Neuntes Kapitel


Benedikt der Vierzehnte. – Ausflug nach Tivoli. – Donna Lucrezias Abreise. – Marchesa G. – Barbara Dalaequa. – Mein Unglück und meine Abreise von Rom.

Da Herr Dalacqua sehr krank war, gab seine Tochter Barbara mir die Stunde. Nach Schluß derselben benutzte sie einen günstigen Augenblick, mir geschickt einen Brief in die Tasche zu stecken, und um mir keine Zeit zu lassen, diese neue Gefälligkeit ihr abzuschlagen, war sie blitzschnell verschwunden. übrigens war ihr Brief nicht so, daß ich die Annahme hätte verweigern können. Er war an mich persönlich gerichtet und brachte nur Gefühle reinster Dankbarkeit zum Ausdruck. Sie bat mich nur, ihrem Geliebten mitzuteilen, daß ihr Vater wieder mit ihr spreche und daß sie hoffe, er werde nach seiner Genesung eine andere Magd nehmen. Zum Schluß gab sie mir die festesten Versicherungen, sie werde mich niemals bloßstellen.

Da der Vater noch etwa zwei Wochen lang das Bett hüten mußte, so erteilte während dieser ganzen Zeit Barbara mir den Unterricht. Sie erregte meine Teilnahme durch ein ganz neues Gefühl, das ich einem hübschen jungen Mädchen gegenüber noch nicht gehabt hatte. Es war ein Gefühl des Mitleids, und ich fühlte mich gewissermaßen geschmeichelt, ihr Stütze und Trost zu sein. Niemals ruhten ihre Augen auf den meinigen; niemals begegnete ihre Hand der meinen; niemals merkte ich ihrem Putz den Wunsch an, auf mich einen angenehmen Eindruck zu machen. Sie war hübsch und, wie ich wußte, auch zärtlich, aber dies verminderte nicht die Achtung und die Rücksicht, die ich der Ehre und dem Zutrauen schuldig zu sein glaubte, und ich fühlte mich geschmeichelt, daß sie mich nicht für fähig hielt, mir meine Kenntnis ihrer Schwäche zunutze zu machen.

Sobald ihr Vater wieder gesund war, jagte er die Magd aus dem Hause und nahm eine andere. Barbara bat mich, dies ihrem Freunde mitzuteilen und ihm zu sagen, sie hoffe die neue Magd wenigstens so weit zu gewinnen, daß sie ihm schreiben könne. Ich versprach ihr, diesem Auftrag auszuführen; um mir ihre Dankbarkeit dafür zu zeigen, ergriff sie meine Hand und führte sie an ihre Lippen; ich zog sie noch rechtzeitig zurück und wollte ihr einen Kuß geben; bescheiden errötend drehte sie den Kopf zur Seite. Dies gefiel mir.

Es gelang Barbara, das neue Mädchen auf ihre Seite zu bringen und von nun an kümmerte ich mich nicht mehr um die ganze Angelegenheit; denn ich fühlte wohl, welche ärgerlichen Folgen sie für mich hätte haben können. Leider war das Unglück schon geschehen.

Zu Don Gasparo ging ich nur selten, denn das Studium der französischen Sprache nahm meine Vormittage in Anspruch, und dies war die einzige Zeit, wo ich ihn besuchen konnte. Zum Abbate Georgi aber ging ich jeden Abend, und obwohl ich in seinen Gesellschaften weiter keine Rolle spielte, sondern ganz einfach nur für seinen Schützling galt, so kam es doch meinem guten Ruf zustatten. Ich sprach niemals ein Wort; trotzdem langweilte ich mich nicht. In dieser Gesellschaft wurde kritisiert, aber nicht gelästert; man sprach von Politik, aber ohne Verbitterung, von Literatur, aber ohne Leidenschaft. Ich lernte dabei. Von dem weisen Mönch begab ich mich in die große Abendgesellschaft meines Herrn, des Kardinals. Diese besuchte ich, weil es meine Pflicht war. So oft die schöne Marchesa mich an ihrem Spieltisch sah, richtete sie an mich einige verbindliche Worte in französischer Sprache; ich antwortete ihr italienisch, da ich mich nicht in so großer Gesellschaft von ihr wollte auslachen lassen. Diese Scheu entsprang einem eigentümlichen Gefühl, über dessen Berechtigung zu urteilen ich dem Verstande des Lesers überlasse. Ich fand die Frau reizend, und doch floh ich sie. Nicht daß ich befürchtet hätte, mich in sie zu verlieben, denn ich liebte Lucrezia, und mich dünkte, diese Liebe müsse mir als Ägide gegen jede andere dienen; ich befürchtete vielmehr, sie könnte sich in mich verlieben oder wenigstens auf meine Bekanntschaft neugierig werden. War dies geckenhafte Eitelkeit oder Bescheidenheit? Laster oder Tugend? Vielleicht war es nichts von alledem.

Eines Abends ließ sie mich durch Abbate Gama zu sich rufen. Sie stand neben dem Kardinal, meinem Herrn, und sobald ich vor ihr erschien, überraschte sie mich ganz merkwürdig durch eine in italienischer Sprache an mich gerichtete Frage, an die ich niemals im Traume gedacht hätte: »Vi ha piaciuto molto Frascati?«

»Sehr, gnädige Frau. Ich habe niemals etwas so Schönes gesehen.«

»Ma la compagnia, con laquale eravate, era ancor più bella, ed assai galante era il vostro vis-à-vis.«6

Ich antwortete nur durch eine Verbeugung. Eine Minute darauf sagte Kardinal Acquaviva voll Güte: »Wundern Sie sich, daß man es weiß?« »Nein, gnädiger Herr; aber ich wundere mich, daß man davon spricht. Ich hätte Rom nicht für so klein gehalten.«

»Je länger Sie hier bleiben,« sagte mir Seine Eminenz, »desto kleiner werden Sie es finden. Sind Sie noch nicht beim Heiligen Vater gewesen, ihm den Fuß zu küssen?«

»Noch nicht, gnädiger Herr.«

»Sie müssen hingehen.« Ich antwortete durch eine Verbeugung.

Als ich fortging, sagte Abbate Gama mir, ich müsse am nächsten Tage zum Papst gehen. Dann fragte er: »Sie besuchen doch gewiß auch die Salons der Marchesa G.?«

»Nein, ich bin niemals dort gewesen.«

»Das wundert mich. Sie läßt Sie rufen; sie spricht mit Ihnen!«

»Ich werde mit Ihnen hingehen.«

»Ich verkehre dort niemals.«

»Aber sie spricht doch auch mit Ihnen.«

»Ja, aber… Sie kennen Rom nicht. Gehen Sie allein hin ! Sie müssen es tun.«

»Sie wird mich also empfangen?«

»Sie scherzen wohl. Es ist nicht davon die Rede, daß Sie sich anmelden lassen. Sie besuchen Sie, wenn die beiden Türflügel ihres Salons weit offen stehen. Sie werden dort alle ihre Anbeter treffen.«

»Wird sie mich bemerken?«

»Verlassen Sie sich darauf!«

Am anderen Morgen begab ich mich nach Monte Cavallo und ging geradeswegs in das Gemach des Papstes, nachdem man mir gesagt hatte, ich könne eintreten. Er war allein. Ich werfe mich vor ihm zu Boden und küsse das Heilige Kreuz auf seinem allerheiligsten Pantoffel.

Der Heilige Vater fragt mich, wer ich sei; ich sage es ihm, und er antwortet mir, er kenne mich und wünsche mir Glück, zum Hause eines so bedeutenden Kardinals zu gehören. Hierauf fragte er mich, wie es mir gelungen sei, diese Anstellung zu erhalten. Ich erzählte ihm alles von meiner Ankunft in Martorano bis zu meinem Eintritt beim Kardinal Acquaviva. Er lachte recht herzlich über meine Schilderung des guten armen Bischofs und sagte mir dann, ich brauche mir nicht den Zwang anzutun, mit ihm toskanisch zu sprechen; ich könne venetianisch reden, und er werde die Bologneser Mundart sprechen. Da ich mich in seiner Gegenwart behaglich fühlte, erzählte ich ihm so viel und amüsierte ihn mit meinen Geschichten so sehr, daß er mir sagte, ich würde ihm Vergnügen machen, so oft ich ihn besuchte. Ich bat ihn um Erlaubnis, alle verbotenen Bücher lesen zu dürfen; er gab sie mir, indem er mir seinen Segen erteilte. Er sagte, er wolle mir die Erlaubnis schriftlich ausfertigen lassen. Dies hat er aber vergessen.

Benedikt der Vierzehnte war gelehrt, liebenswürdig und ein Freund geistreicher Wendungen. Zum zweitenmal sah ich ihn in der Villa Medici. Er rief mich heran und sprach im Gehen mit mir über allerlei Kleinigkeiten. Bei ihm waren Kardinal Albani und der venetianische Gesandte. Ein Mann mit bescheidener Miene näherte sich, der Pontifer fragte ihn, was er wolle; der Mann spricht leise, der Papst hört ihn an und sagt hierauf: »Ihr habt recht; empfehlt Euch Gott.« Mit diesen Worten gibt er ihm den Segen, der arme Mann entfernt sich traurig, und der Heilige Vater setzt seinen Spaziergang fort.

»Dieser Mann, Allerheiligster Vater,« sagte ich, »ist von der Antwort Eurer Heiligkeit nicht sehr befriedigt.«

»Warum?«

»Weil er allem Anscheine nach sich bereits Gott empfohlen hatte, bevor er mit Ihnen sprach. Wenn nun Eure Heiligkeit ihn an Gott verweisen, so wird er, wie es im Sprichwort heißt, von Pontius zu Pilatus geschickt.«

Der Papst und seine beiden Begleiter lachen laut auf; ich bleibe ernst.

»Ich vermag«, versetzt der Papst, »nichts Rechtes ohne Gottes Beistand.«

»Das ist richtig, Heiliger Vater, aber der Mann da weiß auch, daß Eure Heiligkeit Gottes Premierminister sind; man kann sich also leicht denken, in welcher Verlegenheit er jetzt sein muß, da er an den Herrn zurückverwiesen wird. Er hat jetzt kein anderes Mittel mehr, als den römischen Bettlern Geld zu geben. Wenn er ihnen einen Bajocco gibt, werden sie alle für ihn beten. Sie rühmen ihren Einfluß bei Gott; ich aber glaube nur an den Eurer Heiligkeit und bitte mich von dem Verbot des Fleischessens zu entbinden, damit ich die Hitze los werde, die infolge des Genusses von Fastenspeisen mir die Augen entzündet.«

»Iß Fleisch, mein Kind.«

»Allerheiligster Vater, Ihren Segen!«

Er gab ihn mir, sagte aber dabei, er entbinde mich nicht von den vorgeschriebenen Fasten.

Am selben Abend war in der Gesellschaft beim Kardinal die Neuigkeit von meinem Gespräch mit dem Papst bereits bekannt. Nun wollte alles sich gerne mit mir unterhalten. Dies war schmeichelhaft für mich, noch schmeichelhafter aber war mir die Freude, die Kardinal Aquaviva vergeblich zu verbergen suchte.

Ich wollte den Rat des Abbate Gama nicht in den Wind schlagen und ging daher zur schönen Marchesa. Ich wählte die Stunde, wo jedermann freien Zutritt hatte. Ich sah sie, sah den Kardinal und viele andere geistliche Herren. Aber es kam mir vor, als sei ich unsichtbar; denn da die Signora mich mit keinem Blick beehrte, so sprach kein Mensch ein Wort zu mir. Nachdem ich eine halbe Stunde lang die Rolle eines Stummen gespielt hatte, ging ich fort. Fünf oder sechs Tage darauf sagte die Schöne mir in liebenswürdigem, aber vornehmem Ton, sie habe mich in ihrem Gesellschaftssaal bemerkt.

»Ich war in der Tat da; aber ich glaubte nicht die Ehre gehabt zu haben, von der Gnädigen bemerkt zu werden.«

»O, ich sehe einen jeden. Man hat mir gesagt, Sie hätten Geist.«

»Wenn die, die Ihnen dies gesagt haben, gnädige Frau, sich nicht täuschten, so machen Sie mir da eine sehr angenehme Mitteilung.«

»O, es sind Kenner.«

»Diese Herrschaften, gnädige Frau, müssen mir also die Ehre erwiesen haben, mit mir zu sprechen; denn sonst hätten sie wahrscheinlich niemals diese Bemerkung machen können.«

»Sicherlich. Aber lassen Sie sich doch bei mir sehen.«

Dieses Gespräch fand in der Gesellschaft beim Kardinal Acquaviva statt. Kardinal S. C. sagte mir, wenn die Frau Marchesa unter vier Augen französisch mit mir spreche, so müsse ich ihr in derselben Sprache antworten, so gut es eben gehe. Der diplomatische Gama nahm mich beiseite und sagte mir, meine Antworten seien zu scharf; ich würde dadurch auf die Dauer mißfallen.

Ich hatte im Französischen nämlich schnelle Fortschritte gemacht; ich nahm keine Stunden mehr und brauchte nur noch Übung, um mich zu vervollkommnen. Zu Lucrezia ging ich bisweilen morgens; abends aber war ich regelmäßig beim Abbate Georgi, der von meinem Ausflug nach Frascati wußte und ihn nicht getadelt hatte.

Zwei Tage, nachdem ich von der Marchesa eine Art von Befehl empfangen hatte, ging ich zu ihr. Sobald sie mich erblickte, begrüßte sie mich durch ein Lächeln, auf das ich mit einer tiefen Verbeugung antworten zu müssen glaubte. Das war alles. Eine Viertelstunde darauf ging ich. Die Marchesa war schön, sie war einflußreich. Aber ich konnte mich nicht entschließen, vor ihr zu kriechen. In Rom war das Brauch; aber dieser Brauch war mir widerwärtig.

Gegen Ende November kam eines Morgens Angelicas Bräutigam mit dem Advokaten zu mir und lud mich ein, mit der ganzen von mir in Frascati bewirteten Gesellschaft vierundzwanzig Stunden in Tivoli verbringen zu wollen. Ich nahm voll Freuden an, denn seit dem Ursulatag war ich niemals mit Lucrezia allein gewesen. Ich versprach ihm, mich bei Tagesanbruch wieder mit demselben Wagen zu Donna Cecilia begeben zu wollen. Wir mußten frühzeitig abfahren, denn Tivoli liegt sechzehn Miglien von Rom entfernt, und die vielen schönen Sehenswürdigkeiten nehmen eine Menge Zeit in Anspruch. Da ich die Nacht ausbleiben mußte, bat ich meinen Kardinal selber um Erlaubnis. Als er hörte, mit wem ich die Lustpartie machen sollte, sagte er mir, ich täte sehr recht daran, die Gelegenheit zu benutzen und den schönen Ort in so schöner Gesellschaft zu besichtigen.

Um halb acht hielten wir an einem Ort, wo wir, dank Don Francescos Vorsorge, ein ausgezeichnetes Frühstück fanden, dem wir alle Ehre antaten, da es kein Mittagessen geben sollte; denn in Tivoli blieb uns nur Zeit zum Abendessen. Nach dem Frühstück stiegen wir wieder ein und kamen um zehn Uhr an. Ich trug den schönen Ring am Finger, den Lucrezia mir gegeben hatte. Hinter dem Kasten hatte ich eine Emailleplatte anbringen lassen, worauf ein Merkurstab mit einer einzigen Schlange sich zwischen den beiden griechischen Buchstaben Alpha und Omega befand. Um diesen Ring drehte sich das Gespräch während des ganzen Frühstücks; der Advokat und Don Francesco gaben sich alle mögliche Mühe, die Bedeutung der rätselhaften Inschrift herauszubekommen, zur großen Belustigung Lucrezias, die das Geheimnis natürlich kannte.

Zunächst besichtigten wir aufmerksam die Behausung des Bräutigams. Es war ein richtiges Schmuckkästchen. Hierauf verbrachten wir in Gesellschaft sechs Stunden damit, uns die Altertümer von Tivoli anzusehen. Als bei irgendeiner Gelegenheit Lucrezia etwas dem Don Francesco leise ins Ohr sagte, benutzte ich diesen Augenblick, um zu Angelica zu sagen, wenn sie verheiratet sein würde, würde ich einige Tage der schönen Jahreszeit bei ihnen verbringen.

»Herr Abbate, sobald ich hier Herrin bin, werden Sie der erste sein, dem ich meine Tür verschließen lasse.«

»Ich bin Ihnen sehr verbunden, mein Fräulein, daß Sie mir diesen Wink gegeben haben.«

Das Spaßhafte dabei ist, daß ich ihre Ungezogenheit für eine einfache Liebeserklärung nahm. Ich war starr vor Staunen. Lucrezia bemerkte meinen Zustand, zupfte mich am Arm und fragte, was mir sei. Ich sagte es ihr, und nun sprach sie folgende Worte: »Lieber Freund, mein Glück kann nicht lange mehr dauern; der grausame Augenblick ist nah, wo ich mich von dir trennen muß. Sobald ich fort bin, mache es dir zur Aufgabe, sie zur Erkenntnis ihres Irrtums zu bringen. Sie bedauert mich – räche mich an ihr!«

Ich vergaß zu erzählen, daß ich bei der Besichtigung von Don Francescos Hause ein reizendes kleines Zimmer gelobt hatte, das an die Orangerie anstieß. Der Besitzer hatte dies gehört und sagte mir liebenswürdig, es sei für mich bestimmt. Lucrezia tat, als hörte sie es nicht; aber es war für sie der Ariadnefaden; da wir die Schönheiten Tivolis alle miteinander besuchen sollten, so konnten wir nicht darauf hoffen, uns den Tag über auch nur einen kurzen Augenblick miteinander allein zu befinden.

Wie gesagt verbrachten wir sechs Stunden damit, alle Schönheiten von Tivoli uns anzusehen, ich muß aber hier gestehen, daß ich für mein Teil sehr wenig sah; erst achtundzwanzig Jahre später lernte ich den schönen Ort in allen seinen Einzelheiten kennen.

Todmüde und mit einem Wolfshunger kamen wir gegen Abend nach Hause. Aber eine Stunde Ruhe vor dem Essen, zwei Stunden bei Tisch, die leckersten Speisen, die trefflichsten Weine, besonders der ausgezeichnete Wein von Tivoli – dies alles bekam uns so gut, daß ein jeder nur noch ein gutes Bett brauchte, um je nach seinem Geschmack darin zu schlafen oder zu wachen.

Da niemand allein schlafen wollte, sagte Lucrezia, sie würde mit Angelica das Zimmer neben dem Orangenhause nehmen, ihr Mann könne mit ihrem Bruder, dem jungen Abbate, zusammen schlafen und ihre Mutter mit der kleinen Schwester.

