Fenster aus in das Hammelragout geschüttet, damit der Stall unbewacht bleibe.

Was nun das fehlende Rennpferd betrifft, so fand man im Moorboden des Talkessels zahlreiche Beweise, daß es zur Zeit des Kampfes auch am Tatort gewesen sein muß. Aber seit jenem Morgen blieb es verschwunden, und obwohl eine hohe Belohnung ausgesetzt ist und alle Zigeuner von Dartmoor sich auf der Suche befinden, weiß niemand, wo es geblieben sein kann. Schließlich ist noch zu bemerken, daß eine beträchtliche Menge pulverisierten Opiums in den Resten des Nachtessens des Stallknechtes vorgefunden wurde, während die Leute im Hause an demselben Abend vom nämlichen Gericht gegessen haben, ohne nachteilige Folgen zu verspüren.

Das sind in kurzen Umrissen und mit möglichst geringen Abschweifungen die hauptsächlichsten Tatsachen, welche vorliegen. Nun will ich dir noch aufzählen, was für Maßregeln die Polizei getroffen hat.

Inspektor Gregory, der den Fall in Händen hat, ist ein außerordentlich fähiger Beamter. Er würde große Dinge in seinem Beruf leisten, wenn ihm nicht alle Einbildungskraft fehlte. Das erste, was er tat, war, den Mann ausfindig zu machen und festzunehmen, auf dem natürlich der größte Verdacht ruhte. Ihn zu finden, war nicht schwer, denn man kannte ihn in der ganzen Nachbarschaft. Sein Name ist Fitzroy Simpson, er stammt aus einer angesehenen, gebildeten Familie, hat sein Vermögen auf dem Rennplatz durchgebracht und erwirbt jetzt den standesgemäßen Lebensunterhalt durch eine anständige kleine Buchmacherei bei den Londoner Rennklubs. Eine Durchsicht seines Wettbuchs ergab, daß Wetten bis zum Betrage von 5000 Pfund gegen den Favoriten Silberstrahl durch ihn gebucht worden waren.

Bei seiner Verhaftung bekannte er freiwillig, er sei nach Dartmoor gekommen, um Erkundigungen über die Pferde in Kings Pyland einzuziehen und zugleich etwas Näheres über den zweiten Favoriten, Desborough, zu erfahren, der unter Silas Browns Aufsicht im Stall von Mapleton steht. Auch versuchte er nicht etwa sein Benehmen vom Abend zuvor abzuleugnen, erklärte jedoch, er hätte keinerlei böse Absicht gehabt, sondern nur den Wunsch, sich Nachricht aus erster Hand zu verschaffen. Als man ihm die Krawatte zeigte, erblaßte er sichtlich und war außerstande, anzugeben, auf welche Weise sie in die Hand des Ermordeten gelangt sein könne. Sein nasser Anzug trug deutliche Spuren, daß er in der Regennacht draußen gewesen war, und sein Stock, ein mit Blei beschwerter sogenannter Totschläger, war genau die Waffe, mit der die Verletzung hervorgebracht sein konnte, welcher der unglückliche Stallmeister erlegen war.

Dagegen hatte Simpson selbst keine Wunde am Körper, während doch, nach der Beschaffenheit von Strakers Messer zu urteilen, mindestens einer seiner Angreifer durch ihn gezeichnet worden war. – So, Watson, das ist, kurz zusammengefaßt, der ganze Sachverhalt, und wenn du mir nun vielleicht irgendeinen Hinweis geben kannst, tust du mir den größten Gefallen.«

Ich hatte den klaren Auseinandersetzungen meines Gefährten mit gespanntem Interesse zugehört; denn obgleich mir die Tatsachen größtenteils schon bekannt waren, ging mir doch erst jetzt ein Licht auf über ihren Zusammenhang und ihre eigentliche Bedeutung.

»Wäre es nicht möglich«, warf ich ein, »daß sich Straker bei den krampfhaften Zuckungen, welche mit jeder Verletzung des Gehirns verbunden zu sein pflegen, die Schnittwunde mit seinem eigenen Messer beigebracht hat?«

»Nicht nur möglich, sondern höchst wahrscheinlich«, versetzte Holmes. »In diesem Fall wird einer der Hauptpunkte hinfällig, welcher zugunsten des Angeklagten spricht.«

»Und doch«, erwiderte ich, »bin ich noch ganz im Dunkeln darüber, wie sich die Polizei die Sache vorstellt.«

»Ich fürchte, es werden sich gegen jede Theorie, die wir vorbringen könnten, gewichtige Einwendungen erheben«, sagte mein Gefährte. »Die Polizei ist, glaube ich, der Ansicht, daß Simpson, nachdem er dem Stallknecht das Schlafmittel verabreicht hatte, sich mittels eines Nachschlüssels, den er sich irgendwie zu verschaffen gewußt, in den Stall geschlichen hat, um das Pferd zu rauben. Er muß ihm auch den Zaum angelegt haben, da dieser sich nicht vorfindet. Während er nun, die Stalltür offen lassend, das Tier über das Moor davonführte, kam ihm Straker entgegen oder holte ihn ein. Natürlich entspann sich ein Kampf, bei dem Simpson seinen Gegner mit dem schweren Stock erschlug, ohne von ihm mit dem Messer verwundet zu werden, das Straker als Verteidigungswaffe gebrauchte. Hierauf gelang es dem Dieb, entweder das Pferd in ein geheimes Versteck zu bringen, oder es hat sich losgerissen und läuft nun in der Irre auf dem Moor umher. – So denkt sich die Polizei den Fall, und trotz vieler Unwahrscheinlichkeiten, auf die wir bei dieser Erklärung stoßen, ist sie noch die wahrscheinlichste von allen. Sobald ich an Ort und Stelle bin, werde ich der Sache übrigens besser auf den Grund sehen können, einstweilen müssen wir, wohl oder übel, auf dem Standpunkt stehen bleiben, den wir jetzt einnehmen.«

Erst gegen Abend kamen wir in dem Städtchen Tavistock an, das mitten in dem großen Rund von Dartmoor liegt, wie der Buckel an einem Schilde. Zwei Herren erwarteten uns am Bahnhof, der eine groß und blond, mit Haar und Bart wie eine Löwenmähne und scharfen, hellblauen Augen, der andere, ein kleiner beweglicher Mann im Überrock und Gamaschen, sehr geschniegelt und gebügelt, mit kurz geschnittenem Backenbart und eingekniffenem Augenglas. Dies war Oberst Roß, der wohlbekannte Sportsmann, jener aber Polizeiinspektor Gregory, der sich im Dienst der englischen Geheimpolizei rasch einen Namen gemacht hatte.

»Ich bin sehr froh, daß Sie gekommen sind, Herr Holmes«, sagte der Oberst. »Zwar hat der Inspektor alles nur Erdenkliche getan, aber ich möchte nichts unversucht lassen, um den Tod des armen Straker zu sühnen und wieder in den Besitz meines Pferdes zu gelangen.«

»Haben Sie irgend eine neue Spur entdeckt?« fragte Holmes.

»Leider sind wir nur wenig vorwärts gekommen«, entgegnete der Inspektor. »Draußen wartet ein Wagen auf uns«, fuhr er fort, »Sie werden gewiß den Schauplatz sehen wollen, ehe es dunkel wird, und wir können das Nähere während der Fahrt besprechen.«

Gleich darauf fuhren wir durch die Straßen des altertümlichen Städtchens. Inspektor Gregory hatte nichts als den Fall im Kopf und goß die ganze Flut seiner Betrachtungen über uns aus, während Holmes nur dann und wann eine Frage oder einen Ausruf dazwischen warf. Oberst Roß lehnte sich in den Sitz zurück, schlug die Arme unter, drückte seinen Hut tief ins Gesicht und lauschte eifrig dem Gespräch der beiden Männer. Gregorys Auffassung von der Sache stimmte fast genau mit dem überein, was mir Holmes im Zuge zum voraus berichtet hatte.

»Das Netz hat sich schon ziemlich dicht um Fitzroy Simpson zusammengezogen«, schloß der Inspektor, »und ich für meine Person zweifle nicht, daß er der Täter ist. Bei alledem muß ich jedoch zugeben, daß diese Annahme nur auf Indizienbeweisen beruht, die durch eine neue Enthüllung unhaltbar gemacht werden können.«

»Und wie steht’s mit Strakers Messer?«

»Wir sind zu dem sichern Schluß gelangt, daß er sich selbst verwundet hat, als er zu Boden fiel.«

»Mein Freund Watson hat sich bei unserer Herfahrt auch in diesem Sinne geäußert. Dadurch würde der Verdacht gegen Simpson bedeutend erhöht.«

»Natürlich, denn bei ihm hat man weder ein Messer noch Spuren einer Verletzung gefunden. Doch liegen auch andere sehr starke Beweise gegen ihn vor. Sein großes Interesse am Verschwinden des Renners, sein Versuch, den Stallknecht zu vergiften, der Umstand, daß er in der Regennacht draußen war, der schwere Stock, der ihm als Waffe diente, und die Krawatte in des Toten Hand liefern genug Verdachtsgründe, um ihn vor die Geschworenen zu bringen.«

Holmes schüttelte den Kopf. »Ein geschickter Anwalt würde dies ganze Gewebe in Fetzen reißen«, sagte er. »Warum brauchte er das Pferd aus dem Stalle zu führen? Hätte er ihm nicht ebensogut dort einen Schaden zufügen können? Hat man einen Nachschlüssel bei ihm gefunden? Welcher Apotheker hat ihm das Opiumpulver verkauft? Und vor allem – wo hätte ein Mensch, der in der Gegend fremd ist, ein solches Pferd verbergen können? – Wie lautet denn seine eigene Aussage über das Papier, welches das Mädchen dem Stallknecht geben sollte?«

»Er sagt, es sei eine Zehnpfundnote gewesen. Eine solche fand sich auch in seinem Geldbeutel, übrigens lassen sich Ihre andern Einwürfe samt und sonders entkräften. Die Umgegend ist ihm bekannt, da er im Sommer zweimal in Tavistock übernachtete. Das Opium kann er von London mitgebracht haben. Den Nachschlüssel hat er natürlich weggeworfen, sobald er ihn nicht mehr brauchte. Das Pferd liegt vielleicht irgendwo im Moor auf dem Grunde eines alten Schachts.«

»Was sagt er über die Krawatte?«

»Er gibt zu, daß sie ihm gehört, und behauptet, er habe sie verloren. Inzwischen ist ein neuer Verdacht aufgetaucht, der uns vielleicht eine Aufklärung bringt, weshalb Simpson das Pferd aus dem Stall geführt hat.«

Holmes horchte hoch auf.

»Wir haben Spuren gefunden, welche beweisen, daß eine Zigeunerbande am Montag abend eine Meile von der Mordstelle entfernt ihr Lager hatte. Am Dienstag früh war die Bande verschwunden. Kann nicht Simpson im Einvernehmen mit diesen Leuten gestanden haben und im Begriff gewesen sein, ihnen das Pferd zuzuführen, als er sich verfolgt sah? Vielleicht ist es noch in ihrem Besitz?«

»Unmöglich wäre das nicht.«

»Man durchstreift das Moor nach den Zigeunern. Auch habe ich jeden Stall und jedes Hintergebäude in Tavistock und zehn Meilen in der Runde untersuchen lassen.«

»Ich höre, daß noch ein Besitzer von Rennpferden seine Stallungen hier ganz in der Nähe hat.«

»Jawohl, und diesen Umstand dürfen wir nicht aus den Augen lassen. Da der Renner Desborough das zweite Pferd war, auf das gewettet wurde, hatten die Leute dort ein großes Interesse an dem Verschwinden des Favoriten. Silas Brown, der Stallmeister, soll hohe Wetten eingegangen sein, und er war dem armen Straker nicht wohlgesinnt. Übrigens haben wir die Ställe durchsucht und nichts gefunden, was mit der Angelegenheit zusammenhängt.«

»Auch kein Anzeichen, daß Simpson mit dem Stallmeister von Mapleton in irgendwelcher Verbindung steht?«

»Nicht das geringste.«

Holmes lehnte sich in den Wagen zurück, und die Unterhaltung stockte. Wenige Minuten später hielten sie vor einem hübschen kleinen Landhaus aus roten Ziegelsteinen mit vorspringendem Giebel, das dicht am Wege stand. In einiger Entfernung davon, jenseits einer Umfriedung, lag ein langes, mit grauem Schiefer gedecktes Gebäude. Nach allen anderen Richtungen dehnte sich, soweit das Auge reichte, der wellenförmige Boden des Moors aus, dem das welke Farnkraut eine Bronzefärbung verlieh. Nur die Kirchtürme von Tavistock und nach Westen zu eine Anzahl Häuser, die um die Stallungen von Mapleton herlagen, unterbrachen den einförmigen Horizont. Wir sprangen alle aus dem Wagen, Holmes allein lehnte noch in seiner Ecke; er starrte unverwandt ins Weite und schien ganz in Gedanken versunken. Als ich seinen Arm berührte, fuhr er heftig zusammen, raffte sich empor und stieg gleichfalls aus.

»Entschuldigen Sie«, sagte er zu Oberst Roß, der ihn verwundert ansah, »ich habe bei hellem Tage geträumt.« Aber ein gewisses Leuchten seiner Augen und die geheime Erregung in seinem ganzen Wesen überzeugten mich, der ich seine Art kannte, daß er dem Geheimnis auf der Spur sei, wiewohl ich keine Ahnung hatte, wo er den Schlüssel gefunden haben könne.

»Vielleicht möchten Sie gleich weiter fahren, Herr Holmes, um den Schauplatz des Verbrechens zu besichtigen?« fragte Gregory.

»Es wäre mir lieber, eine Weile hier zu bleiben, um erst noch über einige Einzelheiten ins klare zu kommen. Vermutlich ist Straker hierhergeschafft worden?«

»Ja, er liegt im oberen Stock. Morgen soll die Totenschau stattfinden.«

»Nicht wahr, er stand schon seit mehreren Jahren in Ihrem Dienst, Herr Oberst?«

»Ja, und ich war stets außerordentlich zufrieden mit ihm.«

»Sie haben gewiß ein Verzeichnis von den Gegenständen gemacht, die er zur Zeit seines Todes bei sich trug?«

»Die Sachen sind alle im Wohnzimmer verwahrt, Sie können sie dort in Augenschein nehmen.«

»Das wäre mir lieb.«

Wir traten nun in das vordere Zimmer und nahmen um den Tisch in der Mitte Platz, während der Inspektor einen viereckigen Blechkasten aufschloß und eine Anzahl Gegenstände herausnahm: eine Schachtel mit Wachskerzchen, zwei Stückchen Talglicht, einen halb gefüllten ledernen Tabaksbeutel, eine kurze Pfeife, eine silberne Uhr mit goldener Kette, einen Bleistifthalter von Aluminium, fünf goldene Sovereigns, verschiedene Papiere und ein Messer mit Elfenbeingriff, welches ›Weiß & Co. London‹ gezeichnet war und eine sehr biegsame, feine Klinge hatte. Holmes nahm es in die Hand und betrachtete es.

»Ein sonderbares Messer«, sagte er. »Nach den Blutflecken zu urteilen, ist es wohl dasselbe, welches man in des Toten Hand gefunden hat. Ich denke, auf diese Art Messer müßtest du dich eigentlich am besten von uns verstehen, Watson.«

»Es ist ein Messer, wie man es zu Staroperationen braucht«, antwortete ich.

»Ich dachte mir’s wohl, daß man eine so feine Klinge nur zu sehr heikler Arbeit benutzt. Wie sonderbar, daß er ein solches Messer bei dem nächtlichen Ausgang mitgenommen hat; es läßt sich nicht einmal zuklappen und in die Tasche stecken.«

»Die Spitze war durch eine Korkscheibe geschützt, die wir neben der Leiche fanden«, berichtete der Inspektor. »Frau Straker sagt, das Messer hätte schon seit ein paar Tagen auf dem Tisch im Schlafzimmer gelegen, und beim Hinausgehen habe ihr Mann es mitgenommen. Es war nur eine schwache Verteidigungswaffe, aber vielleicht die einzige, die er im Augenblick zur Hand hatte.«

»Wohl möglich. Und was für Papiere sind das?«

»Drei Quittungen von Händlern für geliefertes Heu; ein Brief von Oberst Roß mit Verhaltungsmaßregeln, ferner die Rechnung einer Schneiderin im Betrag von siebenunddreißig Pfund fünfzehn Schilling, von Madame Lesurier in Bondstreet für William Darbyshire ausgestellt. Frau Straker teilte mir mit, dieser Darbyshire sei ein Freund ihres Mannes gewesen, und zuweilen seien Briefe an ihn hierher adressiert worden.«

»Frau Darbyshire scheint etwas verschwenderischer Natur zu sein«, bemerkte Holmes, die einzelnen Beträge der Rechnung überfliegend. »Zweiundzwanzig Pfund ist eine hohe Summe für ein Straßenkostüm. – Nun habe ich hier wohl alles gesehen, und wir können uns an den Tatort selbst begeben.«

Als wir das Wohnzimmer verließen, trat eine Frau, die im Hausflur gewartet hatte, auf uns zu. Man sah es ihrem hagern, eingefallenen Gesicht und ihrer aufgeregten Miene an, daß sie erst kürzlich Entsetzliches erlebt hatte.

»Hat man sie gefunden und festgenommen?« stieß sie hastig hervor und legte ihre Hand auf den Arm des Inspektors.

»Nein, Frau Straker; aber Herr Holmes hier ist aus London gekommen, um uns zu helfen; wir werden alles Menschenmögliche tun.«

»Habe ich Sie nicht kürzlich bei einem Gartenfest in Plymouth gesehen, Frau Straker?« fragte Holmes.

»Nein, das muß ein Irrtum sein.«

»Wirklich? Ich hätte darauf schwören mögen; Sie trugen ein taubengraues Seidenkleid mit Straußenfedern besetzt.«

»Ein solches Kleid habe ich noch nie besessen«, erwiderte die Dame.

»So? – Dann habe ich mich freilich getäuscht. Entschuldigen Sie, bitte«, sagte Holmes und folgte dem Inspektor ins Freie.

Ein kurzer Weg über das Moor brachte uns nach der Talsenkung, wo der Getötete gefunden worden war. Am Rande der Senkung stand der Ginsterbusch, auf dem der Mantel gehangen hatte.

»Es ging in jener Nacht kein Wind, soviel ich weiß«, sagte Holmes.

»Nein, es regnete nur sehr stark.«

»Also ist der Mantel nicht in das Gebüsch geweht worden, sondern man hat ihn dort aufgehängt.«

»Ja, er war quer über den Busch gelegt.«

»Das ist mir von großem Interesse. Der Boden ist ringsherum ganz zertreten. Wahrscheinlich sind seit Montag nacht schon viele Leute hier gewesen.«

»Wir haben auf diese Seite eine Matte gelegt und standen darauf.«

»Ausgezeichnet!«

»In dem Sack hier habe ich einen von den Stiefeln, welche Straker angehabt hat, nebst einem Schuh von Simpson und ein Hufeisen von Silberstrahl.«

»Lieber Inspektor, Sie sind ganz unvergleichlich.«

Holmes nahm den Sack, stieg in die Talsenkung hinab und schob die Matte mehr nach der Mitte zu. Dann streckte er sich der Länge nach auf den Boden, stützte sein Kinn auf die Hände und begann den zertretenen Boden sorgfältig zu betrachten.

»Halt, was ist das?« rief er plötzlich.

Es war ein halb abgebranntes Wachskerzchen, aber so mit Schmutz überzogen, daß es kaum als solches zu erkennen war.

»Ich begreife nicht, wie ich das habe übersehen können«, sagte der Inspektor ärgerlich.

»Es war auch unsichtbar, ganz im Schlamm vergraben. Ich entdeckte es nur, weil ich danach suchte.«

»Was – Sie erwarteten, es zu finden?«

»Ich hielt es nicht für unwahrscheinlich.«

Holmes nahm jetzt den Schuh und den Stiefel aus dem Sack und verglich den Abdruck, welchen sie hinterließen, mit den Fußspuren auf dem Boden. Dann kletterte er an der Böschung hinauf und kroch unter den Farnkräutern und dem Gebüsch umher.

»Schwerlich werden noch andere Spuren vorhanden sein«, sagte der Inspektor. »Ich habe den Boden auf hundert Meter nach allen Richtungen hin sorgfältig untersucht.«

Holmes stand auf. »Wenn das der Fall ist«, meinte er, »so wäre es meinerseits mehr als überflüssig, wollte ich es noch einmal tun. Aber einen kleinen Gang über das Moor möchte ich doch machen, ehe es dunkel wird, damit ich morgen schon etwas Bescheid weiß. Auch möchte ich gern das Hufeisen in die Tasche stecken, das bringt Glück.«

Oberst Roß, der zuletzt nicht ohne deutliche Zeichen von Ungeduld der ruhigen und systematischen Arbeit meines Gefährten zugesehen hatte, zog jetzt die Uhr heraus.

»Es wäre mir lieb, wenn Sie mit mir zurückkämen, Herr Inspektor«, sagte er. »Ich möchte noch über verschiedene Punkte Ihren Rat hören; besonders frage ich mich, ob wir nicht dem Publikum gegenüber verpflichtet sind, den Namen des Pferdes aus der Wettbewerbsliste zu streichen.«

»Keinesfalls!« rief Holmes mit Entschiedenheit, »lassen Sie den Namen nur stehen!«

Der Oberst verbeugte sich. »Es freut mich sehr, daß Sie der Ansicht sind«, sagte er. »Sie werden uns im Haus des armen Straker finden, wenn Sie von Ihrem Gang zurückkommen, und wir fahren dann wieder zusammen nach Tavistock.«

Er kehrte in Begleitung des Inspektors um, während wir, Holmes und ich, langsam über das Moor schritten. Die Sonne begann eben hinter den Stallgebäuden von Mapleton zu sinken; über der weiten, abschüssigen Ebene vor uns lag ein goldener Schimmer ausgebreitet, der sich dort in ein sattes, prächtiges Rotbraun verwandelte, wo der Abendschein auf das dürre Farnkraut und das Dorngesträuch fiel. Aber die ganze landschaftliche Schönheit ging spurlos an meinem Gefährten vorüber, der tief in Gedanken versunken war.

»Es wird am besten sein, Watson«, sagte er endlich, »wir lassen die Frage, wer John Straker umgebracht hat, fürs erste ganz aus dem Spiel und beschränken uns darauf, zu ergründen, was aus dem Rennpferd geworden ist. Angenommen, es hätte sich vor oder nach dem Totschlag losgerissen, wohin könnte es gelaufen sein? – Das Pferd ist ein sehr geselliges Tier. Seinen eigenen Trieben überlassen, würde es entweder nach Kings Pyland zurückgekehrt oder nach Mapleton hinübergetrabt sein. Warum sollte es auf dem Moor in der Irre umherlaufen? Jedenfalls hätte man es dann schon aufgefunden. Auch daß die Zigeuner es gestohlen haben, ist unwahrscheinlich. Diese Leute machen sich immer aus dem Staube, wenn sie von einem Unfall hören, weil sie fürchten, durch die Polizei behelligt zu werden. Verkaufen könnten sie ein solches Pferd doch nicht; wenn sie es aber mit sich führten, würden sie sich nur einer großen Gefahr aussetzen und keinerlei Gewinn davon haben. Das liegt doch auf der Hand.«

»Wo soll es denn aber sein?«

»Wie ich dir schon gesagt habe – es muß nach Kings Pyland oder nach Mapleton gelaufen sein. In Kings Pyland ist es nicht, also ist es in Mapleton. Laß uns diese Annahme fürs erste festhalten und sehen, wohin uns das führt. Dieser Teil des Moors ist sehr hart und trocken, wie der Inspektor schon bemerkt hat. Aber nach Mapleton zu senkt sich der Boden, und der lange Hohlweg, den wir dort drüben sehen, muß Montag nacht ziemlich naß gewesen sein. Habe ich recht in meiner Vermutung, so ist das Pferd hinübergelaufen, und das ist auch die Stelle, wo wir nach seiner Spur suchen müssen.«

Wir waren während dieses Gesprächs rasch weitergegangen und hatten in wenigen Minuten den Hohlweg erreicht. Holmes bat mich, rechts am Abhang hinunter zu steigen, indessen er sich nach links wandte; noch war ich aber keine fünfzig Schritte weit, als ich seinen Zuruf vernahm und sah, daß er nur mit der Hand winkte. Die Spur des Pferdes war in dem weichen Boden deutlich erkennbar, und das Hufeisen, das er aus der Tasche zog, paßte genau in den Abdruck.

»Nun siehst du, welchen Wert die Einbildungskraft hat«, sagte Holmes. »Es ist das einzige, woran es Gregory fehlt. Wir haben uns vorgestellt, was geschehen sein könnte; wir handelten danach und fanden, daß wir uns nicht geirrt hatten. Komm, laß uns weitergehen.«

Wir schritten über den Marschboden, dann über eine Strecke harten dürren Rasens; hierauf senkte sich der Boden wieder, und wir fanden die Hufspuren. Zwar verloren wir sie abermals während einer halben Meile, entdeckten sie jedoch ganz dicht bei Mapleton von neuem. Holmes sah sie zuerst und zeigte mit triumphierendem Blick darauf hin. Die Fußspuren eines Mannes erschienen neben denen des Pferdes.

»Bisher war das Pferd allein«, rief ich.

»Jawohl, es war allein. Aber halt, was ist das?«

Die Doppelspur brach kurz ab und ging in der Richtung nach Kings Pyland weiter. Holmes pfiff vor sich hin, und wir verfolgten sie. Während er aber kein Auge davon verwandte, blickte ich ein wenig zur Seite und sah zu meiner Überraschung, daß dieselben Spuren in entgegengesetzter Richtung zurückkamen.

»Bravo Watson«, sagte Holmes, als ich ihn darauf aufmerksam machte, »du hast uns einen weiten Weg erspart, der uns wieder auf den alten Fleck zurückgebracht hätte. Folgen wir jetzt der Spur nach rückwärts.«

Wir brauchten nicht weit zu gehen. Sie endete bei dem Asphaltpflaster, das bis ans Tor der Stallungen von Mapleton führte. Als wir uns näherten, kam ein Stallknecht eilig heraus.

»Hier darf sich niemand herumtreiben«, rief er uns zu.

Holmes steckte Daumen und Zeigefinger in seine Westentasche. »Ich möchte mir nur eine Frage erlauben«, sagte er. »Könnte ich wohl Herrn Silas Brown schon morgen früh um fünf Uhr sprechen?«

»Warum nicht? Er steht immer zeitig auf und ist zuerst um den Weg. Aber fragen Sie den Herrn selbst, da kommt er eben. – Nein, nein, jetzt kann ich nichts nehmen; sobald er sieht, daß Sie mir Geld geben wollen, verliere ich meine Stelle. – Nachher, wenn’s Ihnen beliebt.« –

Gerade als Sherlock Holmes die halbe Krone, die er aus der Tasche geholt hatte, wieder einsteckte, kam ein grimmig dreinschauender älterer Mann, die Reitpeitsche schwingend, aus dem Tor.

»Was soll das heißen, Dawson?« schrie er. »Ich dulde kein Geschwätz! Geh an deine Arbeit! Und Sie – was zum Henker wollen Sie hier?«

»Eine Unterredung von zehn Minuten mit Ihnen, mein werter Herr«, sagte Holmes in verbindlichstem Ton.

»Ich habe keine Zeit, mich mit jedem Pflastertreter einzulassen. Fremde haben hier nichts zu suchen. Machen Sie, daß Sie fortkommen, sonst sollen die Hunde Ihnen Beine machen.«

Holmes beugte sich nieder und flüsterte dem Stallmeister etwas ins Ohr. Dieser schrak heftig zusammen und wurde rot bis an die Schläfen.

»Das ist nicht wahr«, schrie er. »Es ist eine verdammte Lüge.«

»Sehr wohl. Sollen wir hier draußen öffentlich darüber verhandeln oder drinnen in Ihrem Wohnzimmer?«

»Kommen Sie meinetwegen herein, wenn Sie wollen.«

Holmes lächelte. »Ich bin gleich wieder hier, du brauchst nur ein paar Minuten auf mich zu warten, Watson«, sagte er. »Nun stehe ich ganz zu Ihrer Verfügung, Herr Brown.«

Es vergingen wohl zwanzig Minuten; das Abendrot hatte bereits einer grauen Dämmerung Platz gemacht, als Holmes und der Stallmeister wieder erschienen. In der kurzen Zeit war mit Silas Brown eine Veränderung vorgegangen, wie ich das nie zuvor gesehen hatte. Sein Gesicht war aschbleich, Schweißtropfen standen ihm auf der Stirn, und er zitterte so heftig, daß die Reitpeitsche in seiner Hand hin und her schwankte, wie ein Zweig, den der Wind bewegt. Das herrische, unverschämte Wesen, das er zur Schau getragen, war völlig verschwunden; er begleitete meinen Gefährten mit kriechender Höflichkeit, wie ein Hund, der neben seinem Herrn herläuft.

»Ihre Anweisungen sollen befolgt werden; ich will alles pünktlich ausrichten«, sagte er.

»Es darf keinerlei Mißverständnis vorkommen, beherzigen Sie das wohl«, erwiderte Holmes, und der andere erschrak, als er seinem drohenden Blick begegnete.

»O nein, jeder Irrtum ist ausgeschlossen. Es wird zur Stelle sein. Soll ich erst die Veränderung vornehmen oder nicht?«

Holmes überlegte ein wenig und lachte dann hell auf. »Nein, tun Sie’s nicht«, sagte er. »Ich schreibe Ihnen noch darüber. Aber spielen Sie mir keinen Streich, sonst –«

»Oh, Sie können mir trauen; verlassen Sie sich fest auf mich.«

»Sie müssen an dem Tage dafür sorgen, als ob es Ihr eigenes wäre.«

»Das versteht sich.«

»Ich glaube, Sie werden Wort halten. Morgen sollen Sie noch von mir hören.« Er wandte sich ab, ohne zu beachten, daß der andere ihm zitternd die Hand bot, und wir machten uns wieder nach Kings Pyland auf den Weg.

»Ein solches Gemisch von Unverschämtheit, Feigheit und Hinterlist wie bei diesem Herrn Silas Brown ist mir noch selten begegnet«, äußerte Holmes, während wir zurückwanderten.

»Also, er hat das Pferd?«

»Er versuchte, es zu leugnen; aber ich habe ihm alles, was er an jenem Morgen getan hat, ganz genau beschrieben, und er ist überzeugt, daß ich ihn dabei beobachtet haben muß. Natürlich sind dir bei dem Abdruck der Stiefel die ungewöhnlich breiten Spitzen aufgefallen, und daß seine eigenen Stiefel genau dieselbe Form hatten. Wie sollte sich auch ein Untergebener so etwas herausnehmen! Er war, seiner Gewohnheit gemäß, der erste auf dem Platz gewesen, hatte ein fremdes Pferd bemerkt, welches über das Moor dahergetrabt kam, ging ihm entgegen und erkannte es mit Staunen an dem weißen Streifen vorn am Kopf, dem es seinen Namen verdankt. Der Zufall hatte ihm das einzige Pferd zugeführt, welches den Renner besiegen konnte, auf den er sein Geld gesetzt hatte. Das alles sagte ich ihm und schilderte ihm dann, wie sein erster Antrieb gewesen wäre, das Tier nach Kings Pyland zurückzuführen. Da habe ihm aber der Teufel den Gedanken eingegeben, auf welche Art er Silberstrahl verbergen könne, bis das Wettrennen vorüber wäre; worauf er wieder mit ihm umgekehrt sei, um ihn in Mapleton zu verstecken. Als ich ihm das alles haarklein auseinandersetzte, gab er das Leugnen auf und war nur noch bedacht, seine Haut zu retten.«

»Aber seine Ställe sind doch durchsucht worden.«

»Bah, ein alter Pferdehändler wie Brown versteht sich auf allerlei Kniffe.«

»Aber fürchtest du denn nicht, das Pferd in seiner Gewalt zu lassen, da er ein Interesse daran hat, ihm Schaden zuzufügen?«

»Er wird es hüten, wie seinen Augapfel, liebster Freund. Nur wenn er es gesund und heil zum Vorschein bringt, darf er auf Gnade hoffen.«

»Oberst Roß sieht mir nicht gerade aus wie jemand, der sehr geneigt wäre, Gnade für Recht gelten zu lassen.«

»Über die Sache hat auch der Oberst nicht zu entscheiden. Ich verfahre stets nach eigener Methode und teile den andern so viel oder so wenig mit, wie mir beliebt. Das ist der Vorteil, wenn man kein angestellter Beamter ist. Ich weiß nicht, ob du bemerkt hast, Watson, daß der Oberst mich etwas von oben herab behandelt, dafür will ich mir jetzt einen kleinen Spaß auf seine Kosten machen. Erwähne gegen ihn nichts von dem Pferd.«

»Gewiß nicht ohne deine Erlaubnis.«

»Das alles hat ja natürlich nur sehr geringe Bedeutung im Vergleich zu der Frage, wer John Straker getötet hat.«

»Das wirst du jetzt natürlich zu erforschen suchen!«

»Bewahre; wir kehren beide mit dem Nachtzug nach London zurück.«

Ich war bei diesen Worten meines Freundes wie vom Donner gerührt. Daß er eine Untersuchung, die er mit so glänzendem Erfolg begonnen hatte, wieder aufgeben wollte, nachdem wir uns kaum ein paar Stunden in Devonshire aufgehalten, schien mir ganz unbegreiflich. Doch konnte ich nichts mehr aus ihm herausbringen, bis wir wieder in Strakers Wohnung angekommen waren. Der Oberst und der Inspektor erwarteten uns im Besuchszimmer.

»Wir fahren mit dem Nachtschnellzug zur Stadt zurück, mein Freund und ich«, erklärte Holmes. »Ihre köstliche Luft hier hat uns bei dem kleinen Ausflug sehr wohl getan.«

Der Inspektor machte große Augen, und um den Mund des Obersten zuckte es spöttisch.

»Sie geben also die Hoffnung auf, den Mörder des armen Straker festzunehmen?« sagte er.

Holmes zuckte die Achseln. »Die Sache hat ihre großen Schwierigkeiten. Dagegen ist begründete Aussicht vorhanden, daß Ihr Pferd am nächsten Dienstag am Rennen teilnehmen wird. Halten Sie jedenfalls den Jockey in Bereitschaft. Jetzt möchte ich Sie nur noch um eine Photographie von John Straker bitten.«

Der Inspektor nahm das gewünschte Bild aus einem Umschlag, den er in der Tasche trug, und händigte es ihm ein.

»Mein lieber Gregory, Sie kommen immer meinem Verlangen zuvor. Seien Sie so freundlich, nur einen Augenblick zu warten, ich habe noch eine Frage an das Mädchen zu richten.«

»Ich muß gestehen, daß mich unser Londoner Berater gründlich enttäuscht hat«, sagte Oberst Roß ganz unumwunden, sobald mein Freund das Zimmer verlassen hatte. »Soviel ich sehe, sind wir um keinen Schritt weiter, als vor seiner Ankunft.«

»Wenigstens hat er Ihnen aber doch ziemlich bestimmt die Versicherung gegeben, daß Ihr Pferd das Rennen mitmachen wird.«

»Jawohl«, meinte der Oberst achselzuckend, »aber das kann jeder sagen.«

Ich wollte eben etwas erwidern und meinen Freund in Schutz nehmen, als er selbst eintrat.

»Nun, meine Herren«, sagte er, »bin ich zur Abfahrt bereit.«

Als wir das Haus verließen, öffnete uns einer der Stalljungen die Türe. Holmes fuhr ein plötzlicher Einfall durch den Kopf, er wandte sich um und berührte den Arm des Jungen.

»Ihr haltet doch ein paar Schafe im Pferch«, sagte er. »Wer besorgt denn ihre Pflege?«

»Ich, Herr.«

»Ist ihnen in letzter Zeit nichts Besonderes zugestoßen?«

»Nichts von Bedeutung; drei Schafe waren allerdings etwas lahm.«

Die Antwort schien Holmes große Freude zu machen, denn er lachte und rieb sich die Hände.

»Ein richtiger Treffer, Watson, ein Schuß ins Schwarze«, sagte er und kniff mich in den Arm. »Gregory, ich empfehle diese seltsame Krankheit unter den Schafen Ihrer Aufmerksamkeit. – Aber nun wollen wir abfahren.«

Im Gesicht des Obersten stand deutlich zu lesen, welch geringe Meinung er von der Kunst meines Gefährten hegte, aber des Inspektors Miene nahm einen sehr gespannten Ausdruck an.

»Halten Sie das für so wichtig?« fragte er.

»Für außerordentlich wichtig.«

»Könnten Sie mich nicht noch auf einen oder den andern Punkt aufmerksam machen?«

»Jawohl – auf das sonderbare Benehmen des Hundes während der Nacht.«

»Der Hund hat sich in der Nacht ganz ruhig verhalten.«

»Ja, darin bestand eben die Sonderbarkeit«, versetzte Sherlock Holmes.

Vier Tage später saßen Holmes und ich abermals im Zuge, um nach Winchester zu fahren, wo das Rennen um den Ehrenpreis von Wessex stattfinden sollte. Oberst Roß empfing uns verabredetermaßen am Bahnhof und nahm uns in seinem Wagen nach dem Rennplatz mit, der außerhalb der Stadt lag. Er machte eine sehr ernste Miene, und sein Wesen war schroff und kalt. »Ich habe mein Pferd nicht zu Gesicht bekommen«, sagte er.

»Vermutlich würden Sie es aber doch wiedererkennen, wenn Sie es sähen?« äußerte Holmes.

Der Oberst war sehr ärgerlich. »Seit zwanzig Jahren halte ich Rennpferde«, rief er, »aber eine solche Frage hat noch nie ein Mensch an mich gestellt! Jedes Kind würde doch Silberstrahl an seiner weißen Stirn und dem gesprenkelten rechten Vorderbein erkennen.«

»Wie steht’s mit den Wetten?«

»Sie sind in vollem Gange, und Silberstrahl steht mehr in Gunst als je.«

»Hm«, meinte Holmes, »irgend jemand muß das Publikum beruhigt haben, das ist klar.«

Als der Wagen innerhalb der Umzäunung am großen Halteplatz vorfuhr, warf ich einen Blick auf das Programm, welches die Namenliste enthielt. Es lautete:

Wessex-Preis, 50 Sovereigns, die Hälfte Reugeld
für 4 jähr. und 5 jähr. Pferde. Zusatzpreis 1000 Sovereigns.

Zweiter Preis 300 Pfund. Dritter Preis 200 Pfund. Distanz 2615 Meter.