Diese Anordnung wurde für ausgezeichnet befunden. Don Francesco nahm eine Kerze und führte mich in mein hübsches Kämmerchen, unmittelbar neben dem Zimmer, wo die beiden Schwestern schlafen sollten. Nachdem er mir gezeigt hatte, wie ich mich einschließen könnte, wünschte er mir gute Nacht und ließ mich allein.

Angelica wußte nicht, daß ich ihr Nachbar war, aber Lucrezia und ich hatten uns verstanden, ohne uns ein Wort zu sagen.

Durch das Schlüsselloch sah ich hinter dem dienstbeflissenen Gastgeber, der einen Armleuchter trug, die beiden liebenswürdigen Schwestern eintreten. Er zündete eine Nachtlampe an, wünschte einen guten Abend und ging. Die beiden Schönen schlossen sich ein, setzten sich auf ein Sofa und machten ihre Nachttoilette, die in diesem glücklichen Klima der unserer Ältermutter gleicht. Lucrezia wußte, daß ich sie hörte, und sagte ihrer Schwerer, sie solle sich auf die Seite nach dem Fenster zu legen. Infolgedessen ging die Jungfrau, die ja keine Ahnung hatte, daß sie ihre Reize meinem unheiligen Auge preisgab, nackt durch das ganze Zimmer. Lucrezia löschte Lampe und Kerzen aus und legte sich an die Seite ihrer keuschen Schwester.

Glückliche Augenblicke! Ich weiß, ich kann auf solche nicht mehr hoffen, aber nur der Tod allein kann die Erinnerung an euch in mir auslöschen! Ich glaube, niemals habe ich mich so schnell entkleidet, wie an jenem Abend. Ich reiße die Tür auf. Ich sinke in Lucrezias Arme, die zu ihrer Schwester sagt: »Es ist mein Holder! Schweig und schlafe!«

Es war das einzige, was sie sprach. Kuß und Umarmung verscheuchten die Worte. Ausbruch innerer Fülle und inneren Lebens war das Feuer, das uns entflammte. Der Versuch, es beherrschen zu wollen, hätte uns verzehrt. Nur dadurch, daß wir der Flamme nicht wehrten, erkauften wir uns Ruhe.

In köstlicher Erschöpfung überließen wir uns endlich Morpheus‘ Armen. Die ersten Lichtstrahlen des Morgens, die durch die Spalten der Fensterläden drangen, entrissen uns diesem stärkenden Schlummer. Und wie zwei tapfere Krieger, die ihre Waffen nur sinken ließen, um mit um so größerer Glut den Kampf wieder zu beginnen, so überließen wir uns von neuem dem Feuer, das unsere Sinne entflammte.

»O meine Lucrezia, wie glücklich ist dein Geliebter! Aber, zärtliche Freundin, gib acht auf deine Schwester; sie könnte sich umdrehen und uns sehen.«

»Fürchte nichts, Seele meines Lebens! Meine Schwester ist reizend, sie liebt mich, sie beklagt mich; nicht wahr, gute Angelica, du liebst mich! O, dreh dich um! Seh deine Schwester glücklich! Erkenne das Glück, das deiner warte, wenn dich einst die Liebe ihrer süßen Herrschaft unterwirft.«

Angelica war siebzehn Jahr alt und war Jungfrau; sie mußte eine Nacht voller Tantalusqualen verbracht haben. Sie verlangte nichts Besseres, als einen Vorwand, um ihrer Schwester zeigen zu können, daß sie ihr verziehen hatte. Sie drehte sich um, gab Lucrezia hundert Küsse und gestand ihr, sie hätte kein Auge zutun können.

»Verzeih auch ihm, meine zärtliche Angelica, verzeih auch ihm, der mich liebt und den ich anbete!«

Unbegreifliche Macht des Gottes, der alle Wesen unterjocht!

»Angelica haßt mich!« rief ich, »ich wage nicht …«

»Nein, ich hasse Sie nicht!« sagte das reizende Kind.

»Küsse Sie, mein Freund!« sagte Lucrezia. Sie stieß mich auf ihre Schwester und sah mit Wonne diese schmachtend und regungslos in meinen Armen. Aber Gefühl noch mehr als Liebe verbietet mir, meine Lucrezia des Dankbarkeitszeichens zu berauben, das ich ihr schulde. Mit der ganzen Glut besinnungsloser Leidenschaft stürzte ich mich auf sie, und mein Feuer wächst noch, als ich Angelica in Ekstase sehe. Sie war zum erstenmal Zuschauerin des süßesten aller Liebeskämpfe. Lucrezia vergingen die Sinne; sie bat mich aufzuhören; da sie mich aber unerbittlich fand, entzog sie sich meiner Glut und statt ihrer opferte die sanfte Angelica zum erstenmal der Mutter der Liebe. Gewiß, so war es, als einst noch die Götter bei den Sterblichen wohnten – als die wollüstige Arcadia, verliebt in den sanften und anmutigen Hauch des Westwinds, ihm eines Tags die Arme öffnete und fruchtbar wurde. Es war der sanfte Zephyr.

Erstaunt und entzückt bedeckte Lucrezia bald die Schwester bald mich mit ihren Küssen. Angelica war ebenso glücklich wie ihre Schwester; zum drittenmal verging sie in meinen Armen in köstlicher Ohnmacht; sie war so feurig, so zärtlich, daß ich zum erstenmal das Glück der Liebe zu genießen glaubte.

Der blonde Phöbus hatte das bräutliche Lager verlassen, und schon verbreiteten seine Strahlen ihr Licht über das Weltall. Die Helligkeit, die durch die Spalten der Fensterläden drang, erinnerte mich daran, daß ich scheiden mußte. Ich nahm zärtlich Abschied von meinen beiden Göttinnen und zog mich in meine Kammer zurück. Wenige Augenblicke daraus erscholl bei meinen Nachbarinnen die lustige Stimme des guten Advokaten; er schalt seine Frau und Schwägerin aus, sie lägen zu lange im Bett. Dann klopfte er an meine Tür und drohte, er würde mir die Damen ins Zimmer schicken. Schließlich ging er fort, um mir einen Friseur zu besorgen.

Nachdem ich zahlreiche Abspülungen vorgenommen und sorgfältig Toilette gemacht hatte, fand ich, daß mein Gesicht sich allenfalls sehen lassen könne, und erschien mit stoischer Ruhe im Salon. Dort fand ich die beiden liebenswürdigen Schwestern inmitten der ganzen übrigen Gesellschaft und war entzückt vom rosigen Hauch ihrer Wangen. Lucrezia war fröhlich und ungezwungen und auf ihren Zügen malte sich das Glück. Angelica war frisch wie eine Rose am Morgen; sie war lebhafter als für gewöhnlich, aber sie vermied es, mich auch nur ein einziges Mal anzusehen. Ich sah, wie sie darüber lächelte, daß es mir nicht gelingen wollte, ihr ins Gesicht zu sehen; boshafterweise sagte ich nun zur Mutter, es sei schade, wenn Angelica Weiß auflege. Das Mädchen ging in diese Falle und verlangte, ich solle ihr mit einem Taschentuch übers Gesicht fahren. Dabei mußte sie mich denn wohl ansehen. Ich bat sie um Entschuldigung, und Don Francesco war entzückt, daß die weiße Haut seiner Zukünftigen einen so schönen Triumph errungen hatte.

Nach dem Frühstück machten wir einen kleinen Spaziergang im Garten. Als ich mit meiner Lucrezia allein war, machte ich ihr zärtliche Vorwürfe.

»Mache mir keine Vorwürfe!« rief sie. »Ich verdiene im Gegenteil nur Lob. Ich habe die Seele meiner reizenden Schwester aufgeklärt; ich habe sie in die süßesten Mysterien eingeweiht. Statt mich zu beklagen, muß sie mich jetzt beneiden; statt dich zu hassen, muß sie dich lieben. Da ich so unglücklich bin, bald von dir scheiden zu müssen, mein Freund, so lasse ich sie dir. Sie möge meine Stelle einnehmen.«

»Ah, Lucrezia! Wie könnte ich sie wohl lieben?!«

»Ist sie nicht reizend?«

»Ganz gewiß; aber meine Liebe zu dir feit mich gegen jede andere Liebe. Übrigens muß hinfort Don Francesco allein sie ganz und gar in Anspruch nehmen; ich möchte nicht schuld sein, daß ihre Liebe sich abkühlt, ich möchte nicht den Frieden ihrer Ehe stören. Auch bin ich sicher, daß deine Schwester ganz und gar von dir verschieden ist; ich möchte darauf wetten, sie bereut es schon, daß sie sich von ihrem Temperament hat fortreißen lassen.«

»Das kann wohl sein, mein Freund. Aber weißt du, was mich untröstlich macht? Mein Mann rechnet darauf, das Urteil bereits im Laufe der Woche zu erhalten, und dann sind die Augenblicke des Glückes für mich vorüber!«

Diese Nachricht betrübte mich. Um mich abzulenken, beschädigte ich mich bei Tisch viel mit dem hochherzigen Don Francesco. Ich versprach ihm ein Epithalamium für seine Hochzeit, die im Januarmonat stattfinden sollte.

Auf der Rückfahrt nach Rom verbrachte ich mit Lucrezia drei Stunden in meinem Visavis ohne daß sie eine Abnahme in der Lebhaftigkeit meiner Gefühle für sie hätte feststellen können. Bei unserer Ankunft fühlte ich mich ermüdet und stieg daher beim Spanischen Palast aus.

Wie Lucrezia mir gesagt hatte, erhielt ihr Mann drei oder vier Tage darauf den Urteilsspruch. Er kam zu mir, um mir unter vielen Freundschaftsbeteuerungen mitzuteilen, daß er am übernächsten Tage abreise. Die beiden letzten Abende verbrachte ich mit Lucrezia, doch stets inmitten ihrer Familie. Am Tage der Abreise wollte ich ihr eine angenehme Überraschung bereiten; ich fuhr voraus und erwartete sie an dem Ort, wo sie, wie ich glaubte, übernachten würden. Der Advokat war jedoch durch verschiedene unerwartete Umstände zurückgehalten worden und hatte erst vier Stunden später abreisen können, als er eigentlich wollte. Sie kamen daher erst am nächsten Tage um die Mittagszeit an. Nachdem wir miteinander gespeist hatten, nahmen wir traurig Abschied. Sie setzten ihre Reise fort, und ich kehrte nach Rom zurück.

Nach der Abreise dieser seltenen Frau empfand ich eine gewisse Leere; dies ist ja ziemlich natürlich bei einem jungen Menschen, dessen Herz nicht von Hoffnungen erfüllt ist. Ich arbeitete tagelang auf meinem Zimmer und machte Auszüge aus französischen Briefen, die der Kardinal selber verfaßt hatte. Seine Eminenz hatte die Güte, mir zu sagen, er finde meine Auszüge sehr sachlich; aber ich dürfe durchaus nicht soviel arbeiten. Die schöne Marchesa war dabei, als ich dieses schmeichelhafte Lob erhielt. Seit meinem zweiten Besuch hatte ich mich nicht wieder bei ihr sehen lassen. Daher schmollte sie mir, und um mich dies fühlen zu lassen, sagte sie dem Kardinal, ich müsse wohl so viel arbeiten, um den Kummer zu verscheuchen, den mir Lucrezias Abreise gewiß verursache.

»Ich will nicht verhehlen, gnädige Frau, daß ich den Schmerz tief empfinde. Sie war gut und hochherzig; vor allen Dingen verzieh sie mir, daß ich sie nur selten besuchte. Übrigens war meine Freundschaft unschuldig.«

»Daran zweifle ich nicht, obgleich Ihre Ode auf einen verliebten Dichter schließen läßt.«

»Unmöglich«, warf der Kardinal wohlwollend ein, »kann ein Dichter etwas schreiben, ohne sich wenigstens den Anschein der Verliebtheit zu geben.«

»Aber«, versetzte die Marchesa, »wenn er wirklich verliebt ist, so braucht er nicht ein Gefühl zu heucheln, das er ja besitzt.«

Mit diesen Worten zog die Marchesa ein Papier aus der Tasche und reichte es Seiner Eminenz: »Da ist die Ode! Sie machte dem Dichter und Verfasser alle Ehre, denn sie ist von allen schönen Geistern Roms als ein kleines Meisterwerk anerkannt, und Donna Lucrezia weiß sie auswendig.«

Der Kardinal überflog das Gedicht und gab es ihr lächelnd zurück, indem er sagte, er finde keinen Geschmack an italienischer Poesie, und wenn er es schön finden solle, müsse sie sich das Vergnügen machen, es ins Französische zu übersetzen.«

»Französisch schreibe ich nur Prosa,« sagte die Marchesa, »und jede Prosaübertragung nimmt Versen dreiviertel ihres Wertes.« Dann fuhr sie mit einem bedeutungsvollen Blick auf mich fort: »Ich gebe mich nur zuweilen damit ab, anspruchslose italienische Verse zu dichten.«

»Ich würde mich glücklich schätzen, gnädige Frau, wenn ich mir den Vorzug verschaffen könnte, einige von Ihren Versen kennenzulernen.«

»Hier habe ich«, sagte Kardinal S. C., »ein Sonett der Frau Marchesa«

Ich nahm es ehrfurchtsvoll entgegen und wollte es lesen, doch die liebenswürdige Marchesa sagte mir, ich möchte es in die Tasche stecken; ich könnte es am nächsten Tage dem Kardinal zurückgeben, obwobl es nicht viel wert wäre.

»Wenn Sie morgen früh ausgehen,« sagte mir der Kardinal, »können Sie es mir zurückgeben, indem Sie zu mir zum Essen kommen.«

Kardinal Acquaviva ergriff das Wort urd sagte: »Nun so wird er morgen auf alle Fälle ausgehen.«

Nach einer tiefen Verbeugung, die alles sagte, entfernte ich mich langsam und ging auf mein Zimmer hinauf. Ich war ungeduldig, das Sonett zu lesen. Bevor ich aber diese Ungeduld befriedigte, verweilte ich noch einen Augenblick, um eine kurze Musterung über mich selbst abzuhalten. Meine gegenwärtige Lage schien mir einige Aufmerksamkeit zu verdienen, nachdem ich am letzten Abend einen Riesenschritt vorwärts getan hatte, wie mir schien. Die Marchesa G. erklärt mir auf die unzweideutigste Art ihr Interesse für mich und fürchtet mit ihrer hoheitsvollen Miene sich nicht bloßzustellen, indem sie mir öffentlich auf das schmeichelhafteste entgegenkommt. Aber wer hätte sich’s können einfallen lassen, daran etwas auszusetzen? Ein junger Abbate wie ich war vollkommen ohne Bedeutung und konnte kaum Anspruch auf ihre hohe Protektion erheben, die sie, so wie sie nun einmal war, gerade solchen gerne gewährte, die sich derselben nicht wert hielten und daher auch anscheinend gar keinen Anspruch darauf erhoben. In dieser Hinsicht mußte meine Bescheidenheit aller Welt in die Augen springen, und die Marchesa hätte mich ohne Zweifel beleidigt, wenn sie mir zugetraut hätte, ich könnte mir einbilden, sie hätte auch nur im geringsten Geschmack an mir gefunden. Nein, eine derartige geckenhafte Eitelkeit ist mir ganz gewiß nicht eigen. Beweis dafür: der Kardinal selbst lud mich zu Tisch ein. Hätte er das getan, wenn er es für möglich gehalten hätte, daß ich seiner schönen Marchesa gefallen könnte? Nein, ganz gewiß nicht.

Warum sollte ich mich vor meinen Lesern verstellen? Mögen sie mich für einen eitlen Gecken nehmen – ich verzeihe es ihnen. Aber es ist Tatsache: ich fühlte mit Bestimmtheit, daß ich der Marchesa gefallen hatte. Ich wünschte mir Glück, daß sie diesen ersten so wichtigen und so schwierigen Schritt getan hatte. Sonst hätte ich nicht nur niemals gewagt, sie mit den herkömmlichen Mitteln anzugreifen, sondern es wäre mir nicht einmal eingefallen, ein Auge auf sie zu werfen. Mit einem Wort: erst von diesem Abend an erschien sie mir als das Weib, das mir meine Lucrezia ersetzen konnte. Sie war schön, jung, geistvoll und gebildet; sie war in den Wissenschaften bewandert, und mehr als das: sie war mächtig in ganz Rom. Was brauchte ich mehr?

Trotzdem hielt ich es für gut, scheinbar ihre Neigung für mich nicht zu bemerken und gleich vom nächsten Tage an sie zum Glauben zu bringen, ich liebte sie, ohne die geringste Hoffnung zu hegen. Ich wußte, dies war ein unfehlbares Mittel; ich schonte dadurch ihre Eitelkeit. Mein Plan schien mir danach angetan, den Beifall des Vaters Georgi selber zu erringen. Übrigens hatte ich mit lebhafter Befriedigung bemerkt, daß die Einladung des Kardinals S. C. meinem Kardinal Acquaviva viel Vergnügen machte. Er selber hatte mir solche Ehre noch nie erwiesen. Diese Einladung konnte Folgen haben, die nicht abzusehen waren.

Ich las das Sonett der liebenswürdigen Marchesa und fand es gut, fließend, gewandt und ausgezeichnet stilisiert. Sie pries darin den König von Preußen, der soeben durch eine Art von Handstreich sich Schlesiens bemächtigt hatte. Als ich es abschrieb, hatte ich den Einfall, Schlesien zu personifizieren und eine Antwort auf das Sonett geben zu lassen, als dessen Verfasserin ich die Liebe annahm. Silesia beklagte sich bei der Liebe, daß sie ihren Besieger preise, obwohl dieser Eroberer ein erklärter Feind der Liebe sei.

Wenn jemand gewohnt ist, Verse zu machen, so kann er sich dessen unmöglich enthalten, sobald ein glücklicher Einfall seiner bezauberten Einbildungskraft zugelächelt hat. Das poetische Feuer, das sich dann durch seine Adern ergießt, würde ihn verzehren, wenn er ihm den freien Ausweg verwehren wollte. Ich machte mein Sonett mit denselben Reimen wie das der Marchesa sie hatte; dann ging ich, zufriede mit meinem Apollo, zu Bett.

Am anderen Morgen, als ich gerade damit fertig war, mein Sonett abzuschreiben, kam Abbate Gama zu mir und lud sich bei mir zum Frühstück ein. Er wollte mir Glück wünschen zu der Ehre, die Kardinal S. C. mir erwiesen, indem er mich öffentlich vor der ganzen Gesellschaft zu Tisch eingeladen hätte.

»Aber seien Sie vorsichtig!« fuhr er fort, »Seine Eminenz gilt für eifersüchtig.«

Ich dankte ihm für den freundschaftlichen Rat und versicherte ihm nachdrücklich, ich hätte nichts zu besorgen, denn ich spürte keinerlei Neigung für seine schöne Marchesa.

Kardinal S. C. empfing mich mit großer Güte, in die sich aber eine gewisse Würde mischte, um mich die ganze Bedeutung der mir von ihm erwiesenen Gnade fühlen zu lassen.

»Haben Sie«, fragte er, »das Sonett der Marchesa gut gefunden?«

»Gnädiger Herr, ich fand tadellos und, was mehr sagen will: reizend. Hier ist es.«

»Sie hat viel Talent. Ich will Ihnen zehn Stanzen von ihrer Feder zeigen, Abbate, aber unter dem Siegel der tiefsten Verschwiegenheit.«

»Darauf können Eure Eminenz sich völlig verlassen.«

Er holte aus seinem Schreibtisch die Stanzen, die an ihn selber gerichtet waren. Ich las sie; sie waren gut gemacht, aber ich fand, sie hatten kein Feuer, sie waren das Werk einer Dichterin: Liebe in leidenschaftlichem Stil, aber man vermißte in ihnen das Gefühl, das ein Gedicht sofort als wahr erkennen läßt. Der gute Kardinal beging ohne Zweifel eine große Indiskretion; aber wie vieles begeht nicht die Eitelkeit! Ich fragte Seine Eminenz, ob sie auf die Stanzen geantwortet habe. »Nein,« sagte er, »aber würden Sie wohl«, fuhr er lachend fort, »mir Ihre Feder leihen – selbstverständlich stets unter der Bedingung unverbrüchlichen Schweigens?«

»Für Verschwiegenheit, Monsignore, stehe ich mit meinem Kopfe ein; aber ich fürchte, die gnädige Frau könnte die Verschiedenheit des Stils bemerken.«

»Sie besitzt keine Verse von mir; übrigens glaube ich nicht, daß sie mich für einen Dichter hält, und deshalb müssen auch Ihre Stanzen so sein, daß sie sie nicht zu gut für meine schwachen Kräfte finden kann.«

»Ich werde sie dichten, gnädiger Herr, und Eure Eminenz werden selber das Urteil abgeben. Wenn Sie sie nicht mehr als Ihre eigene Arbeit ihr glauben geben zu können, so behalten Sie sie.«

»Ja, so ist es gut. Wollen Sie sie sofort machen?«

»Sofort, gnädiger Herr? Es ist keine Prosa.«

»Nun, so sehen Sie zu, daß Sie sie mir morgen geben können.« Wir speisten selbzweit, und Seine Eminenz wünschte mir Glück zu meinem Appetit; er sehe mit Vergnügen, sagte er, daß ich in dieser Hinsicht ebensoviel leiste wie er. Ich begann, das Original zu erkennen und sagte, um ihm zu schmeicheln: er erweise mir zuviel Ehre, ich müsse hinter ihm zurückstehen. Dieses eigentümliche Kompliment gefiel ihm, und ich sah nun, wie großen Vorteil ich von dieser Eminenz haben könnte

Gegen Ende der Mahlzeit, als wir im besten Plaudern waren, trat die Marchesa ein, selbstverständlich ohne sich anmelden zu lassen. Ihr Anblick entzückte mich: ich fand in ihr eine vollkommene Schönheit. Sie ließ dem Kardinal keine Zeit, ihr entgegenzutreten, sondern setzte sich neben ihn; ich blieb stehen: so gehörte es sich.

Die Marchesa tat, als bemerke sie mich gar nicht; sie sprach geistreich über verschiedenes bis zu dem Augenblick, wo der Kaffee gebracht wurde. Da richtete sie das Wort an mich und sagte mir, ich möchte mich setzen; aber in einem Tone, wie wenn sie mir ein Almosen reichte.

»Was ich sagen wollte, Abbate,« sagte sie einen Augenblick darauf, »haben Sie mein Sonett gelesen?«

»Ja, gnädige Frau; und ich hatte die Ehre, es Monsignore zurückzugeben. Ich fand es so gelungen, daß ich überzeugt bin, es hat Ihnen viel Zeit gekostet.«

»Zeit?« rief der Kardinal, »da kennen Sie sie nicht.«

»Gnädiger Herr,« versetzte ich, »ohne Zeitaufwand macht man nichts Rechtes. Aus diesem Grunde wagte ich auch nicht, Euerer Eminenz eine Antwort auf das Sonett zu zeigen, die ich in einer halben Stunde gedichtet habe.«

»Zeigen Sie sie her, Abbate,« sagte die Marchesa; »ich will sie lesen.«

Antwort Silesias an die Liebe. Dieser Titel ließ sie aufs lieblichste erröten. »Von Liebe ist nicht die Rede!« rief der Kardinal. »Warten Sie!« sagte die Marchesa, »man muß den Einfall des Dichters achten.«

Sie las mein Sonett zweimal und fand die von Silesia an die Liebe gerichteten Vorwürfe sehr berechtigt. Sie setzte meinen Gedanken dem Kardinal auseinander, indem sie ihm klarmachte, warum Silesia beleidigt wäre, daß gerade der König von Preußen sie erobert hätte.

»Ach so! Ja!« rief der Kardinal freudestrahlend: »Silesia ist ein Weib, und der König von Preußen … oh! oh! der Gedanke ist göttlich!« Und der Kardinal lachte länger als eine Viertelstunde aus vollem Halse. »Ich will das Sonett abschreiben«, rief er endlich. »Ich will es auf alle Fälle besitzen!«

»Der Abbate«, sagte die Marchesa, »wird Ihnen die Mühe ersparen; ich werde es ihm diktieren.«

Ich setzte mich zum Schreiben nieder; plötzlich aber rief Seine Eminenz: »Ach; Marchesa, das ist ja wunderbar; er hat das Sonett mit den Reimen des Ihrigen gemacht. Haben Sie’s bemerkt?«

Die Marchesa warf mir einen so ausdrucksvollen Blick zu, daß Sie mich vollends zu ihrem Sklaven machte. Ich begriff, was sie wollte: ich sollte den Kardinal kennenlernen, wie sie selber ihn kannte, und wir sollten gemeinsam vorgehen. Ich fühlte mich vollkommen dazu aufgelegt, ihr beizustehen.

Sobald ich nach dem Diktat der reizenden Frau das Sonett geschrieben hatte, wollte ich mich empfehlen; der Kardinal war so entzückt, daß er mir sagte, er erwarte mich am nächsten Tage zu Tisch.

Ich hatte viel Arbeit vor mir; denn die zehn Stanzen, die ich zu dichten hatte, waren ganz eigener Art. Ich zog mich daher schleunigst auf mein Zimmer zurück, um in aller Muße nachdenken zu können. Ich mußte mich in acht nehmen, daß ich mich nicht zwischen zwei Stühle setzte, und ich fühlte, daß ich dazu aller meiner Geschicklichkeit bedurfte. Ich mußte die Marchesa instand setzen, so zu tun, als ob sie den Kardinal für den Verfasser der Stanzen hielte, zu gleicher Zeit aber mußte sie genötigt sein, das Gedicht mir zuzuschreiben, und sie durfte nicht daran zweifeln können, daß ich das wußte. Ich mußte viel Zurückhaltung beobachten, daß sie mich nicht in Verdacht haben konnte, Hoffnungen zu hegen, und trotzdem mußten unter dem durchsichtigen Schleier der Dichtung meine Verse von feurigstem Gefühl durchglüht sein. Vom Kardinal wußte ich, daß er um so eher geneigt sein würde, sich meine Stanzen anzueignen, je hübscher er sie fände. Es handelte sich nur darum, klar zu sein – und das ist in der Poesie so schwer; Dunkelheit dagegen hätte in den Augen meines neuen Midas für Erhabenheit gegolten. Aber obwohl mir sehr viel daran lag, ihm zu gefallen, kam bei dieser Sache der Kardinal nur in zweiter Linie in Betracht, in erster dagegen die schöne Marchesa.

Die Signora gab in ihren Versen eine pomphafte Auszählung der körperlichen und moralischen Eigenschaften des Kardinals; ich durfte daher nicht versäumen, ihr dies mit Gleichem zu vergelten, und ich tat es um so lieber, da die Aufgabe leicht war. Voll von meinen Stoff machte ich mich ans Werk; ich ließ meiner Phantasie und dem doppelten Gefühl, das mich beherrschte, freien Lauf und beendigte schließlich meine zehn Stanzen mit den beiden schönen Versen Ariostos:

Le angeliche belezze nate al cielo
Non si ponno celar sotto alcun velo.

Die Engelschönheit aus des Himmels Auen,
Kein Schleier hindert ihren Glanz zu schauen.

Ziemlich zufrieden mit meinem kleinen Werk brachte ich es am anderen Tage zu Seiner Eminenz. Ich sagte, ich zweifle, daß er sich als Verfasser eines so mittelmäßigen Erzeugnisses werde bekennen wollen. Er las die Verse wiederholt sehr schlecht und sagte mir schließlich, sie seien ja allerdings nicht viel wert, aber das sei gerade gut in diesem Fall. Besonders dankte er mir für die Verwendung der beiden Ariostschen Verse; er würde um so eher als Verfasser des Ganzen gelten, weil die Marchesa glauben würde, er habe die Anleihe bei Ariost nötig gehabt. Gleichsam zum Trost sagte er mir zu guter Letzt, er werde bei Abschreiben noch einige Fehler in die Verse hineinbringen; dadurch werde die Illusion vollständig werden.

Wir speisten etwas früher als am Tag vorher, und ich ging gleich nach dem Essen fort, damit er Zeit hätte, vor der Ankunft seiner Dame die Verse abzuschreiben.

Am nächsten Abend begegnete ich ihr am Tor des Palastes; ich reichte ihr den Arm, um ihr beim Aussteigen aus dem Wage zu helfen. Sobald sie stand, sagte sie zu mir: »Wenn man in Rom etwas von Ihren und meinen Stanzen erfährt, können Sie auf meine Feindschaft rechnen.«

»Gnädige Frau, ich weiß nicht, was Sie meinen.«

»Diese Antwort hatte ich erwartet; aber lassen Sie sich’s gesagt sein.«

Ich begleitete sie bis an die Türe des Salons und entfernte mich, Verzweiflung im Herzen, denn ich glaubte, sie sei allen Ernstes aufgebracht.

»Meine Stanzen«, sprach ich bei mir selbst, »sind zu feurig, sie stellen ihren Stolz bloß, und ihr Selbstgefühl wird sich beleidigt gefühlt haben, daß ich so tief in das Geheimnis ihres Verhältnisses eingedrungen bin. Trotzdem bin ich überzeugt, daß ihre angebliche Furcht vor einer Indiskretion erheuchelt ist. Sie ist nur ein Vorwand, mich in Ungnade fallen zu lassen. Sie hat meine Zurückhaltung gar nicht begriffen. Was hätte sie denn machen wollen, wenn ich sie in der Nacktheit des goldenen Zeitalters geschildert hätte, ohne alle jene Schleier, die die Scham ihrem Geschlecht anzulegen gebietet.« Ich bedauerte, es nicht getan zu haben. Schließlich zog ich mich aus und ging zu Bett. Ich lag im halben Traum, da klopfte Abbate Gama an meine Tür. Ich zog die Schnur, er trat ein und sagte: »Mein Lieber, der Kardinal möchte Sie sehen: die schöne Marchesa und Kardinal S. C. wünschen, daß Sie herunterkommen.«

»Es tut mir leid, aber ich kann nicht. Sagen Sie ihnen die Wahrheit: daß ich zu Bett liege und krank bin.«

Da der Abbate nicht wiederkam, so dachte ich mir, er werde wohl meine Bestellung ausgerichtet haben, und verbrachte die Nacht ziemlich ruhig. Am anderen Morgen war ich noch nicht fertig angezogen, als ich ein Briefchen vom Kardinal S. C. erhielt. Er lud mich zum Essen ein und teilte mir mit, er habe zur Ader gelassen und müsse mich sprechen; er forderte mich auf, recht früh zu ihm zu kommen, selbst wenn ich krank wäre.

Das war dringend. Ich konnte nicht ahnen, was los war; aber um etwas Unangenehmes schien es mir nach diesem Brief sich nicht zu handeln. Ich ging in die Messe, wo Kardinal Aquaviva mich bemerken mußte. Dies geschah denn auch. Nach der Messe winkte Monsignore mich zu sich heran und fragte: »Sind Sie wirklich krank?«

»Nein, gnädiger Herr, ich hatte nur Lust zu schlafen.«

»Das freut mich sehr; aber Sie hahen unrecht, denn man ist Ihnen gut. Der Kardinal läßt heute zur Ader.«

»Ich weiß es, Monsignore. Er teilt es mir in diesem Briefchen mit, worin er mich einladet, zu ihm zum Essen zu kommen, wenn Eure Eminenz es erlauben wollen.«

»Sehr gern. Aber das ist scherzhaft! Ich glaubte nicht, daß er einen Dritten nötig hätte.«

»Wird denn ein Dritter dort sein?«

»Davon weiß ich nichts, und ich bin neugierig darauf.«

Hierauf entließ der Kardinal mich, und alle Anwesenden glaubten, Seine Eminenz habe mit mir von Staatsgeschäften gesprochen.

Ich ging zu meinem neuen Mäcen, den ich im Bett fand.

»Ich muß heute Diät halten,« sagte er zu mir; »Sie werden allein speisen, aber Sie kommen dabei nicht zu kurz, denn mein Koch weiß nichts davon. Ich habe Ihnen was zu sagen: ich fürchte Ihre Stanzen sind zu hübsch, denn die Marchesa ist ganz vernarrt darin. Hätten Sie sie mir so vorgelesen, wie sie es getan hat, so hätte ich mich nicht entschließen können, sie für mein Werk auszugehen.«

»Aber sie glaubt doch, daß die Verse von Eurer Eminenz sind?«

»Ganz gewiß.«

»Das ist die Hauptsache, gnädiger Herr.«

»Ja. Aber was sollte ich anfangen, wenn sie Lust bekäme, noch mehr Verse auf mich zu machen?«

»Sie würden ihr auf dieselbe Weise antworten, denn Sie können Tag und Nacht über mich verfügen und sich vollkommen auf meine unverbrüchliche Verschwiegenheit verlassen.«

»Ich bitte Sie, dies kleine Geschenk anzunehmen; es ist Negrillo von Havanna, den mir Kardinal Acquaviva gegeben hat.«

Der Tabak war gut, aber die Verpackung war besser: sie bestand in einer prachtvollen Dose aus emailliertem Gold. Ich nahm sie ehrfurchtsvoll und mit dem Ausdruck gerührter Dankbarkeit entgegen.

Wenn die Eminenz auch keine Verse machen konnte, so wußte sie doch zu schenken, und zwar in vornehmer Form zu schenken; und diese Kunst ist an einem hohen Herrn unendlich viel mehr wert als jene andere.

Gegen Mittag sah ich zu meiner großen Überraschung die schöne Marchesa in einem sehr eleganten Hauskleide erscheinen. »Hätte ich gewußt, daß Sie gute Gesellschaft haben,« sagte sie zum Kardinal, »so wäre ich nicht gekommen.«

»Ich bin überzeugt, liebe Marchesa, die Gegenwart unseres Abbate wird Ihnen nicht unangenehm sein.«

»Nein, denn ich halte ihn für anständig.«

Ich hielt mich in achtungsvoller Entfernung bereit, bei der erstem Stichelrede der Dame mich mit meiner schönen Tabaksdose aus dem Staube zu machen. Der Kardinal fragte sie, ob sie zu Mittag speisen würde. »Ja,« antwortete sie; »aber schlecht, denn ich esse nicht gerne allein.«

»Wenn Sie ihm die Ehre erweisen wollen, wird der Abbate Ihnen Gesellschaft leisten.«

Sie warf mir einen freundlichen Blick zu, sagte aber keinen Ton.

Es war das erstemal, daß ich mit einer Dame der großen Welt zu tun hatte. Ihre Protektionsmiene, so wohlwollend sie auch war, brachte mich aus der Fassung; denn Begönnerung kann nichts mit Liebe zu schaffen haben. Aber da sie sich in Gegenwart des Kardinals befand, so begriff ich, daß ihr Verhalten wahrscheinlich durch die Schicklichkeit geboten wäre.

Der Tisch wurde neben dem Bett des Kardinal gedeckt, und die Marchesa, die fast gar nichts aß, ermunterte meinen glücklichen Appetit.

»Ich habe Ihnen gesagt, der Abbate gibt mir nichts nach«, sagte S. C.

»Ich glaube auch, es fehlt nicht viel daran; aber Sie sind leckerer«, fügte sie hinzu, um ihm zu schmeicheln.

»Frau Marchesa, dürfte ich mir die Bitte erlauben, mir sagen zu wollen, warum Sie mich für einen großen Esser, aber nicht für einen Feinschmecker halten? Denn von allem liebe ich nur die feinen, auserlesenen Bissen.«

»Erklären Sie das näher, sagte der Kardinal.

Ich erlaubte mir zu lachen und sagte in improvisierten Versen alles her, was mir von feinen und auserlesenen Speisen gerade einfiel. Die Marchesa klatschte Beifall und sagte mir, sie bewundere meinen Mut.

»Mein Mut, gnädige Frau, ist Ihr Mut; denn ich bin furchtsam wie ein Hase, wenn man mich nicht ermutigt: Sie sind die Urheberin meiner Improvisation.«

»Ich bewundere Sie. Ich könnte keine vier Verse hersagen, ohne sie niedergeschrieben zu haben, und wenn der Gott des Pindus selber mich ermutigte.«

»Wagen Sie sich Ihrem Genius zu überlassen, gnädige Frau, und Sie werden göttliche Sachen sagen.«

»Das glaube ich auch,« rief der Kardinal. »Bitte erlauben Sie mir doch, daß ich dem Abbate Ihre zehn Stanzen zeige.«

»Sie sind nachlässig gemacht. Aber ich bin damit einverstanden – vorausgesetzt, daß es unter uns bleibt.«

Der Kardinal gab mir nun die Stanzen der Marchesa, und ich las sie auf eine Art, daß dadurch alle ihre Schönheiten hervortraten.

»Wie Sie es gelesen haben!« sagte die Marchesa. »Es kommt mir vor, als seien die Verse gar nicht von mir. Ich danke Ihnen. Aber haben Sie die Güte und lesen Sie in derselben Weise die Stanzen vor, die Seine Eminenz als Antwort auf die meinigen gedichtet hat. Sie sind bei weitem besser.«

»Glauben Sie das nicht, Abbate! sagte der Kardinal, indem er mir die Verse gab. »Aber geben Sie sich Mühe, daß beim Vorlesen nichts verloren geht!«

Seine Eminenz hatte sicherlich nicht nötig, mir dies zu empfehlen; denn es waren meine eigenen Verse, und es wäre mir unmöglich gewesen, sie nicht so gut zu lesen wie ich nur konnte, besonders da die Frau, die mich zu diesen Versen begeistert hatte, mir gegenübersaß. Außerdem hatte Bacchus meinen Apoll erwärmt und die schönen Augen der Marchesa vermehrten noch die Glut, die alle meine Sinne durchströmte.