1. Der Neger. Eigent. Herr Heath Newton (Mütze rot, Jacke zimmetfarben).

2. Gräfin Leah. Eigent. Oberst Wardlow (Mütze rosa, Jacke blau und schwarz).

3. Desborough. Eigent. Lord Backwater (Mütze und Ärmel gelb).

4. Silberstrahl. Eigent. Oberst Roß (Mütze schwarz, Jacke rot).

5. Iris. Eigent. Herzog von Balmoral (Mütze und Jacke schwarz und gelb gestreift).

6. Rasper. Eigent. Lord Singleford (Mütze lila, Ärmel schwarz).

»Wir haben unser zweites Pferd zurückgezogen und unsere ganze Hoffnung auf Ihr Wort gesetzt«, sagte der Oberst.

»Eben wird die Tafel mit den Nummern angehängt«, rief ich. »Alle sechs stehen darauf.«

»Alle sechs! Dann läuft also mein Pferd auch?« sagte der Oberst in großer Erregung. »Aber ich sehe es nicht. Meine Farben sind nicht dabei.«

»Bis jetzt sind nur fünf vorübergekommen. Dies hier muß es sein.«

Als ich diese Worte sprach, trabte gerade ein mächtiger Brauner von der Waage her an uns vorbei; der Jockey auf seinem Rücken trug des Obersten wohlbekannte Farben, die schwarze Mütze und rote Jacke.

»Das ist nicht mein Pferd!« rief der Besitzer des Silberstrahl. »Das Tier hat ja kein weißes Haar am Leibe. Was haben Sie da angerichtet, Herr Holmes?!«

»Lassen Sie uns doch erst sehen, was es zu leisten vermag«, sagte mein Freund mit unerschütterlicher Ruhe. Einige Minuten lang ließ er meinen Feldstecher nicht vom Auge. »Vortrefflich! Ein ausgezeichneter Start!« rief er plötzlich. »Da – jetzt kommen sie eben um die Biegung!«

Von unserem Wagen aus konnten wir die gerade Bahn ihrer ganzen Länge nach prächtig übersehen. Die sechs Pferde waren ganz nahe beisammen, man hätte sie alle mit einem einzigen Teppich bedecken können. Halbwegs kam jedoch der gelbe Jockey aus Mapleton an die Spitze. Aber noch ehe die Renner in unserer Nähe waren, hatte des Obersten Pferd den Desborough überholt; es schoß wie ein Pfeil dahin und erreichte das Ziel reichlich sechs Pferdelängen vor seinem Nebenbuhler. Die ›Iris‹ des Herzogs von Balmoral folgte als drittes in geringer Entfernung.

»Jedenfalls habe ich das Rennen gewonnen«, stieß der Oberst keuchend heraus und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Aber kein Mensch kann klug daraus werden. Mir scheint doch, Herr Holmes, Sie haben Ihr Geheimnis nun lange genug für sich behalten.«

»Jawohl, Herr Oberst. Sie sollen alles wissen. Kommen Sie, wir wollen uns das Pferd zusammen betrachten. – Da ist es«, fuhr er fort, als wir die Umzäunung bei der Waage betraten, in die nur die Besitzer der Rennpferde und ihre Freunde Einlaß erhalten. »Sie brauchen ihm nur das Gesicht und das Vorderbein mit Spiritus zu waschen, dann haben Sie Ihren alten Silberstrahl unverändert wieder.«

»Ist das möglich?!«

»Ich fand ihn in den Händen eines Betrügers und nahm mir die Freiheit, ihn das Rennen so mitmachen zu lassen, wie er hierher geschickt worden war.«

»Mein bester Herr, Sie haben Wunder getan. Das Pferd ist in vortrefflichem Zustand. So gut ist es noch nie gelaufen. Ich muß mich tausendmal bei Ihnen entschuldigen wegen meiner Zweifel an Ihrem Können. Sie haben mir durch die Auffindung des Pferdes einen großen Dienst erwiesen. Noch lieber wäre es mir freilich, wenn Sie auch den Mörder des John Straker entdecken könnten.«

»Ist schon besorgt«, sagte Holmes mit größter Ruhe.

Wir starrten ihn beide mit offenem Munde an, der Oberst und ich. »Sie haben ihn festgenommen! Wo ist er denn?«

»Er ist hier.«

»Hier! Wo?«

»In meiner nächsten Nähe in diesem Augenblick.«

Der Oberst wurde rot vor Zorn. »Ich erkenne vollkommen an, daß ich Ihnen zu Dank verpflichtet bin, Herr Holmes«, sagte er, »aber, was Sie soeben sagen, kann ich nur als einen sehr schlechten Spaß oder eine Beleidigung ansehen.«

Sherlock Holmes lachte. »Ich glaube durchaus nicht, daß Sie auf irgend eine Weise an dem Verbrechen beteiligt sind, Herr Oberst«, sagte er; »der wahre Mörder steht unmittelbar hinter Ihnen.«

Er schritt an ihm vorbei und legte seine Hand auf den glänzenden Hals des Vollblutpferdes.

»Silberstrahl!« riefen der Oberst und ich wie aus einem Munde.

»Ja, das Pferd. Seine Schuld wird dadurch gemildert, daß es aus Notwehr gehandelt hat, und daß John Straker ein Ihres Vertrauens durchaus unwürdiger Mensch war. – Aber da tönt eben die Glocke; ich erwarte einen kleinen Gewinn beim nächsten Rennen und will daher meinen ausführlichen Bericht auf eine spätere Zeit verschieben.«

Als wir am Abend nach London zurückfuhren, hatten wir eine Ecke des Pullmanwagens ganz für uns. Vermutlich wird die Reise dem Obersten ebenso kurz vorgekommen sein wie mir, denn unterwegs erzählte uns mein Freund, was sich in jener Nacht im Stall von Dartmoor zugetragen hatte und auf welche Weise es ihm gelungen war, das Geheimnis zu enträtseln.

»Ich gestehe«, sagte er, »daß alle Schlüsse, die ich aus den Zeitungsberichten gefolgert hatte, ganz auf Irrtum beruhten. Und doch enthielten sie Andeutungen der Wahrheit, die nur durch verschiedene Einzelheiten verdunkelt wurde, welche mich von der Fährte ablenkten. Als ich nach Devonshire fuhr, war ich überzeugt, daß Fitzroy Simpson das Verbrechen begangen hätte, obwohl ich natürlich einsah, daß noch nicht genügende Beweismittel gegen ihn beigebracht waren.

Im Wagen, auf unserer Fahrt nach Strakers Hause, kam mir zum erstenmal der Gedanke, welche wichtige Rolle das Hammelragout bei der Sache gespielt hatte. Sie erinnern sich vielleicht, daß ich in meiner Zerstreutheit noch sitzen blieb, während alle schon ausgestiegen waren. Ich verwunderte mich gerade innerlich darüber, wie ich imstande sein konnte, eine so deutliche Spur zu übersehen.«

»Wozu sie nützen sollte, begreife ich auch jetzt noch nicht«, warf der Oberst ein.

»Es war das erste Glied in der Kette meiner Beweisführung. – Beim Opiumpulver ist Geruch und Geschmack nicht gerade unangenehm, aber doch entschieden bemerkbar. In den meisten Speisen würde man es gleich herausschmecken. Ein Hammelragout aber ist gerade ein Gericht, in dem ein solcher Beigeschmack schwer zu erkennen wäre. Wie sollte nun wohl Fitzroy Simpson, ein ganz fremder Mann, veranlaßt haben, daß an jenem Abend in Strakers Hause Hammelragout gegessen wurde? – Oder läßt sich annehmen, daß er gerade mit dem Pulver in der Tasche einhergegangen kam, als dort zufällig ein Gericht gekocht worden war, in dem man das Opium nicht schmecken konnte? – An ein so unglaubhaftes Zusammentreffen vermochte ich nicht zu glauben und schloß daher bei der Erwägung des Falles Simpson völlig aus, während ich meine ganze Aufmerksamkeit auf Straker und seine Frau richtete; denn diese beiden allein konnten das Hammelragout zum Abendessen bestellt haben. Das Opiumpulver war erst in die Portion des Stallknechts hineingeschüttet worden, nachdem sein Teller aufgeschöpft war, denn die anderen hatten ohne schädliche Folgen von dem Gericht gegessen. Wer hatte wohl Gelegenheit gehabt, das zu tun, ohne daß die Dienstmagd es bemerkte?

Noch bevor ich hierüber ins reine kam, war mir klar geworden, weshalb der Hund nicht angeschlagen hatte; denn eine richtige Schlußfolgerung leitet immer stets auf neue Spuren. Daß ein Hund im Stall gehalten wurde, bewies der Vorfall mit Simpson, und doch hatte er nicht laut genug gebellt, um die beiden Knechte auf dem Heuboden zu wecken, als jemand in den Stall kam und ein Pferd hinausführte. Offenbar mußte der nächtliche Besucher dem Hunde wohlbekannt gewesen sein.

Ich war jetzt so gut wie überzeugt, daß John Straker bei nachtschlafender Zeit in den Stall gegangen war, um den Silberstrahl herauszuholen. Aber zu welchem Zweck? – Gewiß in unredlicher Absicht, sonst hätte er nicht seinen eigenen Stallknecht zu betäuben brauchen. Aber unerklärlich blieb es mir fürs erste doch, bis mir einfiel, daß Pferdezüchter sich den Gewinn großer Summen sichern können, wenn sie einen Agenten beauftragen, gegen ihre eigenen Renner zu wetten, und es dann den Pferden durch irgend eine Hinterlist unmöglich machen, den Sieg zu erringen. Es waren Fälle vorgekommen, daß man den Jockey bestochen hatte, doch gab es auch noch ein anderes und unfehlbares Mittel. Was aber war hier geschehen? – Ich hoffte, der Inhalt von Strakers Taschen würde mir Aufklärung darüber geben und ich täuschte mich nicht.

Sie erinnern sich gewiß noch des seltsamen Messers, das man in des Toten Hand gefunden hat; kein Mensch, der bei Sinnen ist, hätte es als Waffe gewählt. Messer von solcher Form werden, wie uns Doktor Watson mitgeteilt hat, bei sehr schwierigen chirurgischen Operationen verwendet. Und zu einer derartigen Operation sollte es auch in jener Nacht dienen. Bei Ihrer großen Erfahrung in allem, was mit der Rennbahn zusammenhängt, werden Sie, Herr Oberst, ohne Zweifel wissen, daß man am Schenkel des Pferdes, unter der Haut, einen kleinen Einschnitt in die Sehnen machen kann, so daß äußerlich keine Spur zurückbleibt. Infolgedessen fängt das Pferd an, ein wenig lahm zu gehen, was gewöhnlich auf Überanstrengung geschoben wird oder auf einen leichten Anfall von Rheumatismus; ein Bubenstück vermutet niemand dahinter.«

»So ein Schuft!« schrie der Oberst.

Holmes fuhr fort: »Das liefert uns zugleich die Erklärung, weshalb John Straker das Pferd auf das Moor hinausgeführt hat. Ein so feuriges Tier würde sicherlich jeden aus dem festesten Schlaf geweckt haben, sobald es den Messerstich fühlte. Die Sache konnte nur im Freien vorgenommen werden.«

»Ich war wie mit Blindheit geschlagen«, rief der Oberst; »natürlich brauchte er ein Licht dazu und strich das Wachskerzchen an!«

»Ohne Frage. Bei der Untersuchung seiner Besitztümer war es mir übrigens gelungen, nicht nur die Art zu entdecken, wie er das Verbrechen begehen wollte, sondern auch seine Beweggründe. Auch Sie, Herr Oberst, werden wissen, daß man nicht die Rechnungen anderer Leute in der Tasche herumzutragen pflegt. Jeder hat gewöhnlich genug damit zu tun, seine eigenen zu bezahlen. Ich vermutete sofort, daß Straker ein Doppelleben führen und eine zweite Wohngelegenheit haben müsse. Aus der Rechnung selbst ersah ich, daß eine Dame dabei im Spiel war, die sehr teuere Bedürfnisse hat. Wie hoch auch das Gehalt Ihrer Angestellten sein mag, so glaube ich doch nicht, daß sie ihren Frauen Straßenkostüme für zweiundzwanzig Pfund kaufen können. Ich fragte Frau Straker nach dem Kleide, ohne daß sie meine Absicht merkte; und als ich mich überzeugt hatte, daß es nie in ihre Hände gelangt sei, schrieb ich mir die Adresse der Schneiderin auf. Daß ich mich nur mit Strakers Photographie bei ihr einzufinden brauchte, um den rätselhaften Herrn Darbyshire aus der Welt zu schaffen, dachte ich mir wohl.

Von da ab war alles sonnenklar. Straker hatte das Pferd in den Hohlweg geführt, wo man das Licht nicht sehen konnte. Unterwegs fand er Simpsons Krawatte, die dieser auf der Flucht verloren hatte, und hob sie auf, vermutlich in der Absicht, dem Pferd damit das Bein festzubinden. Im Hohlweg angelangt, trat er hinter das Pferd und machte Licht, aber der plötzliche grelle Schein erschreckte das Tier, welches wohl instinktmäßig fühlen mochte, daß irgend ein Unheil im Werke sei; es schlug aus und traf Straker mit dem Huf gerade auf die Stirn. Trotz des Regens hatte er schon den Mantel abgelegt, um sein schwieriges Vorhaben auszuführen; so kam es, daß er sich im Fallen mit dem Messer die Wunde am Schenkel beibrachte. – Ist Ihnen die Sache jetzt verständlich?«

»Vollkommen«, rief der Oberst, »Sie sind ein wunderbarer Mensch; es ist gerade, als wären Sie dabei gewesen.«

»Meinen letzten Pfeil habe ich so ziemlich ins Blaue geschossen. Es fuhr mir durch den Kopf, daß ein so schlauer Mensch wie Straker den mißlichen Sehnenschnitt gewiß nicht vornehmen würde, ohne sich erst etwas darin zu üben. Woran konnte er seine Versuche machen? Mein Blick fiel auf die Schafe, und aus der Antwort, die mir auf meine dahinzielende Frage wurde, ersah ich zu meiner Verwunderung, daß ich ganz richtig geraten hatte.«

»Ihr Scharfsinn ist wirklich staunenswert, Herr Holmes.«

»Bei meiner Rückkehr nach London suchte ich die Schneiderin auf. Sie erkannte Straker sofort nach dem Bilde als einen ausgezeichneten Kunden, namens Darbyshire, dessen schöne Frau, eine sehr auffallende Erscheinung, große Vorliebe für kostspielige Kleider habe. Ohne Zweifel hat ihn dies Weib über Hals und Kopf in Schulden gestürzt und ihn so auf den schändlichen Plan gebracht.«

»Nur eins haben Sie noch im Dunkeln gelassen«, sagte der Oberst. »Wo war denn das Pferd?«

»Es war durchgegangen, und einer Ihrer Nachbarn hat es in Pflege genommen. Nach dieser Richtung hin werden wir wohl Gnade für Recht ergehen lassen müssen. – Eben hält der Zug; ich glaube, wir sind jetzt in Clapham, und in zehn Minuten kommen wir nach der Viktoria-Station. Wenn Sie uns begleiten wollen, Herr Oberst, um bei mir zu Hause eine Zigarre zu rauchen, werde ich Ihnen mit Vergnügen noch alle übrigen Einzelheiten mitteilen, die Sie etwa zu wissen wünschen.«

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Das Landhaus in Hampshire

Das Landhaus in Hampshire

Lachend legte Holmes die letzte Nummer des »Telegraph« aus der Hand. Eine gute Zigarre – hm, das wäre auch für ihn jetzt kein schlechter Gedanke. Er angelte mit dem Fuß den Rauchtisch näher heran, schnupperte in den verschiedenen Kistchen herum und wählte endlich eine schwarze Brasil aus, die er mit Wohlgefallen zu rauchen begann.

Endlich kehrte Watson zurück. »Man kommt kaum vom Fleck vor Nebel«, sagte er.

»Nun – ging alles gut mit dem Kind?« erkundigte sich Holmes.

»Danke, besser als ich dachte. Es gab ein paar tüchtige Schrammen zu nähen, aber die Kleine hielt ganz tapfer stand.«

»Du warst so lange weg«, meinte Holmes.

»Ja, weißt du, ich habe mir dann den Mann gleich vorgeknöpft, der das Kind angefahren hat. Da war nämlich nicht mal ’n Stück Brot im Hause bei der Kleinen.«

»Und hattest du Erfolg?«

»Ja – man konnte ganz vernünftig mit ihm sprechen. Aber du, Holmes, womit hast du dir inzwischen die Zeit vertrieben?«

»Oh – mir war es durchaus nicht langweilig. Ich habe Zeitungsartikel gelesen – höchst interessante Artikel!«

Watson warf einen etwas verlegenen Blick auf die durcheinandergeratenen Nummern des »Telegraph«.

»Ja – so kommt alles ans Licht, mein lieber Watson«, sagte Holmes und zwinkerte lustig mit den Augen. »Aber du hast deine Sache nicht so übel gemacht. Vor allem hat es mir wirklich gefallen, daß du dabei nicht den alleinigen Wert auf die sensationellen Fälle gelegt hast, sondern dich auch der kleinen, wenn auch nicht alltäglichen Fälle angenommen hast. Denn sie sind es ja, die mir meist mehr Gelegenheit zu den streng folgerichtigen Beweisführungen und Schlüssen geben, die meine eigenste Spezialität bilden.«

»Und doch«, versetzte Watson, »kann ich mich selbst nicht ganz von dem Vorwurf der Sensationssucht freisprechen, der gegen meine Berichte schon erhoben worden ist.«

»Du hast vielleicht den Fehler gemacht«, fuhr Holmes fort, während er mit einem Stückchen glühender Kohle aus dem Kamin eine neue Zigarre anbrannte, »du hast vielleicht den Fehler gemacht, daß du dich bemüht hast, allen unseren Leistungen Farbe und Leben zu verleihen, statt dich auf die Darstellung meiner streng logischen Schlußfolgerungen von der Ursache auf die Wirkung zu beschränken, die in Wirklichkeit das einzig Bemerkenswerte an der ganzen Sache bilden.«

»Ich denke doch, ich habe dir dabei volle Gerechtigkeit angedeihen lassen«, entgegnete Watson etwas kühl, denn ihm war das starke Selbstgefühl zuwider, welches einen ziemlich ausgesprochenen Zug in Sherlock Holmes merkwürdigem Charakter bildete.

»Nein, es ist nicht Eigenliebe oder Einbildung von mir«, bemerkte Holmes darauf, indem er nach seiner Gewohnheit nicht allein Watsons Äußerung beantwortete, sondern zugleich auch das, was dieser sich dabei gedacht hatte. »Wenn ich volle Gerechtigkeit für meine Fähigkeiten verlange, so tue ich das, weil ich sie als etwas Unpersönliches – als etwas über mir Stehendes betrachte. Verbrechen kommen alle Tage vor, streng folgerichtiges Denken findet sich selten. Deshalb hättest du dich mehr bei dem letzteren aufhalten sollen. Statt einer Reihe belehrender Vorträge sind unter deiner Hand ganz gewöhnliche Geschichten entstanden.«

Watson stand auf und blickte zum Fenster hinaus. Noch immer wallte ein dicker Nebel zwischen den Häuserreihen.

»Sensationssucht«, fuhr Holmes nach einer langen Pause in seiner Vorlesung über Watsons schriftstellerische Mißgriffe fort, während er den Rauch seiner Zigarre in die Luft blies, »Sensationssucht wird man dir übrigens kaum zur Last legen können; handelt es sich doch bei einem guten Teil der Fälle, die du behandelt hast, gar nicht um Verbrechen im strengen Sinne des Wortes. Eher bist du vielleicht über dem Bestreben, dem Sensationellen aus dem Wege zu gehen, ins Alltägliche verfallen.«

»Dies läßt sich wohl manchmal von dem Ausgang sagen, die Methode aber, nach der die Behandlung der Fälle erfolgte, war stets eigenartig und interessant, dabei bleibe ich«, entgegnete Watson.

»Ach was, mein lieber Junge, was kümmert sich das Publikum, das große, oberflächliche Lesepublikum, um die feineren Schattierungen streng logischer Ableitung und Schlußfolgerung! Aber wahrhaftig, wenn deine Erzählungen trivial ausfallen, so kann man dir keinen Vorwurf daraus machen, denn die Tage der großen Fälle sind vorüber. Die Menschheit, oder zum wenigsten die Verbrecherwelt, hat alle Kühnheit und Originalität verloren. Meine eigene bescheidene Praxis befindet sich allem Anschein nach auf dem besten Wege, zu einem Fundbüro für verlorene Gegenstände und zu einer Auskunftsstelle für Schullehrerinnen herabzusinken. Schlimmer kann es übrigens jetzt wohl kaum mehr werden. Mit dieser Zuschrift, die ich heute früh erhielt, dürfte ich vermutlich beim Nullpunkt angelangt sein. Da, lies!« Damit warf Holmes mir einen ganz zerknitterten Brief hin. Er war den Abend vorher am Montague-Platz geschrieben und lautete:

Werter Herr Holmes!

Ich bin im Zweifel, ob ich eine mir angebotene Erzieherinnenstelle annehmen soll oder nicht, und möchte sehr gerne Ihren Rat in der Sache in Anspruch nehmen. Wenn ich Sie nicht störe, werde ich morgen vormittag um halb elf Uhr bei Ihnen vorsprechen.

Ihre ergebene

Violet Hunter.

»Kennst du die Schreiberin?« fragte Watson.

»Nein.«

Watson meinte: »Die Sache kann vielleicht interessanter ausfallen, als du denkst; du erinnerst dich doch der Geschichte mit dem blauen Karfunkel, die sich zuerst ganz wie eine Posse ausnahm und sich dann zu einem wichtigen Kriminalfall entwickelte. So kann es diesmal auch gehen.«

»Nun, wir wollen hoffen!« sagte Holmes. Dann trennten sie sich und gingen zur Ruhe.

Am nächsten Morgen, pünktlich zur angekündigten Stunde betrat die Schreiberin des Briefes das Haus. Es war ein junges Mädchen, einfach aber hübsch gekleidet, sie hatte ein frisches aufgewecktes Gesicht voll Sommersprossen und verriet durch ihr entschiedenes Auftreten, daß sie sich bis dahin allein hatte durch die Welt schlagen müssen.

»Sie nehmen mir doch nicht übel, daß ich Sie belästige?« begann sie, als Holmes sich erhob, um sie zu begrüßen; »aber es ist mir etwas sehr Sonderbares begegnet, und da ich keine Eltern oder sonstige Angehörige habe, die ich um Rat fragen könnte, so dachte ich, Sie wären vielleicht so freundlich, mir zu sagen, was ich tun soll.«

»Bitte, nehmen Sie Platz, Fräulein Hunter. Ich stehe Ihnen gerne in jeder Weise zu Diensten.«

Es war wohl zu sehen, daß Holmes sich von dem Wesen und der Ausdrucksweise seiner neuen Klientin angenehm berührt fühlte. Er ließ den Blick prüfend über sie hingleiten und setzte sich dann mit gesenkten Lidern und aneinandergelegten Fingerspitzen zurecht, um ihrer Geschichte zuzuhören.

»Ich war fünf Jahre lang Erzieherin in der Familie des Obersten Spence Munro«, begann sie. »Allein vor etwa zwei Monaten erhielt der Oberst einen Posten in Halifax in Neu-Schottland und nahm seine Kinder mit, so daß ich meine Stelle verlor. Längere Zeit suchte ich durch die Zeitungen nach einem passenden Platz, jedoch ohne Erfolg. Zuletzt begann die kleine Summe, die ich mir erspart hatte, auf die Neige zu gehen, und ich wußte mir nun nicht mehr zu helfen.

In dem bekannten Westawayschen Stellenvermittlungsbüro im Westend pflegte ich so ziemlich jede Woche einmal nachzufragen, ob sich nicht etwas für mich gezeigt habe. Als ich nun vorige Woche von der Inhaberin des Büros, Fräulein Stoper, in ihr Privatkontor gerufen wurde, fand ich einen Herrn an ihrer Seite sitzen. Er war von ungeheurer Körperfülle, und sein mächtiges Kinn fiel ihm in mehrfachen Falten auf die Brust herab; dabei hatte er sehr freundliche Züge und trug einen Zwicker auf der Nase, durch den er die eintretenden jungen Damen angelegentlich musterte.

Bei meinem Eintritt schnellte er förmlich von seinem Stuhl empor und wandte sich hastig zu Fräulein Stoper. ›Das ist die Rechte‹, sagte er, ›ich könnte gar nichts Besseres finden. Herrlich, herrlich!‹ Er schien ganz entzückt, rieb sich die Hände vor Vergnügen und machte einen solchen Eindruck von Wohlbehagen, daß es eine wahre Freude war, ihn anzuschauen.

›Sie wollen sich nach einer Stelle umsehen, Fräulein?‹ redete er mich an.

›Jawohl.‹

›Als Erzieherin?‹

›Ja.‹

›Und welches sind Ihre Gehaltsansprüche?‹

›In meiner letzten Stelle, bei Oberst Munro, hatte ich vier Pfund monatlich.‹

›Oh, ho, ho! Eine wahrhaft schlechte Bezahlung!‹ rief er, mit seinen fetten Händen in der Luft herumfahrend, als befände er sich in höchster Aufregung. ›Wie kann man nur einer Dame von so hervorragenden Eigenschaften und Leistungen eine so lächerliche Summe bieten!‹

›Meine Leistungen sind doch vielleicht nicht so bedeutend, als Sie glauben‹, bemerkte ich. ›Etwas Französisch, etwas Deutsch, Musik und Zeichnen.‹ –

›Ach, das kommt bei mir alles nicht in Frage‹, rief er. ›Ob Sie Erscheinung und Benehmen einer Dame von Stand haben oder nicht, darauf allein kommt es an. Ist dies nicht der Fall, so eignen Sie sich nicht zur Erziehung eines Kindes, dem eines Tages vielleicht eine wichtige Rolle in der Geschichte des Landes zufallen wird. Trifft es aber zu, wie konnte Ihnen dann ein anständiger Mann zumuten, sich mit weniger als hundert Pfund zu begnügen? Bei mir würde Ihr Gehalt mit diesem Betrage beginnen.‹

Sie können sich vorstellen, Herr Holmes, daß mir in meiner bedrängten Lage dies Angebot so verlockend erschien, daß ich kaum meinen Ohren traute. Der Herr jedoch, der vielleicht den ungläubigen Ausdruck auf meinem Gesicht bemerkte, nahm nun eine Banknote aus seiner Brieftasche.

›Es ist außerdem meine Gewohnheit‹, fuhr er fort und verzog dabei sein Gesicht zu einem so liebenswürdigen Lächeln, daß seine Augen nur noch wie zwei glänzende Streifen zwischen den sie umgebenden Falten hervorblitzten, ›meinen jungen Damen die Hälfte ihres Gehaltes im voraus einzuhändigen, damit ihnen die kleinen Auslagen für die Reise und für ihre Garderobe nicht schwer fallen.‹

Eine derartige Liebenswürdigkeit und Rücksicht war mir, soweit ich mich erinnern konnte, in meinem ganzen Leben noch nirgends vorgekommen. Da ich bereits Schulden bei meinen Bekannten hatte, so kam mir der Vorschuß sehr gelegen; aber trotzdem lag etwas Unnatürliches in dem ganzen Handel, das in mir den Wunsch erweckte, noch einiges Nähere zu erfahren, ehe ich mich völlig band.

›Darf ich fragen, wo Sie wohnen?‹ fragte ich.

›Hampshire – Copper Beeches; reizender Landsitz fünf Meilen hinter Winchester. Sie können sich keine anmutigere Gegend, keinen netteren Wohnsitz denken, mein liebes Fräulein.‹

›Und worin würde meine Arbeit in Ihrem Hause bestehen? Darüber möchte ich doch auch gerne etwas erfahren.‹

›Es handelt sich um ein einziges Kind, es ist ein kleiner, lieber Bengel von genau sechs Jahren. Wenn Sie sehen könnten, wie er Schwaben und andere Käfer mit dem Pantoffel totschlägt! Klatsch, klatsch! geht es, und im Nu sind sie kaput.‹ Dabei lehnte er sich in den Stuhl zurück und lachte wieder, daß seine Augen völlig verschwanden.

Ich war nicht wenig verdutzt über den eigentümlichen Zeitvertreib des Kindes, allein da dessen Vater so darüber lachte, dachte ich, er mache vielleicht Scherz.

›Meine einzige Aufgabe wäre also‹, fragte ich weiter, ›für das eine Kind zu sorgen?‹

›Nein, nein, das ist nicht alles!‹ rief er. ›Sie wären außerdem verpflichtet, was Sie ja gewiß als selbstverständlich betrachten würden, den Weisungen von seiten meiner Frau nachzukommen, vorausgesetzt natürlich, daß sich das alles im Rahmen dessen hält, was man von einer gebildeten jungen Dame erwarten kann. Dagegen haben Sie doch kein Bedenken, wie?‹

›Es wird mir ein Vergnügen sein, mich nützlich machen zu können.‹

›Nun, ja, dann wollte ich noch mit Ihnen wegen der Kleidung sprechen. Wir sind wunderliche Leute, wissen Sie – wunderlich, aber gutmütig. Falls wir von Ihnen verlangten, ein Kleid von uns anzuziehen, so würden Sie keinen Einwand gegen diesen kleinen Wunsch erheben, nicht wahr?‹

›Nein‹, erwiderte ich, ziemlich erstaunt über diese Äußerung.

›Oder sich dahin und dorthin zu setzen – daran würden Sie doch keinen Anstoß nehmen?‹

›O nein.‹

›Oder vor Ihrem Eintritt bei uns Ihr Haar ganz kurz abzuscheiden?‹

Ich traute meinen Ohren kaum. Wie Sie vielleicht bemerken, Herr Holmes, ist mein Haar sehr stark und hat eine ganz besondere kastanienbraune Färbung, die schon oft Beachtung gefunden hat. Es fiel mir deshalb nicht ein, es so kurzer Hand einfach zu opfern.

›Ich bedaure, aber das geht nicht‹, erwiderte ich. Er hatte seine kleinen Augen voll gespannter Erwartung auf mich geheftet, und ich sah, wie bei meiner Antwort ein Schatten über seine Züge flog.

›Leider ist dieser Punkt ganz wesentlich‹ sagte er. ›Es ist das eine kleine Grille von meiner Frau, und auf weibliche Grillen muß man Rücksicht nehmen, wissen Sie, Fräulein. Also, Sie wollen Ihr Haar wirklich nicht abschneiden?‹

›Nein, dazu könnte ich mich unmöglich entschließen‹, antwortete ich fest.

›So, dann muß ich leider verzichten. Es ist schade, denn Sie würden sonst wirklich sehr hübsch gepaßt haben. Unter diesen Umständen, Fräulein Stoper, möchte ich gerne noch ein paar von Ihren jungen Damen sehen.‹

Die Vermittlerin hatte sich die ganze Zeit über mit ihren Papieren zu schaffen gemacht, ohne an eines von uns beiden ein Wort zu richten, allein nun warf sie mir einen so unfreundlichen Blick zu, daß ich nicht anders annehmen konnte, als ich habe sie durch meine abschlägige Antwort um eine recht gute Vermittlungsgebühr gebracht.

›Wünschen Sie noch länger vorgemerkt zu bleiben?‹ fragte sie mich.

›Bitte, ja, Fräulein Stoper.‹

›Nun, das wird wohl keinen großen Wert haben, da Sie die besten Angebote in dieser Weise ausschlagen. Sie können doch kaum von uns erwarten, daß wir uns noch viele Mühe geben werden, Ihnen nochmals eine solche Gelegenheit zu verschaffen. Guten Tag, Fräulein Hunter.‹ Damit war ich verabschiedet.

Als ich nun wieder zu Hause war, Herr Holmes, und dort nichts vorfand als ein paar Rechnungen auf dem Tisch, die ich nicht bezahlen konnte, da begann ich mir doch die Frage vorzulegen, ob ich nicht einen dummen Streich gemacht hätte. Denn schließlich, wenn diese Leute absonderliche Launen hatten und höchst merkwürdige Dinge von einem verlangten, so zahlten sie auch gehörig dafür. Hundert Pfund im Jahre verdienen nur sehr wenige Erzieherinnen in England. Und dann, was nützten mir meine Haare? Es gibt viele, denen sie kurz geschnitten besser stehen; vielleicht gehöre ich auch zu dieser Zahl. Am nächsten Tage neigte ich bereits sehr der Auffassung zu, daß ich einen Fehler begangen hätte, und am dritten war ich fest davon überzeugt. Ich hatte meinen Stolz schon beinahe so weit überwunden, daß ich nochmals auf dem Büro nachfragen wollte, ob die Stelle noch offen sei, als ich von dem Herrn selbst diesen Brief hier erhielt. Ich will ihn vorlesen:

The Copper Beeches bei Winchester.

Wertes Fräulein!

Fräulein Stoper war so freundlich, mir Ihre Adresse zu geben; ich schreibe Ihnen deshalb von hier aus, um bei Ihnen anzufragen, ob Sie sich Ihren Entschluß noch einmal überlegt haben Meine Frau wünscht sehr, daß Sie bei uns eintreten; sie ist ganz entzückt von der Schilderung, die ich ihr von Ihnen gemacht habe. Wir sind bereit, 30 Pfund das Vierteljahr, also jährlich 120 Pfund zu geben, um Sie für alle Unannehmlichkeiten, die Ihnen etwa aus unseren Grillen erwachsen könnten, schadlos zu halten. Im Grunde wollen diese letzteren übrigens gar nicht so viel bedeuten. Meine Frau hat eine Vorliebe für eine ganz bestimmte Schattierung von bleu électrique und wünscht deshalb, daß Sie morgens im Hause ein Kleid von dieser Farbe tragen. Sie brauchen sich jedoch ein solches nicht anzuschaffen, da wir selbst eines besitzen, das meiner zur Zeit in Philadelphia befindlichen lieben Tochter gehörte, und das Ihnen vermutlich vollkommen passen wird. Unsere besonderen Wünsche wegen des Ortes, wo Sie sich hinsetzen, oder wegen der Art, wie Sie sich die Zeit vertreiben sollen, werden Ihnen keinerlei Unannehmlichkeiten verursachen. Was Ihr Haar betrifft, so ist es schade darum; mir selbst ist während unseres kurzen Zusammenseins dessen Schönheit aufgefallen, allein leider muß ich auf diesem Punkte unwiderruflich beharren und will nur hoffen, daß Sie in der Erhöhung Ihres Gehalts einen Ersatz für den Verlust finden. Ihre Pflichten bei dem Kinde sind nicht schwer. Also machen Sie den Versuch; ich werde Sie von Winchester in meinem Wagen abholen. Lassen Sie mich wissen, mit welchem Zuge Sie eintreffen.

Ihr ergebener

Jephro Rucastle.

Dies ist der Brief, und ich bin entschlossen, die Stelle anzunehmen. Ehe ich jedoch den entscheidenden Schritt tue, wollte ich gerne die ganze Angelegenheit noch Ihrer Erwägung unterbreiten.«

»Wenn Sie sich bereits entschlossen haben, Fräulein Hunter, so ist die Frage ja schon entschieden«, meinte Holmes lächelnd.

»Sind Sie denn der Ansicht, ich sollte lieber abschreiben?«

»Hätte eine Schwester von mir Aussicht auf diese Stelle, so wäre mir dies nicht gerade erwünscht, das muß ich gestehen.«

»Wie soll man sich nur alles erklären, Herr Holmes?«

»Ohne nähere Anhaltspunkte möchte ich keine Vermutung aussprechen. Vielleicht haben Sie sich selbst eine Ansicht darüber gebildet?«

»Ich kann mir nur eine einzige Erklärung dafür denken. Herr Rucastle machte einen sehr freundlichen, gutmütigen Eindruck. Wäre es nicht möglich, daß seine Frau verrückt ist, und daß er dies geheim zu halten sucht, damit sie nicht etwa in eine Anstalt verbracht wird, und daß er ihren tollen Launen in jeder Weise entgegenkommt, um einem Ausbruch vorzubeugen?«

»Diese Erklärung hat, wie die Sache liegt, in der Tat am meisten für sich. So viel ist jedenfalls sicher, daß eine solche Häuslichkeit nichts Anziehendes für eine junge Dame hat.«

»Aber das Gehalt, Herr Holmes, das Gehalt!«

»Nun ja, freilich, die Bezahlung ist gut – zu gut; das ist es gerade, was mir nicht behagen will. Warum bezahlt man Ihnen 120 Pfund im Jahr, während unter gewöhnlichen Verhältnissen 40 Pfund vollauf genügen? Dahinter muß ein ganz gewichtiger Grund stecken.«

»Ich dachte, es wäre gut, Sie in die Verhältnisse einzuweihen, damit Sie wissen, um was es sich handelt, falls ich später einmal Ihrer Hilfe bedürfen sollte. Das Bewußtsein, daß Sie hinter mir stehen, würde mir viel mehr Mut verleihen.«

»Nun, dieses Bewußtsein dürfen Sie getrost mitnehmen. Ich versichere Ihnen, daß Ihr kleines Problem das interessanteste zu werden verspricht, das mir seit mehreren Monaten vorgekommen ist. Es bietet einige Züge ganz besonderer, überraschender Art. Sollten Sie sich je einmal in Zweifel oder in Gefahr befinden –«

»Gefahr? – Was für eine Gefahr denken Sie sich als möglich?«

Holmes schüttelte ernst den Kopf. »Könnten wir uns darüber bestimmt aussprechen, so wäre es ja keine Gefahr mehr. Doch es bedarf nur eines Telegramms, und ich werde zu jeder Tages- oder Nachtstunde zu Ihrem Beistand bereit sein.«

»Das genügt.« Damit erhob sie sich frisch und munter, und ihre Züge zeigten keine Spur von Ängstlichkeit mehr. »Nun gehe ich ganz guten Mutes meiner neuen Bestimmung entgegen. Ich werde Herrn Rucastle unverzüglich schreiben, mein Haar heute abend opfern und morgen nach Winchester fahren.«

»Die junge Dame scheint mir Manns genug zu sein, sich selbst zu beschützen«, bemerkte Watson, als ihre raschen, festen Schritte auf der Treppe verklangen.