Ich las die Stanzen so, daß der Kardinal ganz entzückt war. Aber die Stirn der schönen Frau übergoß sich mit roter Glut, als ich an die Beschreibung jener Schönheiten kam, die des Dichters Einbildungskraft erraten darf, die ich aber nicht gesehen haben konnte. Sie riß mir mit ärgerlicher Miene das Papier aus der Hand und sagte, ich schöbe Verse unter. Dies war richtig, aber ich hütete mich wohl, es einzugestehen. Ich war ganz und gar entflammt, und sie glühte nicht weniger als ich.

Der Kardinal war eingeschlafen; sie stand auf, um sich auf die Terrasse zu setzen; ich folgte ihr dorthin. Sie saß auf dem Geländer; ich stand vor ihr, so daß ihr Knie meine Uhr berührte. Welche Stellung! Ich ergriff sanft eine ihrer Hände und sagte ihr, sie habe eine verzehrende Flamme in meine Seele geworfen; ich bete sie an, und wenn ich nicht hoffen könne, bei ihr Verständnis für meinen Liebesschmerz zu finden, sei ich entschlossen, sie auf ewig zu meiden.

»Geruhen Sie, schöne Marchesa, mir mein Urteil zu sprechen.«

»Ich halte Sie für ausschweifend und unbeständig.«

»Ich bin keins von beiden.« Mit diesen Worten preßte ich sie an meine Brust und drückte auf ihre schönen Rosenlippen einen wonnigen Kuß, den sie, ohne sich zu sträuben, empfing. Dieser Kuß, Vorläufer der süßesten Wonnen, machte meine Hände außerordentlich kühn und ich wollte… Da nahm die Marchesa eine andere Stellung ein und bat mich so sanft, ihrer zu schonen, daß ich eine neue Wollust im Gehorsam fand. Ich ließ nicht nur davon ah, einen Sieg zu verfolgen, der wohl möglich gewesen wäre, sondern ich bat sie sogar um Verzeihung, die ich leicht im sanftesten Blick lesen konnte.

Sie sprach hierauf mit mir über Lucrezia, und meine Verschwiegenheit mußte sie entzücken. Dann brachte sie die Rede auf den Kardinal. Sie wollte mich glauben machen, zwischen ihm und ihr bestehe nur ein reines Freundschaftsverhältnis. Ich wußte wohl Bescheid, aber es lag in meinem Interesse, mich so zu stellen, als glaube ich ihr ohne Einschränkung alles. Dann gingen wir dazu über, Verse unserer besten Dichter herzusagen. Sie saß, und ich stand vor ihr und konnte meine Blicke an ihren Reizen weiden, gegen die ich anscheinend unempfindlich blieb. Ich war entschlossen, an diesem Tage keinen schöneren Sieg zu erstreben, als ich bereits errungen hatte.

Der Kardinal war aus seinem langen friedlichen Schlummer erwacht; er kam in der Nachtmütze zu uns hinaus und fragte gutmütig, ob wir nicht ungeduldig geworden seien, auf ihn zu warten. Ich blieb bei ihnen bis zur Dämmerung. Dann ging ich. Ich war mit dem Erfolg des Tages sehr zufrieden und fest entschlossen, meine Glut im Zaum zu halten, bis sich der Augenblick eines völligen Sieges mir von selber darböte.

Von diesem Tage an gab die Marchesa mir fortwährend Beweise einer besonderen Hochschätzung und legte sich nicht den geringsten Zwang mehr auf. Ich rechnete auf den nahen Karneval, denn ich war überzeugt, je mehr ich ihr Zartgefühl schonte, desto lieber würde sie selber für eine Gelegenheit sorgen, mich den Lohn für meine Treue, Zärtlichkeit und Beständigkeit ernten zu lassen.

Aber das Schicksal hatte es anders beschlossen; denn in dem Augenblicke, wo der Papst und mein Kardinal ernsthaft daran dachten, meiner Existenz eine feste Grundlage zu geben, drehte mir das Glück den Rücken.

Der Heilige Vater hatte mir zu der vom Kardinal S.C. geschenkten prachtvollen Tabaksdose Glück gewünscht, aber er hatte es vermieden, jemals den Namen der Marchesa zu erwähnen. Kardinal Acquaviva gab unverhohlen seine Befriedigung kund, daß sein Kollege mir seinen Negrillo in einer so schönen Hülle gegeben hatte. Abbate Gama wagte mir keine Ratschläge mehr zu geben, als er mich auf so schönem Wege sah, und der tugendhafte Vater Georgi beschränkte seinen Rat darauf, daß er mir sagte, ich solle mich an die schöne Marchesa halten und mich vor anderen Bekanntschaften recht in acht nehmen.

So war meine wirklich glänzende Lage, als ich am Weihnachtstage den Liebhaber der hübschen Barbara Dalacqua bei mir eintreten sah. Er schloß die Tür auf, warf sich auf mein Sofa und rief, ich sähe ihn zum letztenmal. Er wolle mich nur um einen guten Rat bitten.

»Welchen Rat kann ich Ihnen geben?«

»Da, lesen Sie diesen Brief, und Sie wissen alles.«

Der Brief war von seiner Geliebten: der Inhalt besagte etwa folgendes: »Ich trage unter meinem Herzen ein Pfand unserer Liebe; ich kann nicht mehr daran zweifeln, geliebter Freund, und erkläre Dir hiermit, daß ich entschlossen bin, ganz allein von Rom fortzugehen und zu sterben, wo Gott will, wenn Du Dich nicht meiner annimmst. Lieber will ich das Ärgste ertragen, als mich meinem Vater entdecken.«

»Wenn Sie ein Ehrenmann sind,« sagte ich ihm, »können Sie sie nicht verlassen. Heiraten Sie sie, Ihren beiden Vätern zum Trotz, und leben Sie als gute Eheleute miteinander. Die ewige Vorsehung wird über Ihnen wachen.«

Nachdem ich ihm diesen Rat gegeben hatte, schien er ruhiger geworden zu sein und ging.

Zu Anfang des Jahres 1744 sah ich ihn wieder bei mir erscheinen. Diesmal machte er ein sehr zufriedenes Gesicht. »Ich habe«, erzählte er mir, »das oberste Stockwerk des Hauses gemietet, das an das Dalacquasche anstößt. Barbara weiß es. Heute nacht klettere ich durch die Dachluke auf ihren Boden, und wir verabreden den Zeitpunkt der Entführung. Mein Entschluß steht fest; ich gehe mit ihr nach Neapel, und da die Magd, die auf dem Dachboden schläft, um die Flucht wissen muß, so nehme ich auch diese mit.«

»Gott gebe Ihnen sein Geleit!«

Acht Tage später sah ich gegen elf Uhr abends ihn und einen Abbate in mein Zimmer eintreten.

»Was wollen Sie von mir zu dieser späten Stunde?«

»Ich möchte Ihnen diesen schönen Abbate vorstellen.«

Ich sehe diesen Abbate an und erkenne in ihm mit Entsetzen Barbara. »Hat man Sie eintreten sehen?« frage ich.

»Nein. Und wenn auch – ’s ist eben ein Abbate. Wir gehen allnächtlich miteinander aus.«

»Meinen Glückwunsch dazu!«

»Die Magd ist mit uns im Bunde; sie ist damit einverstanden, uns zu begleiten. Alle Vorbereitungen sind getroffen.«

»Ich wünsche Ihnen guten Erfolg. Addio! Bitte, gehen Sie!«

Als ich ein paar Tage darauf mit dem Abbate Gama in der Villa Medici spazierenging, sagte er mir infolge irgendeiner Bemerkung, im Laufe der Nacht werde auf dem Spanischen Platz eine Exekution stattfinden.

»Was für eine Exekution denn?«

»Der Bargello oder sein Leutnant wird einen ordine santissimo ausführen oder irgendein verdächtiges Haus durchsuchen, um jemanden festzunehmen, der nicht darauf gefaßt ist.«

»Woher weiß man das?«

»Seine Eminenz muß es wissen, denn der Papst würde es nicht wagen, in seine Gerichtsbarkeit einzugreifen, ohne ihn um Erlaubnis zu fragen.«

»Er hat ihm also diese Erlaubnis gegeben?«

»Ja. Ein Auditor des Heiligen Vaters hat ihn heute morgen darum gebeten.«

»Aber unser Kardinal hätte sie verweigern können?«

»Gewiß. Aber solche Verweigerung kommt niemals vor.«

»Und wenn die gesuchte Person unter seinem Schutz steht – was macht man dann?«

»Dann wird sie von Seiner Eminenz gewarnt.«

Das Gespräch kam auf andere Dinge, aber diese Nachricht beunruhigte mich. Ich dachte mir, der Befehl könne wohl Barbara oder ihren Liebhaber angehen, denn das Haus ihres Vaters stand unter spanischer Gerichtsbarkeit. Vergeblich suchte ich den jungen Menschen; es gelang mir nicht, ihn zu treffen, und ich befürchtete mich bloßzustellen, wenn ich zu ihm oder seiner Schönen ginge. Allerdings wurde ich im Grunde von diesem Schritt nur dadurch abgehalten, daß ich keine Gewißheit hatte. Denn hätte ich bestimmt gewußt, daß die Sache sie anging, so hätte ich ohne Scheu allen Blicken getrotzt.

Als ich gegen Mitternacht zu Bett gehen wollte und meine Tür öffnete, um den draußen steckenden Schlüssel herauszuziehen, stürzte zu meiner Überraschung plötzlich ganz atemlos ein Abbate in mein Zimmer und warf sich in einen Lehnstuhl. Ich erkannte Barbara und erriet alles. Ich sah sofort voraus, welche Folgen ihr Schritt für mich haben konnte, und geriet in große Aufregung und Verwirrung. Ich warf ihr vor, daß sie sich zu mir geflüchtet habe, und bat sie, sich sofort zu entfernen.

Ich Unglücklicher! Ich fühlte, daß ich mich mit ihr zugrunde richtete, ohne doch wirksame Hilfe leisten zu können. Ich hätte sie zwingen sollen, mein Zimmer zu verlassen; ich hätte sogar Leute herbeirufen müssen, wenn sie Widerstand leistete. Ich hatte nicht den Mut dazu oder vielmehr: ich gab unwillkürlich meinem Schicksal nach.

Als ich ihr sagte, sie müsse hinausgehen, warf sie unter strömenden Tränen sich vor mir auf die Knie und flehte mich an, Mitleid mit ihr zu haben.

Welches Herz ist so stahlhart, daß es sich nicht durch Tränen und Bitten eines schönen jungen Weibes erweichen ließe! Ich gab nach, aber ich sagte ihr, sie stürze uns alle beide ins Verderben.

»Niemand«, sagte sie, »hat mich das Haus betreten oder zu Ihnen hinaufgehen sehen. Dessen bin ich gewiß. Und ich schätze mich glücklich, daß ich vor acht Tagen hier gewesen bin, denn sonst hätte ich niemals Ihr Zimmer finden können.«

»Ach, es wäre besser, Sie wären niemals gekommen! Was ist aus Ihrem Liebhaber, dem Doktor geworden?«

»Die Sbirren haben ihn und die Magd verhaftet. Ich will Ihnen alles erzählen: Mein Liebster hatte mir gesagt, daß heute nacht ein Wagen unten an der Freitreppe der Trinita de Monti warten und daß er selber auch dort sein würde. Vor einer Stunde kletterte ich durch die Dachluke unseres Hauses und stieg in seine Wohnung ein. Dort kleidete ich mich um, wie Sie sehen, und ging dann mit der Magd fort, um ihn am verabredeten Ort zu treffen. Die Magd mit meinem Bündel ging ein kleines Stück vor mir. An der Straßenecke merkte ich, daß eine von meinen Schuhschnallen losgegangen war. Ich blieb stehen, um sie zu befestigen, während die Magd, im Glauben, daß ich ihr folgte, ruhig weiterging. Sie kam beim Wagen an und stieg hinein. Ich sah aber, als ich näher kam, beim Schein einer Laterne etwa dreißig Sbirren, von denen einer sich auf den Kutscherbock setzte. Sofort fuhr er mit verhängten Zügeln davon und entführte auf diese Weise die Magd, die sie mit mir verwechselt hatten, und meinen Liebsten, der ohne Zweifel im Wagen auf mich wartete. Was konnte ich in diesem fürchterlichen Augenblick machen? Zu meinem Vater durfte ich nicht zurück. So folgte ich meiner ersten Eingebung, die mich zu Ihnen trieb. Hier bin ich nun. Sie sagen mir, ich richte Sie durch diesen Schritt zugrunde. Wenn Sie das wirklich glauben, so sagen Sie mir, was ich tun soll. Ich fühle mich todunglücklich. Finden Sie ein Aushilfsmittel. Ich bin zu allem bereit. Sogar sterben will ich lieber, als Sie ins Unglück stürzen.«

Aber indem sie dies sagte, stürzten ihr von neuem unglaubliche Tränenfluten aus den Augen.

Ihre Lage war so traurig, daß ich sie für viel unglücklicher erachtete als die meinige, obgleich ich sah, daß ich trotz meiner vollkommenen Unschuld in den Abgrund stürzen mußte.

»Lassen Sie mich Sie zu Ihrem Vater führen!« sagte ich. »Ich mache mich anheischig, Ihnen seine Verzeihung zu erwirken.«

Aber dieser Vorschlag verdoppelte ihre Angst.

»Ich bin verloren!« rief sie. »Ich kenne meinen Vater. O, Herr Abbate, lieber stoßen Sie mich auf die Straße und überlassen Sie mich meinem unglücklichen Schicksal.«

Ohne Frage hätte ich das tun müssen, wenn ich auf meinen Vorteil gesehen und nicht meinem Mitleid nachgegeben hätte. Aber ihre Tränen! Ich habe es oft gesagt, und der Leser, der es selber erlebt hat, wird meiner Meinung sein: nichts ist so unwiderstehlich wie Tränen aus schönen Augen, wenn ein schönes, anständiges und unglückliches Weib sie vergießt. Es war mir körperlich unmöglich, sie zum Verlassen meines Zimmers zu zwingen oder dies auch nur zu versuchen.

»Mein armes Mädchen,« sagte ich endlich zu ihr, »wenn der Tag kommt – und das dauert nicht lange, denn es ist schon Mitternacht vorbei –, was gedenken Sie dann zu tun?«

»Ich werde den Palast verlassen,« sagte sie schluchzend. »In dieser Verkleidung wird mich niemand erkennen. Ich werde Rom verlassen und so lange wandern, bis ich vor Ermüdung und Schmerz tot zu Boden sinke.«

Kaum hatte sie diese Worte gesprochen, so sank sie auf den Fußboden nieder. Sie erstickte: schon wurde sie blau im Gesicht. Ich war in der schrecklichsten Verlegenheit.

Ich löste ihr den Kragen ab und schnürte ihr Mieder auf. Dann sprengte ich ihr Wasser ins Gesicht, und es gelang mir, sie ins Leben zurückzurufen.

Die Nacht war sehr kalt, und ich hatte kein Feuer. Ich riet ihr daher, sich in mein Bett zu legen, und versprach ihr, ihren Zustand zu achten.

»Ach, Herr Abbate, das einzige Gefühl, das ich erregen kann, ist Mitleid.«

Ich war in der Tat zu bewegt und zugleich zu unruhig, um irgendeine Begierde zu verspüren. Ich überredete sie, sich ins Bett zu legen, da sie aber in ihrer Schwäche völlig hilflos war, so zog ich sie aus und legte sie ins Bett. Dabei machte ich die ganz neue Erfahrung, daß vor dem Mitleid selbst das gebieterischste Bedürfnis schwieg, trotz dem Anblick aller Reize, die sonst den höchsten Grad der Erregung hervorrufen. Ich legte mich völlig bekleidet neben sie, und beim ersten Morgendämmern weckte ich sie. Da sie sich gestärkt fühlte, so kleidete sie sich allein an, ich sagte ihr, sie möchte sich bis zu meiner Rückkehr ganz ruhig verhalten, und ging hinaus. Meine Absicht war, mich zu ihrem Vater zu begeben und auf jede nur mögliche Weise seine Verzeihung zu erwirken. Da ich aber verdächtige Leute um den Palast herum bemerkte, glaubte ich von meinem Plan abstehen zu müssen und begab mich nach einem Kaffeehause in der Via Condotta. Ich bemerkte, daß ein Sbirre mir von ferne folgte, aber ich tat, als sähe ich es nicht. Nachdem ich meine Schokolade getrunken und einige Zwiebacke zu mir gesteckt hatte, ging ich, anscheinend mit der größten Seelenruhe, nach Hause. Der Spion ging immer hinter mir her. Ich vermutete, daß der Bargello nach dem Fehlschlagen der Unternehmung bestimmte verdächtige Spuren verfolgte; in dieser Annahme wurde ich bestärkt, als der Türsteher mir ungefragt erzählte, es habe in der Nacht eine Exekution stattfinden sollen, sie sei aber mißlungen. Im selben Augenblick kam ein Auditor des Kardinalvikars und fragte den Türsteher, wann er den Abbate Gama sprechen könne. Ich sah, daß keine Zeit mehr zu verlieren war, und ging nach meinem Zimmer hinauf, um zu einem bestimmten Entschluß zu kommen.

Zunächst nötigte ich das arme Mädchen, ein paar Zwiebacke zu essen, die ich in Kanariensekt getaucht hatte. Hierauf führte ich sie in das oberste Stockwerk des Hauses, an einen nicht eben anständigen Ort, den aber niemand besuchte. Ich sagte ihr, sie möge auf mich warten.

Kurz darauf kam mein Lakai; ich befahl ihm, sofort mein Zimmer zu machen, und sobald er damit fertig wäre, die Tür abzuschließen und mir den Schlüssel zu Gama zu bringen. Ich fand den Abbate in einer Besprechung mit dem Auditor des Kardinalvikars begriffen. Sobald er mit diesem fertig war, begrüßte er mich und befahl seinem Bedienten, Schokolade zu bringen. Als wir allein waren, erzählte er mir, was seine Unterhaltung mit dem Auditor zu bedeuten gehabt hätte. Es handelte sich darum, Seine Eminenz unseren Kardinal zu bitten, daß er aus seinem Palast eine Person entferne, die sich um Mitternacht hineingeflüchtet haben müsse. »Wir müssen warten, bis der Kardinal sichtbar geworden ist; aber wenn wirklich jemand ohne sein Wissen sich in den Palast geflüchtet hat, so wird er ihn sicherlich fortschicken.« Wir sprachen hierauf allerlei über gleich- gültige Sachen, bis mein Lakai mir den Schlüssel brachte. Ich wußte nun, daß ich mindestens eine Stunde vor mir hatte, und mir war das Mittel eingefallen, das einzig und allein Barbara vor Schimpf und Schande retten konnte.

Nachdem ich mich vergewissert hatte, daß niemand mich konnte gesehen haben, ging ich zu der armen Eingesperrten und ließ sie in gutem Französisch mit Bleistift folgende Zeilen schreiben: »Ich bin ein anständiges Mädchen, Monsignore, aber als Abbate verkleidet. Ich beschwöre Euere Eminenz mir zu gestatten, daß ich Ihnen meinen Namen unter vier Augen sage. Von der Größe Ihrer Seele erhoffe ich, daß Sie meine Ehre retten werden.«

Ich gab ihr die nötigen Weisungen, um dies Billett Seiner Eminenz zukommen zu lassen, der sie sofort empfangen werde, sobald er es gelesen habe. »Sobald Sie bei ihm sind, werfen Sie sich auf die Knie und erzählen Sie ihm Ihre ganze Geschichte ohne jede Abweichung von der Wahrheit. Nur davon, daß Sie die Nacht in meinem Zimmer zugebracht haben, dürfen Sie nichts sagen, denn der Kardinal darf nicht erfahren, daß ich von Ihrer ganzen Entführungsgeschichte auch nur eine Ahnung gehabt habe. Sagen Sie ihm folgendes: Als Sie gesehen, daß der Wagen mit Ihrem Liebsten davonfuhr, traten Sie in seinen Palast ein. Sie stiegen die Treppen hinauf, so hoch Sie konnten und verbrachten oben eine sehr schlimme Nacht. Am Morgen hatten Sie den Einfall, an ihn zu schreiben und sein Mitleid anzurufen. Ich bin fest überzeugt, Seine Eminenz wird Sie auf irgendeine Art vor der Schande bewahren. Jedenfalls ist dies das einzige Mittel, wodurch Sie hoffen können, mit dem von Ihnen geliebten Mann vereinigt zu werden.«

Nachdem sie mir versprochen hatte, genau alles zu tun, was ich ihr gesagt hatte, ließ ich mich frisieren und kleidete mich zum Ausgehen an. Ich ging in die Messe, wo der Kardinal mich sah; dann ging ich aus und kam erst zum Mittagessen nach Hause. Bei Tisch sprach man von nichts anderem, als von dieser Geschichte. Nur Gama sagte nichts, und ich schwieg ebenso wie er. Ich entnahm aber aus all dem Geschwätz, daß der Kardinal meine arme Barbara in seinen Schutz genommen hatte. Das war alles, was ich wünschte. Ich glaubte nun nichts mehr zu befürchten zu haben und freute mich im stillen meiner Kriegslist, die mir ein kleines Meisterstück zu sein schien. Als ich nach dem Essen mit Gama allein war, fragte ich ihn, was es denn mit der Geschichte auf sich hätte.

Er antwortete mir: »Ein Familienvater, dessen Namen ich noch nicht weiß, hatte beim Kardinalvikar beantragt, er möge seinen Sohn verhindern, ein Mädchen zu entführen und mit demselben die Staaten des Heiligen Vaters zu verlassen. Die Entführung sollte um Mitternacht auf unserem Platz stattfinden. Der Kardinalvikar holte, wie ich Ihnen gestern erzählte, die Zustimmung unseres Kardinals ein und befahl dem Bargello, Sbirren auszuschicken, die jungen Leute auf frischer Tat festzunehmen und in Haft zu setzen. Der Befehl wurde ausgeführt; aber als die Sbirren beim Bargello ankamen, sahen sie, daß ihnen der Fang nur zur Hälfte gelungen war; denn das Weib, das mit dem jungen Mann dem Wagen entstieg, war nicht von der Art, die man zu entführen pflegt. Einige Minuten darauf erfuhr der Bargello von einem Spion, im Augenblick der Abfahrt des Wagens sei ein junger Abbate Hals über Kopf davongelaufen und habe sich in den Spanischen Palast geflüchtet. Dies hat ihn auf den Verdacht gebracht, der verkleidete Abbate könnte wohl das der Verhaftung entgangene Mädchen sein. Der Bargello hat dem Vikar den Hergang und die Aussage des Spions gemeldet; der Kardinal hat die Mutmaßungen der Polizisten für begründet erachtet und hat den Kardinal, unsern Herrn, bitten lassen, er möge befehlen, daß die betreffende Person, sei es ein Mädchen oder ein Abbate aus dem Palast verwiesen werde, falls sie nicht etwa Seiner Eminenz als unverdächtig bekannt sei. Kardinal Acquaviva hat dies alles heute früh um neun durch den Auditor des Kardinalvikars erfahren, den Sie bei mir sahen; und er hat versprochen, die betreffende Person auszuweisen, falls sie nicht etwa zu seinem Haushalt gehöre.

Diesem Versprechen getreu, hat unser Kardinal in der Tat Befehl gegeben, das ganze Haus durchsuchen zu lassen. Aber eine Viertelstunde später hat der Haushofmeister Gegenbefehl erhalten, und der Grund dafür kann nur folgender sein:

Wie mir der Kammerdiener erzählte, kam Punkt neun Uhr ein sehr hübscher Abbate, den er für ein verkleidetes junges Mädchen hielt, zu ihm und hat ihn, Seiner Eminenz ein Briefchen zu übergeben. Der Kardinal hat dieses gelesen und den besagten Abbate in seine Privatgemächer einführen lassen, die er seither nicht wieder verlassen hat. Da der Befehl, die Nachsuchungen einzustellen, unmittelbar nach der Einführung des Abbate gegeben wurde, so kann man annehmen, daß dieser Abbate niemand anderes ist, als das den Sbirren entwischte Mädchen, das sich in den Spanischen Palast geflüchtet hat, wo es die ganze Nacht zugebracht haben muß.«

»Seine Eminenz,« fragte ich, »wird sie ohne Zweifel heute ausliefern, zwar nicht an die Sbirren, wohl aber an den Kardinalvikar?«

»Nein, nicht einmal an den Papst!« antwortete Gama. »Sie haben noch nicht den rechten Begriff von der Protektion unseres Kardinals. Und diese Protektion hat er bereits erklärt, denn die junge Person befindet sich nicht nur in Monsignores Palast, sondern sogar in seinem eigenen Zimmer und unter seiner Obhut.«

Da die Geschichte an und für sich interessant war, konnte meine Aufmerksamkeit dem Abbate nicht verdächtig erscheinen. Ganz gewiß hätte er mir nichts gesagt, wenn er hätte ahnen können, welchen Anteil ich selber an der Sache hatte und welch ein großes Interesse ich daran nehmen mußte.

Am anderen Morgen trat mein Abbate Gama ganz freudestrahlend in mein Zimmer und sagte mir, der Kardinalvikar wisse, daß der Entführer mein Freund sei, und er nehme an, daß ich auch mit der Tochter befreundet sei, da deren Vater mein Sprachlehrer sei. »Man ist fest überzeugt, daß Sie um die ganze Geschichte gewußt haben, und natürlich nimmt man an, daß die arme Kleine die Nacht in Ihrem Zimmer zugebracht hat. Ich bewundere Ihr kluges Verhalten gestern mir gegenüber. Sie waren so sehr auf Ihrer Hut, daß ich hätte schwören wollen, Sie wüßten von nichts.«

»So ist es auch!« antwortete ich ernst. »Ich erfahre es erst in diesem Augenblick. Ich kenne das Mädchen, aber ich habe es seit sechs Wochen nicht mehr gesehen, nämlich seitdem ich keine Stunden mehr nehme. Mit dem jungen Doktor bin ich viel besser bekannt; er hat mir aber niemals etwas von seinem Plan mitgeteilt. Aber ein jeder mag glauben, was er will. Sie sagen, natürlich habe das Mädchen die Nacht in meinem Zimmer verbracht; aber erlauben Sie mir, über diejenigen zu lachen, die ihre Unwissenheit für Tatsachen nehmen.«

»Dies ist nun einmal das Laster der Römer, mein lieber Freund. Glücklich, wer darüber lachen kann. Aber diese Verleumdung kann Ihnen schaden, selbst bei unserm Kardinal.«

Da am Abend keine Oper war, ging ich in die Gesellschaft beim Kardinal. Ich bemerkte weder beim Kardinal, noch an irgendeinem anderen eine Veränderung im Benehmen gegen mich, und die Marchesa war gegen mich so liebenswürdig wie gewöhnlich, und sogar noch liebenswürdiger.

Den Tag darauf nach dem Essen sagte Gama mir, der Kardinal habe das junge Mädchen in einem Kloster untergebracht, wo sie auf Kosten Seiner Eminenz sehr gut behandelt werde; er sei überzeugt, daß sie das Kloster verlassen werde, um den jungen Doktor zu heiraten.

»Dies würde mich aufrichtig freuen,« sagte ich; »denn sie sind beide sehr anständig und verdienen die allgemeine Achtung.«

Als ich zwei Tage darauf den guten Vater Georgi besuchte, sagte er mir mit bekümmertem Gesicht, das Tagesgespräch in Rom sei die mißglückte Verhaftung der Barbara Dalacqua; man weise mir die Hauptrolle bei der ganzen Geschichte zu, und dies sei ihm höchst unangenehm. Ich sagte ihm dasselbe wie dem Abbate Gama, und er schien mir zu glauben. Aber er wandte mir ein, Rom wolle die Dinge nicht wissen, wie sie wirklich seien, sondern wie es den Leuten gefalle, sie sich zurechtzumachen. »Man weiß, junger Freund, daß Sie jeden Morgen zu Dalacqua gingen, man weiß, daß der junge Mann oft zu Ihnen kam: das genügt. Man will nicht die Umstände wissen, durch die eine Verleumdung widerlegt wird, sondern im Gegenteil die, durch die sie bestätigt wird. Denn in dieser heiligen Stadt liebt man die Verleumdung. Trotz Ihrer Unschuld wird Ihnen diese Geschichte angerechnet werden, wenn vielleicht in vierzig Jahren in meinem Konklave die Rede davon sein sollte, Sie zum Papst zu wählen.«

Während der folgenden Tage begann diese unangenehme Geschichte mir über alle Maßen lästig zu werden, denn jedermann sprach mit mir davon, und ich sah wohl, daß man sich nur stellte, als glaubte man mir, weil man das Gegenteil nicht wagte. Die Marchesa sagte mir mit feinem Lächeln, Fräulein Dalacqua sei mir sehr zu Dank verpflichtet. Den größten Kummer aber machte mir die Wahrnehmung, daß in den letzten Tagen des Karnevals Kardinal Acquaviva nicht mehr so ungezwungen freundlich zu mir war wie früher, wenngleich niemand außer mir selber etwas von der Veränderung seines Benehmens merken konnte.

Das Gerede begann sich zu legen, da ließ zu Anfang der Fastenzeit der Kardinal mich in sein Arbeitszimmer kommen und sagte mir:

»Die Geschichte mit der jungen Dalacqua ist zu Ende; man spricht nicht mehr davon. Aber man ist zu dem Schluß gekommen, daß Sie und ich diejenigen gewesen seien, die von der Ungeschicklichkeit des jungen Mannes, der sie entführen wollte, ihren Vorteil gehabt hätten. Was man redet, kümmert mich im Grunde sehr denn in gleichem Falle würde ich nicht anders handeln, als ich es getan habe. Ich will auch nicht wissen, was niemand Sie zwingen kann zu sagen, und worüber Sie als anständiger Mensch schweigen müssen. Auch wenn Sie nichts vorher wußten, durften Sie das Mädchen nicht aus Ihrem Zimmer weisen – angenommen, daß sie dort gewesen ist – denn Sie hätten damit barbarisch, ja sogar niederträchtig gehandelt: Sie hätten das Mädchen für ihr ganzes Leben unglücklich gemacht, und doch hätte Sie dies nicht vor dem Verdacht der Mitwisserschaft geschützt und außerdem wären Sie als feiger Verräter dagestanden.

Trotz alledem können Sie sich wohl vorstellen, daß ich mich über die Klatschereien nicht öffentlich hinwegsetzen kann, so sehr ich sie auch verachte. Ich sehe mich also gezwungen, Sie zu bitten, nicht nur mein Haus, sondern auch Rom zu verlassen. Ich werde Ihnen einen ehrenvollen Vorwand geben, damit Sie der Achtung, die die bisher Ihnen gegebenen Beweise meiner Wertschätzung Ihnen erworben haben, auch fernerhin genießen können. Ich verspreche Ihnen, den Personen, die Sie mir nennen, im Vertrauen zu sagen oder auch öffentlich zu erzählen, daß Sie in einer wichtigen Angelegenheit, die ich Ihnen anvertraut habe, eine Reise unternehmen müssen. Überlegen Sie sich nur, in welches Land Sie gehen wollen. Ich habe Freunde überall und werde Sie auf eine Art empfehlen, daß Ihre Dienste Verwendung finden werden. Meine Empfehlungen werde ich eigenhändig schreiben, und wenn Sie nicht wollen, wird kein Mensch erfahren, wohin Sie gehen. Besuchen Sie mich morgen in der Villa Negroni, und sagen Sie mir, wohin Sie wünschen, daß ich meine Briefe adressiere. Richten Sie sich so ein, daß Sie in acht Tagen abreisen können. Glauben Sie mir, es tut mir leid, Sie zu verlieren; es ist ein Opfer, das das törichteste Vorurteil mir auferlegt. Gehen Sie und lassen Sie mich nicht Ihre Betrübnis sehen!«

Diese letzten Worte sagte er, als er sah, daß sich meine Augen mit Tränen füllten; damit ich nicht noch mehr weinte, ließ er mir keine Zeit zu antworten. Ich hatte die Selbstbeherrschung mich zusammenzuraffen, bevor ich noch aus seinem Kabinett heraus war. Ich war sogar so lustig, daß Abbate Gama, der mich zum Kaffee eingeladen hatte, mir ein Kompliment darüber machte. »Ich bin überzeugt,« sagte er, »Ihre gute Laune kommt von der Unterhaltung, die Sie heute früh mit Seiner Eminenz gehabt haben.«

»Allerdings. Aber Sie wissen nicht, wie betrübt ich im Herzen bin, obwohl ich es verberge.«

»Betrübt?«

»Ich fürchte an einem schwierigen Auftrag zu scheitern, den mir der Kardinal heute morgen gegeben hat. Ich muß verbergen, wie wenig Zutrauen ich zu mir selbst habe, damit das Zutrauen, das Seine Eminenz mir gütigst bezeigt, sich nicht vermindert.«

»Wenn mein Rat Ihnen irgendwie nützen kann, so verfügen Sie über mich. Übrigens tun Sie gut, wenn Sie sich heiter und ruhig zeigen. Handelt es sich um einen Auftrag hier in Rom?«

»Nein; um eine Reise, die ich in acht oder zehn Tagen antreten muß.«

»Nach welcher Richtung?«

»Nach Westen.«

»Ich bin nicht neugierig.«

Ich ging allein nach dem Garten der Villa Borghese, wo ich zwei Stunden in düsterer Verzweiflung verbrachte. Ich liebte Rom, ich hatte mich bereits auf der breiten Straße zum Glück gesehen, und nun auf einmal sah ich mich in den Abgrund gestürzt, wußte nicht wohin und war in meinen schönsten Hoffnungen getäuscht. Ich prüfte mein Verhalten, ich beurteilte mich selber mit aller Strenge, ich konnte keine andere Schuld an mir finden als eine zu weit gehende Gefälligkeit; aber ich sah jetzt, wie sehr der wackere Abbate Georgi recht gehabt hatte. Ich hätte mich nichts nur nicht in die Geschichten des Liebespaares einmischen dürfen, sondern ich hätte sofort einen anderen Sprachlehrer nehmen müssen, sobald ich davon erfuhr. Aber wenn der Kranke tot ist, ruft man den Arzt. Übrigens war ich ja so jung und wußte noch uichts von Unglück und noch weniger von der Bosheit der Welt; da konnte ich allerdings kaum schon jene Vorsicht haben, die man allein durch Lebenserfahrung erwirbt.

Wohin sollte ich gehen? Diese Frage schien mir unlösbar. Ich dachte die ganze Nacht und den ganzen Vormittag darüber nach, aber vergeblich. Wenn ich nicht in Rom sein konnte, war mir alles gleichgültig.

Am Abend hatte ich keine Lust zum Essen und zog mich auf mein Zimmer zurück; Abbate Gama suchte mich auf und meldete mir, der Kardinal lasse mir sagen, ich möge für den anderen Tag keine Einladung zum Mittagessen annehmen, denn er habe mit mir zu sprechen.

Wie er befohlen, suchte ich ihn in der Villa Negroni auf; er ging mit seinem Sekretär spazieren, der sich aber entfernte, sobald er mich bemerkte. Sobald ich mich mit ihm allein sah, erzählte ich ihm mit allen Einzelheiten das ganze Drama der beiden Liebenden. Hierauf schilderte ich ihm in den lebhaftesten Farben meine große Trauer über die Notwendigkeit, mich von ihm zu trennen. »Ich habe mich um all mein Glück gebracht, denn ich fühle, daß ich es nur im Dienste Eurer Eminenz machen kann.« So betete ich ihm fast eine Stunde lang unter strömenden Tränen meine Litanei her; aber es gelang mir nicht, seinen Entschluß zu erschüttern. Gütig, aber dringend redete er mir zu, ich möchte ihm sagen, nach welchem Orte Europas ich gehen wolle, und in Ärger und Verzweiflung sagte ich schließlich: »Nach Konstantinopel.«

»Nach Konstantinopel?« sagte er, zwei Schritte zurücktretend.

»Jawohl, Monsignore; nach Konstantinopel!« wiederholte ich, meine Tränen trocknend.

Der Prälat war ein geistvoller Mann, aber Spanier durch und durch; er schwieg einige Augenblicke und sagte dann mit einem Lächeln: »Ich danke Ihnen, daß Sie mir nicht Ispahan genannt haben; denn da hätten Sie mich wirklich in Verlegenheit gebracht. Wann wollen Sie abreisen?«

»Heute in acht Tagen, wie Eure Eminenz befehlen.«

»Wollen Sie in Neapel oder in Venedig zu Schiff gehen?«

»In Venedig.«

»Ich werde Ihnen einen Paß ausfertigen lassen, durch den Sie besonders empfohlen werden sollen; denn Sie finden in der Romagna zwei Heere in Winterquartieren. Mich dünkt, Sie können überall erzählen, daß ich Sie nach Konstantinopel schicke; denn kein Mensch wird Ihnen glauben.« Über diese diplomatische List hätte ich beinahe gelacht. Er sagte mir, ich würde bei ihm speisen, ließ mich stehen und ging wieder zu seinem Sekretär.