»Sie wird es wohl auch tun müssen«, erwiderte Holmes ernst; »wenn ich mich nicht sehr täusche, werden wir schon in wenigen Tagen Nachricht von ihr erhalten.«

Es dauerte auch gar nicht lange, so ging seine Vorhersagung in Erfüllung. Während der nächsten vierzehn Tage ertappte Watson häufig seine Gedanken auf der Wanderung zu dem alleinstehenden Mädchen, das vom Schicksal auf einen so rätselhaften Irrweg verschlagen worden war. Das ungewöhnlich hohe Gehalt, die sonderbaren Bedingungen, die leichten Obliegenheiten – dies alles war ganz gegen die Regel, und doch konnte er schlechterdings nicht mit sich darüber ins reine kommen, ob es sich dabei nur um eine verrückte Laune oder um einen verbrecherischen Zweck handelte, und ob der Mann ein philanthropischer Schwärmer oder ein Schurke war. Holmes saß oft eine halbe Stunde lang mit gerunzelten Brauen in tiefes Nachdenken versunken da; fing Watson jedoch von der Sache an, so winkte er immer ab. »Tatsachen, Tatsachen!« rief er ungeduldig aus. »Ich muß doch vor allem festen Grund unter den Füßen haben.« Wenn er sich aber dann erhob, machte er jedesmal die Bemerkung, seiner eigenen Schwester würde er niemals gestattet haben, eine derartige Stelle anzunehmen. Das erwartete Telegramm traf eines Abends spät ein, als Watson eben im Begriffe war, sich zurückzuziehen, und Holmes sich anschickte, seine geliebten chemischen Untersuchungen anzustellen, die ihn die ganze Nacht festhielten; hatte Watson ihn doch schon oft abends über seine Gefäße und Gläser gebeugt verlassen und ihn am nächsten Morgen zur Frühstücksstunde noch in derselben Stellung getroffen. Er riß den gelben Umschlag auf, überflog den Inhalt der Depesche, und dann reichte er sie dem Freund.

»Sieh gleich die Züge im Kursbuch nach«, sagte er dabei, indem er sich wieder seiner Beschäftigung zuwandte. Es war eine kurze, dringende Aufforderung. Sie lautete:

Kommen Sie, bitte, morgen mittag in den »Schwarzen Schwan« in Winchester. Kommen Sie ganz bestimmt, ich weiß nicht mehr aus noch ein.

Hunter.

»Willst du mich begleiten?« fragte Holmes aufschauend.

»Ja, gerne«, antwortete Watson.

»Dann sieh nur gleich nach.«

»Ein Zug um halb zehn Uhr«, sagte der Doktor, in sein Kursbuch blickend, »trifft in Winchester um halb zwölf Uhr ein.«

»Das paßt ja ganz gut. Dann will ich meine Untersuchung hier lieber auf sich beruhen lassen, denn wir müssen morgen früh frisch und munter sein.«

Am nächsten Vormittag befanden sie sich gegen elf Uhr nicht mehr weit vom Ziele der Fahrt. Holmes hatte sich während der ganzen Zeit in die Morgenblätter vergraben. Als sie jedoch auf dem Gebiet von Hampshire angelangt waren, warf er sie beiseite, um die schöne Gegend anzusehen. Es war ein wundervoller Frühlingstag, am lichtblauen Himmel flogen weiße Federwölkchen hin, und bei dem hellen Sonnenschein lag in der Luft etwas herrlich Erfrischendes. Rings in der Runde bis zu den fernen Hügeln von Aldershot blickten überall die roten und grauen Dächer der Gehöfte aus dem zarten jungen Grün hervor.

»Wie frisch und hübsch diese Häuschen daliegen!« rief Watson mit der Begeisterung eines Menschen, der eben erst die Nebeldünste Londons hinter sich gelassen hatte.

Doch Holmes schüttelte ernst den Kopf. »Weißt du, Watson«, meinte er, »das gehört mit zu den Schattenseiten meiner Geistesanlage, daß ich immer alles unter dem Gesichtspunkte des Falles ansehen muß, der mich gerade beschäftigt. Du hast beim Anblick dieser zerstreuten Behausungen nur die Empfindung ihrer Schönheit. Ich dagegen muß immer daran denken, wie einsam sie liegen und wie leicht sich darin ein Verbrechen begehen läßt, das seiner Strafe entgeht.«

»Liebe Zeit!« rief Watson aus, »wer möchte bei diesen netten alten Heimstätten an Verbrechen denken?«

»Mich erfüllen sie stets mit einem gewissen Schauder. Nach meinen Erfahrungen bin ich fest überzeugt: die verrufensten Gassen Londons liefern keine so reiche Ausbeute an Missetaten als dieses lachende Gelände hier.«

»Das klingt ja ganz entsetzlich!«

»Und doch liegt der Grund sehr nahe. In der großen Welt tritt die öffentliche Meinung ergänzend ein, wo die Macht des Gesetzes nicht ausreicht. Da gibt es keine noch so elende Gasse, wo der Schmerzensschrei eines gequälten Kindes oder die rohe Gewalttat eines Trunkenbolds nicht Mitleid und Empörung bei den Nachbarn erweckte, auch sind sämtliche Werkzeuge der Rechtspflege jederzeit so bei der Hand, daß ein Wort der Klage hinreicht, um sie in Bewegung zu setzen, und es ist nur ein Schritt vom Verbrechen zum Gefängnis. Betrachte dagegen diese einsamen Häuser, umgeben von eigenem Grund und Boden, bewohnt von armem, unwissendem Volk, das Gesetz und Recht kaum von ferne kennt. Stelle dir die Taten höllischer Grausamkeit, heimlicher Verruchtheit vor, die sich vielleicht jahraus jahrein an solchen Stätten abspielen, ohne daß eine Seele es ahnt. Wäre die Familie, bei der unsere Schutzbefohlene einzutreten hatte, in Winchester, ich würde mir niemals Sorgen um sie gemacht haben; daß sie fünf Meilen von dort entfernt auf dem Lande wohnt, darin liegt die Gefahr. Und doch ist sie selbst offenbar persönlich nicht bedroht.«

»Nein, wenn sie uns nach Winchester entgegenkommen kann, so darf sie ja ihren Aufenthaltsort ungehindert verlassen.«

»Gewiß. Ihre Freiheit ist ihr nicht genommen.«

»Was kann aber nur dahinter stecken? Weißt du denn gar keine Erklärung dafür?«

»Ich habe mir sieben verschiedene Erklärungen ausgedacht, von denen jede sich mit den Tatsachen decken würde, soweit wir sie kennen. Aber welche die richtige ist, läßt sich nur auf Grund der neuen Mitteilungen bestimmen, die wir zweifellos bekommen werden. Nun, da ist ja bereits der Turm der Kathedrale, wir werden also bald alles wissen, was Fräulein Hunter inzwischen erlebt hat.«

Das Gasthaus zum »Schwarzen Schwan«, an der Hauptstraße nicht fern vom Bahnhof gelegen, hat einen guten Ruf; dort fanden sie Fräulein Hunter bereits wartend vor. Sie hatte ein Zimmer für die beiden Herren bestellt, und auf dem Tisch stand ein Imbiß bereit.

»Ich bin so froh, daß Sie gekommen sind«, sagte sie lebhaft. »Es ist sehr gütig von Ihnen beiden, aber ich weiß auch wirklich nicht, was ich tun soll. Ihr Rat wird mir von unschätzbarem Wert sein.«

»Bitte, erzählen Sie uns Ihre Erlebnisse.«

»Das will ich, und ich muß mich damit beeilen, denn ich habe Herrn Rucastle versprochen, um drei Uhr zurück zu sein. Er erlaubte mir heute vormittag, nach der Stadt zu fahren; natürlich hatte er keine Ahnung zu welchem Zweck.«

»Erzählen Sie uns nur alles hübsch nach der Reihe«, wiederholte Holmes, indem er seine Beine am Feuer ausstreckte und sich zum Zuhören zurechtsetzte.

»Ich möchte gleich vorausschicken«, begann Fräulein Hunter, »daß mir im großen und ganzen keinerlei schlechte Behandlung von Herrn und Frau Rucastle widerfahren ist. Gerechterweise muß ich das hervorheben. Allein ich werde nicht klug aus den Leuten und fühle mich daher beunruhigt.«

»Was kommt Ihnen unverständlich vor?«

»Die Gründe für ihr Verhalten. Doch ich will Ihnen alles ganz genau berichten. Bei meiner Ankunft hier holte mich Herr Rucastle in seinem Jagdwagen nach Copper Beeches ab. Die Umgegend ist allerdings schön, wie er Wunsch an den Augen abzulesen und demselben wenn möglich zuvorzukommen. Er seinerseits ist gegen sie ebenfalls gut in seiner plumpen, ungestümen Weise, und so mußte ich sie im ganzen für ein glückliches Paar halten. Und doch hatte sie eine geheime Sorge, diese Frau. Oft saß sie ganz in Gedanken verloren mit dem allertraurigsten Ausdruck da, mehr als einmal habe ich sie in Tränen getroffen. Manchmal dachte ich schon, sie betrübe sich so über die Sinnesart ihres Knaben, denn ein so gänzlich verdorbenes, bösartiges, kleines Wesen ist mir noch nie vorgekommen. Er ist klein für sein Alter, hat aber einen ganz unverhältnismäßig großen Kopf. Ausbrüche wilder Leidenschaft und finsterer Trotz wechseln unaufhörlich bei ihm. Geschöpfe zu quälen, die schwächer sind als er, ist das einzige Vergnügen, nach dem er strebt, und für den Fang von Mäusen, kleinen Vögeln und Insekten verrät er eine ganz bemerkenswerte Begabung. Doch ich will über diesen Jungen lieber keine Worte mehr verlieren, er hat ja auch mit meiner Geschichte nur wenig zu schaffen.«

»Ich bin dankbar für alle Einzelheiten«, bemerkte Holmes, »ganz gleich, ob dieselben Ihnen wichtig erscheinen oder nicht.«

»Ich werde mich bestreben, nichts von Bedeutung zu übergehen. Das einzige Unangenehme im Hause, was mir sogleich auffiel, war das Aussehen und Benehmen der Dienerschaft. Diese besteht nur aus einem Manne und dessen Frau. Toller, so heißt er nämlich, ist ein rauher, wunderlicher Mensch mit grauem Haar und Bart und riecht beständig nach Alkohol. Zweimal schon, seit ich da bin, war er gänzlich betrunken, und doch schien Herr Rucastle sich nichts daraus zu machen. Seine Frau ist eine sehr große, starke Person mit mürrischem Gesicht, so schweigsam wie ihre Herrin, nur weit weniger liebenswürdig. Die beiden sind ein sehr unangenehmes Paar, allein glücklicherweise komme ich wenig mit ihnen in Berührung, denn ich bringe meine Zeit meist in der Kinderstube und in meinem eigenen Zimmer zu, welche ganz nahe beisammen in einem Flügel des Gebäudes liegen.

Die ersten zwei Tage nach meiner Ankunft in Copper Beeches ist mein Leben sehr ruhig verlaufen. Am dritten jedoch kam Frau Rucastle gleich nach dem Frühstück herunter und flüsterte ihrem Gatten etwas zu.

›O ja‹, sagte dieser darauf, sich zu mir wendend; ›wir sind Ihnen sehr verbunden, Fräulein Hunter, daß Sie auf unsern Wunsch eingegangen sind und sich Ihr Haar abgeschnitten haben. Ich versichere Ihnen, es hat Ihrer Erscheinung nicht im mindesten Eintrag getan. Jetzt wollen wir sehen, wie Ihnen das blaue Kleid steht. Es liegt auf Ihrem Bett, und wenn Sie es anziehen wollten, so würden wir Ihnen beide sehr dankbar sein.«

Das Kleid, das für mich bereit lag, hatte einen ganz eigentümlichen blauen Farbton, der Stoff war sehr schön, ausgezeichnet, doch verrieten unverkennbare Spuren, daß es früher schon getragen worden war. Es paßte, wie wenn mein Maß dazu genommen worden wäre. Als sich Herr und Frau Rucastle davon überzeugten, legten beide ein Entzücken an den Tag, das mir ganz unnatürlich übertrieben vorkam. Sie warteten im Wohnzimmer auf mich, einem sehr großen Raum, der die ganze Front des Hauses einnimmt und dessen drei hohe Fenster bis auf den Boden herabreichen. Am Mittelfenster, und zwar mit der Lehne dagegen, stand ein Stuhl. Auf diesen Stuhl mußte ich mich setzen, während Herr Rucastle vor mir im Zimmer auf- und abging und dabei eine ganze Reihe der tollsten Geschichten zum Besten gab, die ich je gehört habe. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie komisch das war; ich wurde schließlich ganz müde vor lauter Lachen. Frau Rucastle dagegen, die offenbar keinen Sinn für Humor besitzt, verzog den Mund nicht zum leisesten Lächeln, sondern saß, die Hände im Schoße, mit trauriger, ängstlicher Miene da. Nach einer Stunde ungefähr bemerkte Herr Rucastle plötzlich, es sei jetzt Zeit, an die täglichen Beschäftigungen zu gehen, ich könne mich wieder umkleiden und zu dem kleinen Eduard ins Kinderzimmer gehen.

Zwei Tage darauf wiederholte sich dieser ganze Vorgang unter ähnlichen Umständen. Wieder mußte ich das andere Kleid anziehen, wieder mich ans Fenster setzen, und abermals lachte ich aus vollem Halse über Herrn Rucastles tolle Geschichten, von denen er einen unerschöpflichen Vorrat besitzt, und die er unnachahmlich vorträgt. Darauf gab er mir ein Buch in die Hand, rückte meinen Stuhl ein wenig zur Seite, damit mein Schatten nicht auf das Buch falle, und bat mich, ihm aus demselben laut vorzulesen. Ich mußte irgendwo im Kapitel anfangen und las etwa zehn Minuten lang, bis er mich plötzlich mitten in einem Satze aufhören ließ und mir sagte, ich solle mich wieder umkleiden. Sie können sich denken, Herr Holmes, wie groß meine Neugier war, die Bedeutung dieser merkwürdigen Komödie zu erfahren. Soviel ich bemerkt hatte, waren beide Ehegatten stets eifrig bestrebt, meine Blicke vom Fenster abzuhalten; ich verging deshalb förmlich vor Begierde, zu sehen, was hinter meinem Rücken vorgehe. Zuerst kam mir dies unmöglich vor, allein bald verfiel ich auf ein Mittel. Mein Handspiegel war zerbrochen, und so kam mir der glückliche Einfall, ein Stück von dem Glase in meinem Taschentuch zu verstecken. Das nächstemal hielt ich mir dieses beim Lachen vor die Augen und war nun mit einiger Geschicklichkeit imstande, alles hinter mir Befindliche zu sehen. Ich muß gestehen, ich war enttäuscht, denn ich bemerkte gar nichts. Wenigstens war dies mein erster Eindruck. Beim zweiten Blicke jedoch sah ich einen Mann auf der Landstraße stehen, einen kleinen, bärtigen, grau gekleideten Mann, der nach mir herüberzuschauen schien. Da es eine Hauptverkehrsstraße ist, so sieht man dort meist Leute. Dieser Mann jedoch stand an den Zaun gelehnt, der das Grundstück umgibt, und schaute angelegentlich nach dem Fenster. Ich nahm mein Taschentuch vom Gesicht und blickte Frau Rucastle an; ihre Augen waren mit forschendem Blick auf mich gerichtet. Sie sagte nichts, aber ich bin fest überzeugt, sie hatte erraten, daß ich einen Spiegel in der Hand hielt und gesehen hatte, was hinter mir vorging. Mit einemmale stand sie auf.

›Jephro‹, sagte sie, ›da steht ein unverschämter Kerl auf der Straße, der nach Fräulein Hunter heraufschaut.‹

›Doch nicht etwa ein Bekannter von Ihnen, Fräulein Hunter?‹ fragte er.

›Nein, ich kenne niemand hier in der Gegend.‹

›Nein, welche Frechheit! Bitte, wenden Sie sich doch um und winken Sie ihm zu, er solle fortgehen.‹

›Es wäre gewiß besser, die Sache unbeachtet zu lassen.‹

›Nein, nein; wir würden ihn sonst immerfort hier herumlungern sehen. Bitte, drehen Sie sich um und winken Sie ihm ab.‹

Ich tat es, und im selben Augenblick ließ Herr Rucastle die Rolläden herab. Dies war vor einer Woche, und seither habe ich nicht mehr am Fenster sitzen und das blaue Kleid nicht mehr anziehen müssen, habe auch den Mann auf der Straße nicht mehr gesehen.«

»Bitte, fahren Sie fort«, bemerkte Holmes, »Ihre Erzählung verspricht sehr interessant zu werden.«

»Ich fürchte, sie ist recht unzusammenhängend; es kann wohl sein, daß die verschiedenen Vorfälle, auf welche ich jetzt zu sprechen komme, sehr wenig miteinander zu tun haben. Gleich am allerersten Tage führte mich Herr Rucastle an ein kleines Häuschen, das neben dem Eingang zur Küche steht. Beim Hinzutreten vernahm ich das scharfe Rasseln einer Kette und ein Geräusch, wie wenn ein großes Tier sich darin bewegte.

›Da schauen Sie hinein‹, sagte Herr Rucastle und zeigte mir eine Ritze zwischen zwei Planken. ›Ist es nicht ein Prachtexemplar?‹

Ich blickte hindurch und begegnete zwei glühenden Augen und einer Gestalt, die in unbestimmten Umrissen aus der Finsternis heraustrat.

›Haben Sie keine Angst‹, beruhigte mich mein Begleiter lachend, als er meine Gebärde des Schreckens sah, ›es ist nur Carlo, der Kettenhund. Er gehört wohl mir, aber in Wirklichkeit ist der alte Toller, mein Bedienter, der einzige, der etwas mit ihm machen darf. Er bekommt nur einmal am Tage zu fressen, und auch da nicht zuviel, so daß er jederzeit scharf ist wie Gift. Jede Nacht läßt Toller ihn los, und Gott sei dem Eindringling gnädig, der ihm zwischen die Zähne gerät. Setzen Sie um des Himmels willen nachts niemals unter irgend einem Vorwand den Fuß über Ihre Schwelle, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist.‹

Diese Warnung war auch sehr am Platze. In der übernächsten Nacht schaute ich zufällig etwa um zwei Uhr morgens aus meinem Schlafzimmerfenster. Es war eine schöne Mondnacht, und der Rasenplatz vor dem Hause strahlte fast taghell in Silberglanz. Gebannt von der friedlichen Schönheit dieses Bildes stand ich da, als ich gewahr wurde, daß sich im Schatten der Blutbuchen etwas regte. Als es in den Mondschein heraustrat, sah ich, was es war: ein riesiger Hund, so groß wie ein Kalb, von braungelber Farbe, mit hängenden Backen, schwarzer Schnauze und gewaltigen, weit vorstehenden Knochen. Er schlich langsam über den Rasen und verschwand dann wieder auf der andern Seite in der Dunkelheit. Ich glaube, kein Einbrecher wäre imstande gewesen, mir einen solchen Todesschrecken einzujagen, wie dieser furchtbare stumme Wächter.

Und nun habe ich Ihnen noch eine ganz merkwürdige Entdeckung mitzuteilen. Ich hatte mir, wie Sie wissen, in London mein Haar abschneiden lassen und verwahrte es, zu einem großen Knäuel zusammengerollt, unten in meinem Koffer. Eines Abends, nachdem das Kind zu Bett war, begann ich zum Zeitvertreib die Einrichtung meines Zimmers zu mustern und meine wenigen Habseligkeiten aufzuräumen. In meinem Zimmer stand eine alte Kommode, deren zwei oberste Schubfächer offen waren, während ich das unterste verschlossen fand. Nachdem ich die beiden oberen mit meinem Weißzeug angefüllt hatte, war sonst noch gar vieles unterzubringen, und so verdroß es mich natürlich sehr, daß ich das dritte nicht auch zur Verfügung hatte. Ich nahm an, dieses sei vielleicht nur aus Versehen verschlossen worden, deshalb zog ich meinen Schlüsselbund heraus und versuchte, es zu öffnen. Gleich der erste Schlüssel paßte, und so zog ich die Schublade auf. Es war nur ein einziger Gegenstand darinnen, aber was für einer würden Sie ganz gewiß niemals erraten. Es war mein Haarzopf.

Ich nahm ihn heraus, um ihn zu besichtigen. Die Haare hatten ganz genau die eigentümliche Farbe und die Stärke meiner eigenen. Aber dann drängte sich mir wieder die Unmöglichkeit der Sache auf. Wie konnten denn meine Haare in diese verschlossene Schublade kommen? Mit zitternden Händen öffnete ich meinen Koffer, räumte ihn aus und zog zu unterst meinen Zopf hervor. Ich legte die beiden Zöpfe nebeneinander, und ich gebe Ihnen die Versicherung, sie waren vollkommen gleich. War das nicht merkwürdig? Ich mochte mir den Kopf zerbrechen, wie ich wollte, die Sache blieb mir ein völliges Rätsel. Ich legte den fremden Zopf wieder in die Schublade, ohne Herrn Rucastle und seiner Frau gegenüber etwas von der Sache zu erwähnen, denn ich fühlte wohl, daß es nicht recht von mir gewesen war, eine Schublade zu öffnen, die sie verschlossen hatten. Ich bin von Natur eine scharfe Beobachterin, wie Sie vielleicht schon bemerkt haben, Herr Holmes, und hatte bald einen ziemlich genauen Plan des ganzen Gebäudes im Kopfe. Ein Flügel desselben schien völlig unbewohnt zu sein. Eine Tür, dem Eingang zur Behausung des Tollerschen Ehepaares gegenüber, führte zu diesem Flügel, allein sie war stets verschlossen. Eines Tages jedoch stieß ich auf der Treppe auf Herrn Rucastle, wie er, seine Schlüssel in der Hand, aus dieser Tür herauskam, und zwar mit einem so veränderten Ausdruck, daß ich den sonst so behäbigen, gemütlichen Mann kaum wieder erkannte. Seine Wangen waren gerötet, seine Brauen zornig gerunzelt, und in der Erregung traten ihm die Adern an den Schläfen weit hervor. Er verschloß die Tür und eilte hinter mir die Treppe herauf, ohne ein Wort oder einen Blick an mich zu richten.

Dies erregte meine Neugier, und ich richtete deshalb den nächsten Spaziergang, den ich mit dem Kleinen machte, so ein, daß ich dabei die Fenster an diesem Teil des Hauses im Auge hatte. Es waren vier in einer Reihe, drei davon ganz mit Staub überzogen, während an dem vierten der Laden geschlossen war. Offenbar waren die Räume, zu denen sie gehörten, sämtlich unbewohnt. Während ich auf- und abschlenderte und dabei gelegentlich einen Blick nach den Fenstern warf, kam Herr Rucastle zu mir heraus; seine Züge zeigten jetzt wieder ganz den heiteren, gemütlichen Ausdruck wie immer.

›Ach‹, redete er mich an, ›Sie müssen mich nicht für rücksichtslos halten, weil ich ohne ein Wort an Ihnen vorübergeeilt bin, mein liebes Fräulein. Ich hatte den Kopf voll Geschäftssachen.‹

Ich gab ihm die Versicherung, daß ich es ihm nicht übel genommen habe. ›Sie scheinen da oben eine ganze Reihe überzähliger Zimmer zu haben‹, fuhr ich fort, ›und an einem ist der Laden geschlossen.‹

Er sah überrascht und, wie es mir vorkam, etwas verdutzt aus über meine Bemerkung. ›Ich bin Photograph aus Liebhaberei‹, sagte er, ›und habe da oben meine Dunkelkammer eingerichtet. Aber du meine Güte, an was für eine Beobachterin wir geraten sind! Wer hätte das geglaubt; wer hätte das für möglich gehalten?‹ Seine Worte klangen scherzhaft, aber in dem Blick, den er dabei auf mich richtete, lag kein Scherz. Ich las darin wohl Argwohn und Ärger, aber nichts Spaßhaftes.

Sehen Sie, Herr Holmes, von dem Augenblick an, als mir klar wurde, daß es mit diesen Zimmern etwas auf sich habe, wovon ich nichts wissen sollte, brannte ich vor Begierde, hinter die Sache zu kommen. Es war mehr als bloße Neugier, obwohl ich auch davon mein gutes Teil besitze. Es war mehr ein Pflichtgefühl, die Empfindung, daß es zum Guten dienen werde, wenn ich mir in diese Räume Eingang verschaffe. Man spricht von weiblichem Instinkt; vielleicht war es dieser, der mir das Gefühl einflößte. Ich spähte nun emsig nach einer Gelegenheit zum Überschreiten der verbotenen Schwelle.

Beiläufig bemerkt, haben außer Herrn Rucastle auch Toller und seine Frau gelegentlich in den unbewohnten Räumen zu schaffen; einmal sah ich die beiden zusammen ein großes Bündel schmutziger Wäsche durch die Tür tragen. In den letzten Tagen trank Toller stark, so daß er gestern völlig betrunken war, und als ich die Treppe heraufkam, steckte der Schlüssel an der fraglichen Tür. Ganz sicher hatte er ihn stecken lassen. Herr Rucastle und seine Frau waren mit dem Kinde unten, und so bot sich mir die allerschönste Gelegenheit, mein Vorhaben auszuführen. Sachte drehte ich den Schlüssel im Schlosse um, öffnete die Tür und schlüpfte hindurch.

Vor mir lag ein kurzer Gang, der sich am oberen Ende rechtwinkelig fortsetzte. Um die Ecke befanden sich drei Türen in einer Reihe, von denen die erste und die dritte offen waren. Sie führten in leere, staubige, öde Zimmer, das eine mit zwei, das andere mit einem Fenster, die sämtlich derart mit Schmutz überzogen waren, daß die abendliche Helle nur trübe hindurchschimmerte. Die mittlere Tür war zu und quer herüber durch eine dicke eiserne Stange verrammelt, die an einem Ende mit einem Vorlegeschloß an einen Ring in der Wand befestigt war, am andern mit einem starken Strick. Die Tür selbst war verschlossen, und der Schlüssel abgezogen. Diese verrammelte Tür gehörte offenbar zu demselben Raum wie das Fenster mit dem geschlossenen Laden an der Außenseite, und doch konnte ich an dem hellen Streifen unten sehen, daß es drinnen nicht dunkel war. Offenbar fiel durch ein Oberlicht Helle hinein. Während ich in dem Gang stand und die unheimliche Tür betrachtete und mich dabei verwundert fragte, was das wohl bedeuten sollte, hörte ich plötzlich im Innern Schritte und sah, wie in dem schmalen, trüben Lichtstreifen, der unter der Tür durchfiel, ein Schatten sich vor- und rückwärts bewegte. Ein jäher sinnloser Schrecken faßte mich bei diesem Anblick. Meine überreizten Nerven versagten plötzlich, ich wandte mich um und rannte davon – rannte, als wäre eine gräßliche Hand hinter mir her, um mich am Saum meines Kleides zu fassen. Ich lief den Gang entlang und zu der Tür hinaus – gerade Herrn Rucastle in die Arme, der außen stand und wartete.

›So‹, sagte er lächelnd, ›also Sie waren es. Ich dachte es mir gleich, als ich die Tür offen stehen sah.‹

›Oh, ich bin so erschrocken‹, stieß ich zitternd hervor.

›Mein liebes Fräulein, mein liebes Fräulein!‹ Sie glauben gar nicht, in wie liebevollem, sanftem Ton er dies sagte. ›Und was hat Sie erschreckt, mein liebes Fräulein?‹

Aber seine Stimme klang doch ein wenig gar zu schmeichelnd. Man merkte gleich, daß er unbefangen scheinen wollte.

›Ich war so töricht und betrat den unbewohnten Flügel‹, antwortete ich. ›Aber es ist so einsam und öde dort bei dieser trüben Beleuchtung, daß mich die Angst packte, und ich eilends wieder umkehrte. Oh, es ist so schauerlich still da drinnen!‹

›Nichts sonst?‹ fragte er und sah mich dabei scharf an.

›Wieso, was meinen Sie damit?‹ fragte ich.

›Wozu glauben Sie wohl, daß ich diese Tür verschließe?‹

›Das weiß ich wirklich nicht.‹

›Nun, damit niemand hineingeht, der nichts darin zu schaffen hat. Verstehen Sie?‹ Dabei lag noch immer das liebenswürdige Lächeln auf seinen Zügen.

›Ganz gewiß, hätte ich das gewußt, ich …‹

›Nun, jetzt wissen Sie es also; und falls Sie je wieder Ihren Fuß über jene Schwelle setzen‹,– dabei verwandelte sich sein Lächeln mit einem Schlage in ein wuterfülltes Grinsen, und er stierte mich mit einem teuflischen Gesichtsausdruck an – ›so werfe ich Sie dem Hunde vor.‹

Ich war so entsetzt, daß ich nicht mehr sagen kann, was ich tat. Vermutlich bin ich an ihm vorbei auf mein Zimmer geeilt. Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf meinem Bett und bebte am ganzen Körper. Da fielen Sie mir ein, Herr Holmes. Ich hielt es nicht länger aus ohne Beistand. Es graute mir vor dem Hause, vor dem Herrn, vor der Frau, vor den Dienstboten, selbst vor dem Kinde. Wenn ich Sie nur hier hätte, dachte ich, wäre ich ganz ruhig. Ich hätte ja freilich aus dem Hause entfliehen können, allein meine Neugier war fast ebenso groß als meine Angst. Mein Entschluß war bald gefaßt: Ich wollte Ihnen telegraphieren. Ich nahm Hut und Mantel und ging nach dem ungefähr eine halbe Meile entfernten Telegraphenamt, und als ich zurückkam, war mir bereits viel leichter ums Herz. Vor dem Tor faßte mich plötzlich der schreckliche Gedanke, der Hund möchte am Ende losgelassen worden sein; doch fiel mir dann wieder ein, daß Toller sich an jenem Abend bis zur Sinnlosigkeit betrunken hatte, und er war, wie ich wußte, der einzige, der etwas mit dem gefährlichen Tier machen durfte; außer ihm würde es niemand wagen, es loszulassen. Unversehrt schlüpfte ich wieder herein und konnte die halbe Nacht nicht schlafen vor Freude bei dem Gedanken, daß Sie nun bald da sein würden. Urlaub in die Stadt erhielt ich heute früh ohne Schwierigkeit, aber ich muß vor drei Uhr zurück sein, denn Herr Rucastle geht mit seiner Frau fort auf Besuch, und sie werden den ganzen Abend ausbleiben, so daß ich nach dem Kinde sehen muß. – Jetzt habe ich Ihnen alle meine Erlebnisse erzählt, Herr Holmes, und ich wäre sehr froh, wenn Sie mir sagen könnten, was dies alles zu bedeuten hat, und vor allem, was ich tun soll.«

Holmes und Watson hatten mit atemloser Spannung diesem merkwürdigen Berichte zugehört. Nun erhob sich Holmes und schritt, die Hände in den Rocktaschen und mit dem Ausdruck tiefsten Ernstes, im Zimmer auf und ab.

»Ist Toller noch betrunken?« fragte er.

»Ja; ich hörte, wie seine Frau zu Herrn Rucastle sagte, sie könne gar nichts mit ihm anfangen.«

»Das ist gut. Und Rucastles gehen heute abend aus?«

»Ja.«

»Ist ein Keller mit gutem, festem Schloß vorhanden?«

»Jawohl. Der Weinkeller.«

»Nach meinem Dafürhalten, Fräulein Hunter, haben Sie in dieser Sache bis jetzt recht viel Mut und Umsicht bewiesen. Glauben Sie, daß Sie noch etwas Weiteres leisten könnten? Ich würde die Frage nicht an Sie richten, wenn ich Sie nicht für eine Ausnahme unter den Frauen hielte.«

»Ich will sehen, ob ich es vermag. Was ist es?«

»Wir werden gegen sieben Uhr in Copper Beeches eintreffen, mein Freund und ich. Die Rucastles sind wohl um diese Zeit bereits fort, und Toller wird hoffentlich noch nicht wieder zu sich gekommen sein. Die einzige, die dann allenfalls noch Lärm machen könnte, ist also Tollers Frau. Wenn Sie diese mit irgend einem Auftrag in den Keller schicken und ihn hinter ihr abschließen könnten, so würden Sie uns die Sache außerordentlich erleichtern.«

»Ich bin dazu bereit.«

»Gut. Nun wollen wir einmal das Ding genauer ins Auge fasten. Selbstverständlich gibt es nur eine einzige mögliche Erklärung. Sie sind hier um irgend eine andere Person vorzustellen, und diese Person selbst wird in dem Zimmer gefangen gehalten. Das liegt ja auf der Hand; und die Gefangene ist, wie ich nicht im mindesten bezweifle, die Tochter, Fräulein Alice Rucastle, wenn ich mich recht erinnere, die sich angeblich in Amerika befindet. Jedenfalls ist die Wahl auf Sie gefallen, weil Sie ganz dieselbe Größe, Figur und Haarfarbe haben. Ihr hatte man sehr wahrscheinlich das Haar abgeschnitten, und so mußten Sie das Ihrige gleichfalls opfern. Durch einen merkwürdigen Zufall sind Ihnen die Strähnen in die Hände gefallen. Der Mann auf der Straße war zweifellos ein Bekannter von ihr, oder wohl ihr Verlobter, – da Sie nun Fräulein Alices Kleider trugen und ihr so ähnlich sehen, so mußte er aus Ihrer Heiterkeit bei seinem jedesmaligen Erscheinen und dann vollends aus Ihrer Handbewegung schließen, daß seine Ungebetene völlig zufrieden sei und seine Aufmerksamkeit ferner nicht wünsche. Der Hund wird nachts losgelassen, damit ihr Verehrer keinen Versuch macht, sich mit ihr in Verbindung zu setzen. So weit ist alles ganz klar. Den ernstesten Punkt bildet der Charakter des Kindes.«

»Was in aller Welt hat denn das damit zu tun?« rief der Doktor aus.

»Mein lieber Watson, wenn du dir in deinem Beruf als Arzt über die Neigungen eines Kindes Aufschluß verschaffen willst, so studierst du jedesmal dessen Eltern. Siehst du denn nicht ein, daß das umgekehrte Verfahren ganz dieselbe Berechtigung hat? Ich habe oft und viel wirkliches Verständnis für den Charakter der Eltern erst durch das Studium ihrer Kinder gewonnen. Dieses Kind hat einen abnormen Hang zur Grausamkeit, und mag dieser nun von seinem stets lächelnden Vater herrühren, wie ich vermute, oder von seiner Mutter – jedenfalls bedeutet er nichts Gutes für das arme Mädchen, das sich in ihrer Gewalt befindet.«

»Sie haben ganz gewiß recht, Herr Holmes«, rief Fräulein Hunter aus. »Es fallen mir jetzt tausenderlei Dinge wieder ein, die mir beweisen, daß Sie das Richtige getroffen haben. Wir wollen keinen Augenblick verlieren, um dem armen Geschöpf zu Hilfe zu kommen.«

»Wir müssen vorsichtig zu Werke gehen, denn wir haben es mit einem ganz geriebenen Patron zu tun«, versetzte Holmes. »Vor sieben Uhr können wir nichts beginnen. Um diese Stunde werden wir bei Ihnen eintreffen, und dann wird das Rätsel bald gelöst sein.«

Ganz pünktlich um sieben Uhr fanden sich Holmes und Watson ein, – den Wagen hatten sie in einem Wirtshaus an der Straße eingestellt. An der Baumgruppe mit ihrem dunkeln Laub, das jetzt im Licht der sinkenden Sonne einen blinkenden Metallglanz ausstrahlte, würden sie das Haus sofort erkannt haben, auch wenn Fräulein Hunter nicht freundlich lächelnd an der Haustreppe gestanden hätte.

»Haben Sie es ausgeführt?« fragte Holmes.

Ein lautes heftiges Pochen drang von unterhalb des Treppenhauses herauf. »Das ist Frau Toller im Keller«, sagte sie, »ihr Mann liegt schnarchend auf der Küchenbank. Hier sind seine Schlüssel; er hat ganz die gleichen wie Herr Rucastle.«

»Sie haben Ihre Sache wirklich gut gemacht«, rief Holmes erfreut aus. »Nun gehen Sie voran, und wir werden dieser dunkeln Geschichte bald auf den Grund kommen.«

Sie stiegen die Treppe hinauf, schlossen die Tür auf und gingen den Gang entlang, bis sie vor der verrammelten Tür standen, die Fräulein Hunter beschrieben hatte. Holmes schnitt den Strick durch und nahm die vorgelegte Stange weg. Dann probierte er verschiedene Schlüssel im Schloß, aber ohne Erfolg. Drinnen vernahm man keinen Laut, und bei dieser Stille verdüsterten sich Holmes Züge. »Ich will nicht hoffen, daß wir zu spät kommen«, sagte er. »Wir wollen lieber ohne Sie hineingehen, Fräulein Hunter. Nun, Watson, stemme einmal deine Schulter an, dann werden wir ja sehen, was sich ausrichten läßt.« Es war eine alte, wackelige Tür, die dem vereinten Druck sofort nachgab. Zusammen drangen sie in das Zimmer ein. Es war leer. Ein schmales Feldbett, ein kleiner Tisch und ein Korb mit Wäsche bildeten die ganze Einrichtung. Das Oberlicht stand offen, und die Gefangene war fort. »Hier ist eine Schurkerei vorgegangen«, sagte Holmes, »der saubere Herr hat Fräulein Hunters Absichten erraten und sein Opfer fortgebracht.«

»Aber wie?«

»Durch das Oberlicht. Wir werden bald sehen, wie er es angestellt hat.« Damit schwang er sich auf das Dach hinauf. »Oh ja«, rief er aus, »hier schaut eine lange, leichte Leiter über die Dachrinne empor; mit dieser hat er die Sache ausgeführt.«

»Aber das kann ja nicht sein«, bemerkte Fräulein Hunter, »die Leiter stand noch nicht da, als die Rucastles fortgingen.«

»Dann ist er zu diesem Zweck noch einmal heimgekommen. Ich sage Ihnen, er ist ein schlauer, gefährlicher Mensch. Es sollte mich auch gar nicht wundern, wenn es sein Tritt wäre, den ich eben auf der Treppe höre. Ich glaube, Watson, du wirst gut tun, deine Pistole bereit zu halten.«

Kaum waren diese Worte aus seinem Munde, als ein sehr dicker, aufgedunsener Mann, mit einem schweren Stock in der Hand, unter der Tür des Zimmers erschien. Fräulein Hunter schrie laut auf bei seinem Anblick und drückte sich an die Wand, Holmes dagegen sprang vor und trat ihm gegenüber.

»Wo ist Ihre Tochter?« fragte er.

Der dicke Mann sah sich ringsum und schaute dann nach dem Oberlicht hinauf.

»Diese Frage muß ich an euch richten, ihr Spitzbuben und Diebe! Aber jetzt habe ich euch gefangen. Ihr seid in meinen Händen. Ich will euch heimleuchten!« Damit wandte er sich um und eilte die Treppe hinunter, was er laufen konnte.

»Er holt den Hund«, rief Fräulein Hunter.

»Ich habe meinen Revolver«, sagte Watson.

»Wir wollen lieber die Haustür schließen«, schlug Holmes vor, und sofort stürmten alle zusammen die Treppe hinunter. Kaum hatten sie den Hausgang erreicht, als sie das Bellen eines Hundes und gleich darauf einen kläglichen Hilferuf vernahmen. Ein ältlicher Mann mit rotem Gesicht und schlotternden Gliedern trat taumelnd aus einer Nebentür und rief: »Wer hat den Hund losgemacht? Seit zwei Tagen hat er nichts zu fressen bekommen. Schnell, schnell zu Hilfe, ehe es zu spät ist!«

Watson stürzte mit Holmes zur Tür hinaus und um die Hausecke herum, Toller hinterdrein. Eine gewaltige, heißhungrige Bestie hatte ihre schwarze Schnauze in Herrn Rucastles Hals gegraben, der sich ächzend am Boden wand. Watson lief hinzu und jagte dem Hund eine Kugel durch den Kopf. Er stürzte zusammen, aber seine scharfen, weißen Zähne steckten noch in den mächtigen Falten von Rucastles Hals. Mit vieler Mühe brachten sie beide auseinander und trugen den Verwundeten zwar lebend, aber schauerlich zugerichtet ins Haus. Sie legten ihn auf das Sofa im Wohnzimmer, und nachdem der inzwischen wieder nüchtern gewordene Toller mit der Botschaft von dem Vorfall an seine Frau abgeschickt war, tat Watson alles, was er vermochte, um die Qual des Verwundeten zu lindern. Sie standen alle um ihn herum, als die Tür aufging und eine große, hagere Frauensperson ins Zimmer trat.

»Frau Toller!« rief Fräulein Hunter.

»Ja, Fräulein. Als Herr Rucastle heimkam, ließ er mich zuerst heraus, ehe er zu Ihnen hinaufging. Ach, Fräulein, es ist schade, daß Sie mich Ihre Absichten nicht wissen ließen; ich würde Ihnen gesagt haben, daß Sie sich vergebliche Mühe machen.«

»So«, rief Holmes und blickte sie scharf an, »offenbar weiß Frau Toller mehr von der Sache als irgend sonst jemand.«

»Jawohl, und ich sage auch ganz gerne, was ich weiß.«

»Dann, bitte, setzen Sie sich und lassen Sie es uns hören, denn ich gestehe, mehrere Punkte sind mir noch nicht ganz klar.«

»Ich würde Ihnen längst alles auseinandergesetzt haben, hätte ich nur aus dem Keller herausgekonnt. Falls die Sache etwa vor Gericht kommen sollte, so vergessen Sie nicht, daß ich mich auf Ihre Seite gestellt und es auch mit Fräulein Alice gut gemeint habe.

Seit der Wiederverheiratung ihres Vaters hat sich Fräulein Alice zu Hause nicht mehr glücklich gefühlt. Sie sah sich immer zurückgesetzt und durfte nicht viel dreinreden, aber eigentlich schlimm erging es ihr erst, als sie sich mit Herrn Frowler verlobte. Soviel ich gehört habe, besaß Fräulein Alice nach dem Testament ihrer Mutter gewisse Ansprüche, aber sie war viel zu sanft und gutmütig, um sie geltend zu machen, und ließ alles in Herrn Rucastles Händen. Der wußte wohl, daß er mit ihr machen konnte, was er wollte; als jedoch die Möglichkeit eintrat, daß ein Ehemann kam und alles verlangte, was er nach dem Gesetz beanspruchen konnte, da hielt es ihr Vater an der Zeit, einen Riegel vorzuschieben. Er verlangte von ihr, sie solle ein Schriftstück ausstellen, wonach ihm die Nutznießung an ihrem Vermögen zustehe, sie möge heiraten oder nicht. Als sie das nicht tun wollte, quälte er sie so lange, bis sie ein Nervenfieber bekam, so daß sie sechs Wochen lang am Rande des Grabes schwebte. Zwar erholte sie sich endlich, aber sie war zu einem Schatten abgezehrt, und ihr schönes Haar hatte man ihr abgeschnitten. Doch das machte ihrem Bräutigam alles nichts aus, und er blieb ihr so treu wie nur einer.«

»Durch Ihre freundlichen Mitteilungen«, sagte Holmes, »haben Sie nunmehr die Sache so weit aufgeklärt, daß ich mir das übrige vollends denken kann. Nicht wahr, Herr Rucastle ging darauf zu seinem Einsperrungssystem über?«

»Jawohl.«

»Und holte Fräulein Hunter von London, um sich den unbequemen Herrn Frowler vom Halse zu schaffen?«

»So ist es.«

»Allein Herr Frowler«, fuhr Holmes fort, »belagerte das Haus mit der Zähigkeit eines echten Liebhabers und verstand es, durch klingende oder anderweitige Beweisgründe Sie in sein Interesse zu ziehen – nicht wahr?«

»Herr Frowler war ein sehr freundlicher, freigebiger Herr«, erwiderte Frau Toller gelassen.

»Und auf diese Weise sorgte er dafür, daß Ihr guter Mann stets reichlich zu trinken erhielt, und daß die Leiter bereit stand, sobald Ihr Herr das Haus verlassen hatte.«

»Sie haben es getroffen, Herr, gerade so ist es gegangen.«

»Wir sind Ihnen wirklich Anerkennung schuldig, Frau Toller«, sagte Holmes, »denn Sie haben uns über alle Punkte, die noch dunkel waren, volle Aufklärung verschafft. Da kommt ja auch der Distriktsarzt mit Frau Rucastle; mir scheint, es wird wohl jetzt das beste sein, wir bringen Fräulein Hunter nach Winchester zurück, da sowohl ihr wie unser ferneres Verbleiben im Hause keinen ersichtlichen Zweck mehr hat.« –

So klärte sich also das Geheimnis des unheimlichen Hauses mit den Blutbuchen am Tore auf. Herr Rucastle kam zwar mit dem Leben davon, blieb jedoch für immer ein gebrochener Mann, der sein Dasein lediglich der aufopfernden Pflege seiner Gattin verdankte. Sie wohnen noch immer mit ihren alten Dienstboten zusammen, welche so viel von Herrn Rucastles Vergangenheit wissen, daß er sich nicht entschließen kann, sich von ihnen zu trennen. Herr Frowler und seine Braut ließen sich gleich am Tage nach ihrer Flucht in Southampton trauen; er bekleidet jetzt einen Beamtenposten auf der Insel Mauritius. Was Fräulein Violet Hunter betrifft, so legte Sherlock Holmes zu Watsons ziemlich lebhafter Enttäuschung kein Interesse mehr für sie an den Tag, sobald das Problem gelöst war, in dessen Mittelpunkt sie gestanden hatte.

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Einleitung

Die Haushälterin hatte eben den Nachmittagstee hereingebracht. Nun zog sie die Vorhänge vor den Fenstern zu und zündete die Stehlampe an, die ein warmes Licht über den gedeckten Tisch warf. Das Feuer im Kamin verbreitete eine angenehme Wärme. Doktor Watson saß in einem bequemen Sessel und las, als sich die Türe öffnete und Sherlock Holmes eintrat. »Das ist heute mal wieder ein Nebel!« sagte er und rieb sich die Hände vor dem Feuer warm. »Ein scheußliches Wetter draußen! Keinen Hund möchte man da hinausjagen!« Dann wandte er sich dem Hausgenossen zu: »Was liest du denn da so interessiert, Doktor?«

Watson legte rasch, fast in leichter Verlegenheit, die Blätter beiseite. Es waren eine Anzahl fortlaufender Nummern des »Telegraph«.

»Ach, nichts weiter«, sagte er in offensichtlichem Bemühen, der Sache keine weitere Bedeutung zuzuschreiben. »Komm, setz dich lieber her und trinke gleich einen heißen Tee, wenn du so ausgefroren bist.«

Damit füllte er ihm eine Tasse, rückte einen Sessel zurecht und bot ihm einen Teller mit belegten Broten an. Kaum hatte Holmes sich gesetzt, so klingelte es. Sie stellten beide zugleich, wie auf Verabredung, ihre Tassen nieder und lauschten.

War es ein Besuch oder ein Ruf? Und wem von ihnen beiden mochte er gelten?

Dr. Watson hatte zwar seit seiner Rückkehr aus dem afghanischen Feldzug, an dem er als Militärarzt teilnahm, offiziell noch keine Praxis aufgenommen. Aber es kam doch vor, daß er gelegentlich, etwa bei Unglücksfällen, zur dringenden Hilfeleistung geholt wurde und sie dann selbstverständlich nicht verweigerte.

Die Haushälterin kam herein. »Ein Kind ist überfahren worden, Herr Doktor – –«

»Ich komme«, unterbrach Watson ihren Bericht und stand sofort auf. Ein Mensch in Gefahr – da wurde jede Frage nach Zeit und Wetter gleichgültig für ihn. Er eilte hinaus, und Holmes hörte noch, wie er draußen mit einem Mädchen verhandelte, sich Name und Wohnung sagen ließ, während er alles Nötige zur Hilfeleistung einpackte. Gleich darauf fiel die Haustüre ins Schloß. Frau Hudson kam mit ihrem schweren Schritt die Treppe herauf und verschwand in der Küche.

Es war wieder still geworden im Hause. Nichts war mehr zu hören, als das Aufflackern des Feuers im Kamin. Der Lärm der Straße und der vorbeifahrenden Wagen drang nur gedämpft herauf, wie etwas Fernes, das die Abgeschlossenheit dieses Raumes nicht stören konnte.

Sherlock Holmes hatte seinen Tee getrunken. Nun saß er in behaglicher Entspannung zurückgelehnt in seinem Sessel und blickte gedankenverloren den blauen Wolken seiner Pfeife nach. Da fiel sein Blick auf die Zeitungen, die Watson achtlos liegengelassen hatte und er griff danach. Zuerst blieb sein Blick auf einem Artikel haften, in dem jemand sich weit und breit über die Notwendigkeit frühzeitiger Zahnpflege beim Kleinkind ausließ, dann folgte ein Bericht über den Stand der übertragbaren Krankheiten. Fachsimpelei, die nur Watson angeht, dachte Holmes und war schon im Begriff, den »Telegraph« wieder wegzulegen, als er plötzlich seinen eigenen Namen darin entdeckte. »Aha, Watson scheint mal wieder unter die Schriftsteller gegangen zu sein!« murmelte Holmes vor sich hin. Er überflog einige Spalten, lächelte, legte die Pfeife aus der Hand, setzte sich bequem zurecht, suchte den Anfang und las:

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Das getupfte Band

Das getupfte Band

Wenn ich meine Aufzeichnungen von den vielen absonderlichen Fällen überblicke, an denen ich während der letzten Jahre das Verfahren meines Freundes Sherlock Holmes studiert habe, so finde ich darunter manche von tragischer, einige auch von komischer Art; viele lassen sich einfach nur als merkwürdig bezeichnen, aber keiner als alltäglich; denn da Holmes sich bei seiner Tätigkeit weit mehr von der Liebe zu seinem Beruf als von materiellem Gewinn bestimmen ließ, so lehnte er seine Mitwirkung stets ab, wenn die Nachforschungen sich nicht auf einen ungewöhnlichen oder geradezu rätselhaften Vorgang richteten. Unter all diesen verschiedenartigen Fällen weiß ich mich jedoch keines zu entsinnen, der eine gleiche Fülle merkwürdiger Züge dargeboten hätte, wie der, welcher in der bekannten Familie der Roylotts von Stoke Moran in Surrey spielte. Dieses Ereignis fiel in die erste Zeit unseres gemeinsamen Junggesellenlebens in der Bakerstraße. Ich würde es vielleicht früher schon veröffentlicht haben, wäre mir nicht Stillschweigen darüber auferlegt gewesen – eine Pflicht, von der mich erst jetzt der Tod der Dame entbunden hat, in deren Interesse jenes Versprechen gegeben worden war. Vielleicht ist es ganz gut, daß der wahre Sachverhalt jetzt ans Licht kommt, denn wie ich hörte, haben sich über den Tod des Dr. Grimesby Roylott in weiten Kreisen Gerüchte verbreitet, die jene Ereignisse noch gräßlicher ausmalten, als sie in Wirklichkeit waren.

An einem Aprilmorgen erblickte ich beim Erwachen Holmes vollständig angekleidet an meinem Bett. Er stand sonst gewöhnlich spät auf, und da die Uhr auf dem Kaminsims erst ein Viertel nach sieben zeigte, so blinzelte ich ihn einigermaßen überrascht, vielleicht sogar etwas ärgerlich an, denn ich ließ mich selbst nicht gerne in meinen Gewohnheiten stören.

»Es tut mir sehr leid, daß ich dich wecken muß, Watson,« sagte er, »aber es geht heute morgen keinem im Hause besser. Frau Hudson ist zuerst herausgeklopft worden, sie hat mich aufgeweckt, und jetzt kommt die Reihe an dich.«

»Was gibt es denn? Brennt es?«

»Nein, eine Klientin ist da. Eine junge Dame von auswärts, die mich durchaus sprechen will. Sie soll in großer Aufregung sein. Sie wartet unten im Empfangszimmer. Wenn sich aber eine junge Dame in solcher Morgenfrühe nach London aufmacht und die Leute aus den Federn treibt, so wird sie wohl einen triftigen Grund dafür haben. Einen wirklich interessanten Fall würdest du doch gewiß gern von Anfang an verfolgen. Ich wollte dich deshalb unter allen Umständen wecken, um dich dieser Gelegenheit nicht zu berauben.«

»Das war sehr nett von dir, mein lieber Junge, natürlich möchte ich sie um keinen Preis verpassen.«

Ich kannte keinen größeren Genuß, als Holmes bei den Untersuchungen, die sein Beruf mit sich brachte, Schritt für Schritt zu begleiten und seine kühnen Schlußfolgerungen zu bewundern, die blitzschnell, als entstammten sie höherer Eingebung, und doch stets auf streng logischer Grundlage aufgebaut, Licht in das Dunkel der ihm vorgelegten rätselhaften Fälle brachten. Ich warf mich also rasch in die Kleider und war nach wenigen Minuten so weit, um meinem Freund nach dem Empfangszimmer folgen zu können.

Eine schwarzgekleidete, verschleierte Dame saß am Fenster und erhob sich bei unserem Eintritt.

Holmes stellte sich vor, begrüßte sie freundlich und erklärte ihr, indem er auf mich deutete: »Hier ist mein vertrauter Freund und Kollege Dr. Watson, vor dem Sie Ihre Sache ohne Scheu vorbringen können. – Frau Hudson hat ja Feuer angemacht, wie ich sehe, das war vernünftig von ihr. Bitte, setzen Sie sich nur an den Kamin; ich lasse Ihnen gleich eine Tasse heißen Kaffee bringen, Sie zittern ja ordentlich.«

»Aber nicht vor Kälte,« antwortete die Dame mit leiser Stimme, indem sie der Aufforderung Folge leistete.

»Weshalb denn sonst?«

»Vor Angst, Herr Holmes, vor Schrecken.« Bei diesen Worten schlug sie den Schleier zurück, und wir sahen nun, daß sie sich tatsächlich in einem Zustand starker Erregung befand; ihr Gesicht war ganz verzerrt und aschfahl, und sie blickte angstvoll um sich wie ein gehetztes Wild. Ihren Zügen und ihrer Figur nach mußte man sie für dreißigjährig halten, allein ihr Haar zeigte bereits Spuren von Grau, und es lag etwas Müdes und Abgezehrtes in ihrer ganzen Erscheinung.

Holmes musterte sie mit seinem alles durchdringenden Blick. »Sie müssen keine Angst haben,« sagte er in beruhigendem Tone, indem er sich über sie beugte. »Wir werden gewiß bald alles in Ordnung bringen. Sie sind heute früh mit der Bahn angekommen, wie ich sehe.«

»Kennen Sie mich denn?«

»Nein, ich bemerke nur die eine Hälfte der Rückfahrkarte, die Sie in Ihrem linken Handschuh stecken haben. Sie müssen früh aufgebrochen sein und hatten dann bis zur Bahn eine tüchtige Fahrt in einem Jagdwagen auf schlechten Wegen zu machen.«

Mit dem Ausdruck höchsten Erstaunens starrte die Fremde meinen Freund an.

»Sie brauchen sich nicht zu verwundern,« fuhr Holmes lächelnd fort. »Ich treibe keine Hellseherei. Aber der linke Ärmel Ihrer Jacke ist an nicht weniger als sieben Stellen mit noch ganz nassem Schmutz bespritzt. Kein anderes Fuhrwerk wirft aber so viel Schmutz auf wie ein Jagdwagen, und am allerschlimmsten ist es vollends, wenn man vorne links neben dem Kutscher sitzt.«

»Das mag sein, wie es will, jedenfalls treffen Sie mit Ihren Schlüssen das Richtige,« versetzte sie. »Ich fuhr vor 6 Uhr daheim fort, brauchte 20 Minuten bis nach Leatherhead und traf mit dem ersten Zuge hier an der Waterloo-Station ein. – Es kann nicht länger so fortgehen, ich halte es nicht mehr aus, ich werde wahnsinnig! Ich habe gar niemand, an den ich mich wenden könnte – niemand; nur ein einziger Mensch nimmt Anteil an mir, aber helfen kann er mir auch nicht. Man hat mir von Ihnen erzählt, Herr Holmes. Eine meiner Bekannten, Frau Farintosh, der Sie einmal in ihrer schrecklichen Bedrängnis Beistand leisteten, hat mir Ihre Adresse gegeben. Ach, meinen Sie nicht, Sie könnten mir vielleicht ebenfalls helfen und die furchtbare Finsternis, die mich umgibt, wenigstens durch einen schwachen Schimmer erhellen? Ich habe freilich jetzt kein Geld, aber in sechs Wochen oder einem Monat, wenn ich verheiratet und im Besitz meines Vermögens bin, sollen Sie mich nicht undankbar finden.«

Holmes entnahm seinem Schreibtisch ein kleines Buch mit Aufzeichnungen über frühere Fälle und schlug darin nach.

»Farintosh,« murmelte er, »ach ja, jetzt erinnere ich mich des Falles. Es handelte sich um einen Opalkopfschmuck. Das war noch vor deiner Zeit, Watson. – Ich kann Ihnen die Versicherung geben, daß ich mich Ihres Falles mit demselben Interesse annehmen werde, wie damals der Angelegenheit von Frau Farintosh. Über die Geldfrage möchte ich Sie beruhigen, meine Belohnung finde ich einzig in meiner Tätigkeit selbst; doch steht es Ihnen frei, mir meine etwaigen Auslagen bei gelegener Zeit zu ersetzen. Und nun bitte ich Sie, uns alles mitzuteilen, was für die Beurteilung des Falles irgend von Wert sein kann.«

»Ach«, begann die Fremde, »das Schreckliche an meiner Lage ist gerade, daß meine Befürchtungen so unbestimmter Natur sind und mein Verdacht sich nur auf geringfügige Umstände stützt, die jedem andern bedeutungslos erscheinen. Selbst mein Verlobter betrachtet alle meine Vermutungen nur als Eingebungen meiner überreizten Nerven. Er sagt es nicht gerade heraus, allein ich merke es an seinen beschwichtigenden Antworten und ausweichenden Blicken. Aber Sie, Herr Holmes, sollen ja imstande sein wie nur wenige, das menschliche Herz zu durchschauen. Ihr Rat wird mir gewiß einen Weg durch all die Gefahren zeigen, von denen ich jetzt umgeben bin.« Fragend hob sie den Blick zu Holmes.

»Bitte, fahren Sie ruhig fort«, ermunterte er sie.

»Ich heiße Helene Stoner und wohne zusammen mit meinem Stiefvater an der Westgrenze von Surrey. Er ist der letzte der Roylotts von Stoke Moran, die eine der ältesten Familien Englands waren.«

Sherlock Holmes nickte. »Der Name ist mir bekannt«, sagte er.

»Die Familie gehörte einst zu den reichsten in ganz England und ihre Besitzungen erstreckten sich bis über die Grenzen der benachbarten Grafschaften hinaus. Im vorigen Jahrhundert jedoch kam der Besitz viermal hintereinander in leichtsinnige Hände, und als dann noch einer der Erben sich dem Spiel ergab, war der Ruin der Familie besiegelt. Ein paar Hufen Landes und der zweihundert Jahre alte Familiensitz, auf dem aber hohe Hypotheken lasteten, war alles, was übrig blieb. Der vorige Gutsherr harrte noch bis zu seinem Tode dort aus, indem er das schwere Los eines verarmten Edelmannes trug; sein einziger Sohn dagegen, mein jetziger Stiefvater, sah ein, daß er sich den neuen Verhältnissen anpassen mußte; er verschaffte sich ein Darlehen von einem Verwandten, das ihm das Studium der Medizin ermöglichte. Dann ließ er sich in Kalkutta nieder, wo er sich mit großer Willenskraft und durch seine tüchtigen Kenntnisse eine ausgebreitete Praxis erwarb. Im Jähzorn über einen Diebstahl in seinem Hause erschlug er jedoch einen eingeborenen Diener und entging nur mit Mühe einem Todesurteil. Er erhielt eine lange Freiheitsstrafe, nach deren Verbüßung er verbittert und enttäuscht nach England zurückkehrte. Während seines Aufenthalts in Indien heiratete Dr. Roylott meine Mutter, die junge Witwe des Generalmajors Stoner von der bengalischen Artillerie. Meine Zwillingsschwester Julia und ich waren damals erst zwei Jahre alt. Die Mutter besaß ein Vermögen, das etwa tausend Pfund im Jahr einbrachte und das sie unserem Stiefvater vollständig überließ mit der Bedingung, im Falle unserer Verheiratung jeder von uns beiden eine gewisse Summe jährlich auszuzahlen. Bald nach unserer Rückkehr nach England kam meine Mutter bei einem Eisenbahnunfall ums Leben – es sind jetzt acht Jahre her. Nun gab Dr. Roylott seine Versuche auf, sich in London eine ärztliche Praxis zu gründen, und zog mit uns in das alte Stammschloß in Stoke Moran. Da die Hinterlassenschaft meiner Mutter unsere Bedürfnisse reichlich deckte, so hätten wir ein zufriedenes und glückliches Leben führen können.

Allein mit unserem Stiefvater ging plötzlich eine schreckliche Veränderung vor. Anstatt freundschaftlichen Verkehr mit unseren Nachbarn anzuknüpfen, die anfangs hoch erfreut darüber waren, wieder einen Stoke Moran auf dem alten Familiensitz einziehen zu sehen, schloß er sich in sein Haus ein, und wenn er es jemals verließ, bekam er mit jedem, der ihm in den Weg lief, den heftigsten Streit. Ein förmlich krankhafter Jähzorn war überhaupt ein Erbstück der Männer in der Familie, und bei meinem Stiefvater mochte durch seinen langen Aufenthalt in den Tropen diese Eigenschaft wohl noch verstärkt worden sein. Die Folge war, daß er in eine Reihe häßlicher Streitigkeiten verwickelt wurde, die ihn zweimal vor Gericht brachten, bis er zuletzt der Schrecken des ganzen Dorfes war und alles bei seinem bloßen Anblick die Flucht ergriff, denn er besitzt eine riesige Stärke und kennt in seiner Wut keine Grenzen.

Vorige Woche erst warf er den Dorfschmied über das Brückengeländer ins Wasser, und ich mußte alles, was ich an Geld hatte, opfern, damit die Angelegenheit nicht vor Gericht gebracht wurde. Mit keinem Menschen hielt er Freundschaft, außer mit den herumziehenden Zigeunern; sie durften auf den paar Morgen Brachland, die von dem ganzen Besitztum noch geblieben sind, ihr Lager aufschlagen. Oft kehrte er in ihren Zelten ein, ja er begleitete sie sogar wochenlang auf ihren Wanderzügen. Eine leidenschaftliche Vorliebe hat er für indische Tiere, die er sich aus Kalkutta kommen läßt; gegenwärtig besitzt er einen Leoparden und einen Pavian, die er in seinem Anwesen frei umherlaufen läßt und die den Dorfbewohnern denselben Schrecken einjagen wie ihr Herr selbst.

Nach dieser Schilderung werden Sie mir sicher glauben, daß meine Schwester und ich kein leichtes Leben geführt haben. Niemand wollte bei uns bleiben, und lange Zeit mußten wir die ganze Hausarbeit allein verrichten. Obgleich Julia erst dreißig Jahre alt war, als sie starb, hatte sie doch bereits graue Haare wie ich auch.«

»Ihre Schwester ist also gestorben?«

»Ja; es ist gerade zwei Jahre her; und von ihrem Tode möchte ich Ihnen eben Genaueres mitteilen. Sie werden es verstehen, daß wir unter diesen Umständen wenig Gelegenheit zum Verkehr mit unseresgleichen hatten. Nur bei unserer Tante Honoria Westphail durften wir von Zeit zu Zeit einen kurzen Besuch machen. Sie ist eine unverheiratete Schwester meiner Mutter und wohnt in der Nähe von Harrow. Vor zwei Jahren lernte Julia bei einem solchen Besuch über Weihnachten einen auf Halbsold gesetzten Major der Marine kennen, mit dem sie sich verlobte. Unser Stiefvater erhob gegen die Verbindung keine Einwendung; allein vierzehn Tage vor der Hochzeit trat das schreckliche Ereignis ein, das mich meiner einzigen Gefährtin beraubte.«

Holmes, der mit geschlossenen Augen in seinen Armstuhl zurückgelehnt, den Kopf im Kissen vergraben, zugehört hatte, schlug nun die Lider ein wenig auf und warf einen Blick auf die Erzählerin.

»Bitte, vergessen Sie auch nicht den kleinsten Umstand«, sagte er.

»Das wird mir nicht schwer fallen, denn alle Vorgänge dieser entsetzlichen Zeit stehen mir unauslöschlich im Gedächtnis. – Das Wohnhaus ist, wie gesagt, sehr alt, auch wird zur Zeit nur der eine Flügel bewohnt. Die Schlafzimmer befinden sich im Erdgeschoß, während die Wohnzimmer im mittleren Stockwerk liegen. Von den Schlafzimmern hatte das erste unser Stiefvater, das zweite meine Schwester und das dritte ich selbst. Eine Verbindung zwischen ihnen besteht nicht, dagegen führen alle drei Türen auf denselben Gang. – Ich spreche doch verständlich?«

»Vollkommen.«

»Die Fenster der drei Zimmer gehen auf den Rasenplatz vor dem Hause. An jenem schrecklichen Abend also zog sich unser Stiefvater zeitig in sein Schlafzimmer zurück; trotzdem wußten wir wohl, daß er sich noch nicht zur Ruhe begeben hatte, denn meine Schwester wurde durch den Geruch der starken indischen Zigarre belästigt, die er zu rauchen pflegte. Sie kam deshalb in mein Zimmer herüber, um noch eine Zeitlang mit mir über ihre bevorstehende Hochzeit zu plaudern. Es war elf Uhr, als sie mich wieder verließ; an der Tür blieb sie jedoch stehen und schaute noch einmal zurück.

›Sag‘ mir, Helene‹, fragte sie, ›hast du jemals ein Pfeifen vernommen, wenn nachts alles totenstill ist?‹

›Nein, niemals.‹

›Ich habe auch schon gedacht, vielleicht seist du es, die nachts im Schlafe pfeift. Aber du glaubst doch auch nicht, daß das sein kann?‹

›Gewiß nicht, warum denn?‹

›In den letzten Nächten ertönte etwa um drei Uhr morgens ein leiser heller Pfiff. Ich habe einen leichten Schlaf und bin daran aufgewacht. Woher der Laut kam, kann ich nicht sagen, – vielleicht aus dem Nebenzimmer, vielleicht auch vom Vorplatz herauf. Ich dachte, ich wollte dich doch fragen, ob du es auch gehört hast.‹

›Nein, ich habe nichts gehört. Das muß von dem Zigeunergesindel unten im Park herkommen.‹

›Höchst wahrscheinlich; aber es wundert mich doch, daß du es nicht auch gehört hast, wenn es wirklich von unten kam.‹

›Ich schlafe eben fester als du.‹

›Nun, es ist ja jedenfalls nichts von Bedeutung‹, versetzte sie lächelnd; damit schloß sie die Tür, und wenige Augenblicke darauf hörte ich, wie sie ihre Türe abschloß.«

»Schlossen Sie sich denn nachts regelmäßig ein?« fragte Holmes.

»Stets.«

»Und warum taten Sie das?«

»Ich glaube, ich habe bereits erwähnt, daß unser Stiefvater eine Tigerkatze und einen Pavian hielt; wir fühlten uns deshalb nicht sicher, wenn unsere Türen nicht verschlossen waren.‹

»Ja freilich. Bitte, fahren Sie nur fort.«

»Ich konnte in jener Nacht keinen Schlaf finden. Ein unbestimmtes Vorgefühl drohenden Unheils bedrückte mich. Sie erinnern sich, daß ich und meine Schwester Zwillinge waren, und Sie wissen sicher auch, wie eng man da miteinander verbunden ist. Es war eine unheimliche Nacht. Draußen heulte der Wind, und der Regen schlug klatschend gegen die Läden. Plötzlich ertönte mitten durch das Tosen des Sturmes ein wilder Angstschrei. Ich erkannte die Stimme meiner Schwester. Rasch sprang ich aus dem Bett und stürzte auf den Gang hinaus. Während ich meine Tür öffnete, war es mir, als hörte ich ein leises Pfeifen, wie meine Schwester es beschrieben hatte, und wenige Augenblicke darauf ein klingendes Geräusch wie vom Fall eines schweren metallenen Gegenstandes. Die Zimmertüre meiner Schwester war schon aufgeklinkt und öffnete sich langsam. Starr vor Angst wartete ich auf den Anblick, der sich mir bieten würde; da sah ich beim Schein der Flurlampe meine Schwester unter der Tür erscheinen; schreckensbleich, die Hände hilfesuchend ausgestreckt, schwankte sie hin und her, als wäre sie berauscht. Ich eilte auf sie zu und schlang die Arme um sie, aber gerade in diesem Augenblick versagten ihr die Knie. Sie stürzte zu Boden, wand und krümmte sich wie in furchtbaren Schmerzen, und ihre Glieder zogen sich krampfhaft zuckend zusammen. Ich meinte zuerst, sie habe mich nicht erkannt, aber als ich mich über sie beugte, stieß sie plötzlich mit einer Stimme, die ich nie vergessen werde, die abgebrochenen, undeutlichen Worte hervor: ›Oh, mein Gott! Helene! Es war . . . Band . .! . . . getupfte Band . . .!‹ Sie machte den Versuch, noch etwas zu sagen, wobei sie in der Richtung nach unseres Stiefvaters Schlafzimmer deutete, als ein neuer gräßlicher Krampfanfall ihr die Worte im Munde erstickte. Ich wollte eben unsern Stiefvater herbeiholen und rief laut nach ihm; da kam er mir bereits im Schlafrock entgegengeeilt. Als er zu meiner Schwester trat, hatte sie das Bewußtsein schon verloren. Er flößte ihr noch Kognak ein und ließ auch ärztliche Hilfe aus dem Dorfe herbeiholen, aber es nützte alles nichts mehr, sie wurde immer schwächer und starb, ohne daß sie noch einmal zu sich gekommen wäre. Dies waren die Umstände, unter denen ich meine geliebte Schwester verloren habe.«

»Einen Augenblick!« unterbrach sie Holmes, »haben Sie das Pfeifen und den metallenen Klang ganz bestimmt wahrgenommen? Könnten Sie darauf schwören?«

»Dasselbe fragte mich auch der Gerichtsarzt bei der Totenschau. Ich habe zwar den durchaus sicheren Eindruck, als hätte ich beides gehört, doch kann ich mich am Ende auch getäuscht haben; bei dem Tosen des Sturmes krachte ja das alte Haus in allen Fugen.«

»War ihre Schwester angekleidet?«

»Nein, sie trug nur ihr Nachtgewand. In der rechten Hand hielt sie noch ein herabgebranntes Lichtstümpfchen und in der linken eine Zündholzschachtel. Sie hatte keinen Lichtschalter am Bett, es war auch kein Steckkontakt vorhanden, um eine Nachttischlampe anzuschließen. Deshalb hielt sie sich immer Kerze und Streichhölzer auf dem Nachttisch bereit.«

»Sie hat also noch Licht gemacht und sich umgeschaut, als das Geräusch entstand. Das ist von Wichtigkeit. Und zu welchem Ergebnis gelangte der Leichenbeschauer?«

»Er untersuchte den Fall sehr sorgfältig, denn das auffallende Treiben unseres Stiefvaters war in der ganzen Grafschaft bekannt; er war jedoch nicht imstande, eine bestimmte Todesursache zu entdecken. Aus meinen Mitteilungen ging hervor, daß die Tür von innen verschlossen gewesen war, und die Fenster waren durch altmodische Läden mit breiten Eisenstäben verrammelt, die jede Nacht vorgelegt wurden. Auch die Wände und der Fußboden wurden untersucht, aber nirgends wurde ein Anhaltspunkt gefunden. Der Kamin ist zwar weit, aber mit vier starken Eisenstäben vergittert. Meine Schwester war also zweifellos ganz allein, als ihr Geschick sie ereilte. Auch von einer Einwirkung äußerer Gewalt war keine Spur an ihr zu entdecken.«

»Und Gift – wie steht es damit?«

»Die Leiche wurde von ärztlicher Seite daraufhin untersucht, aber ohne Erfolg.«

»Was ist nun Ihre Ansicht über die Ursache dieses bedauerlichen Todesfalls?«

»Ich bin der Meinung, daß meine Schwester nur infolge einer durch Schrecken hervorgerufenen Nervenerschütterung starb, obwohl ich von der Ursache dieses Schreckens keine Ahnung habe.«

»Hielten sich zu jener Zeit Zigeuner in der Nähe des Hauses auf?«

»Jawohl; es sind fast immer einige da.«

»Und was glauben Sie, daß Ihre Schwester mit der Andeutung von einem ›getupften Band‹ oder auch einer ›getupften Bande‹ meinte?«

»Das möchte ich fast für eine Ausgeburt des Fieberwahns halten; dann meine ich aber auch wieder, es könnte sich auf eine Bande von Menschen, vielleicht gerade auf die Zigeuner im Park, bezogen haben. Vielleicht haben ihr die getupften Tücher, die viele von ihnen um den Kopf tragen, zu der auffallenden Bezeichnung Anlaß gegeben.«

Holmes schüttelte den Kopf, als sei er ganz und gar nicht befriedigt.

»Wir tappen noch ganz im Dunkeln«, meinte er, »aber bitte, erzählen Sie nun weiter.«

»Zwei Jahre sind seitdem vergangen, und mein Leben wurde einsamer als je. Vor einem Monat jedoch hat ein lieber langjähriger Bekannter namens Percy Armitage um mich angehalten. Mein Stiefvater hat nichts dagegen, und so wollen wir noch in diesem Frühjahr heiraten. Seit zwei Tagen werden an dem westlichen Flügel unseres Wohnhauses Ausbesserungen vorgenommen. Dabei wurde eine Wand meines Schlafzimmers durchbrochen. Ich mußte deshalb das Zimmer, in dem meine Schwester starb, beziehen und in ihrem Bett schlafen. Stellen Sie sich nun meinen wahnsinnigen Schrecken vor, als ich in der letzten Nacht plötzlich ebenfalls das leise Pfeifen vernahm, das ihren Tod vorherverkündet hatte. Ich sprang aus dem Bett und schaltete das Licht an, vermochte aber nichts Beunruhigendes im Zimmer zu entdecken. Zu aufgeregt, um wieder einschlafen zu können, kleidete ich mich an und schlich mich, sobald es dämmerte, aus dem Hause, ließ mir in dem gegenüberliegenden Gasthaus zur Krone einen Wagen anspannen und fuhr nach Leatherhead und von da mit dem Morgenzug weiter nach London, um Sie aufzusuchen und um Ihren Rat zu bitten.«

»Das war das Vernünftigste, was Sie tun konnten«, versetzte Holmes. »Aber haben Sie mir auch alles gesagt?«

»Gewiß, alles.«

»Ich bin nicht ganz überzeugt davon, Fräulein Stoner. Sie schonen Ihren Stiefvater.«

»Warum? Was wollen Sie damit sagen?«

Statt einer Antwort schlug Holmes die Manschette über dem rechten Handgelenk der Erzählerin zurück.

Fünf kleine blaue Male, sichtlich von fünf Fingern herrührend, zeichneten sich auf ihrem Arm ab.

»Sie sind mißhandelt worden,« sagte Holmes.

Tief errötend bedeckte sie die Stelle wieder. »Er ist ein rauher Mann,« sagte sie, »der vielleicht selbst kaum weiß, wie stark er ist.«

Ein langes Schweigen folgte; das Kinn in die Hand stützend, blickte Holmes in das prasselnde Kaminfeuer. »Eine höchst rätselhafte Sache,« sagte er zuletzt. »Ich hätte noch tausenderlei Fragen, ehe ich mich über den Weg schlüssig mache, den wir einschlagen müssen. Und doch dürfen wir keinen Augenblick verlieren. Ließe es sich wohl machen, daß wir die drei Schlafzimmer ohne Wissen Ihres Stiefvaters besichtigen können, wenn wir heute nach Stoke Moran fahren?«

»Er hat zufällig erwähnt, daß er heute in einer sehr wichtigen Angelegenheit hierher fahren werde. Vermutlich wird er den ganzen Tag fort sein, und dann wären Sie völlig ungestört. Wir haben zwar gegenwärtig eine Haushälterin, aber die ist alt und einfältig und ich könnte sie leicht eine Weile entfernen.«

»Ausgezeichnet. Du hast doch nichts gegen diesen Ausflug, Watson?«

»Nicht das geringste.«

»Dann werden wir uns also beide im Laufe des Tages einfinden. Und was tun Sie selbst, jetzt?«

»Ich möchte gerne noch ein paar Sachen besorgen, weil ich gerade hier bin. Doch will ich mit dem Zwölfuhrzug wieder zurück fahren, so daß Sie mich rechtzeitig zu Hause treffen werden.«

»Sie können uns bald nach Mittag schon erwarten. Ich habe selbst zuerst noch einige Angelegenheiten zu erledigen. Wollen Sie nicht noch bleiben und etwas frühstücken?«

»Nein, ich muß gehen. Es ist mir schon leichter ums Herz, seit ich Ihnen anvertraut habe, was mich bedrückt. Auf Wiedersehen also heute nachmittag.« Sie zog den schwarzen Schleier wieder über ihr Gesicht und verließ das Zimmer.

»Nun, was hältst du von der Sache, Watson?« fragte Holmes, sich in seinen Stuhl zurücklehnend.