Als ich wieder zu Hause war, dachte ich über die von mir getroffene Wahl nach und fragte zu mir selber: Entweder bin ich verrückt, oder ich gehorche der Macht eines geheimen Schutzgeistes, der an jenem Ort mein Schicksal für mich bereit hält. Das einzige, was ich noch begriff, war, daß der Kardinal ohne Widerspruch zugestimmt hatte. Ohne Zweifel, sagte ich mir, sollte ich nicht glauben, daß er sich über seine Kräfte gerühmt hätte, als er mir sagte, er habe Freunde überall. An wen kann er mich wohl in Konstantinopel empfehlen? Und was werde ich dort anfangen? Gewiß, davon weiß ich nichts, aber nach Konstantinopel muß ich gehen!

Ich speiste mit Seiner Eminenz unter vier Augen. Der Kardinal behandelte mich vor seinen Leuten mit ganz besonderer Güte, und ich tat, als ob ich sehr zufrieden sei; denn meine Eitelkeit war stärker als mein Kummer und verbot mir, die Zuschauer ahnen zu lassen, daß ich in Ungnade gefallen sein könnte. Übrigens war mein größter Kummer, daß ich die Marchesa verlassen mußte, in die ich verliebt war, und von der ich noch nichts Wesentliches erlangt hatte.

Zwei Tage später gab der Kardinal mir einen Paß nach Venedig und einen versiegelten Brief, der an Osman Bonneval, Pascha von Karamanien in Konstantinopel überschrieben war. Ich konnte niemandem etwas darüber sagen; aber da Seine Eminenz mir das nicht verboten hatte, so zeigte ich die Adresse des Briefes allen meinen Bekannten.

Der venezianische Botschafter, Cavaliere da Lezze, gab mir einen Brief an einen sehr liebenswürdigen reichen Türken, der sein Freund gewesen war. Don Gasparo und Abbate Georgi baten mich, ihnen zu schreihen. Abbate Gama aber sagte mir lachend mit aller Bestimmtheit, er wisse, daß ich nicht nach Konstantinopel gehe.

Ich machte einen Abschiedsbesuch bei Donna Cecilia, die kurz vorher einen Brief von Lucrezia erhalten hatte; sie schrieb ihr, sie werde bald das Glück haben, Mutter zu sein. Auch von Angelica und Don Francesco verabschiedete ich mich; sie waren seit kurzem verheiratet und hatten mich nicht zu ihrer Hochzeit eingeladen.

Der Papst, der mich nicht in Verwunderung setzte, als er von seinen Bekanntschaften in Konstantinopel sprach und von Bonneval, den er genau kannte, an den er mir sogar Grüße und die Bestellung auftrug, er bedauere, ihm seinen Segen nicht schicken zu können, gab ihn mir um so kräftiger, zugleich einen Rosenkranz von Achat und Gold, etwa zwölf Zechinen wert.

Als ich zum Kardinal Acquaviva ging, um seine letzten Befehle einzuholen, übergab er mir eine Börse mit hundert spanischen Unzen oder Goldquadrupeln, soviel wie siebenhundert Zechinen. Ich selber hatte dreihundert, das machte zusammen tausend. Zweihundert behielt ich; für den Rest nahm ich einen Wechsel über sechszehnhundert römische Taler auf einen Ragusaner, Giovanni Buchetti, der ein Haus in Ancona hatte. Hierauf nahm ich einen Platz in einer Berline, worin eine Dame nach Loretto fuhr, um ein Gelübde zu erfüllen, das sie während der Krankheit ihrer Tochter getan hatte. Diese Tochter reiste mit ihr. Da sie häßlich war, so hatte ich eine ziemlich langweilige Reise.

  1. Hat Ihnen Frascati gut gefallen? – Aber die Gesellschaft, in der Sie waren, war noch schöner, und recht galant war Ihr Visavis.

Zehntes Kapitel


Mein kurzer, zu lebenslustiger Aufenthalt in Ancona. – Cecilia, Marina, Bellino. – Die griechische Sklavin vom Lazarett. – Bellino gibt sich zu erkennen.

Ich traf in Ancona am 25. Februar des Jahres 1744 ein und stieg im besten Gasthof ab. Mein Zimmer gefiel mir. Ich sagte dem Wirt, ich wolle Fleisch essen, aber er antwortete mir, in der Fastenzeit äßen Christenmenschen Fastenspeisen.

»Der Heilige Vater hat mir die Erlaubnis gegeben, Fleisch zu essen.«

»Zeigen Sie mir diese Erlaubnis.«

»Er hat sie mir mündlich gegeben.«

»Herr Abbate, ich bin nicht verpflichtet, Ihnen zu glauben.«

»Sie sind ein Dummkopf !«

»In meinem Hause bin ich Herr, und ich bitte Sie, in einen anderen Gasthof zu gehen!«

Eine derartige Antwort und Aufforderung, auf die ich ganz und gar nicht gefaßt war, brachte mich in Zorn. Ich fluche, schimpfe, schreie, als plötzlich ein würdevoller Herr ins Zimmer tritt und zu mir sagt: »Mein Herr, Sie haben unrecht, daß Sie Fleisch essen wollen, während in Ancona die Fastenspeisen viel besser sind. Sie haben unrecht, daß Sie den Wirt zwingen wollen, Ihnen auf Ihr Wort zu glauben, und wenn Sie die Erlaubnis des Papstes haben, so haben Sie unrecht, daß Sie in Ihrem Alter sie verlangt haben. Sie haben unrecht, daß Sie sich die Erlaubnis nicht schriftlich geben ließen. Sie haben unrecht, daß Sie den Wirt Dummkopf nennen, denn das ist ein Kompliment, das kein Mensch sich in seinem eigenen Hause gefallen zu lassen braucht. Und endlich haben Sie unrecht, daß Sie solchen Lärm machen.«

Dieser Mensch, der da in mein Zimmer kam, bloß um mich abzukanzeln und mir alles mögliche Unrecht aufzubinden, reizte meine Lachlust, statt mich noch verdrießlicher zu machen, und ich antwortete:

»Gerne, mein Herr, gebe ich alles Unrecht zu, dessen Sie mich beschuldigen; aber es regnet, es ist spät, ich bin müde und habe guten Appetit; mit anderen Worten: ich habe ganz und gar keine Lust, ein anderes Quartier zu suchen. Wollen Sie mir ein Abendessen geben, da der Wirt sich weigert?«

»Nein,« sagte er sehr bestimmt; »denn ich bin ein guter Christ und faste. Aber ich erbiete mich, den Wirt zu besänftigen; der wird Ihnen ein ausgezeichnetes Abendessen gehen.«

Mit diesen Worten ging er die Treppen hinunter; und indem ich meine Ungebärdigkeit mit seiner Ruhe verglich, erkannte ich ihn als würdig an, mir einen Denkzettel zu geben. Gleich darauf kam er zurück und sagte mir, alles wäre beigelegt und ich würde gut bedient werden.

»Sie wollen also nicht mit mir speisen?«

»Nein; aber ich werde Ihnen Gesellschaft leisten.«

Ich nahm dies Anerbieten mit Freuden an; um seinen Namen zu erfahren, stellte ich mich ihm vor, wobei ich mich als Sekretär des Kardinals Acquaviva bezeichnete.

»Ich heiße Sancho Pico,« sagte er, »bin Kastilianer und verpflege die Armee Seiner katholischen Majestät, die der Graf Gages unter dem Oberbefehl des Generalissimus, des Herzogs von Modena, kommandiert.«

Mein ausgezeichneter Appetit erregte seine Bewunderung, und er fragte mich, ob ich zu Mittag gegessen hätte. Ich verneinte und bemerkte auf seinem Gesicht einen Ausdruck von Befriedigung.

»Fürchten Sie nicht, daß das Abendessen Ihnen schlecht bekommen könnte?« fuhr er fort.

»Ich hoffe im Gegenteil, es wird mir sehr gut tun.«

»Sie haben also den Papst getäuscht?«

»Nein; denn ich habe ihm nicht gesagt, dass ich keinen Appetit hätte, sondern nur, daß ich lieber Fleisch als Fastenspeisen äße.«

»Wenn Sie gute Musik hören wollen,« sagte er einen Augenblick darauf, »so kommen Sie mit mir ins Nebenzimmer, die Primadonna wohnt da.«

Das Wort ›Primadonna‹ erregte meine Neugier, und ich folgte ihm. Ich sehe an einem Tisch eine schon ältere Frau mit zwei jungen Mädchen und zwei Knaben, vergebens aber suche ich die Primadonna. Don Sancho Pico stellte sie mir vor, indem er auf den einen Knaben zeigte, der von entzückender Schönheit und höchstens siebzehn Jahre alt war. Ich dachte, es sei ein Castrato, der als Primadonna auftrete, denn das Theater zu Ancona ist den Gesetzen für die römische Bühne gleichfalls unterworfen. Die Mutter stellte mir ihren anderen Sohn vor, der ebenfalls sehr hübsch war; doch sah er, obwohl jünger, männlicher aus als der Castrato; er hieß Petronio. Dieser setzte die Serie der Verwandlungen fort, denn er trat als erste Tänzerin auf. Das älteste der beiden Mädchen, die mir von der Mutter ebenfalls vorgestellt wurden, hieß Cecilia und lernte Musik. Sie war erst zwölf Jahre alt; die jüngere, Marina, zählte elf und war wie ihr Bruder dem Kultus Terpsichorens geweiht. Beide waren sehr hübsch.

Die Familie war aus Bologna und lebte vom Ertrag ihrer Talente; Gefälligkeit und Frohsinn ersetzten ihr den fehlenden Reichtum.

Bellino, so hieß der Kastrat, gab endlich den dringenden Bitten Don Sanchos nach, setzte sich ans Klavier und sang mit einer Engelstimme und mit bezaubernder Anmut. Der Kastilianer hörte mit geschlossenen Augen und in einer Art von Verzückung zu; ich aber schloß keineswegs meine Augen, sondern bewunderte Bellinos schwarze und feurige Augen, welche Funken zu sprühen schienen, von denen ich, wie ich bald fühlte, entflammt wurde. Ich entdeckte an ihr mehrere Züge Lucrezias und die anmutigen Manieren der Marchesa, und alles an ihr verriet mir ein schöne Weib; denn ihre Männertracht verbarg nur unvollkommen den schönsten Busen. Trotz der Vorstellung durch Don Sancho setzte ich mir daher in den Kopf, der angebliche Bellino sei eine verkleidete Schönheit; meine entfesselte Phantasie nahm freien Lauf, und ich war bis über die Ohren verliebt.

Nachdem wir bei der Familie zwei köstliche Stunden verbracht hatten, entfernte ich mich mit dem Kastilianer, der mich nach meinem Zimmer brachte. »Ich reise«, sagte er zu mir, »in aller Frühe mit dem Abbate Vilmarcati nach Sinigaglia, aber ich werde übermorgen abend zum Nachtessen zurück sein.« Ich wünschte ihm glückliche Reise und sagte, wir würden uns gewiß unterwegs begegnen, denn ich würde wahrscheinlich am übernächsten Tage abreisen, da ich hier nur einen Besuch bei meinem Bankier zu machen hätte.

Ganz erfüllt von dem Eindruck, den Bellino auf mich gemacht hatte, legte ich mich zu Bett, und es ärgerte mich abreisen zu sollen, ohne ihm bewiesen zu haben, daß ich mich von der Verkleidung nicht täuschen ließe. Ich war daher natürlich sehr angenehm überrascht, als ich ihn am anderen Morgen bei mir eintreten sah, sobald ich meine Tür geöffnet hatte. Er wollte mir das Anerbieten machen, ich solle während meines Aufenthaltes seinen jüngeren Bruder als Bedienten anstellen, statt des Lohndieners, den ich sonst hätte nehmen müssen. Gern erklärte ich mich einverstanden und schickte sofort Petronio hinunter, um Kaffee für mich und die ganze Familie zu holen.

Ich ließ Bellino sich auf mein Bett setzen in der Absicht ihm Komplimente zu machen und ihn als Mädchen zu behandeln, aber plötzlich kommen die beiden jungen Schwestern herein und laufen auf mich zu; dies warf meine Pläne über den Haufen. Indessen bildete das Trio vor meinen Augen ein Gemälde, das mir nicht mißfallen konnte: ungeschminkte Schönheit und naive, natürliche Fröhlichkeit von dreifach verschiedener Art, nämlich zarte Zutraulichkeit, Theatergeist und die hübschen bologneser Scherzchen und kleinen Possierlichkeiten, die ich noch nicht kannte. Dies alles war reizend und würde mich in gute Laune versetzt haben, wenn es solchen Antriebes überhaupt bedurft hätte. Cecilia und Marina waren zwei liebliche Rosenknospen, die, um sich zu öffnen, nur darauf warteten, daß der Hauch, nicht des Zephirs, sondern der Liebe sie berührte; und ganz gewiß hätte ich sie vor Bellino vorgezogen, wenn ich in diesem nur einen traurigen Auswurf der Menschheit gesehen hätte oder vielmehr nur ein bedauernswertes Opfer priesterlicher Grausamkeit. Denn trotz ihrer Jugend verrieten die beiden liebenswürdigen Mädchen durch ihre hübschen sprossenden Brüste frühzeitige Mannbarkeit.

Petronio kam mit dem Kaffee und wartet uns auf; der Mutter schickte ich ihren Anteil in ihr Zimmer, das sie niemals verließ. Dieser Petronio war ein richtiger Giton7, sogar ein berufsmäßiger. Das ist nicht selten in Italien, wo in dieser Beziehung weder eine so unverkünftige Unduldsamkeit herrscht wie in England, noch eine so wilde und grausame Verfolgung wie in Spanien. Ich hatte ihm eine Zechine gegeben, um den Kaffee zu bezahlen, und als ich ihm den Überschuß, 18 Paoli, schenkte, bezeigte er mir seine Dankbarkeit dafür, indem er mir mit halbgeöffnetem Munde einen wollüstigen Kuß auf die Lippen drückte; allerdings hatte ich ganz und gar nicht den Geschmack, den er bei mir voraussetzte. Ich klärte ihn darüber auf, und er schien es sich keineswegs zu Herzen zu nehmen. Dann befahl ich ihm, Mittagessen für sechs Personen zu bestellen, aber er sagte mir, er werde nur für vier bestellen, denn er müsse seiner lieben Mutter Gesellschaft leisten, die stets im Bett speise. Jedes nach seinem Geschmack! Ich ließ ihm seinen Willen.

Zwei Minuten darauf kam der Wirt zu mir und sagte: »Herr Abbate, ich mache Sie darauf aufmerksam, daß die von Ihnen Eingeladenen für zwei essen; ich kann Ihnen daher nur aufwarten, wenn ich Sie entsprechend bezahlen lasse. Unter sechs Paoli auf den Kopf kann ich nicht anrichten.«

»Schon recht,« antwortete ich, »aber bedienen Sie uns gut!«

Sobald ich angezogen war, glaubte ich der gefälligen Mutter guten Tag sagen zu müssen. Ich trat in ihr Zimmer ein und machte ihr ein Kompliment über ihre Kinder. Sie dankte mir für das Geschenk, das ich ihrem Sohn gemacht, und begann mir darauf ihre Not zu schildern: »Der Theaterunternehmer ist ein Barbar, der mir für den ganzen Karneval« nur fünfzig römische Taler hat geben wollen. Diese haben wir für unseren Lebensunterhalt verbraucht, und jetzt können wir nach Bologna zurückkehren, wenn wir zu Fuß wandern und unterwegs betteln.« Ihr Vertrauen erweckte mein Mitleid; ich zog aus meiner Börse einen Goldquadrupel und gab ihr diesen, worüber sie Tränen der Freude und Dankbarkeit vergoß.

»Ich verspreche Ihnen einen zweiten, Signora, wenn Sie mir ein Geständnis machen wollen: sagen Sie mir offen, daß Bellino ein hübsches, verkleidetes Mädchen ist.«

»Verlassen Sie sich darauf, er ist es nicht; aber er sieht so aus.«

»Er hat das Aussehen und den Klang der Stimme, Signora; ich bin Kenner.«

»Natürlich ist er ein Knabe; er hat sich ja untersuchen lassen müssen, um auf der Bühne auftreten zu können.«

»Von wem denn?«

»Vom hochwürdigsten Beichtvater Seiner Gnaden des Herrn Bischofs.«

»Von einem Beichtvater!«

»Ja, und Sie können sich davon überzeugen; Sie brauchen ihn nur zu fragen.«

»Ich werde meiner Sache nur gewiß sein, wenn ich selber ihn untersuche.«

»Tun Sie das, wenn er einverstanden ist; aber ich kann mich mit gutem Gewissen nicht in die Sache einmischen, denn ich kenne Ihre Absichten nicht.«

»Diese sind ganz natürlicher Art.«

Ich ging in mein Zimmer zurück und ließ mir von Petronio eine Flasche Cyperwein holen. Er führte den Auftrag aus und brachte mir als Rest auf eine Dublone, die ich ihm mitgegeben hatte, sieben Zechinen zurück. Diese verteilte ich unter Bellino, Cecilia und Marina und bat dann die beiden kleinen Mädchen, mich mit ihrem Bruder allein zu lassen.

»Bellino, ich bin überzeugt, daß Sie anders gebaut sind als ich. Meine Liebe, Sie sind ein Mädchen!«

»Ich bin Mann, aber Kastrat. Man hat mich untersucht.«

»Lassen Sie sich auch von mir untersuchen; ich gebe Ihnen eine Dublone.«

»Das kann ich nicht; denn offenbar lieben Sie mich, und das verbietet die Religion.«

»Beim Beichtvater des Bischofs haben Sie nicht solche Schwierigkeiten gemacht.«

»Der war ein alter Priester; übrigens hat er nur einen flüchtigen Blick auf mich geworfen.«

»Ich werde es gleich wissen!« sagte ich mit einem kühnen Griff. Bellino stieß mich zurück und stand auf.

Diese Halsstarrigkeit ärgerte mich, denn ich hatte schon fünfzehn oder sechzehn Zechinen ausgegeben, um meine Neugierde zu befriedigen. Mit verdrießlichem Gesicht setzte ich mich zu Tisch; aber der ausgezeichnete Appetit meiner hübschen Gäste gab mir meine gute Laune wieder, und ich dachte, eigentlich sei es doch besser, fröhlich zu sein als zu schmollen; in dieser Stimmung beschloß ich mich an den beiden reizenden jüngeren Schwestern schadlos zu halten, die mir zu losen Scherzen sehr geneigt zu sein schienen.