»Es scheint mir eine dunkle, unheimliche Geschichte.«

»Sehr dunkel und sehr unheimlich sogar.«

»Und doch, wenn tatsächlich Fußboden und Wände ganz in Ordnung sind, und durch Tür, Fenster und Kamin nichts hereinkommen konnte, muß unzweifelhaft die Schwester zur Zeit ihres rätselhaften Todes allein gewesen sein.«

»Wie erklärst du dir dann aber das nächtliche Pfeifen und die eigentümliche Äußerung der Sterbenden?«

»Das kann ich mir nicht denken.«

»Dieses nächtliche Pfeifen, die Anwesenheit einer Zigeunerbande, die mit dem alten Doktor auf vertrautem Fuß stand, und die Tatsache, daß dieser offenbar das größte Interesse daran hatte, eine Heirat seiner Stieftochter zu verhindern, sind starke Verdachtsmomente. Wenn ich sie mit der Andeutung der Sterbenden zusammenhalte und schließlich mit dem metallenen Klang, den Fräulein Stoner gehört hat und der sehr wohl von der Wiederbefestigung der Vorlegestange an einem Fensterladen herrühren konnte, so will es mir doch scheinen, als dürften wir hoffen, von dieser Grundlage aus des Rätsels Lösung zu finden.«

»Aber was sollen denn die Zigeuner getan haben?«

»Davon habe ich allerdings auch keine Ahnung.«

»Ich meine, gegen diese ganze Auffassung ließe sich doch sehr viel einwenden.«

»Das muß ich freilich selbst zugeben; gerade deswegen gehen wir noch heute nach Stoke Moran. Ich muß mich überzeugen, ob die Einwendungen stichhaltig sind oder sich beseitigen lassen. – Aber was ist denn hier eigentlich los!« rief er plötzlich aus.

Mit einemmal war nämlich die Zimmertür aufgeflogen, und eine gewaltige Männergestalt in einem sonderbaren, halb gelehrten, halb bäuerischen Aufzug hatte sich in ihrem Rahmen aufgepflanzt. Der Eindringling trug einen hohen schwarzen Hut und einen Rock mit langen Schößen, dazu Stulpenstiefel, und in den Händen eine Reitpeitsche. Er war so groß, daß er buchstäblich oben am Türbalken anstieß, und so umfangreich, daß er die Öffnung völlig auszufüllen schien. Auf seinem breiten, mit zahllosen Runzeln übersäten, sonnenverbrannten Gesicht spiegelten sich alle schlechten Leidenschaften. Er wandte den Blick bald mir, bald meinem Freunde zu, und dabei gaben ihm seine tiefliegenden, gelb unterlaufenen Augen und die weitvorstehende schmale, fleischlose Nase das Aussehen eines grimmigen alten Raubvogels.

»Welcher von euch beiden ist Holmes?« fragte er in unverschämtem Tone.

»So heiße ich; aber ich habe nicht das Vergnügen …« antwortete mein Freund ruhig.

»Ich bin Dr. Grimesby Roylott von Stoke Moran.«

»Darf ich bitten, daß Sie Platz nehmen, Herr Doktor«, sagte Holmes verbindlich.

»Fällt mir nicht ein. Meine Stieftochter ist dagewesen. Ich bin ihr nachgegangen. Was wollte sie bei Ihnen?«

»Es ist noch etwas kalt für die Jahreszeit!«, gab Holmes zur Antwort.

»Was sie Ihnen gesagt hat, will ich wissen!« schrie der andere wütend.

»Trotzdem soll sich, wie ich höre, die Krokusblüte ganz gut anlassen«, fuhr Holmes unerschütterlich fort.

»Machen Sie nur keine Winkelzüge«, rief jetzt der grobe Kerl, indem er einen Schritt vortrat und die Reitpeitsche schwang. »Ich kenne Sie, Schurke. Habe schon längst von Ihnen gehört. Sie sind Holmes, der Schnüffler!«

Mein Freund lächelte.

»Holmes, der Allerweltslückenbüßer!«

Sein Gesicht erheiterte sich immer mehr.

»Holmes, der General-Kriminalpolizeispitzel!«

Jetzt lachte Holmes hell auf. »Sie sind ja äußerst witzig«, sagte er. »Wenn Sie hinausgehen, machen Sie auch die Tür zu, es zieht ganz entschieden.«

»Erst sage ich meine Sache, und dann gehe ich. Lassen Sie sich nur nicht einfallen, Ihre Nase in meine Angelegenheiten zu stecken. Meine Tochter war da – ich weiß es, ich bin ihr nachgegangen! Ich rate keinem, mir in die Quere zu kommen! Da, sehen Sie her!« Damit trat er rasch auf den Kamin zu, nahm den Schürhaken und bog ihn mit seinen mächtigen braunen Händen vollständig krumm.

»Sehen Sie zu, daß Sie mir nicht unter die Finger kommen!« schrie er Holmes noch zu, warf den verbogenen Schürhaken wieder in den Kamin und schritt hinaus.

»Nun, das ist ja ein recht liebenswürdiger Kumpan«, meinte Holmes lachend. »Ich bin zwar nicht ganz so vierschrötig wie er, aber wenn er noch einen Augenblick dageblieben wäre, hätte ich ihm zeigen können, daß meine Finger an Kraft den seinen nicht viel nachgeben.« Dabei nahm er den stählernen Schürhaken und bog ihn mit einem Ruck wieder gerade.

»Ein selten unverschämter Mensch! Dieser Zwischenfall verleiht übrigens unserem Vorhaben nur noch einen Reiz mehr. Ich hoffe bloß, daß unsere Schutzbefohlene ihre Unvorsichtigkeit nicht zu büßen bekommt. – Aber nun wollen wir frühstücken, Watson, und dann will ich nach der Gerichtsregistratur gehen, wo ich mir einige Daten zu verschaffen hoffe, die uns in dieser Sache vielleicht von Nutzen sein können.«

Es war ungefähr ein Uhr, als Holmes von seinem Ausgang zurückkam. Er hatte ein Blatt Papier in der Hand, das ganz mit Notizen und Zeichnungen bedeckt war.

»Ich habe mir das Testament der Frau Roylott zeigen lassen«, sagte er. »Um ihre Willensmeinung ganz genau festzustellen, mußte ich den heutigen Wert der Anlagepapiere ausrechnen, um die es sich dabei handelt. Der Gesamtertrag, der zur Zeit ihres Todes fast elfhundert Pfund betrug, beläuft sich jetzt infolge des Rückgangs im Werte höchstens noch auf siebenhundertfünfzig Pfund. Nun kann jede der Töchter im Falle ihrer Verehelichung eine Rente von zweihundertfünfzig Pfund ansprechen. Es ist also augenscheinlich, daß, falls beide Töchter sich verheiratet hätten, von der ganzen Herrlichkeit blutwenig übrig geblieben wäre, ja, daß sogar schon die Abfindung einer Tochter dem Doktor eine ganz empfindliche Einbuße verursacht hätte. Mein Vormittag war also gut angewendet; ich habe jetzt den Beweis in Händen, daß ihm alles daran gelegen sein mußte, die Heirat zu hindern. Wir wollen nun in dieser wichtigen Sache keine Zeit mehr verlieren, zumal der Alte Wind davon hat, daß wir uns mit seinen Angelegenheiten beschäftigen. Wenn du also bereit bist, wollen wir uns einen Wagen nach der Waterloostation bestellen. Bitte, stecke auch deinen Revolver ein. Damit kommt man gegenüber Herrschaften, die stählerne Schürhaken krumm biegen, am besten aus. Wenn wir dann noch Kamm und Zahnbürste mitnehmen, so denke ich, daß wir alles haben, was wir brauchen.«

Am Bahnhof hatten wir das Glück, gerade einen Zug nach Leatherhead zu treffen; dort nahmen wir einen Wagen, mit dem wir vier oder fünf Meilen weit durch die freundlichen Gelände von Surrey fuhren. Es war ein herrlicher Tag, klarer Sonnenschein und kaum ein Wölkchen am Himmel. Die Bäume und Hecken am Wege erglänzten im ersten Grün, und die Luft war von dem erfrischenden Geruch des feuchten Erdreichs erfüllt. Lebhaft empfand wenigstens ich für meine Person den eigentümlichen Gegensatz zwischen dem lieblichen Frühlingsbilde und der unheimlichen Aufgabe, die unsrer wartete. Holmes saß, den Hut tief ins Gesicht gedrückt, mit untergeschlagenen Armen und gesenktem Haupte, in tiefes Nachdenken versunken da. Plötzlich fuhr er auf, klopfte mir auf die Schulter und deutete nach rechts. »Sieh dorthin!« rief er.

Ein dichter Park zog sich jenseits der Wiesen einen sanften Abhang hinauf, der oben von einem Wäldchen bekränzt war; mitten aus dem Dickicht ragte der altersgraue Dachfirst eines Herrenhauses hoch hervor.

»Stoke Moran?«, fragte er.

»Jawohl, Herr, das ist Dr. Grimesby Roylotts Haus«, erwiderte der Fahrer.

»Wo der Umbau gemacht wird? Das ist unser Ziel.«

»Dort drüben liegt das Dorf«, fuhr der Mann fort, indem er auf die Dächer deutete, die in einiger Entfernung zur Linken sichtbar wurden; »aber wenn Sie zu Roylotts Hause wollen, so sind Sie früher dort, wenn Sie hier die Steige hinaufgehen und dann den Fußweg über die Felder einschlagen. Dort drüben, wo die Dame geht.«

»Die Dame ist Fräulein Stoner, wie mir scheint«, sagte Holmes und hielt die Hand über die Augen. »Ja, ich glaube, es wird das Einfachste sein, wenn wir Ihrem Rat folgen.«

Wir stiegen aus und bezahlten unser Fahrgeld. Der Wagen wendete und fuhr nach Leatherhead zurück.

»Ich hielt es für zweckmäßig«, meinte Holmes, während wir die Steige hinaufgingen, »den Mann glauben zu lassen, wir seien wegen der Bauarbeit oder zu irgend einem andern geschäftlichen Zweck hergekommen. Das beugt vielleicht unnützem Gerede vor. – Guten Tag, Fräulein Stoner, Sie sehen, wir haben Wort gehalten.«

Mit offener Herzlichkeit kam unsere Schutzbefohlene uns entgegengelaufen. »Ich habe Sie sehnlich erwartet!« rief sie und drückte uns warm die Hand. »Es hat sich alles geschickt gefügt. Der Vater ist nach London gegangen und wird schwerlich vor Abend zurückkommen.«

»Wir haben unterdessen das Vergnügen gehabt, des Herrn Doktors Bekanntschaft zu machen«, entgegnete Holmes und gab ihr mit ein paar Worten eine flüchtige Schilderung unseres Erlebnisses.

Sie wurde bei dieser Kunde weiß bis zu den Lippen. »Er ist mir also nachgegangen?« fragte sie fassungslos.

»So scheint es.«

»Er ist sehr schlau, man ist eigentlich nie sicher vor ihm. Ich habe so Angst, bis er jetzt nach Hause kommt.«

»Seien Sie unbesorgt. Vielleicht sind wir noch schlauer als er. Auf jeden Fall müssen Sie sich heute nacht vor ihm einschließen. Wird er gewalttätig, so bringen wir Sie zu Ihrer Tante nach Harrow. Jetzt müssen wir aber unsere Zeit nach besten Kräften ausnützen, also führen Sie uns bitte gleich in die Zimmer, die wir zu besichtigen haben.«

Das Gebäude mit seinen grauen, moosbewachsenen Quadersteinen bestand aus einem hohen Mittelbau, von dem an jedem Ende ein geschweifter Flügel auslief. An dem linken Flügel waren die zerbrochenen Fenster mit Brettern vernagelt, und das Dach teilweise eingestürzt – ein Bild des Verfalls. Der Mittelbau befand sich schon in etwas besserem Stand, und der rechte Flügel machte einen verhältnismäßig neuen Eindruck; die Vorhänge an den Fenstern und der blaue Rauch, der sich über den Schornsteinen kräuselte, zeigten an, daß hier die Familie wohnte. An der Außenwand war ein Gerüst aufgeschlagen und das Mauerwerk durchgebrochen; von einem Arbeiter war jedoch zur Zeit weit und breit nichts zu sehen. Holmes ging langsam auf dem schlecht gepflegten Rasenplatz auf und ab und untersuchte die Fenster aufs peinlichste von außen.

»Dies hier gehört wohl zu Ihrem früheren Schlafzimmer, das mittlere zu dem Ihrer Schwester, und das letzte zunächst dem Mittelbau zu Dr. Roylotts Schlafzimmer?«

»Ganz richtig. Aber gegenwärtig schlafe ich in dem mittleren.«

»Während der baulichen Arbeiten vermutlich, übrigens kommt es mir nicht gerade vor, als ob hier an der Außenwand die Ausbesserung dringend nötig gewesen wäre.«

»Ganz und gar nicht. Ich glaube, daß es lediglich ein Vorwand war, um mich aus meinem Zimmer zu vertreiben.«

»Möglich. Und an der andern Seite des schmalen Flügels läuft wohl der Gang hin, auf den die drei Zimmer münden? Natürlich hat er auch Fenster.«

»Aber nur ganz kleine, durch die ein Mensch nicht hereinkommen kann.«

»Da Ihre Schwester und Sie Ihre Zimmer nachts ja abschlossen, so waren sie sowieso von dieser Seite her unzugänglich. Und jetzt schließen Sie bitte einmal die Läden in Ihrem Zimmer.«

Nachdem die Läden vorgelegt waren, untersuchte sie Holmes sorgfältig von innen und außen, dann machte er auf jede mögliche Weise den Versuch, sie aufzubrechen, jedoch ohne Erfolg. Nirgends war der geringste Spalt, in dem sich hätte etwa ein Messer ansetzen lassen, um die Stange zu lockern. Dann untersuchte er auch die Angeln, allein sie waren aus starkem Eisen und saßen fest in dem massiven Mauerwerk. »Hm«, meinte er und rieb sich verlegen das Kinn, »meine Annahme stößt allerdings auf Schwierigkeiten. Hier konnte kein Mensch hereinkommen, wenn die Läden geschlossen waren. Nun, wir werden ja sehen, ob die innere Besichtigung vielleicht Licht in die Sache bringt.«

Eine kleine Seitentüre führte in den weißgetünchten Gang, auf den die drei Schlafzimmer mündeten. Das äußerste wollte Holmes nicht sehen, deshalb begaben wir uns sogleich nach dem mittleren, worin Fräulein Stoner gegenwärtig schlief und in dem ihre Schwester gestorben war. Es war ein gemütlicher kleiner Raum mit niederer Decke und großem Kamin, wie man sie in alten Landsitzen oft trifft. Eine braune Kommode stand in der einen Ecke, ein schmales, weiß bezogenes Bett in einer anderen und ein Toilettentisch zur Linken des Fensters. Diese Möbel bildeten zusammen mit zwei geflochtenen Stühlen und einem Teppich in der Mitte die ganze Einrichtung. Das eichene Holzwerk des Bodens und der Wände war alt und wurmstichig, es mochte wohl noch aus der Zeit stammen, als das Haus erbaut wurde. Holmes schob sich einen Stuhl in eine Ecke, ließ von diesem Platz aus den Blick ringsumher laufen und musterte stumm den ganzen Raum mit größter Genauigkeit.

»Wohin geht diese Klingel?« fragte er zuletzt und deutete dabei auf einen dicken Klingelzug, der neben dem Bett herabhing, so daß die Quaste auf dem Kissen ruhte.

»In das Zimmer der Haushälterin.«

»Sie scheint neuer zu sein als die übrige Einrichtung.«

»Ja, sie wurde erst vor ein paar Jahren angebracht.«

»Vermutlich auf Verlangen Ihrer Schwester?«

»Nein, soviel ich weiß, hat Julia sie nie benützt. Wir waren gewohnt, uns alles, was wir brauchten, selbst zu holen.«

»Nun, dann war es wahrhaftig recht überflüssig, einen so schönen Klingelzug anzubringen. Sie erlauben wohl, daß ich mich jetzt ein paar Minuten auf dem Boden umsehe.« Er legte sich mit der Lupe in der Hand nieder und kroch behende vor- und rückwärts, um jede Spalte zwischen den Dielen auf das genaueste zu untersuchen. Hierauf prüfte er die Holztäfelung des Zimmers ebenso sorgfältig. Zuletzt trat er an das Bett und betrachtete es längere Zeit, während er gleichzeitig den Blick an der Wand hinter demselben auf- und abgleiten ließ. Schließlich faßte er den Glockenzug und tat einen tüchtigen Ruck daran.

»Das ist ja nur eine Scheinklingel!« sagte er.

»Läutet sie nicht?«

»Nein, es ist nicht einmal ein Draht daran befestigt. Das ist höchst interessant. Sehen Sie nur, sie ist gerade über dem kleinen Luftloch an einem Haken festgemacht.«

»Wie seltsam! Das ist mir noch nie aufgefallen.«

»Höchst wunderlich!« murmelte Holmes, indem er nochmals an der Klingel zog. »Einiges in diesem Zimmer ist wirklich ganz merkwürdig. Zum Beispiel muß ja der Baumeister ein vollkommener Narr gewesen sein, daß er ein Luftloch ins Nebenzimmer gemacht hat, während es gerade so gut ins Freie hinausgehen konnte.«

»Es stammt ebenfalls erst aus neuerer Zeit«, bemerkte Fräulein Stoner.

»Es wurde wohl zugleich mit dem Glockenzug angebracht?«

»Ja, damals hat man verschiedene kleine Änderungen vorgenommen.«

»Die recht interessanter Art sind – Scheinklingeln und Luftlöcher, die keine frische Luft zuführen. Mit Ihrer Erlaubnis, Fräulein Stoner, wollen wir jetzt unsere Besichtigung in Dr. Roylotts Zimmer fortsetzen.«

Dieses war größer, aber ebenso einfach eingerichtet. Ein Feldbett, ein kleines Gestell mit Büchern, zumeist medizinischen Inhalts, ein Lehnstuhl neben dem Bett, ein einfacher Holzstuhl an der Wand, ein runder Tisch und ein großer eiserner Geldschrank fielen zunächst ins Auge. Holmes ging langsam durch das Zimmer und besichtigte ein Stück um das andere mit der schärfsten Aufmerksamkeit.

»Was ist hier drinnen?« fragte er, an den Eisenschrank klopfend.

»Meines Stiefvaters Geschäftspapiere.«

»So! – Sie haben also schon hineingesehen?«

»Nur ein einziges Mal, vor Jahren. Es war nichts darin als Papiere, soviel ich mich erinnere.«

»Ist nicht vielleicht eine Katze drinnen?«

»Eine Katze? Nein! Wie kommen Sie auf den sonderbaren Einfall?«

»Sehen Sie mal hierher!« Er nahm eine kleine Untertasse voll Milch von dem Schrank herunter, die oben gestanden hatte.

»Nein; wir halten keine Katze. Aber ein Leopard und ein Pavian sind im Hause.«

»Ja – so! Nun, ein Leopard ist ja eben nichts als eine große Katze, allerdings dürfte eine Untertasse voll Milch für seine Bedürfnisse nicht weit reichen. Nun möchte ich nur noch eines ergründen.« Damit kniete er vor den Holzstuhl hin und prüfte den Sitz mit größter Aufmerksamkeit.

»Danke. Das wäre also festgestellt«, sagte er, indem er aufstand und seine Lupe einsteckte. »Hallo! Da sehe ich noch etwas Interessantes!«

Der Gegenstand, der seinen Blick auf sich gezogen hatte, war eine kleine Hundepeitsche, die an der einen Ecke des Bettes hing und deren Schnur so zusammengeknüpft war, daß sie eine runde Schleife bildete.

»Was hältst du davon, Watson?«

»Das ist eine ganz gewöhnliche Hundepeitsche. Nur kann ich mir nicht denken, wozu die Schleife daran dienen soll.«

»Also ist sie doch nicht so ganz gewöhnlicher Art, nicht wahr? Ach ja, es ist eine schlechte Welt! Und am allerschlimmsten ist es, wenn ein fähiger Kopf seine Gaben zu verbrecherischen Gedanken gebraucht. – Ich glaube, ich habe jetzt genug gesehen, Fräulein Stoner; wir wollen jetzt wieder auf den Rasenplatz hinausgehen.«

Noch nie hatte ich meinen Freund mit so grimmiger Miene und so finster zusammengezogenen Brauen gesehen, als nun, da wir den Schauplatz der Untersuchung verließen. Mehrmals gingen wir auf dem Rasen auf und ab, aber weder ich noch Fräulein Stoner mochten ihn durch eine Frage in seinen Gedanken stören, bis er selbst sich dem tiefen Nachsinnen entriß.

»Es ist unbedingt nötig, Fräulein Stoner«, begann er endlich, »daß Sie meinem Rat in jeder Hinsicht strengstens Folge leisten.«

»Sie können sich darauf verlassen.«

»Der Fall ist zu ernst, um die geringste Unschlüssigkeit zu gestatten. Ihr Leben hängt möglicherweise von Ihrem unbedingten Gehorsam ab.«

»Ich verspreche Ihnen, daß ich alle Ihre Anweisungen genau befolgen werde.«

»Vor allem muß ich mit meinem Freund diese Nacht in Ihrem Zimmer verbringen.«

Ganz verwundert starrten wir ihn beide an.

»Jawohl, das muß sein. Sie sollen gleich das Nähere darüber hören. Das Haus dort drüben ist doch das Dorfwirtshaus?«

»Jawohl, das ist die ›Krone‹.«

»Sehr gut. Sieht man Ihre Fenster von dort aus?«

»Ja.«

»Wenn Ihr Stiefvater heimkommt, müssen Sie Kopfweh vorschützen und sich in Ihr Zimmer einschließen. Sobald Sie dann hören, daß er sich zur Ruhe begeben hat, öffnen Sie die Riegel am Fenster und den Laden, stellen ein Windlicht – so etwas werden Sie ja wohl im Hause haben – zum Zeichen für uns ans Fenster und ziehen sich dann in aller Stille nach Ihrem früheren Schlafzimmer zurück. Sie können sich doch sicher trotz der Bauarbeiten für eine Nacht darin einrichten.«

»O ja, ganz gut.«

»Das Weitere überlassen Sie uns.«

»Was haben Sie vor?«

»Wir werden die Nacht in Ihrem Zimmer verbringen, um dem Geräusch, das Sie so erschreckt hat, auf die Spur zu kommen.«

»Ich habe das Gefühl, Herr Holmes, als hätten Sie schon einen bestimmten Verdacht, als wüßten Sie mehr, als Sie mir zugeben wollen«, sagte Fräulein Stoner und legte ihm die Hand auf den Arm.

»Das kann wohl sein.«

»Dann sagen Sie mir ums Himmels willen, was an dem Tod meiner Schwester schuld war.«

»Ich möchte gern erst noch sichere Beweise haben.«

»Könnte ich nicht wenigstens erfahren, ob meine Ansicht zutrifft, daß sie an einem plötzlichen Schrecken gestorben ist.«

»Nein, das glaube ich nicht. Nach meiner Überzeugung lag wohl eine greifbare Ursache vor. Nun aber, Fräulein Stoner, müssen wir gehen; denn wenn Dr. Roylott zurückkäme und uns sähe, wäre unser ganzer Besuch umsonst gewesen. Leben Sie wohl und halten Sie sich tapfer; wenn Sie meinen Anweisungen pünktlich nachkommen, dürfen Sie versichert sein, daß wir Ihnen alle Gefahren bald aus dem Wege geräumt haben werden.«

Drüben in der »Krone« verschafften wir uns im oberen Stockwerk zwei Zimmer, deren Fenster gerade nach dem Parktor und dem bewohnten Flügel des Herrenhauses hinüberschauten. In der Dämmerung kam Dr. Roylott angefahren; seine Riesengestalt ragte hoch empor neben dem schmächtigen Burschen, der den Wagen lenkte. Als dieser das Gittertor nicht ohne weiteres aufbrachte, hörten wir den Doktor mit seiner heiseren Stimme wütend auf ihn einschreien, am liebsten wäre er mit den geballten Fäusten auf ihn losgegangen. Einige Minuten später blitzte plötzlich aus einem der Wohnzimmer das Licht einer Lampe durch das Laubwerk herüber.

»Weißt du, Watson«, sagte Holmes, als wir in der zunehmenden Dunkelheit beisammen saßen, »es ist mir wirklich nicht ganz wohl dabei, daß ich dich heute nacht mitnehmen soll. Die Sache ist durchaus nicht ohne ernstliche Gefahr.«

»Aber du glaubst, daß ich dir dabei von Nutzen sein kann?«

»Deine Gegenwart ist möglicherweise von ganz unbezahlbarem Werte.«

»Dann werde ich selbstverständlich mitgehen.«

»Das ist sehr freundlich von dir.«

»Du sprichst von Gefahr. Offenbar hast du in den Zimmern mehr gesehen, als ich entdecken konnte.«

»Nein, ich habe wahrscheinlich nur mehr Schlüsse daraus abgeleitet. Gesehen hast du wohl gerade so viel wie ich.«

»Außer dem Klingelzug habe ich nichts Bemerkenswertes wahrgenommen. Zu welchem Zweck der aber dienen sollte, kann ich mir nicht vorstellen, das gestehe ich ehrlich.«

»Hast du auch das Luftloch gesehen?«

»Ja, aber ich meine, eine kleine Öffnung, die aus einem Zimmer ins andere führt, ist doch nichts so ganz Ungewöhnliches. Sie ist ja so klein, daß kaum eine Ratte durchschlüpfen kann.«

»Ich wußte schon, ehe wir hierher kamen, daß wir ein solches Luftloch finden würden.«

»Aber, bester Holmes – –!«

»Du erinnerst dich gewiß, daß uns Fräulein Stoner berichtete, ihre Schwester habe Dr. Roylotts Zigarre gerochen. Nun, das brachte mich sogleich auf den Gedanken, daß zwischen den beiden Zimmern eine Verbindung bestehen muß; natürlich konnte sie nur klein sein, sonst wäre sie bei der gerichtlichen Untersuchung bemerkt worden; so kam ich zu dem Schluß, daß es sich um ein Luftloch handeln werde.«

»Aber was kann denn dabei Schlimmes sein?«

»Es ist doch zum mindesten ein merkwürdiges Zusammentreffen, daß das Mädchen, das in seinem Bett schläft, plötzlich stirbt, gerade nachdem man über demselben ein Luftloch angebracht und daneben einen Klingelzug befestigt hat. Kommt dir das nicht auch auffallend vor?«

»Ich vermag noch immer nicht einzusehen, wie das alles zusammenhängen soll.«

»Hast du vielleicht etwas Besonderes an dem Bett bemerkt?«

»Nein.«

»Es ist am Fußboden angenagelt. Ist dir das sonst schon jemals vorgekommen?«

»Nein, das ist allerdings sonst nicht gerade üblich.«

»Fräulein Stoner konnte also ihr Bett nicht von der Stelle rücken. Es muß gerade unter dem Luftloch und dem Seil stehen bleiben – ein Seil müssen wir es doch eigentlich nennen, da es auf einen Klingelzug offenbar überhaupt nicht abgesehen war.«

»Holmes!« rief ich aus, »ich glaube, mir dämmert allmählich eine Ahnung auf, wohin deine Andeutungen zielen. Wir sind wohl gerade zur rechten Zeit gekommen, um ein raffiniert ausgedachtes Verbrechen zu verhindern.«

»Jawohl, raffiniert ausgedacht! Wenn ein Arzt zum Verbrecher wird, so tut er es allen andern zuvor; denn er besitzt die nötigen Kenntnisse und hat starke Nerven. So war es zu allen Zeiten. Der Mensch, mit dem wir es zu tun haben, stellt zwar selbst berüchtigte Vorbilder in den Schatten, aber wir werden es trotzdem wagen, den Kampf mit ihm aufzunehmen. Es warten unsrer noch Aufregungen genug, bevor die Nacht um ist; deshalb laß uns jetzt in aller Ruhe und Gemütlichkeit eine Pfeife zusammen rauchen und ein paar Stunden an etwas Heiteres denken.«

Etwa um neun Uhr erlosch der Lichtschein zwischen den Bäumen, und das Herrenhaus lag nun in tiefem Dunkel. Zwei Stunden waren langsam dahingeschlichen, als plötzlich, mit dem Schlag elf Uhr, ein einzelnes Licht gerade uns gegenüber aufblitzte.

»Es ist das Zeichen für uns«, sagte Holmes aufspringend; »es kommt aus dem Mittelfenster.«

Beim Verlassen des Hauses erklärten wir dem Wirt mit ein paar Worten, daß wir noch einen späten Besuch bei einem Bekannten machen wollten, wo wir möglicherweise auch die Nacht zubringen würden. Im nächsten Augenblick blies uns bereits der kalte Wind auf der finsteren Landstraße ins Gesicht, und der kleine Lichtschein vom Herrenhause war nun unser einziger Leitstern auf dem dunkeln, unheimlichen Pfade.

In den Park hineinzukommen kostete uns wenig Mühe, denn in der alten Umfassungsmauer gähnten an mehreren Stellen weite Lücken. Wir hielten uns unter den Bäumen, bis wir auf dem Rasenplatz waren. Als wir ihn eben überschritten hatten und im Begriff waren, durch das Fenster einzusteigen, schoß aus dem dichten Lorbeergebüsch ein Wesen hervor, das einem häßlichen, mißgestalteten Kinde ähnlich sah. Zuerst ließ es sich unter allerlei Gliederverrenkungen ins Gras niederfallen, dann rannte es eilig über den Rasen davon und verschwand wieder in der Dunkelheit.

Entsetzt waren wir beide stehengeblieben. Holmes war im ersten Augenblick nicht weniger erschrocken als ich selbst. In seiner Aufregung preßte er mir das Handgelenk zusammen, daß ich hätte aufschreien mögen. Dann aber brach er in ein unterdrücktes Lachen aus und legte seine Lippen an mein Ohr.

»Diesmal haben wir uns schön anführen lassen«, flüsterte er, »das ist ja der Pavian.«

Ich hatte die ausgefallenen Liebhabereien des Hausherrn ganz vergessen. Ein Leopard war überdies ja auch noch da und konnte uns jeden Augenblick auf den Schultern sitzen. Ich gestehe, daß ich mich erst etwas erleichtert fühlte, als ich mich im Innern des Schlafzimmers befand, nachdem ich zuvor, dem Beispiel meines Freundes folgend, die Schuhe ausgezogen hatte. Holmes schloß nun geräuschlos die Läden, stellte das Windlicht auf den Tisch und ließ dann seinen Blick im Zimmer umherschweifen. Es war noch alles genau so, wie wir es am Tage gesehen hatten. Durch die hohle Hand flüsterte mir Holmes so leise zu, daß ich ihn eben noch verstehen konnte:

»Das geringste Geräusch kann uns alles verderben.«

Ich nickte, zum Zeichen, daß ich verstanden habe.

»Wir dürfen das Licht nicht brennen lassen. Er würde den Schein durch das Luftloch sofort bemerken.«

Ich nickte wieder.

»Schlafe nur nicht ein; es könnte dich das Leben kosten. Halte deine Pistole für den Notfall bereit; ich will mich auf das Bett setzen, und du nimmst den Stuhl dort.«

Ich zog meinen Revolver aus der Tasche und legte ihn auf den Tischrand.

Holmes hatte eine lange dünne Gerte mit hereingebracht, die er nun samt einer Taschenlampe neben sich auf das Bett legte. Dann löschte er den kleinen Docht zwischen den Fingern aus und wir saßen im Dunkeln.

Niemals werde ich diese entsetzliche Wache je vergessen können. Kein Laut, nicht der leiseste Atemzug war vernehmbar, und doch wußte ich, daß mein Begleiter kaum ein paar Schritte von mir mit offenen Augen in derselben Erregung und Spannung aller Nerven dasaß, wie ich selbst. Die Läden ließen nicht die kleinste Nachthelle herein, und die Finsternis, die uns umgab, war undurchdringlich. Draußen ließ sich von Zeit zu Zeit der Schrei eines Nachtvogels und einmal auch, gerade vor unserem Fenster, ein langgezogenes katzenartiges Wimmern hören, das uns bewies, daß der Leopard wirklich frei umherlief. Aus weiter Ferne klangen die tiefen Töne der Kirchenuhr herüber, die alle Viertelstunden schlug. Wie lang wurden sie uns, diese Viertelstunden! Es schlug zwölf, eins, zwei, drei – und noch immer saßen wir da und harrten stumm der Dinge, die da kommen sollten.

Plötzlich blitzte an dem Luftloch ein flüchtiger Lichtschein auf, der sofort wieder verschwand, während sich nun ein starker Geruch von brennendem Öl und erhitztem Metall bemerkbar machte. Im Nebenzimmer war eine Blendlaterne angezündet worden. Ich hörte, daß sich etwas leise bewegte. Dann war wieder alles still, während der Geruch sich immer mehr ausbreitete. Eine halbe Stunde saßen wir so und lauschten mit allen Sinnen. Nun ließ sich mit einemmal ein anderer Laut vernehmen – ein ganz leises, sanftes Zischen, wie wenn ein dünner Dampfstrahl längere Zeit aus einem Kessel ausströmt. Augenblicklich sprang Holmes vom Bette auf, knipste seine Taschenlampe an und hieb mit seiner Gerte wütend auf den Klingelzug los.

»Du siehst es doch, Watson?« rief er, »siehst du es?«

Aber ich sah nichts. In dem Augenblick, als Holmes Licht machte, vernahm ich zwar ein sanftes helles Pfeifen, aber bei der plötzlichen Helle, die meine müden Augen traf, war ich nicht imstande, zu unterscheiden, auf was mein Freund so grimmig hineinschlug. Doch bemerkte ich wohl, daß er totenblaß war, und daß sich Entsetzen und Abscheu in seinen Zügen malten.

Jetzt hatte er aufgehört zu schlagen und blickte noch zu dem Luftloch empor, als plötzlich aus der nächtlichen Stille der schauerlichste Schrei hervordrang, den ich je vernommen habe. Er schwoll immer lauter und lauter an; Schmerz, Angst und Wut – das alles klang vereint aus diesem gräßlichen, unbeschreiblichen Laut an unser Ohr. Später erfuhren wir, daß drunten im Dorf, ja sogar in dem entlegenen Pfarrhause bei diesem Schrei die Schläfer aufgefahren waren. Uns stockte vor Entsetzen der Atem, und starr blickten wir einer den andern an, bis auch der letzte Widerhall in der tiefen Stille erstorben war.

»Was mag das bedeuten?« brachte ich mühsam hervor.

»Das bedeutet, daß alles vorüber ist«, gab Holmes zur Antwort, »und vielleicht ist es schließlich am besten so. Nimm deine Pistole zur Hand, dann wollen wir in Dr. Roylotts Zimmer hinübergehen.«

Mit leichenblassem Gesicht schritt er voran auf den Gang hinaus. Zweimal klopfte er an des Doktors Zimmertür, ohne daß von drinnen eine Antwort kam. Nun drückte er die Klinke auf und trat ein, ich mit gespannter Pistole dicht hinter ihm.

Ein eigentümlicher Anblick bot sich unseren Augen. Auf dem Tische stand eine Blendlaterne, aus deren halbgeöffnetem Türchen ein greller Lichtstrahl auf den Eisenschrank fiel, dessen Türe weit offen stand. Neben dem Tisch auf dem Holzstuhl saß Dr. Roylott in einem langen grauen Schlafrock, aus dem unten seine bloßen Knöchel hervorschauten, während seine Füße in roten türkischen Pantoffeln steckten. Auf seinem Schoße lag die Hundepeitsche mit der langen Schleife, die uns am Tage zuvor in die Augen gefallen war. Sein Kinn war aufwärts gezogen, und seine glasigen Augen starrten schauerlich nach einer Ecke der Stubendecke empor. Um die Stirne hatte er ein eigentümliches gelbes Band mit bräunlichen Tupfen, das anscheinend fest um seinen Kopf gewunden war. Bei unserem Eintreten gab er keinen Laut von sich und rührte sich nicht.

»Das Band! Das getupfte Band!« flüsterte Holmes.

Ich machte einen Schritt vorwärts. Auf einmal begann der eigentümliche Kopfschmuck sich zu bewegen, und mitten aus den Haaren des Dasitzenden erhob sich der platte, spitzige Kopf und der aufgeblasene Hals einer Schlange.

»Es ist eine Sumpfotter!« rief Holmes aus, »die giftigste aller indischen Schlangen. Zehn Sekunden nach ihrem Biß lebte er schon nicht mehr. Hier ist in Wahrheit das Böse auf seinen Urheber zurückgefallen, und der Verbrecher stürzte selbst in die Grube, die er andern gegraben. Wir wollen das Tier vor allem wieder in seinen Behälter befördern; dann können wir Fräulein Stoner wegbringen und die Behörde von dem Vorgefallenen in Kenntnis setzen.«

Bei diesen Worten nahm er dem Toten rasch die Peitsche vom Schoß, warf die Schleife um den Hals der Schlange und zog sie von ihrem struppigen Lager weg. Dann trug er sie auf Armeslänge vor sich her nach dem Schrank, legte sie hinein und verschloß ihn wieder.

*

Dies ist der wahre Hergang beim Tode des Dr. Grimesby Roylott von Stoke Moran. Meine Erzählung ist bereits sehr lang geworden; ich will es mir deshalb ersparen, noch ausführlich zu berichten, wie wir die traurige Kunde Fräulein Stoner mitteilten, als wir sie mit dem Frühzug in die Obhut ihrer Tante nach Harrow brachten, und wie die Behörde auf dem Wege ihres langsamen Verfahrens endlich zu dem Schlusse gelangte, daß der Doktor sein plötzliches Lebensende durch unvorsichtiges Spielen mit einem gefährlichen Lieblingstier verschuldet habe. Das wenige, was ich über den Fall noch weiter erfuhr, teilte mir Holmes unterwegs auf der Heimfahrt am nächsten Tage mit.