Ich saß in ihrer Mitte an einem guten Feuer, und wir aßen gebratene Kastanien, die wir mit Cyperwein befeuchteten; bald begann ich nach rechts und nach links einige unschuldige Küsse auszuteilen. Aber es dauerte nicht lange, so betasteten meine gierigen Hände alles, was meine Lippen küssen konnten, und Cecilia und Marina ergötzten sich sehr an diesem Spiele. Da Bellino lächelte, so umarmte ich auch ihn, und da sein halboffenes Spitzenjabot meine Hand herauszufordern schien, so erkühnte ich mich und drang ein, ohne Widerstand zu finden. Niemals hatte der Meißel des Prariteles einen so schönen Busen geformt. »An diesem Zeichen«, sagte ich zu ihr, »erkenne ich zweifellos, daß Sie ein vollendet schönes Weib sind.«

»Dies ist«, antwortete sie, »ein Mangel, den ich mit allen meinesgleichen teile.«

»Nein, es ist die höchste Vollkommenheit aller Ihresgleichen. Bellino, glauben Sie mir, ich bin Kenner genug, um den häßlichen Busen eines Kastraten von dem einer schönen Frau unterscheiden zu können; und dieser Alabasterbusen gehört einer jungen Schönheit von siebzehn Jahren.«

Wer wüßte nicht, daß eine von der höchsten Reizen entflammte Liebe in der Jugend erst dann einhält, wenn sie Befriedigung gefunden hat, und daß das Erlangen einer Gunstbezeigung nur dazu antreibt, eine noch größere Gunst zu gewähren? Ich war auf gutem Wege, und darum wollte ich noch weiter gehen und mit glühenden Küssen den Busen bedecken, der meiner Hand preisgegeben war; aber der falsche Bellino tat, wie wenn er erst in diesem Augenblick bemerkte, daß ich eines unerlaubten Vergnügens genösse; er stand auf und entfloh. In das Feuer der Liebe mischte sich nun Zorn; es war mir unmöglich, ihn zu verachten, weil ich dann zuerst mich selber hätte verachten müssen, aber ich fühlte das Bedürfnis mich zu beruhigen, indem ich meine Leidenschaft befriedigte oder ablenkte; ich bat daher Cecilia, die Bellinos Schülerin war, mir einige neapolitanische Lieder zu singen. Hierauf ging ich aus und begab mich zum Bankier, wo ich mir zum Austausch für den bei ihm fälligen Wechsel einen Sichtwechsel auf Bologna geben ließ. Nach meiner Rückkehr nahm ich ein leichtes Abendessen mit den kleinen Mädchen ein; hierauf zog ich mich aus, um mich zu Bett zu legen, nachdem ich Petronio befohlen hatte, mir für Tagesanbruch einen Wagen zu bestellen.

Im Augenblick, wo ich die Tür verschließen wollte, kam Cecilia halb ausgezogen und sagte mir, Bellino lasse mich fragen, ob ich ihn nach Rimini mitnehmen wolle, wo er nach Ostern in der Oper singen wolle.

»Sage ihm, mein kleiner Engel, ich werde ihm sehr gerne dieses Vergnügen bereiten, wenn er mir in deiner Gegenwart das von mir gewünschte Vergnügen machen will; ich will durchaus wissen, ob er ein Knabe oder ein Mädchen ist.«

Sie ging, kam sofort wieder und sagte mir, Bellino sei schon zu Bett, aber er verspreche mir, am nächsten Tage meinen Wunsch zu erfüllen, wenn ich meine Abreise nur um vierundzwanzig Stunden verschieben wolle.

»Sage mir die Wahrheit, Cecilia, und ich gebe dir sechs Zechinen.«

»Ich kann sie mir nicht verdienen, denn ich habe ihn niemals ganz nackt gesehen, und ich kann nicht darauf schwören, ob er ein Mädchen ist oder nicht. Aber er muß doch wohl ein Knabe sein, denn sonst hätte er nicht hier auf dem Theater auftreten dürfen.«

»Gut, ich werde erst übermorgen abreisen, wenn du nur diese Nacht Gesellschaft leisten willst.«

»Sie lieben mich also?«

»Sehr – wenn du gut sein willst.«

»Sehr gut will ich sein; denn ich habe Sie ebenfalls sehr lieb. Ich werde meiner Mutter Bescheid sagen.«

»Du hast gewiß einen Liebhaber?«

»Ich habe niemals einen gehabt.«

Sie ging und kam gleich darauf freudestrahlend zurück, um mir zu sagen, ihre Mutter halte mich für einen Ehrenmann. Die Hauptsache war ohne Zweifel, daß sie mich für freigebig hielt. Cecilia schloß die Tür, warf sich in meine Arme und küßte mich. Sie war hübsch und lieblich, aber ich war nicht in sie verliebt und konnte nicht zu ihr sagen: Lucrezia, du hast mein Glück gemacht. Aber sie sagte mir dieses, ohne daß ich mich jedoch dadurch besonders geschmeichelt fühlte; indessen tat ich so, als glaubte ich es ihr. Bei meinem Erwachen erhielt sie von mir einen zärtlichen Morgengruß, und nachdem ich ihr drei Dublonen gegeben hatte, worüber jedenfalls ihre Mutter sich ganz besonders freuen mußte, entließ ich sie, ohne ihr erst ewige Treue zu schwören; denn diese Schwüre sind ebenso leichtfertig wie abgeschmackt; und selbst der verständigste Mann sollte sie niemals auch der schönsten Frau gegenüber anwenden.

Nach dem Frühstück ließ ich den Wirt heraufkommen und bestellte bei ihm ein ausgezeichnetes Abendessen für fünf Personen, denn ich war überzeugt, daß Don Sancho, der am Abend zurückkehren sollte, mir nicht die Ehre verweigern würde, mit mir zu Nacht zu speisen; in dieser Hoffnung beschloß ich, nicht zu Mittag zu essen. Die Bologneser Familie hatte es nicht nötig, mein Vorbild nachzuahmen, um eines guten Appetits für den Abend sicher zu sein.

Ich ließ Bellino rufen und forderte ihn auf, sein Versprechen zu halten; aber er sagte mir lachend, der Tag sei noch nicht zu Ende und es sei sicher, daß er mit mir abreisen werde.

»Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß dies nicht der Fall sein wird, wenn ich nicht völlig zufriedengestellt werde.«

»Sie werden es sein.«

»Ist es Ihnen recht, wenn wir zusammen einen Spaziergang machen?«

»Gern – ich werde mich anziehen.«

Während ich auf ihn warte, kommt Marina und fragt mich mit schmollendem Gesicht, womit sie es verdient habe, daß ich sie verachte. »Cecilia hat die Nacht mit Ihnen verbracht; morgen reisen Sie mit Bellino ab; nur ich allein bin unglücklich.«

»Willst du Geld?«

»Nein; denn ich liebe Sie.«

»Aber, Marina, du bist zu jung!«

»Ich bin kräftiger als meine Schwester.«

»Es ist aber auch möglich, daß du einen Liebhaber hast.«

»O, gewiß nicht!«

»Schön denn; wir werden heute abend sehen.«

»Famos! Ich werde Mama sagen, daß sie für morgen frische Bettücher bereit halten soll; denn sonst würde man es im Gasthof merken.«

Ich bewunderte die Früchte einer Theatererziehung; aber es machte mir Spaß.

Bellino kam, wir gingen aus und lenkten unsere Schritte nach dem Hafen. Auf der Reede lagen mehrere Schiffe, unter anderen ein venetianisches und ein türkisches. Ich ließ mich an Bord des ersteren fahren und besichtigte es mit Interesse; da ich aber keinen Bekannten fand, verließ ich es bald wieder und fuhr mit Bellino zu dem türkischen Schiff hinüber, wo mich die romanhafteste Überraschung erwartete. Die erste Person, die ich bemerkte, war die schöne Griechin, die ich vor sieben Monaten zu Ancona im Lazarett verlassen hatte. Sie stand neben dem alten Kapitän. Seine schöne Gefangene scheinbar gar nicht bemerkend, fragte ich ihn, ob er schöne Waren zu verkaufen habe. Er führte uns in die Kajüte, und indem ich einen Seitenblick auf seine schöne Griechin warf, las ich in ihren Augen die höchste Freude über unser Wiedersehen.

Ich tat, als gefiele mir nichts von dem, was der Türke mir zeigte; schließlich sagte ich ihm, wie wenn ich eine plötzliche Eingebung hätte, ich würde gerne etwas Hübsches kaufen, das seiner schönen Gattin gefiel. Er lächelte und verließ die Kajüte, nachdem die Griechin ihm etwas auf türkisch gesagt hatte. Kaum war er unseren Blicken entschwunden, so fiel die neue Aspasia mir um den Hals und rief: »Der Augenblick des Glücks ist da!«

Ich hatte nicht weniger Mut als sie, nahm eine geeignete Stellung ein und machte ihr in einem Nu, was ihr Gebieter ihr in fünf Iahren nicht gemacht hatte. Ich war noch nicht ganz am Ziel meiner Wünsche, als die unglückliche Griechin ihren Herrn zurückkommen hörte; mit einem Seufzer entriß sie sich meinen Armen und stellte sich so geschickt vor mich, daß ich Zeit hatte, meine Kleider wieder in Ordnung zu bringen; sonst hätte das Abenteuer mir das Leben oder wenigstens all mein Hab und Gut gekostet. Lachen mußte ich in dieser eigentümlichen Lage über Bellinos Überraschung ; er stand wie erstarrt da und zitterte an allen Gliedern.

Die Nippsachen, die die schöne Sklavin wählte, kosteten mir nur etwa dreißig Zechinen. »Spolaitis!« sagte sie mir in ihrer Sprache; der Türke befahl ihr, mich zu umarmen, sie aber verhüllte ihr Gesicht und lief hinaus. Ich verließ das Schiff mehr traurig als zufrieden; denn es tat mir leid, daß sie trotz ihrem Mut nur eine unvollständige Befriedigung hatte erreichen können. Sobald wir wieder in unserer Veluke waren, sagte Bellino, der sich von seiner Furcht erholt hatte, ich hätte ihm ein wahres Wunder gezeigt, das kaum glaublich wäre, ihm aber einen eigentümlichen Begriff von meinem Charakter gäbe; der Charakter der Griechin sei überhaupt nicht verständlich, ich müßte ihm denn etwa versichern können, daß alle Weiber ihres Landes ebenso wären wie sie.

»Wie unglücklich müssen sie sein« rief er aus.

»Glauben Sie denn,« fragte ich ihn, »daß die Koketten glücklicher sind?«

»Nein; aber ich verlange, daß ein Weib, wenn es aufrichtig ist, sich erst ergibt, nachdem es mit sich selber gekämpft hat; sie darf nicht dem ersten Antrieb eines wollüstigen Wunsches nachgehen, sie darf nicht dem ersten besten, der ihr gefällt, sich hingeben wie ein Tier, das nur den Trieben seiner Sinne folgt. Geben Sie mir zu, daß diese Griechin Ihnen ein sicheres Zeichen gegeben hat, daß Sie ihr gefallen haben; daß sie Ihnen aber ein nicht weniger sicheres Zeichen ihrer rohen Sinnlichkeit gegeben hat, und zwar mit einer Schamlosigkeit, die sie der Gefahr aussetzte, schimpflich zurückgewiesen zu werden ; denn sie konnte nicht wissen, ob Sie sich ebenso stark zu ihr hingezogen fühlten, wie sie sich zu Ihnen. Sie ist sehr hübsch, und alles ist gut gegangen; aber der ganze Vorfall hat mich in eine Aufregung versetzt, von der ich mich noch nicht erholt habe.«

Ich hätte Bellino leicht aus seinem Erstaunen reißen und ihm seinen Irrtum benehmen können ; aber eine derartige Aufklärung wäre nicht im Interesse meiner Eitelkeit gelegen; daher schwieg ich. Denn wenn Bellino, wie ich bestimmt glaubte, ein Mädchen war, so wünschte ich ihr die Überzeugung beizubringen, daß ich auf die körperliche Betätigung der Liebe im Grunde einen sehr geringen Wert legte, und daß es sich nicht lohnte, zur List zu greifen, um ihre Folgen zu verhindern.

Gegen Abend hörte ich Don Sanchos Wagen in den Hof des Wirtshauses einfahren; ich beeilte mich, ihn zu empfangen, und sagte ihm, er werde nur hoffentlich verzeihen, daß ich darauf gerechnet habe, er werde mir die Ehre erweisen, mit mir und Bellino zu Nacht zu speisen. Würdevoll und höflich bedeutete er mir, meine Aufmerksamkeit mache ihm das größte Vergnügen, und nahm die Einladung an.

Die auserlesensten Speisen, die besten spanischen Weine, und mehr als alles dieses, die Fröhlichkeit und die entzückenden Stimmen Bellinos und Cecilias ließen den Kastilianer fünf köstliche Stunden verbringen. Um Mitternacht verließ er mich mit den Worten, er könne sich nicht für völlig befriedigt erklären, wenn ich ihm nicht das Versprechen gebe, am nächsten Tage in seinem Zimmer mit derselben Gesellschaft zu Abend zu speisen. Ich mußte also meine Abreise noch um einen Tag aufschieben; aber ich nahm an.

Kaum war Don Sancho gegangen, so forderte ich Bellino auf, sein Wort zu halten; aber er sagte mir, Marina erwarte mich, und da ich ja den nächsten Tag noch bleibe, so werde er schon einen günstigen Augenblick finden, um mich zufrieden zu stellen. Hierauf wünschte er mir gute Nacht und ging.

Marinetta lief freudestrahlend an die Tür, schob den Siegel vor und eilte dann mit flammenden Blicken auf mich zu. Obgleich sie ein Jahr jünger war als Cecilia, waren ihre Formen schon reifer entwickelt, und sie schien mich überzeugen zu wollen, daß sie mehr wert sei als ihre Schwester. Da sie jedoch fürchtete, die Anstrengung der vergangenen Nacht möchte meine Kräfte erschöpft haben, so kramte sie alle verliebten Ideen ihrer Seele vor mir aus, sprach lang und breit über alles, was sie von dem großen Mysterium wusste, das sie mit mir vollziehen sollte, und von allen Versuchen, die sie gemacht hatte, sich unvollkommene Kenntnisse zu verschaffen; dies alles brachte sie mit der Zusammenhangslosigkeit ihres kindlichen Alters vor. Wie ich bald merkte, fürchtete sie, ich möchte sie nicht als Jungfer befinden und ihr Vorwürfe darüber machen. Ihre Unruhe machte mir Spaß, und ich beruhigte sie, indem ich ihr sagte, die sogenannte Mädchenblume sei etwas, das die Natur vielen Mädchen verweigere, und Männer, die sich darüber beklagten, seien in meinen Augen Dummköpfe.

Mein Sachverständnis gab ihr Mut und Vertrauen, und ich sah mich genötigt, ihr zu gestehen, daß sie ihrer Schwester weit überlegen sei. »Ich bin entzückt darüber!« rief sie; »wir wollen die ganze Nacht verbringen, ohne einen Augenblick zu schlafen.«

»Der Schlaf, liebes Kind, wird uns zustatten kommen; er wird uns neue Kräfte geben, und diese werden dich morgen früh für eine nach deiner Meinung vielleicht verlorene Zeit entschädigen.«

Und in der Tat wurde nach einem süßen Schlummer das Erwachen für sie zu einer Reihe von neuen Triumphen; sie war überselig, als ich ihr beim Abschied drei Dublonen gab, die sie ihrer Mutter überbrachte, wodurch in dieser der unersättliche Wunsch erregt wurde, neue Wohltaten von der Vorsehung anzunehmen.

Ich ging zu meinem Bankier, um mir Geld zu holen, da ich nicht wissen konnte, was mir unterwegs zustoßen würde; denn ich hatte genossen, aber ich hatte zu viel ausgegeben. Außerdem blieb mir noch Bellino, der, wenn er Mädchen war, mich gegen sich nicht weniger freigebig finden durfte, als gegen seine jungen Schwestern. Dies mußte sich im Laufe des Tages entscheiden; ich glaubte übrigens des Ergebnisses sicher zu sein.

Es gibt Leute, die da sagen, das Leben sei nur eine Anhäufung von lauter Unglück, was darauf hinausliefe, daß unser Dasein ein Unglück wäre; aber wenn das Leben ein Unglück ist, so ist der Tod gerade das Gegenteil, also Glück; denn der Tod ist dem Leben genau entgegengesetzt. Diese Schlußfolgerung kann etwas gezwungen erscheinen. Aber die Menschen, die eine solche Sprache führen, sind sicherlich entweder krank oder arm. Denn wenn sie einer guten Gesundheit genössen, wenn sie eine wohlgespickte Börse hätten, Fröhlichkeit im Herzen, dazu eine Cecilia, eine Marina, und Hoffnung auf noch viel besseres – o, gewiß, da würden sie ihre Meinung ändern. Ich halte solche Leute für Pessimisten, die es nur unter bettelhaften Philosophen und unter heuchlerischen oder schwarzgalligen Pfaffen gegeben haben kann. Wenn es Freude gibt, und wenn man Freude nur genießen kann, solange man am Leben ist – dann ist das Leben ein Glück. Es gibt Unglück, davon weiß ich selber etwas; aber das Vorhandensein gerade dieses Unglücks beweist, daß im großen und ganzen genommen das Glück überwiegt. Weil man bei einer Fülle von Rosen einige Dornen findet, darf man deshalb die Existenz dieser schönen Blume verkennen? Nein; man verleumdet das Leben, wenn man behauptet, es sei kein Gut. Wenn ich in einem dunklen Zimmer bin, bereitet es mir einen unendlichen Genuß, durch ein Fenster einen unermeßlichen Horizont vor mir sich ausbreiten zu sehen.

Als es Zeit zum Abendessen war, begab ich mich zu Don Sancho, den ich in einem prachtvollen Zimmer untergebracht fand. Sein Tisch war mit Silbergeschirr bedeckt, und seine Bedienten trugen große Livree. Er war allein, aber bald kamen Cecilia, Marina und Bellino, der aus Neigung oder aus Laune weibliche Tracht angelegt hatte. Die beiden jüngeren Schwestern waren gut angezogen und sahen reizend aus; aber Bellino in seiner Damentoilette stellte sie dermaßen in den Schatten, daß ich nicht mehr den geringsten Zweifel hatte.

»Sind Sie überzeugt,« fragte ich Don Sancho, »daß Bellino kein Mädchen ist?«

»Ob Mädchen oder Junge, was macht das mir aus? Ich halte ihn für einen sehr hübschen Kastraten, und ich habe Kastraten gesehen, die ebenso hübsch waren wie er.«

»Aber sind Sie dessen sicher?«

»Valgame Dios!« antwortete der würdevolle Kastilianer; »ich habe durchaus keine Lust, mir solche Gewißheit zu verschaffen.«

Oh! da dachten wir aber sehr verschieden! Ich respektierte jedoch in ihm die Weisheit, die mir fehlte, und erlaubte mir keine indiskrete Frage mehr. Bei Tische aber vermochten meine gierigen Augen sich nicht von dem entzückenden Geschöpf abzuwenden; infolge meiner natürlichen Lasterhaftigkeit fand ich eine süße Wollust in dem Glauben, Bellino gehöre einem Geschlecht an, dem er angehören mußte, wenn ich nicht unglücklich sein sollte.