»Ich war«, erklärte er mir, »zu einer gänzlich irrigen Schlußfolgerung gelangt, woraus du siehst, mein lieber Watson, wie gefährlich es stets ist, seine Schlüsse auf ungenügender Grundlage aufzubauen. Die Anwesenheit der Zigeuner und die doppelsinnige Äußerung der unglücklichen Julia, durch die sie zweifellos den Eindruck bezeichnen wollte, den die Gestalt der Schlange im Scheine des Zündhölzchens auf sie gemacht hatte, genügten, um mich auf eine völlig falsche Spur zu bringen. Ich kann nur das Verdienst für mich in Anspruch nehmen, daß ich augenblicklich davon abging, als es mir klar wurde, daß jede Gefahr, welcher Art sie auch sei, die der Bewohnerin des Zimmers drohte, weder durch die Tür noch durch das Fenster nahen könne. Sofort fiel mir nun das Luftloch auf mit dem Klingelzug daneben, der auf das Bett herabhing. Als ich dann entdeckte, daß es gar keine Klingel war, und ich überdies das Bett am Boden befestigt fand, erwachte in mir augenblicklich der Verdacht, daß das Seil nur dazu diene, um irgend etwas an ihm durch das Luftloch auf das Bett herunterzulassen. Sofort dachte ich an eine Schlange; hielt ich mir dazu weiter vor Augen, daß der Doktor sich beständig Tiere aus Indien schicken ließ, so glaubte ich wirklich annehmen zu dürfen, daß ich mich nun auf der richtigen Spur befinde. Der Gedanke, sich einer Art von Gift zu bedienen, das sich durch keinerlei chemische Untersuchung nachweisen ließ, war einem Menschen mit den Kenntnissen und der Gewissenlosigkeit des Doktors, der lange im Orient gelebt hatte, ganz besonders zuzutrauen. Die rasche Wirkung eines solchen Giftes mußte ihm von seinem Standpunkt aus ebenfalls sehr erwünscht sein. Der Leichenbeschauer hätte wirklich ein scharfes Auge haben müssen, um die zwei winzigen dunklen Pünktchen wahrzunehmen, die einzige Spur, die der Biß der Giftzähne hinterließ. Dann dachte ich über das Pfeifen nach. Er mußte natürlich die Schlange wieder zurückrufen, ehe es hell wurde, damit das Opfer sie nicht erblicken konnte. Deshalb hatte er sie, wahrscheinlich mittels der Milch, die wir bei ihm vorfanden, so abgerichtet, daß sie auf seinen Pfiff zu ihm kam. Zur geeigneten Zeit ließ er sie allemal durch das Luftloch hinüberschlüpfen; er konnte sich darauf verlassen, daß sie an dem Klingelzug auf das Bett hinunterkroch. Ob sie die Schlafende sofort beißen würde, war allerdings nicht sicher; möglich, daß diese eine ganze Woche lang der Gefahr Nacht für Nacht entging; aber früher oder später mußte sie doch zum Opfer fallen.

Zu diesen Schlußfolgerungen war ich bereits gelangt, ehe ich überhaupt des Doktors Zimmer betreten hatte. An seinem Stuhl sah ich dann, daß er sich regelmäßig darauf zu stellen pflegte; natürlich, denn er hätte ja sonst nicht zu dem Luftloch hinaufzureichen vermocht. Der Anblick des eisernen Schrankes, der Untertasse mit Milch und der Schlinge an der Peitschenschnur genügten dann vollends, um jeden Zweifel bei mir zu verscheuchen. Der metallene Klang, den Fräulein Stoner hörte, rührte offenbar von der Tür des Schrankes her, den ihr Vater hinter seiner grausigen Bewohnerin hastig zuschlug. Welche Schritte ich dann tat, und wie sehr sich die Richtigkeit meiner Auffassung bestätigt hat, ist dir ja bekannt. Sobald ich die Schlange zischen hörte, was du ohne Zweifel gleichfalls gehört hast, machte ich augenblicklich Licht und ging auf sie los …«

»Was zur Folge hatte, daß sie sich schleunigst durch das Luftloch davon machte.«

»Und zur weiteren Folge, daß sie sich drüben auf ihren Herrn stürzte. Ein paar von den Hieben mit meiner Gerte saßen ganz gehörig; dadurch erwachte bei der Schlange ihre natürliche Bösartigkeit, so daß sie auf den nächsten besten losging. In dieser Beziehung trage ich zweifellos mittelbar die Schuld an des Doktors Tode, aber ich glaube kaum, daß sie mein Gewissen sonderlich schwer bedrücken wird.«

*

Als der einsame Leser in dem stillen Raum bis hierher gekommen war, sagte er plötzlich laut mitten ins Zimmer hinein:

»Nein, an dieser Schuld hab ich wahrhaftig noch nie schwer getragen.« Seine Hand ließ das Blatt sinken und sein Blick ging weit in die Ferne. Das altersgraue, verwahrloste Gemäuer von Stoke Moran wuchs noch einmal für eine Weile vor ihm auf mit allen Einzelheiten jener Schreckensnacht. Dann zerflatterte es wieder wie ein Nebelgebilde und nichts blieb zurück als die innere Gewißheit, daß er die Verantwortung für diesen Ausgang der Tragödie auf Stoke Moran mit gutem Gewissen tragen konnte.

Mit ruhiger Miene griff Holmes nach der nächsten Nummer des »Telegraph«. »Sieh da«, sagte er vor sich hin, »das ist ja diese merkwürdige Geschichte mit der hydraulischen Presse:

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Der Daumen des Ingenieurs

Der Daumen des Ingenieurs

Von all den schwierigen Kriminalfällen, die meinem Freunde Sherlock Holmes zur Lösung übertragen wurden, erhielt er nur zwei durch meine Vermittlung. Einer davon betraf Hatherleys Daumen. Wenn sich auch das großartige Kombinationstalent meines Freundes, dem er so wunderbare Erfolge zu verdanken hatte, hier weniger dabei entfalten konnte, so fing diese Aufgabe doch so toll an und verlief so dramatisch, daß sie mir wohl der Aufzeichnung wert erscheint. Jedenfalls hat sich der tiefe Eindruck, den ich damals erhielt, noch heute, nach zwei Jahren, kaum abgeschwächt.

*

Es war an einem Sommertag. Ein Bahnbeamter, den ich bei einem Unfall behandelt hatte, verkündete mein Lob in allen Tonarten und hätte mir am liebsten jeden Patienten geschickt, dessen er nur habhaft werden konnte.

Eines Morgens, kurz vor sieben, wurde mir gemeldet, daß eben jener Bahnbeamte mit einem andern, offenbar verletzten Herrn gekommen wäre, um mich zu sprechen. Ich eilte die Treppe hinunter, da ich vermutete, es könne sich wieder um einen Eisenbahnunfall handeln, bei dem rasche Hilfe notwendig sei. Mein alter Freund kam mir vor dem Zimmer schon entgegen.

»Ich hab‘ ihn hergebracht«, flüsterte er, mit dem Daumen über die Schulter deutend, »den hätten wir sicher.«

»Was fehlt ihm denn?« fragte ich, denn das sonderbare Benehmen des Bahnbeamten verriet mir, daß es eine ganz besondere Bewandtnis mit dem Verletzten haben mußte, den er so sorglich in mein Zimmer gesperrt hatte. »Es ist ’n neuer Patient«, raunte er mir in seiner treuherzigen Art leise zu. »Ich hielt es für schlauer, ihn gleich selbst herzubringen, so konnte er mir nicht mehr entwischen. Nun kann er nicht mehr weg. Aber jetzt muß ich gehen, Doktor, die Pflicht ruft.« Und fort war er, ehe ich noch Zeit gefunden hatte, ihm für diese gutgemeinte Belebung meiner garnicht beabsichtigten Praxis zu danken.

Im Empfangszimmer fand ich einen Herrn am Tische sitzen, der einen schlichten, bräunlichen Anzug trug, seine einfache Tuchmütze hatte er auf die dort aufgelegten Bücher gelegt. Eine seiner Hände war in ein völlig mit Blut durchtränktes Taschentuch gewickelt. Er war vielleicht 25 Jahre alt; sein Gesicht war ernst und männlich, aber so bleich, daß es mir den Eindruck machte, als wenn er eben eine schwere Nervenerschütterung durchgemacht hätte, die er trotz aller Anstrengung noch nicht überwinden konnte.

»Verzeihen Sie die frühe Störung, Herr Doktor«, sagte er, »ich habe in dieser Nacht einen ernsten Unfall gehabt. Ich kam heute morgen mit dem Zuge hier an und erkundigte mich bei einem Bahnbeamten, wo ich einen Arzt finden könnte. Dieser Herr hatte die Güte, mich hierher zu begleiten. Ich übergab dem Mädchen meine Karte, doch wie ich sehe, liegt sie noch dort auf dem Tischchen.«

Ich nahm sie auf und las: Victor Hatherley, Ingenieur, Victoriastraße 16a III. Das war also Namen, Beruf und Wohnung meines Morgenbesuches. Dann setzte ich mich zu ihm. »Sie sind also die Nacht durchgefahren?« fragte ich. »Das ist gewöhnlich recht ermüdend und langweilig.«

»Oh, in diesem Falle trifft das nicht zu«, sagte er und dann lachte er, so laut und gellend, daß er sich im Stuhl zurückwarf und sich die Seiten halten mußte. Es lag etwas Krankhaftes in dieser übertriebenen Heiterkeit, das erkannte ich sofort. »Hören Sie auf«, rief ich, »nehmen Sie sich doch zusammen!« Er hatte einen regelrechten hysterischen Anfall, wie er zuweilen bei sehr starken Naturen vorkommt, die eine große Aufregung hinter sich haben.

Erst allmählich beruhigte er sich und nun wurde er dunkelrot vor Verlegenheit.

»Ich habe mich schön lächerlich gemacht vor Ihnen«, keuchte er.

»Durchaus nicht. Bitte, nehmen Sie.« Ich gab ihm etwas Kognak mit Wasser zu trinken.

»Das tut wohl«, sagte er. »Und nun haben Sie vielleicht die Güte, Herr Doktor, und sehen sich einmal meinen Daumen an oder vielmehr die Stelle, wo er gesessen hat.« Er band das Tuch ab und hielt mir die Hand entgegen, deren Anblick selbst mich erschütterte. Neben den vier ausgestreckten Fingern war statt des Daumens nur eine fürchterlich rote, schwammige Fläche. Er mußte bis zur Wurzel abgehackt oder abgerissen worden sein.

»Das ist ja eine furchtbare Wunde, Sie müssen einen bedeutenden Blutverlust gehabt haben.«

»O ja«, antwortete er. »Ich wurde sofort ohnmächtig, nachdem es geschehen war, und muß wohl längere Zeit besinnungslos gelegen haben. Ich blutete noch, als ich wieder zu mir kam, und umschnürte deshalb mein Handgelenk mit dem Taschentuch, das ich mit einem Holzpflock möglichst fest drehte.«

»Das war sehr richtig. – Die Wunde wurde jedenfalls durch ein schweres und scharfes Instrument verursacht?«

»Durch eine Art Schlächterbeil.«

»Vermutlich ein unglücklicher Zufall?«

»O nein, ganz und gar nicht.«

»Also ist es mit Absicht geschehen?«

»Sehr richtig geraten.«

»Aber das ist ja fürchterlich!«

Ich wusch die Wunde aus und legte dann einen antiseptischen Verband an. Er zuckte nicht mit der Wimper und biß sich nur zuweilen auf die Lippen.

»Wie fühlen Sie sich jetzt?« fragte ich nach beendeter Arbeit.

»Es ist mir jetzt wieder viel besser. Ich war wirklich dem Umsinken nahe, aber ich habe auch recht viel durchgemacht.«

»Vielleicht wäre es richtiger, Sie würden jetzt nicht davon sprechen. Es greift Sie sicher sehr an.«

»Jetzt durchaus nicht mehr. Ich muß die Sache so bald wie möglich der Polizei melden, aber wenn meine Wunde nicht einen sehr deutlichen Beweis lieferte, würde ich wahrscheinlich mit meiner Erzählung dort wenig Glauben finden, besonders da ich so gut wie keine sicheren Anhaltspunkte geben kann.«

»Oho!« rief ich, »falls die Geschichte etwas rätselhafter Natur ist und einer Lösung bedarf, dann würde ich Ihnen eigentlich raten, zuerst mit meinem Freund Holmes zu sprechen, ehe Sie auf die Polizei gehen.«

»Von diesem Herrn habe ich schon gehört«, sagte mein Patient, »und ich würde ihm nur zu gern meine Angelegenheit übergeben, obgleich die Polizei natürlich auch benachrichtigt werden muß. Würden Sie so freundlich sein und mir einige Empfehlungsworte mitgeben?«

»Herr Holmes wohnt hier im Hause, ich kann Sie gleich zu ihm führen«, antwortete ich.

Wir gingen nach oben. Sherlock Holmes saß noch im Schlafanzug im Wohnzimmer, las die Polizeiberichte in der »Times« und rauchte seine Morgenpfeife, die er mit allen Stummeln und Endchen der Zigarren stopfte, welche er tags zuvor geraucht hatte und sorgfältig zu sammeln und auf dem Kaminsims zu trocknen pflegte. Er empfing uns in seiner urgemütlichen Art und Weise und ließ frisch gerösteten Speck und Eier bringen, so daß wir uns bald recht behaglich fühlten. Als wir fertig waren, mußte unser neuer Freund in einem bequemen Liegestuhl Platz nehmen, Holmes unterstützte seinen Kopf mit einem Kissen und stellte ihm ein Glas Wasser und Kognak in die Nähe.

»Es scheint mir, Herr Hatherley, als wäre Ihre Angelegenheit nicht ganz gewöhnlicher Natur«, sagte er. »Bitte, machen Sie es sich vollständig bequem und betrachten Sie sich ganz wie zu Hause. Erzählen Sie uns alles so genau wie möglich, aber halten Sie bei der geringsten Ermüdung ein und gebrauchen Sie ab und zu dies kleine Stärkungsmittel.«

»Besten Dank«, sagte mein Patient. »Nachdem Doktor Watson mir den Verband angelegt hat, fühle ich mich wieder ganz gut, und Ihr Frühstück hat die Kur vollendet. Ich will mich so kurz wie möglich fassen, um Ihre Zeit nicht übermäßig in Anspruch zu nehmen.«

Holmes saß in seinem Lehnstuhl; sein gleichgültiges Gesicht mit den halb geschlossenen Augen verriet nichts von seiner scharfsinnigen Forschernatur. Ich saß ihm gegenüber, und wir hörten beide stillschweigend dem seltsamen Bericht des Fremden zu.

»Zuerst muß ich Ihnen sagen«, begann er, »daß ich alleinstehender Junggeselle bin und in einer Mietwohnung in London lebe. Von Beruf bin ich Ingenieur und habe während der sieben Jahre, die ich bei der Ihnen sicher bekannten Firma Venner & Matheson in Grennwich beschäftigt war, mir gute Kenntnisse angeeignet.

Als vor zwei Jahren meine Ausbildung beendet war, und ich durch meines Vaters Tod in den Besitz seines Vermögens kam, entschloß ich mich, selbständig zu werden, und ließ mich in der Victoriastraße nieder. Vermutlich wird jeder Mensch bei diesem ersten Schritt auf die Bahn der Unabhängigkeit ziemlich trübselige Erfahrungen machen; mir ging es jedenfalls nicht anders. In zwei Jahren wurde mein Rat im ganzen dreimal begehrt, und nur einmal wurde mir ein sehr unbedeutender Auftrag erteilt, das war alles! Meine Gesamteinnahmen beliefen sich auf 27 Pfund 10 Schillinge. Von neun Uhr morgens bis vier Uhr nachmittags lag ich täglich auf der Lauer, bis ich wirklich mutlos wurde und sich der Gedanke in mir festsetzte, daß ich es in einem selbständigen Geschäft nie zu etwas bringen würde. Gestern jedoch, als ich eben im Begriff stand, das Büro zu verlassen, meldete man mir, es wäre ein Herr draußen, der mich zu sprechen wünschte. Ich sah mir seine Karte an, sie trug den Namen Oberst Lysander Stark. Ich ließ den Oberst hereinbitten. Er war etwas über Mittelgröße und von erschreckender Magerkeit, ich entsinne mich nicht, jemals einen so hageren Menschen gesehen zu haben. Sein Gesicht bestand eigentlich nur aus Nase und Kinn, und die Haut war straff über die Backenknochen gespannt. Und doch sah er eigentlich nicht krank aus, denn seine Augen blickten völlig klar, sein Schritt war sicher und sein ganzes Benehmen sehr selbstbewußt. Seine Kleidung war ziemlich einfach, aber sauber; er mochte ungefähr vierzig Jahre zählen.

›Herr Hatherley?‹ fragte er mit deutschem Akzent. ›Sie sind mir als ein Mann empfohlen worden, der nicht nur in seinem Berufe sehr tüchtig ist, sondern auf dessen Verschwiegenheit man sich verlassen kann.‹

Ich verbeugte mich. ›Darf ich fragen, wem ich dieses günstige Zeugnis zu verdanken habe?‹

›Vielleicht ist es richtiger, ich teile es Ihnen nicht sofort mit. Aus derselben Quelle erfuhr ich auch, daß Sie ohne Angehörige und Junggeselle sind und allein in London wohnen.‹

›Das stimmt. Aber ich begreife nicht, was das mit meiner Tüchtigkeit als Fachmann zu tun hat, denn ich muß doch annehmen, daß Sie mich in einer geschäftlichen Angelegenheit zu sprechen wünschen.‹

›Ihre Vermutung ist ganz richtig, und Sie werden gleich sehen, wie sehr meine Fragen damit zusammenhängen. Ich habe allerdings einen Auftrag für Sie, doch er erfordert absolutes, unverbrüchliches Stillschweigen, und Sie werden wohl begreifen, daß solch ein Geheimnis bei einem alleinstehenden Manne besser aufgehoben ist, als bei einem, der eine große Familie hat.‹

›Wenn ich Ihnen etwas verspreche, können Sie sich völlig auf meine Verschwiegenheit verlassen.‹

Ich erinnere mich nicht, je in meinem Leben einem so scharfen, argwöhnischen Blick begegnet zu sein, wie ihn mein Besucher jetzt auf mich warf.

›Ich habe also Ihr Wort?‹ fragte er.

›Sie haben es.‹

›Sie werden über die ganze Sache jetzt und für immer tiefstes Stillschweigen bewahren?‹

›Ich versprach das schon.‹

›Gut‹, sagte er, sprang dann plötzlich auf, war wie der Blitz an der Tür und riß sie auf. Der Vorraum war leer.

›Alles in Ordnung!‹ sagte er zurückkehrend, ›die Angestellten interessieren sich oft mehr als nötig für die Angelegenheiten ihrer Chefs. Nun können wir in Ruhe weiter verhandeln.‹

Er rückte seinen Stuhl dicht an den meinen, und wieder ruhte sein Blick so forschend und lauernd auf mir wie vorhin. Ein abstoßendes Gefühl, ja fast Furcht, stieg in mir auf bei dem seltsamen Gebaren der klapperdürren Gestalt. Selbst auf die Gefahr hin, meinen Auftraggeber wieder zu verlieren, konnte ich meine Ungeduld nicht länger bezwingen.

›Dürfte ich Sie jetzt bitten, mein Herr, Ihre geschäftliche Angelegenheit zur Sprache zu bringen‹, sagte ich. ›Meine Zeit ist kostbar.‹ Der Himmel möge mir diese Lüge vergeben, aber die Worte traten mir unwillkürlich auf die Lippen.

›Würden Ihnen 50 Guineen für die Arbeit einer Nacht genügen?‹

›Selbstverständlich.‹

›Das heißt, ich sage die Arbeit einer Nacht, obgleich es wohl richtiger wäre, von einer Stunde zu sprechen. Wir möchten Sie nur bitten, Ihr Gutachten über eine hydraulische Presse abzugeben, die nicht mehr tadellos funktioniert. Wenn Sie uns zeigen wollten, wo der Fehler steckt, könnten wir die Sache leicht in Ordnung bringen. Wie denken Sie über diesen Auftrag?‹

›Im Vergleich zu der Vergütung erscheint er mir sehr unbedeutend.‹

›Das ist er auch. Nur wünschen wir, daß Sie erst abends mit dem letzten Zuge kommen.‹

›Und wohin?‹

›Nach Eyford in Berkshire. Es ist ein kleiner Ort an der Grenze von Oxfordshire, ungefähr sieben Meilen von Reading. Sie treffen mit dem Auge von Paddington um 11.15 ein.‹

›Das würde ja sehr gut passen.‹

›Ich werde Sie mit dem Wagen abholen, denn unsere Besitzung liegt abseits in ländlicher Einsamkeit. Sie ist stark sieben Meilen von der Station Eyford entfernt.‹

›Aber dann können wir ja kaum vor Mitternacht dort eintreffen und vermutlich ist mir damit jede Gelegenheit zur Rückfahrt abgeschnitten, so daß ich übernachten müßte?‹

›Darüber machen Sie sich keine Sorgen. Ein Nachtlager finden Sie auch bei uns.‹

›Das wäre doch eigentlich sehr umständlich. Könnte ich nicht zu einer besser gelegenen Zeit kommen?‹

›Wir halten gerade diese Stunde für die geeignetste. Für die kleine Unbequemlichkeit, die damit verbunden ist, erhalten Sie als junger, unbekannter Mann ja ein Honorar, wie es Ihre gesuchtesten Kollegen kaum für ihre Gutachten fordern würden. Wenn Sie jedoch mein Anerbieten noch überlegen wollen, so haben Sie ja noch reichlich Zeit.‹

Ich dachte daran, wie gut ich augenblicklich die 50 Guineen brauchen könnte, und erwiderte deshalb: ›Durchaus nicht, ich werde mich sehr gern Ihren Wünschen anpassen; nur möchte ich Sie bitten, mir ein wenig genauer auseinanderzusetzen, um was es sich handelt.‹

›Natürlich. Es ist mir durchaus begreiflich, daß die Verpflichtung, über alles zu schweigen, Ihre Neugierde erregt. Ehe wir Ihnen daher ein bindendes Versprechen abfordern, sollen Sie vollständig klar sehen. Hoffentlich ist hier kein Lauscher zu befürchten?‹

›Das ist ausgeschlossen.‹

›Dann will ich Ihnen alles erklären: Sie wissen wahrscheinlich, daß Walkererde ein sehr kostbarer Artikel ist, den man in England nur an ein bis zwei Orten findet.‹

›Ich habe davon gehört.‹

›Vor einiger Zeit kaufte ich eine sehr kleine Besitzung ungefähr zehn Meilen von Reading. Ich hatte das Glück, auf einem Feld ein Lager von Walkererde zu entdecken. Bei näherer Untersuchung stellte es sich indessen heraus, daß der Fund nur sehr unbedeutend war, daß er eigentlich nur die Verbindung zwischen zwei größeren Lagern bildete, die sich rechts und links davon ausdehnten und meinen beiden nächsten Nachbarn gehörten. Die guten Leute hatten natürlich keine blasse Ahnung, daß ihre Grundstücke so viel wie eine Goldmine enthielten, und es lag daher in meinem Interesse, ihnen das Land abzukaufen, ehe sie seinen wahren Wert kennen lernten. Leider fehlten mir die Mittel zum Kauf. Einige Freunde, denen ich meine Entdeckung mitgeteilt hatte, rieten mir, mein eigenes Lager im geheimen auszunutzen, um auf diese Weise die Mittel zur Erwerbung der Nachbarbesitzungen zu bekommen. Diesen Rat habe ich nun seit längerer Zeit befolgt und bei meinem Unternehmen eine hydraulische Presse benutzt. Wie gesagt, funktioniert diese nun nicht mehr richtig, und ich möchte Sie daher um Ihr Gutachten in dieser Angelegenheit bitten. Jetzt werden Sie sich aber denken können, wie sehr ich auf die Wahrung meines Geheimnisses bedacht sein muß. Käme es jemand zu Ohren, daß ein Ingenieur mein kleines Grundstück besichtigt, so würde das selbstverständlich die Neugierde meiner Nachbarn erregen, und falls die Sache bekannt würde, könnte ich bestimmt jede Hoffnung aufgeben, die Felder zu erwerben und meine Pläne zur Ausführung zu bringen. Aus diesem Grunde habe ich Sie um die größte Diskretion gebeten. Hoffentlich habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?‹

›Ich bin völlig orientiert‹, sagte ich. ›Nur das eine bleibt mir unverständlich, wie Sie die Walkererde vermittels einer hydraulischen Presse gewinnen wollen, man muß sie doch ausgraben wie den Kies aus einer Grube.‹

›Ach‹, sagte er leichthin, ›dabei haben wir unser eigenes Verfahren. Wir pressen Ziegel aus der Erde, um sie leichter und ohne Verdacht zu erregen, fortschaffen zu können. Doch das gehört nicht hierher. Sie sehen, Herr Hatherley, ich habe Ihnen mein ganzes Vertrauen geschenkt und verlasse mich fest auf Sie.‹ Er erhob sich bei diesen Worten.

›Ich erwarte Sie also in Eyford um 11.15.‹

›Ich werde pünktlich erscheinen.‹

›Und Sie sagen bestimmt zu keinem Menschen ein Wort.‹

Noch einmal traf mich ein letzter argwöhnischer, mißtrauischer Blick, und fort war er.

Als ich mir dann später alles in Ruhe überlegte, war ich doch, wie Sie sich wohl denken können, etwas erstaunt über diesen Auftrag, der mir so ganz unerwartet anvertraut worden war. Einerseits stimmte mich das hohe Honorar natürlich sehr froh, denn es überstieg mindestens das Zehnfache dessen, was ich dafür gefordert hätte, auch konnte dieser Auftrag leicht andere nach sich ziehen. Andererseits erschienen mir Gesicht und Benehmen meines neuen Auftraggebers wenig vertrauenerweckend, ebensowenig wie seine Erklärung die Notwendigkeit meines Kommens um Mitternacht rechtfertigte, und seine Angst, ich könnte mein Schweigen brechen, glaubhaft erscheinen ließ. Aber ich verscheuchte all die Gedanken, machte mich nach einem kräftigen Abendessen auf den Weg und fuhr von Paddington ab, ohne einem Menschen von meinem Vorhaben erzählt zu haben.

In Reading hatte ich nicht nur den Zug, sondern auch den Bahnhof zu wechseln, doch ich erreichte gerade noch den Anschluß nach Eyford und langte kurz nach elf auf der kleinen, schlecht beleuchteten Station an. Ich war der einzige Reisende, der hier ausstieg, und außer einem schläfrigen Stationsbeamten mit einer Laterne war kein Mensch weiter zu erblicken. Ich hatte jedoch kaum den Bahnhof verlassen, so fand ich auch meinen Bekannten vom Morgen, er wartete auf der andern Seite des Bahnhofs, die in tiefster Dunkelheit lag. Ohne ein Wort ergriff er meinen Arm und schob mich durch die offenstehende Tür eines Wagens. Dann zog er beide Fenster in die Höhe, ließ die Vorhänge herunter, und fort ging es, so schnell das Pferd laufen konnte.«

»Ein Pferd?« unterbrach Holmes.

»Ja, nur eins.«

»Konnten Sie die Farbe erkennen?«

»Ja, das Licht der Wagenlaterne fiel darauf, als ich einstieg. Es war ein Brauner.«

»War das Tier ermüdet oder frisch?«

»Vollständig frisch.«

»Danke sehr. Entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbrach, und fahren Sie bitte in Ihrer höchst interessanten Erzählung fort.«

»Es ging also los, und zwar fuhren wir mindestens eine Stunde. Oberst Stark hatte nur von sieben Meilen gesprochen, aber meiner Ansicht nach waren es wohl zwölf. Während der ganzen Zeit saß er schweigend neben mir, doch ich war mir bewußt, und ein rascher Seitenblick überzeugte mich davon, daß er mich scharf beobachtete. Die dortigen Landwege schienen in ziemlich traurigem Zustande zu sein, wir wurden furchtbar hin und her geschüttelt. Zuweilen versuchte ich aus dem Fenster zu sehen, doch sie bestanden aus Eisglas, und ich gewahrte nur gelegentlich den hellen Schein eines vorüberfliegenden Lichtes. Hin und wieder versuchte ich auch durch eine Bemerkung die Einförmigkeit der Fahrt zu unterbrechen, aber der Oberst anwortete nur sehr einsilbig, und bald stockte die Unterhaltung wieder. Schließlich hörte das Stoßen des Wagens auf, wir rollten auf einem knirschenden Kiesweg dahin und hielten plötzlich. Oberst Lysander sprang heraus und zog mich, als ich mich anschickte, ihm zu folgen, blitzschnell in einen offenstehenden Torweg. Der Wagen hielt so dicht vor dem Hause, daß es mir nicht gelang, auch nur einen flüchtigen Blick auf die Außenseite des Gebäudes zu werfen. Wir hatten kaum die Schwelle überschritten, so hörte ich schon die Tür schwer hinter uns ins Schloß fallen und konnte kaum noch das Geräusch der davonrollenden Räder vernehmen. Im Hause war es stockfinster, der Oberst tappte nach dem Lichtschalter und murrte halblaut vor sich hin. Plötzlich wurde am Ende des Ganges eine Tür geöffnet, und ein langer, goldener Lichtstrahl fiel auf uns. Bei dem hellen Schein gewahrte ich eine Frauengestalt unter der Türe, mit vorgebeugtem Gesicht starrte sie uns an. Ich konnte deshalb ihre schönen Züge erkennen und ebenso den kostbaren Stoff ihres dunklen Kleides. Sie richtete an meinen Gefährten einige Worte in fremder Sprache, die fast wie eine Frage klangen. Bei seiner rauhen, kurzen Antwort schrak sie heftig zusammen. Der Oberst trat rasch auf sie zu, flüsterte ihr etwas ins Ohr und schob sie wieder ins Zimmer zurück, dann kehrte er zu mir zurück. ›Würden Sie so freundlich sein, hier einige Minuten zu warten‹, sagte er, eine andere Tür öffnend. Es war ein kleines, einfach ausgestattetes Gemach mit einem runden Tisch in der Mitte, auf dem mehrere deutsche Bücher verstreut lagen. Ein Harmonium stand neben der Tür. ›Ich werde Sie keine Minute warten lassen‹, sagte er und verschwand in der Dunkelheit.

Ich betrachtete die Bücher auf dem Tisch und sah trotz meiner Unkenntnis des Deutschen, daß zwei von ihnen wissenschaftlichen und die andern poetischen Inhalts waren. Dann schritt ich zum Fenster, um einen Blick hinauszuwerfen, aber die schweren eisernen Läden waren geschlossen und fest verriegelt. Es war ein wunderbar stilles Haus. Im Gange hörte man eine alte Uhr laut ticken, sonst herrschte Todesschweigen rings umher. Ein unbestimmtes, unbehagliches Gefühl ergriff mich. Wer waren diese Deutschen, und was taten sie an diesem seltsamen, weltverlorenen Ort? Und wo befand sich dieser Ort überhaupt? Ich war mindestens zwölf Meilen von Eyford entfernt, doch das war auch alles, was ich wußte, ob es nördlich, südlich, westlich oder östlich davon war, entzog sich meiner Vermutung. Die große Stille ringsumher aber machte es mir zur Gewißheit, daß wir uns auf dem Lande befanden. Ich schritt auf und nieder, leise eine Melodie summend, um mich munter zu erhalten.

Plötzlich, ohne daß vorher ein Laut die unheimliche Stille unterbrochen hätte, öffnete sich langsam die Tür meines Zimmers. In der Öffnung stand die Frau, deren schönes, erregtes Gesicht hell von dem Licht meiner Lampe bestrahlt wurde, hinter ihr lag die Halle in tiefer Dunkelheit. Sie schien mir vor Angst halb ohnmächtig zu sein, und dieser Anblick ließ mein eigenes Herz erstarren. Warnend hielt sie einen Finger empor, um mir Schweigen anzudeuten, und flüsterte mir in gebrochenem Englisch einige Worte zu, wobei sie öfter mit scheuem Blick in die Dunkelheit hinter sich spähte.

›Ich würde gehen‹, sagte sie, sich gewaltsam zur Ruhe zwingend, ›ich würde gehen und nicht hier bleiben. Sie tun gut daran.‹

›Aber, gnädige Frau‹, erwiderte ich, ›meine Aufgabe ist noch nicht erfüllt. Ich kann mich doch unmöglich entfernen, ehe ich nicht die Maschine gesehen habe‹.

›Es verlohnt sich nicht der Mühe, hier länger zu warten‹, fuhr sie fort. ›Sie können ruhig durch die Haustür gehen, niemand wird Sie hindern‹. Und dann, als sie sah, daß ich nur lächelnd den Kopf schüttelte, verließ sie plötzlich ihre Selbstbeherrschung, und sie trat, die Hände ringend, auf mich zu. ›Um Gottes willen, fliehen Sie, fliehen Sie, bevor es zu spät ist.‹

Doch ich bin eine sehr hartnäckige Natur, und je mehr Schwierigkeiten sich mir in den Weg stellen, je größeren Reiz bekommt eine Sache für mich. Außerdem dachte ich auch an mein Honorar von 50 Guineen, an die anstrengende Reise und daran, daß ich in dieser Gegend doch ganz fremd war und nicht gewußt hätte, wo ich die Nacht verbringen sollte. Warum sollte ich mich davonstehlen, ohne meinen Auftrag ausgeführt zu haben und ohne die mir zustehende Bezahlung bekommen zu haben? Konnte die Frau nicht eine Wahnsinnige sein? Entschlossen schüttelte ich deshalb den Kopf, trotzdem sie mich stärker erschüttert hatte, als ich zugeben wollte und erklärte fest, daß ich auf jeden Fall bleiben würde. Sie wollte noch weiter in mich dringen, doch über uns wurde eine Tür zugeschlagen, und man hörte deutlich zwei Menschen die Treppe herabkommen. Sie blieb einen Augenblick lauschend stehen, rang nochmals verzweifelnd die Hände und verschwand dann plötzlich und geräuschlos, wie sie gekommen war.

Bald darauf trat Oberst Lysander Stark und ein kleiner, dicker Herr bei mir ein, dessen spärlicher Bart aus den Falten seines Doppelkinns herauswuchs, und der mir als Herr Ferguson vorgestellt wurde.

›Dies ist mein Sekretär und Geschäftsführer‹, sagte der Oberst. ›übrigens glaubte ich bestimmt, diese Tür vorhin fest geschlossen zu haben. Es ist mir leid, es hat Ihnen sicher sehr hereingezogen?‹

›Im Gegenteil‹, antwortete ich, ›ich selbst habe die Tür geöffnet, weil mir die Luft hier im Zimmer etwas dumpf vorkam.‹

Er warf mir einen unruhigen Seitenblick zu. ›Wir wollen nun gleich an das Geschäft gehen. Herr Ferguson und ich werde Ihnen jetzt die Maschine zeigen.‹

Ich griff nach meinem Hut, um ihn aufzusetzen.

›Oh, das ist nicht nötig‹, wehrte der Oberst ab, ›sie befindet sich im Hause.‹

›Wie, Sie bohren im Hause nach Walkererde?‹

›Das nicht, wir pressen sie nur im Hause. Doch das gehört nicht zur Sache. Wir möchten Sie nur bitten, die Maschine zu untersuchen und uns auseinanderzusetzen, wo der Fehler steckt.‹

Wir gingen zusammen nach oben, zuerst der Oberst, dann der korpulente Geschäftsführer und zuletzt ich. Das alte Haus war ein wahres Labyrinth von Winkeln und Gängen, engen Wendeltreppen und kleinen, niedrigen Türen, deren Schwellen im Laufe der Zeit von ganzen Generationen tief ausgetreten waren. Nirgends eine Spur von Tapeten oder Möbeln, von den Wänden war die Bekleidung teilweise abgebröckelt, während sich die Feuchtigkeit in grünlich schillernden Stellen darauf niedergeschlagen hatte. Ich bemühte mich, so unbefangen wie möglich auszusehen, aber mir klangen noch immer die unbeachtet gelassenen Warnungen der Dame im Ohr, und ich behielt meine beiden Gefährten scharf im Auge.

Ferguson schien mir ein mürrischer, schweigsamer Mann, doch aus seinen wenigen Äußerungen entnahm ich, daß er mein Landsmann sei. Oberst Lysander Stark hielt jetzt vor einer niedrigen Tür, die er aufschloß. Sie führte in einen kleinen, rechtwinkligen Raum, in welchem wir drei kaum zu gleicher Zeit Platz hatten. Eine Lichtleitung schien nicht darin, denn der Oberst entzündete eine Petroleumlampe, die vor der Tür an einem Haken gehängt hatte. Ferguson blieb draußen, und der Oberst forderte mich auf, einzutreten.

›Wir befinden uns jetzt in der hydraulischen Presse‹, sagte er, ›und es könnte für uns sehr unangenehm werden, wenn sie plötzlich jemand in Bewegung setzen wollte. Die Decke dieser kleinen Kammer wird nämlich von dem Ende des niedergehenden Kolbens gebildet, der mit ungeheurer Gewalt auf den metallenen Fußboden schlägt. Außen sind seitlich enge Wasserröhren angebracht, durch welche die Kraft aufgenommen und in der Ihnen bekannten Weise verstärkt und fortgepflanzt wird. Die Maschine funktioniert sonst tadellos, aber jetzt scheint ein Hemmnis den Gang zu erschweren und die Kraft zu vermindern. Vielleicht haben Sie die Güte, einmal nachzusehen, wie die Sache wieder in Ordnung gebracht werden könnte.‹

Ich nahm ihm die Lampe ab und untersuchte die Maschine sehr sorgfältig. Sie hatte geradezu riesige Dimensionen und mußte einen enormen Druck erzeugen. Doch als ich draußen die Hebel niederdrückte, welche sie in Gang setzten, belehrte mich sofort der eigentümlich zischelnde Ton, daß sich irgendwo ein Leck gebildet haben mußte, das ein Wiederausströmen des Wassers durch einen der Seitenzylinder verursachte. Eine genauere Prüfung bestätigte dies auch bald; einer der Kautschukreifen am oberen Ende der Triebstange war schadhaft geworden und konnte deshalb den Zylinder, in dem sie auf- und niederging, nicht mehr luftdicht abschließen. Dadurch ließ sich die Verminderung der Kraft leicht erklären; ich setzte dies meinen beiden aufmerksamen Zuhörern auseinander und belehrte sie zugleich eingehend über die Abstellung dieses Übelstandes. Darauf kehrte ich noch einmal in den Hauptraum zurück, hauptsächlich um meine eigene Neugierde zu befriedigen. Daß die Erzählung von dem Pressen der Walkererde nur ein Märchen war, hatte ich auf den ersten Blick gesehen; es wäre ja unvernünftig gewesen, für einen so unbedeutenden Zweck solche Riesenmaschine zu verwenden. Die Wände bestanden aus Holz, doch den Boden bildete eine große, eiserne Platte, die völlig mit einer Kruste von metallischen Abfällen bedeckt war. Ich kniete nieder und versuchte, ein wenig davon abzukratzen, um mich genauer von dem Bestand zu überzeugen, als ich hinter mir einen Ausruf hörte und das gespensterhafte Antlitz des Obersten sich zu mir herabbeugen sah.

›Was machen Sie denn da?‹ fragte er.

Ich fühlte einen heftigen Groll in mir aufsteigen, daß man es versucht hatte, mich so hinters Licht zu führen. ›Ich bewundere nur Ihre Walkererde‹, antwortete ich, ›wahrscheinlich wäre es mir leichter geworden, Ihnen einen Rat wegen Ihrer Maschine zu erteilen, wenn ich ihren wirklichen Zweck gekannt hätte.‹

Augenblicklich bereute ich, daß mir diese Worte entschlüpft waren. Sein Gesicht versteinerte sich förmlich, seine grauen Augen funkelten mich unheilverkündend an.

›Dann tue ich wohl besser daran, Sie in alles einzuweihen,‹ sagte er. Er machte einen Schritt rückwärts, schlug die kleine Tür zu und drehte den Schlüssel um. Ich stürzte mich darauf und rüttelte an dem Griff, aber das Schloß rührte sich nicht und gab nicht im geringsten meinen verzweifelten Anstrengungen nach. ›Hallo!‹ schrie ich gellend, ›hallo! Oberst Stark! Öffnen Sie sofort!‹

Plötzlich aber klang durch die Stille ein Ton, der mein Herz vor Schrecken stillstehen ließ. Es war das Geklirr der Hebel und das Zischen des schadhaften Zylinders. Großer Gott! Er hatte die Maschine in Gang gesetzt! Die Lampe stand noch auf dem Boden, den ich hatte untersuchen wollen. Bei ihrem Licht konnte ich deutlich erkennen, wie sich die schwarze Decke über mir senkte, langsam, ruckweise, aber keiner wußte besser als ich, mit wie furchtbarer Kraft; in der nächsten Minute mußte ich zu einem formlosen Brei zerstampft sein. Ich warf mich stöhnend gegen die Tür und zerrte mit meinen Nägeln am Schloß. Ich beschwor den Obersten, mir zu öffnen, doch mein Flehen wurde durch das erbarmungslose Rasseln draußen übertönt. Jetzt befand sich die Decke nur noch ein bis zwei Fuß über meinem Kopf, mit ausgestreckter Hand konnte ich ihre harte, rauhe Oberfläche fühlen. Und wie ein Blitz durchzuckte mich der Gedanke, daß ich mir den Todeskampf vielleicht durch meine Lage erleichtern könnte. Würde ich mich auf das Gesicht legen, so würde mir zuerst das Rückgrat zerbrochen werden. Bei dem Gedanken daran überliefen mich kalte Schauer. Legte ich mich aber auf den Rücken, würde ich dann die Kraft haben, diesen tödlichen, schwarzen Koloß auf mich herabkommen zu sehen? Schon war es mir unmöglich geworden, aufrecht zu stehen, da wurde mein Herz plötzlich von neuer Hoffnung erfüllt. Wie schon erwähnt, bestanden nur Decke und Boden aus Eisen, die Wände waren aus Holz. Als ich mich noch einmal verzweifelt nach Rettung umschaute, bemerkte ich zwischen zwei Brettern einen kleinen, gelben Lichtschimmer, der sich schnell verbreiterte, indem eines der Bretter zurückgeschoben wurde. Ich vermochte es zuerst kaum zu fassen, daß ich durch diese kleine Öffnung wirklich dem Tode entrinnen könnte. Doch schon im nächsten Augenblick war ich hindurchgekrochen und lag nun halb ohnmächtig auf der anderen Seite. Die Öffnung hatte sich wieder hinter mir geschlossen, ich hörte nur noch das Klirren der zerbrechenden Lampe und kurz darauf das Aufschlagen der beiden Metallplatten, das mir deutlich bewies, mit wie knapper Not ich dem Tode entronnen war. Als ich wieder zum Bewußtsein erwachte, lag ich auf dem mit Fliesen ausgelegten Boden eines schmalen Ganges. Eine Frau beugte sich über mich und versuchte mich durch heftiges Schütteln mit der linken Hand aus meiner Betäubung zu erwecken, in der rechten hielt sie eine Taschenlampe. Es war jene Frau, deren Warnungen ich törichterweise unbeachtet gelassen hatte.

›Kommen Sie rasch, rasch!‹ rief sie atemlos. ›Sie werden sofort Ihr Verschwinden entdecken. Oh, so beeilen Sie sich doch, es ist keine Sekunde zu verlieren.‹

Diesmal war ihr Rat nicht vergebens. Ich richtete mich taumelnd empor und eilte mit ihr den Gang entlang und dann eine Wendeltreppe hinunter. Die Treppe führte wiederum auf einen breiten Gang. Wir hatten ihn kaum erreicht, als wir schon den Ton von eiligen Schritten und den Klang von zwei Stimmen hörten; die eine sprach dicht in unserer Nähe, die andere antwortete aus der Entfernung. Die Frau stand einen Augenblick völlig fassungslos. Plötzlich stieß sie eine Tür auf; wir standen in einem Schlafzimmer, durch dessen Fenster heller Mondschein flutete.

›Es bleibt kein andrer Weg übrig. Es ist hoch, aber Sie müssen es versuchen.‹

Während sie noch sprach, tauchte am Ende des Ganges ein Licht auf, ich sah die dürre Gestalt des Obersten herbeistürzen, in der Hand hielt er ein großes Beil. Ich flog zum Fenster, öffnete es und schaute hinunter. Wie ruhig und friedlich lag der Garten im Mondlicht! Die Höhe konnte nicht mehr als dreißig Fuß betragen. Ich schwang mich auf das Fensterbrett, aber ich zögerte noch mit dem Sprung. Ich wollte wissen, was zwischen meiner Retterin und meinem Verfolger vorgehen würde. Wenn dieser Schuft sie mißhandelte, war ich unter allen Umständen entschlossen, ihr beizustehen. Im selben Augenblick schon erschien er in der Tür und wollte an ihr vorüberstürzen, sie warf sich ihm jedoch entgegen und klammerte sich fest an ihn.

›Fritz, Fritz!‹ rief sie in englischer Sprache, ›vergiß nicht, was du mir beim letzten Mal geschworen hast. Es sollte nie, nie wieder geschehen. Er wird schweigen, glaub‘ mir, er wird schweigen.‹

Er versuchte sich mit aller Kraft freizumachen. ›Bist du von Sinnen, Elise?‹ rief er. ›Willst du uns an den Galgen bringen? Laß mich los, sag‘ ich dir.‹ Er stieß sie beiseite und stürzte mit erhobenem Beil zum Fenster. Ich hatte mich hinausgeschwungen und hielt mich nur noch mit den Händen an der Fensterbank, als der Schlag niedersauste. Ein heftiger Schmerz durchzuckte mich, ich verlor den Halt und fiel in den Garten hinab.

Ich war bis auf eine heftige Erschütterung unverletzt geblieben, und sobald ich mich einigermaßen erholt hatte, stand ich auf und versuchte, so schnell als möglich hinter einem Gebüsch zu verschwinden; die Gefahr war ja noch nicht vorüber. Aber plötzlich überkam mich eine tödliche Schwäche und Mattigkeit. Meine Hand schmerzte mich furchtbar, und ich bemerkte erst jetzt, daß mein Daumen fehlte und das Blut aus der Wunde strömte. Ich versuchte, mir das Taschentuch umzubinden, dann fühlte ich nur noch ein heftiges Sausen in den Ohren und fiel ohnmächtig im Gebüsch nieder.

Wie lange ich dort gelegen habe, weiß ich nicht. Bis zu meinem Erwachen müssen wohl viele Stunden vergangen sein, denn der Mond war untergegangen, und der Morgen dämmerte herauf. Meine Kleider waren vom Tau durchnäßt, und mein Rockärmel war völlig durchtränkt von Blut. Im Augenblick standen alle Einzelheiten der Nacht vor mir, und ich sprang sofort in die Höhe, weil ich das Gefühl hatte, auch jetzt noch im Bereich meiner Verfolger zu sein. Doch als ich mich umblickte, waren zu meinem Erstaunen weder Haus noch Garten zu entdecken. Ich hatte an der Hecke einer Landstraße gelegen, und gerade vor mir dehnte sich ein längliches Gebäude aus. Beim Näherkommen erkannte ich die Bahnstation, auf der ich gestern angekommen war. Würde mich mein schmerzender Daumen nicht vom Gegenteil überzeugt haben, so hätte ich alle Vorgänge der letzten Nacht nur für einen Traum gehalten. Halb betäubt erkundigte ich mich nach dem Morgenzug und erfuhr, daß in einer knappen Stunde einer nach Reading abgehe. Ich fragte den diensttuenden Stationsbeamten, den ich schon am vorigen Abend gesehen hatte, ob er einen Obersten Stark kenne. Der Name war ihm gänzlich fremd, ebensowenig hatte er gestern einen Wagen bemerkt.

Das nächste Polizeiamt war ungefähr drei Meilen entfernt. Das war für mich zu weit, denn ich fühlte mich krank und schwach. So wollte ich mit einer Anzeige warten, bis ich in die Stadt käme. Kurz nach sechs traf ich ein und ein freundlicher Bahnbeamter führte mich sofort zu Ihnen, um meine Wunde verbinden zu lassen. Es wäre mir lieb, Herr Holmes, wenn ich die ganze Angelegenheit in Ihre Hände legen könnte.«

*

Wir saßen noch eine ganze Weile in tiefem Schweigen, als die Erzählung beendet war. Dann holte Sherlock Holmes einen der riesigen Ordner vom Bücherbrett, in welchem er alle ihm bemerkenswerten Notizen und Zeitungsausschnitte sammelte.

»Diese Anzeige wird Sie wohl interessieren«, sagte er. »Vor ungefähr einem Jahr machte sie die Runde durch alle Zeitungen. Ich will sie Ihnen vorlesen: Verschwunden seit dem 9. d. M. der 26jährige Ingenieur Jeremias Hayling. Er verließ am angegebenen Tage um zehn Uhr abends seine Wohnung, seitdem fehlt jede Spur von ihm. Er war bekleidet u.s.w. Damals ließ der Oberst vermutlich zum letztenmal seine Maschine untersuchen.«

»Großer Gott!« rief Hatherley aus, »jetzt begreife ich erst, was die Frau mit ihrer Äußerung sagen wollte!«

»Ja, es unterliegt gar keinem Zweifel, daß dieser Oberst ein sehr kaltblütiger, zu allem entschlossener Mensch war und genau so handelt wie Piraten, die auch auf dem geenterten Schiff keinen Überlebenden dulden. Doch jetzt ist keine Minute zu verlieren, und wenn es Ihr Zustand erlaubt, müssen wir sofort nach Scotland Yard und dann weiter nach Eyford.«

Ungefähr drei Stunden später saßen wir im Zug, der uns über Reading nach Eyford bringen sollte. Die Gesellschaft bestand aus Sherlock Holmes, dem Ingenieur, Polizeiinspektor Bradstreet nebst einem sehr einfach gekleideten Manne und mir. Inspektor Bradstreet hatte eine Vermessungskarte der Umgegend auf seinem Sitz ausgebreitet und bemühte sich mit seinem Zirkel einen Kreis zu ziehen, dessen Mittelpunkt Eyford bildete.

»Hier liegt Eyford«, sagte er. »Diese Linie umgibt das Dorf in einem Umkreis von ungefähr zwölf Meilen. Der betreffende Ort muß also in der Nähe dieser Linie sein. Sie sprachen doch von zwölf Meilen, Herr Hatherley?«

»Es war jedenfalls eine Fahrt von einer guten Stunde.«

»Und Sie vermuten, daß Sie während Ihrer Bewußtlosigkeit den ganzen Weg zurückgebracht worden sind?«

»Wahrscheinlich. Ich erinnere mich auch dunkel, aufgehoben und getragen worden zu sein.«

»Ich verstehe nur nicht, was die Leute zu dieser Schonung bewogen haben könnte, als sie Sie ohnmächtig im Garten fanden.«

»Vielleicht ließ sich der Schuft durch die Bitten der Frau besänftigen«, meinte ich.

»Das kommt mir unwahrscheinlich vor«, fiel der Ingenieur ein. »Ich habe niemals ein Gesicht gesehen, das so mit Haß erfüllt war wie das seine.«

»Nun, wir werden bald Klarheit hineinbringen«, sagte Bradstreet. »Ich habe also meinen Kreis gezogen und möchte jetzt nur wissen, in welcher Richtung wir das Gesindel zu suchen haben.«

»Ich glaube, ich kann meinen Finger darauf legen«, äußerte Holmes ruhig.

»Wirklich?« rief der Inspektor. »Sie haben schon eine bestimmte Meinung gefaßt? Na, wir wollen mal sehen, wer mit Ihnen übereinstimmt. Ich behaupte, es ist im Süden, da das Land dort wenig bevölkert ist.«

»Ich bin für Osten«, sagte mein Patient.

»Ich stimme für Norden«, sagte ich, »dort ist das Land flach, und Herr Hatherley meinte, der Wagen wäre niemals bergan gefahren.«

»Und ich bin für Westen«, bemerkte der einfach aussehende Mann. »Da liegen mehrere einsame kleine Dörfer.«

»Hallo!« rief der Inspektor lachend. »Unter uns herrscht ja eine nette Meinungsverschiedenheit. Wir haben den Kompaß zwischen uns geteilt. Auf wessen Seite schlagen Sie sich, Herr Holmes?«

»Sie irren sich alle.«

»Aber das ist doch unmöglich!«

»O doch. Dies ist mein Punkt.« Holmes legte den Finger in die Mitte des Kreises. »Hier werden wir sie finden.«

»Und die Fahrt von zwölf Meilen?« warf Hatherley ein.

»Sechs hin und sechs zurück. Das ist sonnenklar. Sie sagten selbst, das Pferd wäre vollständig frisch gewesen, als Sie einstiegen. Wie wäre das möglich, wenn es eine anstrengende Fahrt von zwölf Meilen hinter sich gehabt hätte?«

»Hm, der Kunstgriff ist nicht unwahrscheinlich«, gab Bradstreet nachdenklich zu. »Jetzt müssen wir uns nur noch über den Zweck dieser Bande klar werden.«

»Darüber kann kaum ein Zweifel herrschen«, sagte Holmes. »Es sind Falschmünzer im großen Maßstabe. Die Maschine brauchten sie, um die Metallmischung zu erzeugen, welche die Stelle des Silbers vertreten sollte.«

»Falschmünzer!« rief Bradstreet aus. »Ja – ich erinnere mich: Wir bekamen schon vor längerer Zeit Wind von einer solchen Sache. Diese gefährliche Gesellschaft hat zu Tausenden halbe Kronen in Umlauf gesetzt, und es gelang uns nicht, sie weiter als bis Reading zu verfolgen. Dort hatten sie ihre Spur in einer Weise verwischt, die uns zeigte, daß wir es mit sehr geriebenen, alten Füchsen zu tun hatten. Na, jetzt werden sie uns wohl nicht mehr entwischen.«

Aber der Inspektor irrte sich. Die Verbrecher sollten der Gerechtigkeit nicht überliefert werden. Als wir in den Bahnhof einfuhren, sahen wir ganz in der Nähe eine ungeheure Rauchwolke hinter einer kleinen Baumgruppe aufsteigen, wie eine riesige Straußfeder hing sie über der Landschaft.

»Brennt hier ein Haus?« fragte Bradstreet, nachdem wir den Zug verlassen hatten.

»Jawohl«, antwortete der Stationsvorsteher.

»Wann brach das Feuer aus?«

»Wahrscheinlich schon in der Nacht, doch hat es scheints jetzt weiter um sich gegriffen, die ganze Gegend ist in Rauch gehüllt.«

»Wem gehört die Besitzung?«

»Doktor Becher.«

»Bitte, sagen Sie mir«, fiel der Ingenieur ein, »ist dieser Doktor Becher ein Deutscher, sehr hager, mit langer, scharfer Nase?«

Der Stationsvorsteher lachte herzlich. »Nein, mein Herr, Doktor Becher ist ein Engländer, und Sie werden wahrscheinlich im ganzen Kirchspiel nicht leicht einen wohlbeleibteren Menschen finden. Doch lebt ein Herr bei ihm, ich glaube einer seiner Patienten, der erinnerte eher an die sieben mageren Jahre.«

Er hatte kaum ausgesprochen, so liefen wir auch schon eilig der Richtung des Feuers zu. Wir hatten einen sanft ansteigenden Hügel überschritten und sahen jetzt ein großes, weißes Gebäude vor uns liegen. Es war in ein Flammenmeer eingehüllt, aus jeder Ritze und jeder Fensteröffnung brach die rote Lohe.

Vergeblich bemühte sich die Feuerwehr, mit drei Spritzen des entfesselten Elementes Herr zu werden.

»Hier ist es!« rief Hatherley in fieberhafter Erregung. »Dort ist der Kiesweg, und dort unter dem Gebüsch hab‘ ich gelegen. Aus dem zweiten Fenster sprang ich heraus.«

»Nun«, meinte Holmes, »wenigstens sind Sie an ihnen gerächt. Die hölzernen Wände im Maschinenraum sind sicher durch das Zerbrechen Ihrer Lampe in Brand geraten, und in der Aufregung hat man das wohl nicht sofort bemerkt. Bitte, achten Sie jetzt scharf darauf, ob Sie unter der Zuschauermenge die Frau oder einen der beiden Männer entdecken können. Es ist freilich eher anzunehmen, daß zwischen ihnen und uns schon ein paar hundert Meilen liegen.« Holmes Befürchtung war nur zu sehr begründet. Die drei waren und blieben verschwunden bis heute.

Ein Bauer erzählte, er habe an jenem Morgen in aller Frühe einen Wagen gesehen mit mehreren Personen und großen Kisten beladen, der eilig in der Richtung nach Reading gefahren wäre. Das blieb auch die einzige Spur von den Flüchtlingen; selbst Holmes gelang es nicht, das Rätsel weiter zu lösen.

Die Feuerwehrleute waren nicht wenig über die seltsamen Einrichtungen im Innern des Hauses erstaunt und ihre Verwunderung erreichte den Höhepunkt, als sie auf einer Fensterbank einen abgehackten Daumen fanden. Gegen Abend war endlich das Feuer gelöscht. Das Dach war jedoch schon eingestürzt und das ganze Gebäude so vollständig zerstört, daß nur einige verbogene Zylinder und eiserne Röhren an die Maschine erinnerten, die so viel Unheil verursacht hatte. In einem kleinen, zu dem Anwesen gehörenden Haus entdeckte man große Mengen Nickel und Zinn, dagegen wurde nicht ein einziger Prägestock gefunden, das machte uns die Mitnahme der schon erwähnten großen Kisten erklärlich.

Auf welche Weise unser Ingenieur aus dem Garten fortgeschafft worden war, wäre wohl für ewig ein Geheimnis geblieben, wenn uns nicht die weiche Gartenerde eine sehr einfache Geschichte erzählt hätte. Zwei Personen mußten ihn getragen haben, die eine mit besonders kleinen Füßen, während die andere Fußspur auffallend groß war. Wahrscheinlich hatte der Engländer, weniger rücksichtslos und grausam als sein Gefährte, der Frau geholfen, den bewußtlosen Mann aus der Gefahr zu bringen.

»Ja«, sagte unser Ingenieur kläglich, als wir wieder im Zuge saßen, »das war wirklich ein einträgliches Geschäft. Meinen Daumen hab‘ ich verloren, die Aussicht auf meine Fünfzigpfundnote ist ebenfalls fort, und was hab‘ ich dafür eingetauscht?«

»Erfahrung«, sagte Holmes lachend, »und die kann Ihnen indirekt wieder von Nutzen sein. Sie brauchen die Geschichte nur mit fließenden Worten vorzutragen, um bis zum Ende Ihrer Tage den Ruf eines großartigen Gesellschafters zu genießen.«

Holmes lachte, als er diesen letzten Satz gelesen hatte. »Nun, das wird er wohl auch befolgt haben, der gute Herr Hatherley«, sagte er vor sich hin und griff nach dem nächsten Blatt. »Was wird wohl Freund Watsons nächstes Thema sein? Ah – sieh an:

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Die verschwundene Braut

Die verschwundene Braut

Eines Tages wurde während seiner Abwesenheit ein Brief für Sherlock Holmes abgegeben. Ich hatte den ganzen Tag das Haus nicht verlassen, denn das Wetter war plötzlich regnerisch geworden; ein scharfer Herbstwind wehte, und die Flintenkugel in meinem Bein, die ich als Andenken aus dem afghanischen Feldzug heimgebracht habe, quälte mich mit empörender Hartnäckigkeit. In einem bequemen Stuhl sitzend, hatte ich die Beine auf einem zweiten Stuhl ausgestreckt und mich in einen ganzen Berg von Zeitungen vergraben, bis ich zuletzt die Tagesneuigkeiten satt bekam und die Blätter sämtlich beiseite schob. Während ich nun so in verdrossener Stimmung dalag, betrachtete ich mit träger Neugier das mächtige Wappen und Monogramm, das auf dem Umschlag des vor mir liegenden Briefes prangte, und fragte mich, wer wohl der adlige Briefschreiber sein möchte.

»Da liegt ein höchst vornehmer Brief für dich«, rief ich meinem Freund bei seinem Eintritt entgegen. »Deine Briefe heute früh, von einem Fischhändler und einem Zolleinnehmer, waren weniger vornehm.«

»Ja, mein Briefwechsel besitzt entschieden den Reiz der Abwechslung«, erwiderte er lächelnd, »und je weniger vornehm, desto interessanter sind sie in der Regel. Das da sieht gerade aus wie eine jener unwillkommenen gesellschaftlichen Einladungen, die einen entweder zu einer Marter oder zu einer Lüge verdammen.« Er erbrach das Siegel und überflog den Inhalt. »Warte einmal, das kann am Ende etwas ganz Interessantes geben!« rief er nun plötzlich.

»Also nichts Gesellschaftliches?«

»Nein, durchaus geschäftlich.«

»Und von wem?«

»Von einer der vornehmsten Personen in ganz England.«

»Nun, ich gratuliere, mein lieber Junge.«

»Ich versichere dir, Watson, es ist die Wahrheit, wenn ich sage, daß ich auf den gesellschaftlichen Rang meiner Kunden nicht so viel Wert lege, als auf das Interesse, das die Fälle bieten. Übrigens ist es wohl möglich, daß es bei dieser neuen Aufgabe auch nicht an interessantem Stoff fehlt. Du hast doch in diesen Tagen die Zeitungen genau durchgelesen, nicht wahr?«

»Na, und ob!« erwiderte ich in kläglichem Ton und deutete dabei auf einen mächtigen Stoß, der in einer Ecke aufgehäuft lag; »ich habe ja sonst fast nichts zu tun gehabt.«

»Nun, das kommt mir jetzt vielleicht zustatten, da kannst du mir sicher Auskunft geben. Ich lese nichts als die Kriminalberichte und den Briefkasten. Da erfährt man doch wenigstens immer etwas. Aber wenn du die neuesten Ereignisse so genau verfolgt hast, mußt du wohl auch etwas über Lord St. Simon und seine Hochzeit gelesen haben?«

»O ja, das hat mich sogar sehr interessiert.«

»Das ist schön. Der Brief hier ist von Lord St. Simon. Ich will ihn dir vorlesen, und dafür mußt du mir dann die Zeitungen noch einmal durchgehen und alles zusammensuchen, was sich auf die Angelegenheit bezieht. Er schreibt:

Mein lieber Herr Sherlock Holmes!

Lord Backwater sagt mir, daß ich Ihrem Scharfsinn und Ihrer Verschwiegenheit unbedingtes Vertrauen schenken dürfe. Ich habe mich daher entschlossen, bei Ihnen vorzusprechen und mir Ihren Rat in Beziehung auf das höchst schmerzliche Ereignis zu erbitten, das sich bei Gelegenheit meiner Hochzeit zugetragen hat. Herr Lestrade von der Geheimpolizei ist zwar in der Sache bereits tätig; allein er hat, wie er mir versichert, gegen Ihre Mitwirkung nicht nur nichts einzuwenden, sondern verspricht sich sogar Nutzen davon. Ich beabsichtige, um vier Uhr heute nachmittag bei Ihnen vorzusprechen und hoffe, daß Sie etwaige anderweitige Verpflichtungen auf später verschieben können.

Ihr aufrichtiger

St. Simon.

»Der Brief ist aus Schloß Grosvenor datiert und mit einer Füllfeder geschrieben, wobei dem edlen Lord das Mißgeschick begegnet ist, einen Tintenklecks außen an seinen rechten kleinen Finger zu bringen«, bemerkte Holmes, während er das Schreiben zusammenfaltete.

»Er sagt vier Uhr. Jetzt ist es drei. In einer Stunde ist er da. Bis dahin habe ich gerade noch Zeit, mich mit deiner Hilfe in der Sache aufs Laufende zu bringen. Sieh die Zeitungen durch und ordne die darauf bezüglichen Artikel nach ihrer Reihenfolge, unterdessen will ich einmal feststellen, wer unser Klient eigentlich ist.« Er nahm ein rotgebundenes Nachschlagebuch von dem Bücherbrett neben dem Kamin. »Da haben wir ihn ja«, sagte er, indem er sich niederließ und das Buch aufgeschlagen über seine Knie legte. »Lord Robert Walsingham de Vere St. Simon, zweiter Sohn des Herzogs von Balmoral – Hm! Wappen blau, drei Stachelnüsse im Mittelfeld über einem schwarzen Querbalken. Immerhin schon 41 Jahre alt, also nicht mehr zu jung zum Heiraten. War früher Unterstaatssekretär im Kolonialamt. Der Herzog, sein Vater, war früher Minister der auswärtigen Angelegenheiten. Stammen in gerader Linie von den Plantagenets und weiblicherseits von den Tudors ab. Das ist alles. Wir sind also nicht viel gescheiter als zuvor. Ich muß mich, scheint es, an dich halten, Watson, wenn ich etwas Ausgiebigeres erfahren will.«

»Es ist keine große Mühe, zu finden, was ich suche«, versetzte ich, »denn die Ereignisse sind neuesten Datums, und der merkwürdige Fall fesselte gleich meine Aufmerksamkeit. Trotzdem sah ich davon ab, dir darüber zu berichten, denn ich wußte, daß du gerade mit einer Untersuchung beschäftigt warst und es nicht gerne siehst, wenn man dir mit etwas anderem dazwischen kommt.«

»Ach, der Fall, den du meinst, ist bereits vollständig erledigt und war eigentlich von vornherein ganz klar. Bitte, lies mir nun vor, was du gefunden hast.«

»Dies hier ist, soviel ich finden kann, die erste Notiz. Sie stand vor ein paar Wochen in der ›Morning-Post‹ unter den Personalnachrichten. ›Lord Robert St. Simon‹, heißt es da, zweiter Sohn des Herzogs von Balmoral, beabsichtigt, sich mit Fräulein Hatty Doran, einziger Tochter des Herrn Aloysius Doran aus San Francisco in Kalifornien, ehelich zu verbinden, und zwar soll allem Anschein nach die Vermählung in allernächster Zeit stattfinden‹ Das ist alles.«

»Klipp und klar«, bemerkte Holmes darauf, indem er seine Beine vor dem Kaminfeuer ausstreckte.

»Ein paar Tage später las ich darüber in einer der vornehmen Wochenschriften noch einen Artikel. Ach, da ist er ja:

In Heiratssachen wird man wohl nächstens einen Schutzzoll für unsere heimischen Erzeugnisse verlangen, die allem Anschein nach durch die in Geltung stehenden freihändlerischen Grundsätze stark geschädigt werden. Eine der britischen Adelsfamilien um die andere beugt sich dem Szepter unserer hübschen überseeischen Stammverwandten. Die Zahl der Siegespreise, die diese entzückenden Eroberinnen davon getragen haben, hat in verflossener Woche einen ganz gewichtigen Zuwachs erfahren. Lord St. Simon, der sich seit mehr als zwanzig Jahren gegenüber den Pfeilen des kleinen Gottes als unverwundbar gezeigt hatte, kündigt nunmehr seine baldige eheliche Verbindung mit Miß Hatty Doran, der reizenden Tochter eines kalifornischen Millionärs an. Miß Doran, deren anmutige Erscheinung und blendend schöne Züge bei den Festlichkeiten in Westbury House großes Aufsehen erregten, ist ein einziges Kind, und ihre Mitgift wird, wie wir erfahren, mehr als eine Million betragen, abgesehen von dem, was ihr noch für später in Aussicht steht. Da es ein öffentliches Geheimnis ist, daß sich der Herzog im Lauf der letzten Jahre genötigt sah, seine Gemälde zu verkaufen, und Lord St. Simon außer dem kleinen Gute Birchmoor keinen eigenen Grundbesitz hat, so liegt es auf der Hand, daß die kalifornische Erbin nicht allein die Gewinnende bei dieser Verbindung ist, durch welche eine einfache Republikanerin auf so bequeme und nicht ungewöhnliche Art zur Angehörigen des höchsten britischen Adels erhoben wird.«

»Sonst noch etwas?« fragte Holmes gähnend.

»O freilich; die Hülle und Fülle. Es kommt dann noch eine Notiz in der ›Morning-Post‹, daß die Hochzeit in aller Stille in der St. Georgenkirche stattfinden, daß nur ein halbes Dutzend der nächsten Bekannten Einladungen erhalten, und daß die Gesellschaft sich danach wieder nach dem von Herrn Aloysius Doran gemieteten Hause in Lancastergate begeben werde. Zwei Tage darauf – also vorigen Mittwoch – kommt dann eine kurze Bemerkung, daß die Hochzeit stattgefunden habe, und daß das junge Paar die Flitterwochen auf Lord Backwaters Besitzung bei Petersfield zu verbringen gedenke. Dies ist alles, was die Zeitungen vor dem Verschwinden der jungen Frau über die Sache gebracht haben.«

»Vor was?« fragte Holmes, hoch aufhorchend.

»Vor dem Verschwinden der jungen Frau.«

»Wann verschwand sie denn?«

»Beim Hochzeitsmahl.«

»Wirklich? Nun, die Sache läßt sich ja weit interessanter an, als es den Anschein hatte; sie ist ja direkt hochdramatisch.«

»Ja. Ich war ganz überrascht; ein Fall wie dieser kommt nicht gerade alle Tage vor.«

»Vor der Trauung verschwinden sie oft und viel, gelegentlich kommt es auch einmal während der Flitterwochen vor; aber einen Fall, wo es nach der Trauung mit dem Verschwinden so große Eile hatte, habe ich wirklich noch nicht erlebt. Bitte, laß mich den genauen Bericht hören.«

»Ich will dir nur gleich im voraus sagen, daß er sehr unvollständig ist.«

»Nun, dem können wir ja vielleicht abhelfen.«

»Die Nachricht steht in einem der gestrigen Morgenblätter. Ich will dir den Artikel vorlesen; er trägt die Überschrift ›Merkwürdiger Vorfall bei einer vornehmen Hochzeit‹ und lautet:

Die Familie Lord Robert St. Simons ist durch die rätselhaften und bedauerlichen Vorfälle, die sich bei dessen Hochzeit zugetragen haben, in die größte Bestürzung versetzt worden. Die kirchliche Feier fand, wie wir schon kurz mitgeteilt haben, am gestrigen Vormittag statt; allein es war erst jetzt möglich, den sonderbaren Gerüchten, die sich um dieses Ereignis knüpften, auf den Grund zu kommen. Die Angelegenheit, welche die Näherstehenden vergeblich zu vertuschen suchten, hat die Öffentlichkeit in solchem Grade erregt, daß es keinen vernünftigen Zweck mehr haben könnte, Dinge totschweigen zu wollen, die in jedermanns Munde sind.

Die Feier in der St. Georgenkirche hielt sich im engsten Kreise. Es waren nur zugegen der Vater der Braut, Herr Aloysius Doran, die Herzogin von Balmoral, Lord Backwater, Lord Eustachius und Lady Clara St. Simon (die jüngeren Geschwister des Bräutigams) sowie Lady Alicia Whittington. Die ganze Gesellschaft begab sich darauf nach Herrn Aloysius Dorans Haus in Lancastergate, wo das Festmahl bereit stand. Eine Störung verursachte, wie es scheint, dabei eine weibliche Person, deren Name sich nicht hat feststellen lassen; sie versuchte unter dem Vorgeben, daß sie Ansprüche an Lord St. Simon habe, hinter der Gesellschaft gewaltsam in das Haus einzudringen und konnte nur nach einem längeren peinlichen Auftritt durch zwei Diener fortgebracht werden. Die Braut, welche das Haus glücklicherweise vor diesem unliebsamen Zwischenfall betreten hatte, saß mit der übrigen Gesellschaft zu Tische, als sie plötzlich über Übelbefinden klagte und sich auf ihr Zimmer zurückzog. Als ihre längere Abwesenheit aufzufallen begann, ging der Vater ihr nach, erfuhr jedoch von dem Kammermädchen, seine Tochter sei nur einen Augenblick auf ihr Zimmer gekommen, habe einen Mantel umgeworfen, den Hut aufgesetzt und darauf eilends das Haus verlassen. Ein Diener sagte aus, er habe allerdings eine Dame in dem eben beschriebenen Anzug das Haus verlassen sehen, ohne jedoch an die Möglichkeit zu denken, daß es seine Herrin sein könne, da er geglaubt habe, sie befinde sich bei der Gesellschaft. Sobald festgestellt war, daß die Braut wirklich verschwunden sei, setzten sich Herr Aloysius Doran und der Bräutigam augenblicklich mit der Polizei in Verbindung, und es sind alle Nachforschungen im Gange, um bald Licht in diese höchst merkwürdige Geschichte zu bringen. Bis gestern abend in später Stunde war übrigens von dem Verbleib der Vermißten noch nichts bekannt geworden. Die Polizei hat die Festnahme der Frau veranlaßt, welche die erste Störung herbeigeführt hatte, in der Annahme, daß sie aus Eifersucht oder irgend einem andern Beweggrund bei dem merkwürdigen Verschwinden der Braut beteiligt sein könnte.«

»Und ist das alles?«

»Nur eine kleine, aber wichtige Notiz steht noch in einem andern Morgenblatt.«

»Und was enthält sie?«

»Daß Fräulein Flora Millar, die Störerin der Hochzeitsfeier, wirklich festgenommen ist. Es scheint, daß sie früher Tänzerin am Allegrotheater war und mit dem Bräutigam einige Jahre lang ein Verhältnis unterhielt. Weitere Einzelheiten sind nicht erwähnt.

Das ist das ganze auf diese Hochzeit bezügliche Material – soweit die Tagespresse sich damit beschäftigt hat.«

»Es scheint tatsächlich ein sehr interessanter Fall zu sein, um den ich nicht kommen möchte. Aber da klingelt es, Watson; und da es gerade vier geschlagen hat, so dürfen wir sicher sein, daß es unser vornehmer Besuch ist. Laß dir nur nicht einfallen, Watson, fortgehen zu wollen, es ist mir viel lieber, ich habe einen Zeugen; wäre es auch nur zur Unterstützung meines Gedächtnisses.«

»Lord Robert St. Simon«, meldete unser kleiner Diener, indem er die Tür weit aufmachte. Ein Herr trat ein mit feinen, angenehmen Zügen, vorspringender Nase und blasser Farbe; er hatte einen etwas hochmütigen Ausdruck um den Mund und den festen, offenen Blick eines Mannes, dem das angenehme Los zuteil geworden ist, stets befehlen zu dürfen und jederzeit Gehorsam zu finden. Sein Wesen war lebhaft, und doch machte seine ganze Erscheinung keinen jugendlichen Eindruck mehr, denn er hielt sich ein klein wenig vorgeneigt und sank beim Gehen etwas in die Knie. Als er den hochkrempigen Hut abnahm, zeigte sich auch sein Haar ringsum an den Spitzen ergraut und auf dem Scheitel dünn. Sein Anzug war von einer fast stutzerhaften Eleganz. Er trat mit gemessenem Schritt ein, drehte dabei den Kopf von einer Seite zur andern und ließ den goldenen Nasenklemmer um seine rechte Hand tanzen.

»Guten Tag, Lord St. Simon«, sagte Holmes, indem er aufstand und sich verbeugte; »bitte, nehmen Sie Platz im Armstuhl. Dies ist mein Freund und Kollege, Dr. Watson. Setzen Sie sich etwas näher zum Feuer, dann wollen wir die Angelegenheit besprechen.«

»Eine höchst peinliche Sache für mich, wie Sie sich leicht vorstellen können, Herr Holmes. Der Schlag hat mich bis ins Mark getroffen. Ich habe erfahren, daß Sie schon mehr heikle Fälle dieser Art unter den Händen gehabt haben, jedoch wohl kaum aus unseren Kreisen.«

»Nein, aus weit vornehmeren.«

»Wie sagten Sie, bitte?«

»Mein letzter Klient dieser Art war ein König.«

»O wirklich! Davon hatte ich keine Ahnung. Und welcher König war das?«

»Der König von Schweden.«

»Was? War ihm auch seine Frau abhanden gekommen?«

»Sie werden begreifen«, erwiderte Holmes in sanftem Tone, »daß ich die Verschwiegenheit, die ich Ihnen in Ihren Angelegenheiten zusichere, in gleicher Weise auch meinen übrigen Klienten gegenüber beobachten muß.«

»Natürlich! Ganz recht! Ganz recht! Bitte sehr um Vergebung. Was meinen eigenen Fall betrifft, so bin ich bereit, Ihnen jeden Aufschluß zu geben, der Ihnen förderlich sein kann.«

»Danke. Was in den Tagesblättern darüber steht, weiß ich bereits alles, aber sonst nichts. Ich setze voraus, daß ich den Inhalt der Zeitungen als richtig annehmen darf – so z. B. auch den Artikel, der sich auf das Verschwinden der Braut bezieht.«

Lord St. Simon überflog ihn. »Allerdings; was darin steht, ist richtig.«

»Doch bedarf er noch der Vervollständigung, bevor man sich eine Ansicht in der Sache zu bilden vermag. Ich glaube, ich könnte mir das nötige Material am besten verschaffen, wenn ich Ihnen direkt Fragen stellte.«

»Bitte, tun Sie das nur.«

»Wann trafen Sie zum erstenmal mit Fräulein Doran zusammen?«

»In San Francisco, vor einem Jahr.«

»Sie befanden sich damals auf einer Reise in den Vereinigten Staaten?«

»Ja.«

»Verlobten Sie sich damals schon?«

»Nein.«

»Aber Sie standen auf freundschaftlichem Fuße mit ihr?«

»Ich fand Vergnügen an ihrer Gesellschaft, und sie konnte auch wohl merken, daß dies der Fall war.«

»Ihr Vater ist sehr reich?«

»Er gilt für den reichsten Mann an der ganzen Westküste.«

»Und womit verdiente er sein Geld?«

»Mit Bergbau. Vor wenigen Jahren war er noch ohne Vermögen. Dann grub er auf Gold und machte dabei so glänzende Geschäfte, daß er mit Riesenschritten vorwärts kam.«

»Nun, und was ist Ihr Eindruck von dem Charakter der jungen Dame – Ihrer Gemahlin?«

Der Edelmann ließ seinen Klemmer noch etwas rascher tanzen und blickte starr in das Kaminfeuer. »Sehen Sie, Herr Holmes«, begann er, »meine Gemahlin war schon zwanzig Jahre alt, ehe ihr Vater ein reicher Mann wurde. Bis dahin war sie in einem Goldgräberdorf frei umhergelaufen und durch Wälder und Berge geschweift, so daß ihre Erziehung mehr auf Rechnung der Natur als des Schulmeisters zu setzen ist. Sie ist, was man einen Wildfang nennt, eine starke, ungestüme, freie, durch keinerlei alte Überlieferung beengte Natur. Sie ist rasch fertig mit ihrem Urteil und kennt keine Furcht, wenn es gilt, ihre Entschlüsse auszuführen. Auf der anderen Seite würde ich ihr nicht den Namen gegeben haben, den ich die Ehre habe zu tragen (hier ließ er ein kurzes, vornehmes Hüsteln hören), hätte ich sie nicht für ein durchaus edel geartetes Wesen gehalten. Ich glaube, daß sie heroischer Aufopferung fähig ist, und daß jede Spur von Unehrenhaftigkeit ihr fern liegt.«

»Besitzen Sie ihre Photographie?«

»Dies hier habe ich bei mir.« Damit öffnete er ein Etui und ließ uns ein sehr einnehmendes weibliches Bildnis sehen. Es war keine Photographie, sondern eine Miniaturmalerei auf Elfenbein, in welcher der Künstler das glänzend schwarze Haar, die großen dunklen Augen, den ausgesucht schönen Mund zu voller Wirkung zu bringen verstanden hatte. Holmes betrachtete das Porträt lange und aufmerksam, dann schloß er das Etui wieder und gab es dem Lord zurück.

»Die junge Dame kam hierauf nach London, und Sie knüpften hier die Bekanntschaft wieder an?«

»Jawohl. Ihr Vater brachte sie zur diesjährigen Saison herüber. Ich traf mehrmals mit ihr zusammen, bis ich mich mit ihr verlobte und kürzlich verheiratete.«

»Sie hat, wenn ich recht berichtet bin, eine beträchtliche Mitgift erhalten?«

»Eine ganz hübsche Mitgift. Aber nicht größer, als es in meiner Familie üblich ist.«

»Und diese Mitgift verbleibt nun natürlich Ihnen, nachdem die eheliche Verbindung zur Tatsache geworden ist?«

»Danach habe ich mich wirklich noch nicht erkundigt.«

»Das läßt sich denken. Waren Sie mit Ihrer Braut am Tage vor der Hochzeit zusammen?«

»Jawohl.«

»War sie da guter Laune?«

»In so froher Stimmung als jemals. Sie machte fortwährend Pläne für unsere Zukunft.«

»Wirklich? Das ist höchst merkwürdig. Und am Hochzeitsmorgen?«

»War sie so heiter als nur möglich. Wenigstens bis nach der Trauung.«

»Und haben Sie nach der Trauung eine Veränderung an ihr bemerkt?«

»Nun ja, um die Wahrheit zu gestehen, erfuhr ich bei dieser Gelegenheit zum erstenmal, daß sie auch etwas heftig werden kann. Das Vorkommnis war übrigens zu nebensächlich, um ein Wort darüber zu verlieren, und hat keinerlei Bedeutung für den vorliegenden Fall.«

»Bitte, teilen Sie es uns trotz alledem mit.«

»Ach, es hört sich wirklich kindisch an. Als wir vom Altar zurückgingen, ließ sie ihren Blumenstrauß fallen. Sie schritt gerade an der vordersten Sitzreihe vorüber, und so fiel er in einen der Kirchenstühle hinein. Dies verursachte einen Aufenthalt von einigen Augenblicken, allein der dort sitzende Herr händigte ihr sogleich den Strauß wieder ein, der auch durch den Fall nicht gelitten hatte. Trotzdem gab sie mir auf meine Bemerkungen über den Vorfall nur abgerissene Antworten, und während unserer Fahrt nach Hause zeigte sie eine unbegreifliche Erregung über diese unbedeutende Sache.«

»Wirklich? Wie Sie sagen, befand sich ein Herr in dem Kirchenstuhl. Es waren also fremde Zuschauer zugegen?«

»O ja. Dies läßt sich unmöglich vermeiden, wenn die Kirche offen ist.«

»Jener Herr gehörte nicht zu den Bekannten Ihrer Gemahlin?«

»Nein, nein. Ich nenne ihn nur aus Höflichkeit einen Herrn; es war ein ganz gewöhnlich aussehender Mensch, den ich kaum bemerkt hatte. Aber ich glaube, wir schweifen ziemlich weit von unserem Ziele ab.«

»Ihre Gemahlin war also bei der Rückkehr von der Trauung in einer weniger heiteren Stimmung als auf dem Hinweg. Was tat sie nach der Ankunft im väterlichen Hause?«

»Da sah ich sie im Gespräch mit Alice, ihrem amerikanischen Kammermädchen, das sie aus Kalifornien mitgebracht hat.«

»Wohl eine vertraute Dienerin?«

»Ja, nur etwas zu sehr. Mir scheint, sie gestattet sich ihrer Herrin gegenüber große Freiheiten. Doch sieht man derartige Verhältnisse in Amerika natürlich etwas anders an.«

»Wie lange dauerte dieses Gespräch?«

»Nur ein paar Minuten. Ich dachte gerade an etwas anderes.«

»Sie haben nicht gehört, wovon sie sprachen?«

»Meine Frau sagte etwas von ›in fremdes Gehege kommen‹. Ich habe keine Ahnung, was sie damit meinte.«

»Und was tat Ihre Gemahlin nach dem Gespräch?«

»Sie begab sich in das Speisezimmer.«

»An Ihrem Arm?«

»Nein, allein. In solchen Kleinigkeiten war sie sehr selbständig. Wir mochten etwa zehn Minuten bei Tisch gesessen haben, als sie eilig aufstand, einige Worte der Entschuldigung murmelte und den Saal verließ, um nicht wiederzukehren.«

»Wenn ich recht verstanden habe, so ist sie nach Aussage des Kammermädchens auf ihr Zimmer gegangen, hat einen langen Mantel über ihr Brautkleid geworfen, einen Hut aufgesetzt und das Haus verlassen.«

»Ganz richtig. Darauf wurde sie noch im Hydepark zusammen mit der Flora Millar gesehen, die an jenem Vormittag bereits in Herrn Dorans Hause eine Störung verursacht hatte und inzwischen verhaftet worden ist.«

»Ganz richtig. Ich darf Sie wohl um etwas genauere Auskunft über diese junge Dame und Ihre Beziehungen zu ihr bitten.«

Lord St. Simon zuckte die Achseln und zog die Augenbrauen in die Höhe. »Wir haben ein paar Jahre lang auf freundschaftlichem Fuße miteinander gestanden – ich darf wohl sagen: auf sehr freundschaftlichem Fuße. Sie war meist am ›Allegro‹ beschäftigt. Ich habe nicht unnobel an ihr gehandelt, und sie hatte keinen triftigen Grund zur Klage über mich, aber Sie wissen ja, wie diese Mädel sind, Herr Holmes. Flora war ein ganz nettes, kleines Ding, allein äußerst hitzköpfig und von einer blinden Anhänglichkeit an mich. Sie schrieb mir schreckliche Briefe, als sie erfuhr, daß ich im Begriff stand, mich zu verheiraten; und, um die Wahrheit zu sagen, war der Grund, warum ich die Hochzeit so in der Stille feiern ließ, daß ich fürchtete, es möchte einen Skandal in der Kirche geben. Gerade wie wir von dort zurückkehrten, erschien sie vor Herrn Dorans Hause und suchte sich unter höchst unziemlichen, ja sogar drohenden Äußerungen gegen meine Gattin einzudrängen; allein ich hatte so etwas vorausgeahnt und deshalb zwei Polizisten in bürgerlicher Kleidung aufgestellt, die sie wieder fortbrachten. Sie beruhigte sich schließlich, als sie sah, daß sie mit dem lärmenden Auftritt doch nichts ausrichten konnte.«

»Hat Ihre Gattin das alles mit angehört?«

»Nein, Gott sei Dank, das nicht.«

»Und mit eben diesem Mädchen hat man sie nachher gehen sehen?«

»Jawohl. Dies ist auch der Punkt, den Herr Lestrade als so schwerwiegend ansieht. Man nimmt an, Flora habe meine Frau in irgend eine schreckliche Falle gelockt.«

»Nun, das wäre freilich möglich.«

»Sie sind also auch dieser Ansicht?«

»Für wahrscheinlich halte ich es gerade nicht; aber wie denken Sie selbst darüber?«

»So wie ich Flora kenne, könnte sie keiner Fliege etwas zuleide tun.«

»Die Eifersucht bewirkt aber doch oft ganz merkwürdige Veränderungen im Charakter des Menschen.«

»Sollte Ihnen das Glück beschieden sein, die Lösung dieses Rätsels zu finden –« fuhr unser Besucher fort, indem er sich erhob.

»Ich habe sie gefunden«, unterbrach ihn Holmes.

»Wie? Höre ich recht?«

»Ich habe sie gefunden, sage ich.«

»Nun, wo ist denn meine Frau?«

»Auch auf diesen weiteren Punkt werde ich die Antwort nicht lange schuldig bleiben.«

Lord St. Simon schüttelte das Haupt. »Ich glaube doch fast, dazu gehört mehr Weisheit, als Sie oder ich im Kopfe haben«, versetzte er. Dann zog er sich mit einer vornehmen, altmodischen Verbeugung zurück.

*

»Es ist wirklich recht gnädig von Seiner Lordschaft, daß er meinem Kopf die Ehre erweist, ihn mit dem seinigen auf eine Stufe zu stellen«, meinte Sherlock Holmes lachend. »Auf dieses lange Kreuzverhör hin habe ich aber eine kleine Erfrischung und eine Zigarre verdient. Ich war mit meinen Schlußfolgerungen übrigens im reinen, ehe unser Besuch erschien.«

»Mein lieber Holmes!«

»Ja – es ist so. Unter meinen Aufzeichnungen befinden sich mehrere ähnliche Fälle, aber so flink ist es noch bei keinem gegangen. Das Verhör machte meine Vermutung nur zur Gewißheit. Ein Indizienbeweis ist gelegentlich außerordentlich überzeugend, namentlich wenn auch das übrige so genau dazu paßt.«

»Aber ich habe doch alles mit angehört, so gut wie du!«

»Allerdings, aber ohne die Kenntnis der früheren Fälle, die mir so sehr zustatten kommt. Da war ein Fall vor einigen Jahren, wo –. Doch da kommt ja Lestrade! Hallo, Lestrade, guten Abend! Dort drüben steht Ihr Stammglas, und hier ist die Zigarrenkiste.«

Der kleine Herr erschien in einer hellen Jacke und hellem Halstuch, was ihm ein ganz seemännisches Aussehen gab, in der Hand trug er einen schwarzen Reisekoffer. Nach kurzem Gruß ließ er sich nieder und steckte sich die angebotene Zigarre an.

»Was ist denn los?« fragte Holmes mit einem Zwinkern seiner Augen. »Sie sehen ja recht mißmutig aus.«

»Bin ich auch. Diese Teufelsgeschichte mit der Hochzeit Lord St. Simons! Ich weiß nicht, an welchem Zipfel ich das Geschäft anfassen soll!«

»Wirklich! Das ist mir überraschend.«

»Hat man je von einer so vertrackten Geschichte gehört? Sobald ich meine, ich habe einen Faden gefunden, schlüpft er mir wieder durch die Finger; den ganzen Tag habe ich mich daran abgearbeitet.«

»Und gewaltig naß sind Sie scheint’s dabei geworden«, versetzte Holmes, seinen Rockärmel befühlend.

»Ja. Ich habe den Kanal ausfischen lassen.«

»Wozu denn das, um Gottes willen?«

»Um den Leichnam der Lady St. Simon zu finden.«

Sherlock Holmes lehnte sich in seinem Stuhl zurück und lachte aus vollem Halse.

»Haben Sie auch das Bassin des Springbrunnens auf dem Trafalgarplatz ausfischen lassen?«

»Wieso? Warum das?«

»Weil Sie gerade so viel Aussicht hatten, dort die Leiche zu finden, wie im Kanal.«

Lestrade warf einen zornigen Blick auf meinen Freund. »Es scheint, Sie sind schon vollständig im klaren über alles!« sagte er gereizt.

»Nun, ich habe zwar erst eben den Verlauf der Sache vernommen, aber meine Ansicht habe ich mir gebildet.«

»So! Dann sind Sie wohl der Meinung, der Kanal habe gar nichts mit der Sache zu tun?«

»Ich halte es für höchst unwahrscheinlich.«

»Wollen Sie dann vielleicht die Güte haben, mir zu erklären, wie diese Sachen hier hineingekommen sind?« Damit öffnete er seine Tasche, aus welcher ein Brautkleid aus Seide, ein Paar weiße Atlasschuhe, ein Brautkranz und Schleier herausfielen, alles vom Wasser durchweicht und verdorben. »So«, sagte er, und legte noch einen ganz neuen Ehering oben auf den Haufen, »nun knacken Sie mir mal diese Nuß, Herr Holmes.«

»Also aus dem Kanal sind die Sachen heraufgeholt worden?« versetzte mein Freund und blies dabei blaue Ringe in die Lust.

»Nein, ein Parkhüter sah sie in der Nähe des Ufers schwimmen; man hat sie als der Lady gehörig erkannt; nun dachte ich, sind die Kleider da, so wird die Leiche auch nicht weit davon sein.«

»Dieser wunderbaren Logik zufolge müßte man also die Leiche eines Verstorbenen stets in der Nähe seines Kleiderschrankes finden. Und bitte, sagen Sie mir doch, was hofften Sie denn dadurch zu erreichen?«

»Einen Beweis für die Beteiligung der Flora Millar an dem Verschwinden der Vermißten.«

»Tut mir leid, aber das wird schwer halten.«

»Wirklich, auch jetzt noch?« rief Lestrade in gereiztem Tone. »Und mir tut es leid, Holmes, Ihnen sagen zu müssen, daß Sie mit Ihren Schlüssen und Vermutungen sehr daneben gehauen haben. Sie haben zwei Böcke in den letzten zwei Minuten geschossen. Durch dieses Kleid ist Flora Millar überführt.«

»Und wieso das?«

»In dem Kleid ist eine Tasche. In der Tasche befindet sich ein Visitenkartentäschchen. In diesem Täschchen steckt ein Zettel. Und hier ist der Zettel selbst.« Damit legte er diesen vor Holmes auf den Tisch hin. »Hören Sie nur:

Wenn alles besorgt ist, werde ich erscheinen. Komme unverzüglich. F. H. M.

»Ich war von Anfang an der Überzeugung, daß Lady St. Simon durch Flora Millar weggelockt worden ist, daß diese, ohne Zweifel im Verein mit anderen, an ihrem Verschwinden schuld ist. Dieser Zettel, mit Flora Millars Anfangsbuchstaben unterzeichnet, wurde der Lady ohne Zweifel unter der Tür in aller Stille in die Hände gespielt, um sie vom Hause wegzulocken.«

»Vortrefflich Lestrade«, versetzte Holmes lachend. »Sie sind in der Tat höchst scharfsinnig. Lassen Sie mich mal sehen!« Damit griff er gleichgültig nach dem Zettel, allein plötzlich wurde seine Aufmerksamkeit rege, und ein Ausruf freudiger Überraschung entfuhr ihm. »Das ist wirklich von Bedeutung«, bemerkte er.

»So, sind Sie jetzt auch meiner Meinung?«

»Versteht sich. Ich gratuliere Ihnen aufrichtig.«

Lestrade erhob sich in seiner Siegesfreude und beugte sich gleichfalls über den Zettel. »Aber«, rief er, »Sie schauen ja auf die verkehrte Seite!«

»Durchaus nicht, das ist die richtige Seite.«

»Die richtige Seite? Sie sind nicht bei Trost. Hier steht ja die Notiz mit Bleistift geschrieben.«

»Und dort steht etwas, das einem Stück von einer Hotelrechnung ähnlich sieht und mich außerordentlich interessiert:

4. Okt. Zimmer 8 Schill., Frühst. 2 Schill. 6 Pence, Gabelfrühstück
22 Schill. 6 Pence, ein Glas Sherry 8 Pence. –

»Dahinter steckt nichts. Das habe ich längst gesehen«, erwiderte Lestrade.

»Es hat allerdings ganz den Anschein. Und trotzdem ist es von höchster Bedeutung. Was die Bleistiftnotiz betrifft, so ist sie, oder wenigstens die Anfangsbuchstaben, gleichfalls von Wichtigkeit. Ich gratuliere daher nochmals.«

»Wir haben jetzt genug Zeit vertrödelt«, versetzte Lestrade, indem er sich erhob. »Ich halte mehr davon, eine Aufgabe tüchtig anzupacken, als beim Kaminfeuer geistreiche Annahmen darüber auszuklügeln. Adieu, Herr Holmes, wir werden ja sehen, wer der Sache zuerst auf den Grund kommt!« Er packte die Kleidungsstücke wieder in die Tasche und schritt der Tür zu.

»Einen Wink will ich Ihnen doch noch geben, Lestrade«, rief Holmes gleichmütig seinem abgehenden Kollegen nach, »ich will Ihnen die richtige Lösung des Rätsels verraten: Lady St. Simon gehört ins Fabelreich. Eine solche gibt es nicht und hat es nie gegeben.«

Lestrade warf einen betrübten Blick auf meinen Freund. Dann wandte er sich zu mir, deutete auf seine Stirn und verschwand eiligst unter feierlichem Kopfschütteln.

Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, so erhob sich Holmes und zog seinen Überzieher an. »Es ist etwas Wahres an dem, was der Mensch sagt; es taugt nichts, hier müßig zu sitzen«, äußerte er, »deshalb muß ich dich wohl jetzt mit deinen Zeitungen allein lassen, Watson.«

Es war fünf Uhr vorüber, als Holmes mich verließ; doch hatte ich nicht lange Zeit, mich einsam zu fühlen: es dauerte keine Stunde, so brachten zwei Leute aus einem Delikatessengeschäft eine große flache Kiste herein, der sie zu meinem größten Erstaunen im Handumdrehen ein ganz üppiges kaltes Abendessen entnahmen, das bald auf unserem bescheidenen Junggesellentisch prangte. Da standen Rebhühner, ein Fasan, eine Gänseleberpastete nebst einer ganzen Batterie alter bestaubter Flaschen. Kaum waren der Wein und die leckeren Gerichte aufgestellt, so verschwanden die Überbringer wie die Geister in ›Tausend und eine Nacht‹, ohne sich auf eine weitere Erklärung einzulassen, als daß das alles hierher bestellt und schon bezahlt sei.

Kurz vor neun Uhr trat Holmes mit lebhaftem Schritt ins Zimmer. Seine Züge trugen einen ernsten Ausdruck, doch ersah ich aus einem gewissen Glanz in seinen Augen, daß der Erfolg seinen Schlüssen recht gegeben habe.

»Also das Abendessen ist bereit«, sagte er und rieb sich die Hände.

»Es scheint, du erwartest Gesellschaft; es sind ja fünf Gedecke.«

»Wir müssen uns heute auf einige ungebetene Gäste gefaßt machen«, meinte er. »Mich wundert nur, daß Lord St. Simon noch nicht da ist. Doch eben höre ich seinen Tritt auf der Treppe, wenn mich nicht alles täuscht.«

Es war wirklich unser Besuch vom Nachmittag, der jetzt hereinstürmte und mit verstörtem Ausdruck in den aristokratischen Zügen seinen Zwicker noch eifriger um die Finger schwang als sonst.

»Mein Bote hat Sie also getroffen?« fragte Holmes.

»Jawohl. Und ich muß gestehen, was er mir ausrichtete, hat mich über alle Maßen verblüfft. Haben Sie einen sichern Beweis für Ihre Behauptung?«

»Den besten, der sich denken läßt.«

Lord St. Simon sank auf einen Stuhl und fuhr sich mit der Hand über die Stirn.

»Was wird der Herzog sagen«, murmelte er vor sich hin, »wenn er hört, welche Demütigung einem Mitglied seiner Familie widerfahren ist.«

»Es ist lediglich eine unglückliche Verkettung von Umständen. Daß es sich dabei um eine Demütigung handelt, kann ich überhaupt nicht zugeben«, sagte Holmes.

»Sie sehen eben diese Dinge von einem andern Standpunkt an.«

»Ich kann mich nicht überzeugen, daß irgend jemand eine Schuld trifft. Die junge Frau hätte im Grunde kaum anders handeln können. Ihr schroffes Vorgehen ist freilich zu bedauern; aber sie stand ohne Mutter da und hatte somit keinen Menschen, der ihr in dieser kritischen Lage raten konnte.«

»Es war eine entwürdigende Behandlung, eine öffentliche Beschimpfung!« rief Lord St. Simon und trommelte mit den Fingern auf dem Tisch.

»Sie müssen dem armen Mädchen, das sich in einer so überaus schwierigen Lage befand, etwas zugute halten.«

»Ich bin nicht in der Stimmung, irgend jemandem etwas zugute zu halten. Ich bin aufs äußerste empört. Man hat mir schmählich mitgespielt.«

»Ich glaube, es hat geklingelt«, unterbrach ihn Holmes. »Jawohl, man hört schon Schritte heraufkommen. Da ich Sie nicht überreden kann, die Sache in milderem Licht zu sehen, Lord St. Simon, so habe ich hier einen Anwalt bestellt, der es vielleicht besser zu Wege bringt.« Damit öffnete er die Tür und ließ eine Dame und einen Herrn eintreten. »Lord St. Simon«, wandte er sich wieder an diesen, »gestatten Sie mir, Ihnen Herrn und Frau Hay Moulton vorzustellen. Die Dame ist Ihnen wohl bereits bekannt.«

Beim Erscheinen der neuen Ankömmlinge war der Lord sofort von seinem Sitz aufgesprungen; mit zu Boden gesenktem Blick, die rechte Hand vorn in den Rock gesteckt, stand er da – ein Bild beleidigter Würde. Die junge Frau tat einen raschen Schritt auf ihn zu und streckte ihm beide Hände entgegen, aber er schaute nicht empor. Und wenn er fest bleiben wollte, war dies wohl auch das beste, denn dem bittenden Ausdruck ihres Gesichtes war nicht leicht zu widerstehen.

»Du zürnst mir, Robert?« sagte sie. »Freilich, du hast wohl guten Grund dazu.«

»Nur keine Entschuldigung«, erwiderte der Angeredete bitter.

»Ich weiß wohl, ich habe wirklich unrecht an dir gehandelt; ich hätte dir’s sagen sollen, ehe ich davonging. Aber ich war ganz aus dem Häuschen; sobald ich meinen Frank wiedergesehen hatte, wußte ich wirklich nicht mehr, was ich tat und sagte. Ich wundere mich nur, daß ich nicht gleich vor dem Altar ohnmächtig wurde und hinfiel.«

»Vielleicht ist es Ihnen erwünscht, Frau Moulton, wenn ich mit meinem Freund während dieser Erörterungen das Zimmer verlasse?« warf hier Holmes ein.

»Wenn ich meine Meinung äußern darf«, ließ sich jetzt der fremde Herr vernehmen, »so glaube ich, daß wir die Sache bisher schon mit allzuviel Heimlichkeit betrieben haben. Meinetwegen könnte die ganze Welt erfahren, wie alles zugegangen ist.« Es war ein kleiner, geschmeidiger, sonnenverbrannter Mann, glatt rasiert, mit klugem Gesicht und lebhaftem Wesen.

»Dann will ich unsere Geschichte frischweg erzählen«, sagte die junge Frau. »Frank und ich trafen uns vor Jahren in Mc. Quires Camp am Felsengebirge, wo mein Vater eine Grube besaß. Wir verlobten uns miteinander; allein eines Tages stieß mein Vater auf eine reiche Ader in der Grube und gewann mächtig viel Gold, während Frank aus seiner Grube immer weniger herausschlug und zu nichts kam. Je reicher wir wurden, um so ärmer wurde Frank, zuletzt wollte mein Vater nichts mehr von unserer Verlobung hören und schickte mich fort nach Frisco. Aber Frank wollte nicht von mir lassen; er folgte mir und traf ohne meines Vaters Wissen mit mir zusammen. Hätten wir es ihm gesagt, so wäre er nur in Wut geraten, deshalb machten wir die Sache für uns allein ab. Frank erklärte, er wolle fortgehen und auch sein Glück machen; erst wenn er so viel habe wie wir, werde er wiederkommen und seine Rechte an mich geltend machen – nicht früher. So versprach ich ihm denn, auf ihn zu warten in alle Ewigkeit, und gab ihm mein Wort, keinen andern zu heiraten, solange er am Leben sei. ›Warum sollten wir aber nicht einfach heiraten?‹ meinte er, ›dann bist du mir sicher; meine Rechte als Ehemann mache ich erst geltend, wenn ich zurückkomme.‹ Wir kamen bald darüber ins reine, und er hatte alles so hübsch eingefädelt, ein Geistlicher wartete schon, daß wir’s gleich auf der Stelle abmachten; Frank ging dann fort, sein Glück zu suchen, und ich kehrte zu meinem Vater zurück.

Das nächste, was ich von Frank hörte, war, daß er in Montana sei; dann begab er sich nach Arizona, um sich dort umzusehen; und später bekam ich Nachricht von ihm aus Neu-Mexiko. Eines Tages stand eine lange Geschichte in den Zeitungen, wie die Apache-Indianer ein Goldgräberdorf überfallen hätten, und dabei war mein Frank unter den Erschlagenen aufgeführt. Ich fiel um wie tot und war monatelang schwer krank; mein Vater meinte, ich habe eine zehrende Krankheit und brachte mich in Frisco von einem Arzt zu andern. Ein Jahr oder noch länger hörte ich kein Wort mehr von Frank, so daß ich fest glaubte, er sei wirklich tot. Darauf kam Lord St. Simon nach Frisco, später reisten wir nach London, und meine Heirat mit ihm kam zustande. Mein Vater war sehr froh darüber; aber ich fühlte stets, daß kein anderer Mann auf dieser Welt je den Platz in meinem Herzen einnehmen würde, der nur allein Frank gehörte.

Trotzdem wäre ich Lord St. Simon eine pflichtgetreue Gattin gewesen, falls ich seine Frau geworden wäre. Unsere Gefühle haben wir nicht in der Gewalt, wohl aber unsere Handlungen. Als ich mit ihm vor den Altar trat, war es mein fester Vorsatz, ihn glücklich zu machen. Aber Sie können sich denken, wie mir zumute war, als ich gerade beim Hintreten vor den Altar zufällig hinter mich schaute und Franks Augen aus der ersten Sitzreihe unmittelbar auf mich gerichtet sah. Ich meinte zuerst, es sei sein Geist, aber als ich wieder hinschaute, saß er noch immer da und blickte mich mit einem so eigentümlichen Ausdruck an, als wollte er fragen, ob mir seine Gegenwart erwünscht sei oder nicht. Ich wundere mich nur, daß ich nicht in Ohnmacht fiel. Alles drehte sich mit mir im Kreise, und die Worte des Geistlichen klangen mir im Ohr wie Bienensummen. Was sollte ich tun? Sollte ich die Trauung unterbrechen und einen Auftritt in der Kirche veranlassen? Ich blickte noch einmal nach ihm hin, und er schien meine Gedanken zu erraten, denn er legte die Finger an die Lippen, zum Zeichen, daß ich nichts sagen solle. Dann sah ich ihn etwas auf ein Stückchen Papier kritzeln – offenbar eine Notiz für mich. Beim Vorübergehen an seinem Platz ließ ich meine Blumen vor ihm hinfallen, und als er sie mir zurückgab, drückte er mir das Zettelchen in die Hand. Es enthielt nur mit ein paar Worten die Aufforderung, zu ihm zu kommen, sobald er mir ein Zeichen geben würde. Ich war natürlich keinen Augenblick mehr im unklaren darüber, daß meine Pflichten in erster Linie jetzt ihm gehörten, und beschloß deshalb, einfach seinem Ruf zu folgen.

Zu Hause sprach ich mit meinem Mädchen, die ihn schon in Kalifornien gekannt hatte und ihm immer wohlgesinnt gewesen war. Ich hieß sie reinen Mund halten, ein paar Sachen einpacken und mir Hut und Mantel zurecht legen. Ich weiß wohl, ich hätte mich mit Lord St. Simon verständigen sollen, aber das wäre vor seiner Mutter und all den vornehmen Leuten eine furchtbare Aufgabe gewesen. So entschloß ich mich, auf- und davonzugehen und die Erklärung auf später zu verschieben. Ich saß noch keine zehn Minuten bei Tisch, als ich Frank durch das Fenster auf der Straße drüben erblickte. Er nickte mir zu und schlug dann den Weg nach dem Park ein. Ich schlüpfte hinaus, zog meine Sachen an und ging ihm nach. Unterwegs trat eine Frau an mich heran, um mir irgend etwas über Lord St. Simon mitzuteilen – nach dem wenigen, was ich davon verstand, schien es mir, als habe auch er vor der Hochzeit schon eine kleine Heimlichkeit gehabt –, aber ich machte, daß ich von ihr wegkam, und holte Frank bald ein. Darauf fuhren wir zusammen nach Gordon-Square, wo er eine Wohnung genommen hatte, und nun war ich nach den langen Jahren des Harrens wirklich mit meinem Gatten vereint.

Frank war bei den Apachen gefangen gewesen, war aber entflohen und nach Frisco gelangt, wo er erfuhr, daß ich ihn als tot aufgegeben hatte und nach England gegangen war; er reiste mir dahin nach und traf mich schließlich gerade am Morgen meiner zweiten Hochzeit.«

»Ich las davon in einer Zeitung«, erklärte der Amerikaner, »der Name der Braut und die Kirche waren darin genannt, aber ihre Wohnung war nicht angegeben.«

»Wir besprachen uns nun darüber, wie wir uns verhalten sollten«, fuhr die junge Frau fort, »Frank war für volle Offenheit; aber ich schämte mich so sehr, daß ich nur den einen Wunsch hatte, zu verschwinden und von den Hochzeitsgästen keinen je wiederzusehen. Höchstens wollte ich an meinen Vater ein paar Zeilen schreiben, zum Zeichen, daß ich noch am Leben sei. Es war gräßlich für mich, wenn ich mir vorstellte, wie alle die hochadeligen Herren und Damen um die Hochzeitstafel herumsaßen und auf meine Rückkehr warteten. So nahm denn Frank meine Hochzeitskleider, packte sie zusammen, damit man mir nicht auf die Spur käme, und warf das Bündel irgendwo weg, wo kein Mensch es finden könnte. Morgen würden wir höchst wahrscheinlich schon nach Paris abgereist sein, wäre nicht der gute Herr Holmes heute abend bei uns erschienen. Wie es ihm gelungen ist, uns aufzufinden, geht freilich über meinen Verstand; er setzte uns ganz klar und freundlich auseinander, daß Frank recht hätte und ich unrecht, und daß wir beide durch solche Heimlichkeit einen falschen Schein auf uns laden würden. Dann schlug uns Herr Holmes vor, in seiner Wohnung mit Lord St. Simon allein zu einer Besprechung zusammenzutreffen, und wir begaben uns gleich darauf hierher. Nun hast du alles gehört, Robert; es tut mir sehr leid, wenn ich dir weh getan habe, aber ich hoffe, du denkst nicht allzu schlecht von mir.«

Lord St. Simon hatte seine steife Haltung die ganze Zeit über beibehalten und mit gerunzelter Stirn und mit zusammengekniffenen Lippen der langen Erzählung zugehört.

»Sie werden entschuldigen«, erwiderte er, »aber ich bin nicht gewohnt, meine intimsten persönlichen Verhältnisse öffentlich zu erörtern.«

»Dann willst du mir also nicht vergeben – mir nicht noch einmal die Hand reichen, ehe ich fortgehe?«

»O gewiß, wenn es Ihnen Vergnügen macht.« Er streckte die Hand aus und ergriff kalt die ihm dargebotene Rechte der jungen Frau.

»Ich hatte gehofft«, warf Holmes ein, »Sie würden uns bei einem gemütlichen Abendessen Gesellschaft leisten.«

»Damit verlangen Sie denn doch wohl etwas zuviel von mir«, erwiderte Seine Lordschaft. »Es bleibt mir nichts übrig, als mich mit Ihren Enthüllungen abzufinden, aber man kann doch kaum von mir erwarten, daß ich noch gute Miene zum bösen Spiel mache. Gestatten Sie mir, Ihnen insgesamt eine recht gute Nacht zu wünschen.« Damit machte er uns allen eine gemeinsame Verbeugung und schritt zur Tür hinaus.

»Nun, dann werden wenigstens Sie uns doch sicherlich mit Ihrer Gesellschaft beehren«, wandte sich Holmes an Herrn Moulton. »Es ist mir jedesmal eine Freude, wenn ich einen Angehörigen des großen freien Staates treffe, dessen Sternenbanner der ganzen Welt auf der Bahn der Freiheit und des Fortschritts voranleuchtet!«

*

»Das war einmal ein interessanter Fall«, bemerkte Holmes, als unsere Gäste uns verlassen hatten. »Man konnte daran recht deutlich sehen, wie einfach sich oft die Dinge aufklären, die einem auf den ersten Blick ganz rätselhaft vorkommen. Wie klar und natürlich entwickelte sich in der Erzählung der jungen Frau ein Ereignis aus dem andern, und wie verblüffend kam einem die ganze Angelegenheit vor, wenn man sie zum Beispiel mit den Augen des Herrn Lestrade von der Geheimpolizei ansah!«

»So warst du selbst gar nicht auf einer falschen Fährte?«

»Von Anbeginn stand mir zweierlei klar vor Augen: einmal, daß die Braut der Hochzeit ganz freudig entgegenging, und dann, daß sie wenige Minuten nach der Rückkehr aus der Kirche anderen Sinnes wurde. Offenbar war demnach im Laufe des Vormittags etwas vorgefallen, das diese Wirkung hervorbrachte. Was konnte es sein? Gesprochen hatte sie außerhalb des Hauses mit niemand, da sie ihrem Bräutigam nicht von der Seite gegangen war. Hatte sie aber jemand gesehen, so mußte dies jemand aus Amerika gewesen sein, denn während ihres kurzen Aufenthalts hierzulande hatte keiner so viel Einfluß auf sie gewinnen können, daß sein bloßer Anblick eine völlige Sinnesänderung bei ihr bewirkte. Du siehst, durch Ausschließung anderer Möglichkeiten war ich bereits zu der Überzeugung gelangt, daß sie wohl jemand aus Amerika werde gesehen haben. Wer konnte wohl dieser Amerikaner sein, der eine solche Macht über sie besaß? Vielleicht ein Freund, möglicherweise aber auch ein Gatte. Daß sie ihre Jugendjahre in wilden Gegenden und unter eigentümlichen Verhältnissen verlebt hatte, war mir ja bekannt. So weit war ich bereits gelangt, ehe ich das erste Wort aus Lord St. Simons Munde vernahm. Als dieser dann von dem Zuschauer vorn in der ersten Bank und von der Veränderung erzählte, die nachher plötzlich mit der Braut vor sich ging, wie sie ihren Strauß vor den Fremden hinfallen ließ, zu dem sehr durchsichtigen Zweck, sich dabei von ihm einen Zettel zustecken zu lassen, wie sie sich dann mit ihrer Vertrauten besprach und dabei die sehr bezeichnende Andeutung von ›in fremdes Gehege kommen‹ fallen ließ, was in der Goldgräbersprache so viel bedeutet, als Besitz von etwas ergreifen, worauf einem anderen ältere Ansprüche zustehen – da war mir die ganze Sachlage völlig klar. Sie mußte mit einem Mann auf und davongegangen sein, und zwar entweder mit einem Freund oder mit einem Gatten, wobei übrigens die größere Wahrscheinlichkeit für letzteres sprach.«

»Aber wie in aller Welt hast du die beiden aufgefunden?«

»Das wäre freilich schwierig gewesen, allein Freund Lestrade hielt Anhaltspunkte hierfür in Händen, von deren Wert er selbst keine Ahnung hatte. Die Anfangsbuchstaben waren natürlich von großer Wichtigkeit, aber noch viel wertvoller war der Nachweis, daß der Gesuchte im Lauf der letzten Woche sich in einem der ersten Gasthöfe Londons seine Rechnung hatte ausstellen lassen.«

»Was brachte dich darauf, daß es einer der ersten Gasthöfe sein müsse?«

»Die ausgesucht hohen Preise. Acht Schilling für ein Bett und acht Pence für ein Glas Sherry wiesen auf eines der teuersten Hotels hin. Es gibt nicht viele hier, die derartige Preise haben. Schon in dem zweiten Hotel, in der Northumberland-Avenue, erfuhr ich aus dem Fremdenbuch, daß ein Herr Francis H. Moulton aus Amerika erst am Tage vorher ausgezogen war, und bei Durchsicht der auf seinen Namen eingetragenen Posten entdeckte ich wörtlich alle, für die er Rechnung erhalten hatte. Als seine neue Anschrift für etwa noch eintreffende Briefe gab er 226 Gordon-Square an. So fuhr ich dorthin und hatte das Glück, das liebende Paar zu Hause zu treffen. Ich erlaubte mir, ihnen einige väterliche Ratschläge zu erteilen und ihnen klar zu machen, daß sie in jeder Beziehung besser tun würden, weder die Welt noch insbesondere Lord St. Simon über ihr Verhältnis zu einander irgendwie in Zweifel zu lassen. Ich machte ihnen den Vorschlag, hier mit dem Lord zusammenzutreffen, und wie du gesehen hast, sind sie darauf eingegangen.«

»Damit haben sie aber nicht viel erreicht«, bemerkte ich. »Sein Verhalten war kein sehr liebenswürdiges.«

»Ach, Watson«, erwiderte Holmes heiter, »du wärest auch vielleicht nicht gerade besonders liebenswürdig, wenn du dich nach all den Mühen und Sorgen des Brautstandes mit einem Schlage um Gattin und Vermögen betrogen sehen müßtest. Ich meine, wir haben allen Grund, Lord St. Simon recht milde zu beurteilen und unserm Glücksstern zu danken, daß wir voraussichtlich niemals in eine ähnliche Lage geraten werden. Komm, setze dich hierher zum Feuer und reiche mir meine Violine, wir haben ja jetzt nur noch das eine Problem zu lösen, wie wir uns diese finsteren Herbstabende auf möglichst angenehme Weise vertreiben.«

*

Holmes ließ das Blatt sinken.

Ja, das war eine verdrehte Geschichte, dachte er. Und im Grund war sie doch höchst einfach und hat fast alle Beteiligten nichts als ein bissel Lehrgeld gekostet. Vielleicht hat auch der enttäuschte Lord inzwischen eine andere Dollarbraut gefunden.

Er nahm eine neue Zeitung zur Hand.

Als er die Überschrift gelesen hatte, lachte er leise. Watson vergaß doch gar nichts! Auch wenn Holmes selbst schon lang nicht mehr daran dachte, bei Watson tauchten doch alle ihre Erlebnisse eines Tages wieder auf. Und da der Freund noch immer nicht zurückkehrte, so blieb Holmes nichts übrig, als auch sie zu lesen:

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