Don Sanchos Nachtmahl war köstlich und natürlich dem meinigen weit überlegen; denn sonst hätte der kastilianische Stolz sich gedemütigt geglaubt. Ubrigens begnügen die Menschen im allgemeinen sich niemals mit dem Guten; sie wollen das Bessere, oder richtiger gesagt, das Reichlichere. Er bewirtete uns mit weißen Trüffeln, mit Muschelgerichten verschiedener Art und den besten Fischen des Adriatischen Meeres; dazu gab es nichtmoussierenden Champagner, Peralta, Xeres und Pedro-Firnenes.

Nach diesem lukullischen Abendessen sang uns Bellino mit einer Stimme, die uns das letzte Restchen von Vernunft benahm, das die ausgezeichneten Weine uns noch gelassen hatten. Ihre Gebärden, der Ausdruck ihres Blickes, ihr Benehmen, ihr Gang, ihre Haltung, ihre Gesichtszüge, ihre Stimme und vor allem mein Instinkt, der mir nicht für einen Kastraten die Gefühle einflößen konnte, die ich für sie empfand – dies alles bestärkte mich in meiner Hoffnung. Indessen mußte ich mich mit eigenen Augen überzeugen.

Nach tausend Komplimenten und tausend Danksagungen verließen wir den prachtliebenden Spanier und gingen in mein Zimmer, wo endlich das Geheimnis sich enthüllen sollte. Ich forderte Bellino auf, mir Wort zu halten; sonst würde ich am nächsten Morgen in aller Frühe allein abreisen.

Ich nehme Bellino an der Hand, und wir setzen uns zusammen an das Kaminfeuer. Ich schicke Cecilia und Marina fort und sage zu ihm: »Bellino, alles hat seine Grenzen. Sie haben mir Ihr Versprechen gegeben: die Sache wird bald entschieden sein. Wenn Sie sind, was Sie sagen, werde ich Sie bitten, sich auf Ihr Zimmer zu begeben. Sind Sie dagegen, wofür ich Sie halte, und wollen Sie bei mir bleiben, so werde ich Ihnen morgen hundert Zechinen geben, und wir werden zusammen abreisen.«

»Sie werden allein abreisen und werden meiner Schwäche verzeihen, wenn ich Ihnen nicht Wort halten kann. Ich bin, was ich Ihnen gesagt habe, und ich kann mich nicht entschließen, Sie zum Zeugen meiner Schande zu machen, noch auch mich den furchtbaren Folgen auszusetzen, die diese Aufklärung haben könnte.«

»Sie kann keine einzige haben; sobald ich mich überzeugt habe, daß Sie das Unglück haben, das zu sein, wofür ich Sie nicht halte, so ist alles abgemacht; es wird mit keinem Wort mehr davon die Rede sein, wir reisen morgen zusammen ab, und ich werde Sie in Rimini absetzen.«

»Nein, es ist entschieden; ich kann Ihre Neugierde nicht befriedigen.«

Über diese Worte war ich außer mir, und ich war nahe daran, Gewalt anzuwenden; doch beherrschte ich mich und versuchte mit Güte ans Ziel zu gelangen und mich des Punktes zu bemächtigen, in welchem die Lösung des Problems lag. Fast hatte ich ihn erweicht, da setzte seine Hand mir einen kräftigen Widerstand entgegen. Ich verdoppelte meine Anstrengung, aber ich fand sie vereitelt, indem Bellino plötzlich aufstand. Nachdem ich einen Augenblick ruhig gewesen war, glaubte ich ihn überraschen zu können und streckte die Hand aus – aber ein jäher Schreck durchfuhr mich, ich glaubte in ihm einen Mann zu erkennen, noch dazu einen verachtungswürdigen Mann, verachtungswürdig weniger wegen seiner Verstümmelung, als wegen der Gefühllosigkeit, die ich auf seinem Zügen zu lesen glaubte. Angeekelt, verwirrt, beinahe über mich selbst errötend, schickte ich ihn fort. Seine Schwestern kamen zu mir; ich verabschiedete mich von ihnen und beauftragte sie, ihrem Bruder zu sagen, er würde mit mir reisen und brauchte keine Zudringlichkeiten mehr von meiner Seite zu befürchten. Jedoch trotz der Überzeugung, die ich erlangt zu haben glaubte, beherrschte Bellino, den meine Phantasie mir als Weib vorgestellt hatte, immer noch alle meine Gedanken. Dies war mir unbegreiflich.

Am anderen Morgen reiste ich mit ihm ab, begleitet von den Tränen der beiden reizenden Schwestern und von den Segenswünschen der Mutter, die mit dem Rosenkranz in der Hand Pater noster murmelte und ihren ewigen Refrain wiederholte: Dio provvedera – Gott wird versorgen.

Dieses Vertrauen, das die meisten Leute, die von unerlaubten oder durch die Religion verbotenen Gewerben leben, auf die Vorsehung setzen, ist durchaus nicht abgeschmackt, erkünstelt oder heuchlerisch; sondern es ist wahr, echt und sogar fromm, denn es entstammt einer ausgezeichneten Quelle. Welche Wege auch immer die Vorsehung wählen mag, die Sterblichen müssen sie stets in ihrem Wirken erkennen, und wer sie unabhängig von jedem Nebengedanken anruft, kann im Grunde immer ein guter Mensch sein, wenn er auch einer Ausschreitung schuldig sein mag.

Pulchra Laverna
Da mihi fallere; da justo sanctoque videri;
Noctem peccatis, et fraudibus objice nubem.

O schöne Laverna, gib zu meinem falschen Spiele
Mir ferner Glück. Verleih mir, tadellos
Zu scheinen und gerecht! Mach, wenn ich sündige,
Nacht um mich her, und wirf wie einen Schild
Die dickste Wolke meiner Schalkheit vor !8

So sprachen zur Zeit des Horaz die Diebe lateinisch zu ihrer Göttin, und ich erinnere mich, daß eines Tages ein Jesuit mir sagte der Dichter habe nicht Latein gekonnt, wenn er gesagt habe: Justo sanctoque. Aber es gab auch unter den Jesuiten Ignoranten, und ohne Zweifel pfiffen die Diebe auf die Grammatik.

So war ich also unterwegs mit Bellino, der in dem Glauben. war, daß ich von meiner Meinung zurückgekommen sei, und sich daher vielleicht einbildete, ich sei nicht mehr neugierig auf ihn; aber schon nach einer knappen Viertelstunde sah er, daß er sich täuschte; denn ich konnte meine Blicke nicht in seine schönen Augen versenken, ohne mich von einer Glut entflammt zu fühlen, die der Anblick eines Mannes niemals in mir hätte erzeugen können. Ich sagte ihm, seine Augen und alle Züge seien die eines Weibes, und ich müsse mich mit eigenen Augen der Tatsache vergewissern, weil der von mir bemerkte Auswuchs möglicherweise nur ein Naturspiel sei. »Wenn dies der Fall wäre, würde ich Ihnen gern eine solche Verunstaltung verzeihen, die im Grunde doch nur komisch ist. Bellino, diese sozusagen magnetische Wirkung, die Sie auf mich hervorbringen, dieser Venusbusen, den Sie meiner lüsternen Hand überlassen haben, der Ton Ihrer Stimme, Ihr ganzes Gehaben – alles bestätigt mir, daß Sie von anderem Geschlecht sind als ich. Lassen Sie mich davon mich überzeugen und seien Sie meiner Liebe gewiß, wenn ich mich nicht irre; seien Sie meiner Freundschaft gewiß, wenn ich meinen Irrtum erkenne. Wenn Sie aber immer noch hartnäckig bleiben, so muß ich glauben, Sie machen sich eine grausame Belustigung daraus, mich zu quälen. Dann muß ich annehmen, Sie haben als ausgezeichneter Beobachter der Natur in der verdammtesten aller Ärzteschulen gelernt, daß es, um einem Jüngling die Heilung von einer Liebesleidenschaft unmöglich zu machen, kein besseres Mittel gibt, als ihn unaufhörlich in Erregung zu halten. Aber Sie werden mir zugeben, daß Sie eine solche Tyrannei nur ausüben können, wenn Sie den Mann hassen, an welchem Sie solche Wirkung erproben. Und wenn dies der Fall wäre, so müßte ich meine Vernunft zu Hilfe rufen, um auch meinerseits Sie zu hassen.«

In diesem Tone fuhr ich noch lange Zeit fort, ohne daß er mir ein Wort erwiderte; doch sah er sehr bewegt aus. Zum Schluß sagte ich ihm, sein Widerstreben versetzte mich in einen solchen Zustand, daß ich gezwungen sein werde, ihn ohne Schonung zu behandeln, um eine Gewißheit zu erlangen, die ich mir nur durch Gewalt verschaffen könne. Hierauf erwiderte er mir stolz:

»Bedenken Sie, daß Sie nicht mein Herr sind, daß ich mich im Vertrauen auf ein Versprechen in Ihren Händen befinde, und daß Sie sich eines Mordes schuldig machen würden, wenn Sie mir Gewalt antäten. Sagen Sie dem Postkutscher, er solle halten: ich werde aussteigen und mich bei niemandem beklagen!« Dieser kurzen Anrede folgte eine Sintflut von Tränen, und das ist ein Mittel, dem ich niemals habe widerstehen können. Ich fühlte mich bis auf den Grund meiner Seele gerührt und glaubte beinahe, ich hätte unrecht gehabt. Ich sage beinahe, denn wenn ich überzeugt gewesen wäre, so hätte ich mich ihm zu Füßen geworfen und ihn um Verzeihung gebeten; da ich mich jedoch nicht imstande fühlte, über den Fall zu urteilen, so begnügte ich mich damit, mich in ein düsteres Schweigen zu hüllen, und ich besaß die Standhaftigkeit, kein einziges Wort zu sprechen, bis wir eine halbe Post von Sinigaglia entfernt waren, wo ich zu Abend essen und übernachten wollte. Dort endlich ergriff ich das Wort, nachdem ich lange genug mit mir selber gekämpft hatte, und sagte zu ihm: »Wir hätten als gute Freunde in Rimini zur Ruhe gehen können, wenn Sie ein bißchen Freundschaft für mich empfunden hätten; denn wenn Sie nur ein wenig gefällig gewesen wären, so hätten Sie mich von meiner Leidenschaft heilen können.«

»Sie wären nicht geheilt worden,« antwortete Bellino mir mutvoll, aber in einem Tone, dessen Sanftheit mich überraschte. »Nein, Sie wären nicht geheilt worden, einerlei, ob ich Mädchen oder Knabe hin; denn Sie sind in meine Person verliebt, und Ihre Verliebtheit hat mit meinem Geschlecht nichts zu tun; wenn Sie Gewißheit erlangt hätten, wären Sie rasend geworden. Hätten Sie mich in diesem Zustande unerbittlich gefunden, so hätten Sie sich ganz gewiß zu Ausschreitungen hinreisen lassen, worüber Sie später unnütze Tränen würden vergossen haben.«

»Sie glauben, durch diese schönen Vernunftgründe mich zu dem Eingeständnis zu bringen, daß Ihr Widerstand vernünftig sei; aber Sie befinden sich vollkommen im Irrtum, denn ich fühle, daß ich völlig ruhig sein würde, und daß Ihre Gefälligkeit Ihnen meine Freundschaft sichern würde.«

»Sie würden rasend werden, sage ich Ihnen!«

»Bellino, was mich rasend gemacht hat, ist die Schaustellung Ihrer allzu wirklichen oder allzu trügerischen Reize, deren Wirkung Ihnen sicherlich nicht unbekannt sein kann. Damals haben Sie meine Liebesraserei nicht gefürchtet; wie soll ich denn glauben, daß Sie sich jetzt fürchten, da ich von Ihnen nichts weiter verlange, als daß Sie mich ein Ding anfassen lassen, das mir nur Ekel erregen kann?«

»Ach? Ihnen Ekel erregen? Ich bin vom Gegenteil völlig überzeugt. Hören Sie mich an! Wenn ich ein Mädchen wäre, so stände es nicht in meiner Macht, Ihnen meine Liebe zu versagen, das fühle ich; da ich aber ein Knabe bin, so ist es meine Pflicht, die von Ihnen gewünschte Gefälligkeit nicht zu gewähren; denn Ihre Leidenschaft, die jetzt noch erklärlich ist, würde dann widernatürlich werden. Ihre glühende Natur würde stärker sein als Ihre Vernunft, und Ihre Vernunft selber würde leicht eine Bundesgenossin Ihrer Sinne werden und würde mit Ihrer Natur halbpart machen. Wenn Sie diese Aufklärung erhielten, so würde sie Sie in Flammen setzen und Sie würden die Herrschaft über sich selbst verlieren. Sie würden suchen, was Sie nicht finden können; Sie würden sich an dem, was Sie wirklich fänden, befriedigen wollen, und das würde ohne Zweifel zu greulichen Dingen führen.

Sie sind doch so klug; wie können Sie sich mit der Hoffnung schmeicheln, es werde Ihnen möglich sein, mich plötzlich nicht mehr zu lieben, wenn Sie in mir einen Mann fänden? Werden die Reize, die Sie an mir bemerkten, nicht mehr vorhanden sein? Ihre Macht wird sich vielleicht sogar noch vermehren; alsdann wird Ihre Glut brutal werden, und Sie werden, um sie zu befriedigen, zu allen Mitteln greifen, auf die Ihre Phantasie nur verfallen kann. Es wird Ihnen gelingen, sich zu überreden, Sie könnten mich zum Weibe umwandeln; oder, schlimmer noch, Sie könnten mir gegenüber zum Weibe werden. Ihre Leidenschaft wird tausend Spitzfindigkeiten aushecken, um Ihre Liebe zu rechtfertigen, die Sie mit dem schönen Namen Freundschaft schmücken werden; und um Ihr Verhalten zu verteidigen, werden Sie nicht verfehlen, mir tausend Beispiele ähnlicher Schändlichkeiten anzuführen. Wer weiß, ob Sie mich nicht mit dem Tode bedrohen würden, wenn Sie mich nicht gefügig fänden? Denn ganz gewiß würden Sie mich in dieser Hinsicht niemals gefügig finden.«

Von der Länge ihrer Auseinandersetzung ein wenig ermüdet, antwortete ich ihr: »Nichts von alledem, Bellino, würde geschehen; wahrhaftig, nichts! Und ich bin überzeugt, Sie übertreiben; denn soweit kann Ihre Furcht unmöglich gehen. Doch muß ich Ihnen sagen: Selbst wenn es dazu käme, so dünkt mich, es wäre weniger schlimm, der Natur eine Verirrung zu verzeihen, die streng genommen nur als eine Geistesverwirrung betrachtet werden kann, als wenn Sie eine Geisteskrankheit unheilbar machen, die bei vernünftigem Verhalten nur vorübergehend sein würde.«

Solche Reden hält ein armer Philosoph, wenn er in Augenblicken, wo eine aufrührerische Leidenschaft alle Fähigkeiten seiner Seele in die Irre führt, vernünftige Reden halten will. Um von seiner Vernunft den rechten Gebrauch zu machen, darf man weder verliebt noch zornig sein, denn diese beiden Leidenschaften haben das miteinander gemein, daß sie in ihren Ausartungen uns den Tieren gleichmachen, die nur den Antrieben ihrer Instinkte folgen; unglücklicherweise sind wir niemals so dazu aufgelegt, Vernunftschlüsse zu ziehen, wie wenn wir unter dem Einfluß der einen oder der anderen dieser Leidenschaften stehen. Mit Einbruch der Nacht kamen wir in Sinigaglia an, wo ich im besten Gasthof abstieg; nachdem ich mir ein gutes Zimmer hatte anweisen lassen, bestellte ich ein Abendessen. Da in dem Zimmer nur ein einziges Bett war, fragte ich mit der ruhigsten Miene Bellino, ob er sich in einem anderen Zimmer Feuer machen wolle. Man stelle sich meine Überraschung vor, als er in sanftem Tone mir sagte, er habe durchaus nichts dagegen, mit mir im selben Bett zu schlafen. Auf diese Antwort war ich durchaus nicht gefaßt; aver sie war mir nötig, um die düstere Stimmung zu verscheuchen, die mich quälte. Ich sah wohl, daß der Knoten der Komödie sich entschürzen sollte, aber ich hütete mich wohl, mir dazu Glück zu wünschen, denn ich befand mich noch in Ungewißheit, ob die Lösung mir günstig sein würde oder nicht. Indessen empfand ich eine aufrichtige Befriedigung über meinen Sieg, denn ich war gewiß, vollkommen Herr und Meister meiner selbst zu bleiben, wenn meine Sinne und mein Instinkt mich getäuscht haben sollten; d.h. ich würde ihn respektieren, wenn er ein Mann wäre. Im entgegengesetzten Falle glaubte ich die süßesten Gunstbeweise erwarten zu dürfen.

Wir setzten uns bei Tische einander gegenüber, und während des Essens ließen seine Reden, seine Miene, der Ausdruck seiner schönen Augen, sein sanftes, wollüstiges Lächeln mich vorausahnen, daß er es müde war, noch fernerhin eine Rolle zu spielen, die für ihn ebenso peinlich hatte sein müssen wie für mich.

Von einer großen Last befreit, kürzte ich das Abendessen nach Möglichkeit ab. Sobald wir vom Tische aufgestanden waren, ließ mein liebenswürdiger Begleiter eine Nachtlampe bringen, zog sich aus und ging zu Bett. Unverzüglich folgte ich ihm, und der Leser wird sehen, wie die so heiß ersehnte Lösung sich vollzog; inzwischen wünsche ich ihm eine ebenso glückliche Nacht, wie die, die mich erwartete.

  1. Nach dem schönen Lustknaben im Satiricon des Petronius; der Name ist zum Gattungsbegriff geworden.
  2. Die Nymphe Laverna, in deren heiligen Hain die Römer unter Romulus ihren Raub in Sicherheit zu bringen pflegten, war die Schutzgöttin der Diebe und Räuber.

Elftes Kapitel


Bellinos Geschichte. – Ich werde in Arrest gesetzt. – Meine unfreiwillige Flucht – Meine Rückkehr nach Rimini und Ankunft in Bologna

Leser, ich habe dich die glücklichste Entwicklung ahnen lassen – nur ahnen; denn kein Ausdruck könnte dir die ganze Wonne schildern, die das reizende Wesen für mich aufgespart hatte. Sie näherte sich mir zuerst, sobald ich im Bett lag. Wir sprachen kein Wort, unsere Küsse verschmolzen miteinander, und ich befand mich auf dem Höhepunkt des Genusses, ehe ich nur Zeit gehabt hatte, ihn zu suchen. Nachdem ich den vollkommensten Sieg errungen hatte – was hätten meine Augen und meine Finger von Nachforschungen gehabt, die mir keine größere Gewißheit verschaffen konnten, als ich bereits besaß! Ich ließ meine Blicke über das schöne Antlitz schweifen, das von der zärtlichsten Liebe mit dem wärmsten und natürlichsten Feuer belebt wurde. Nach einem Augenblick der Verzückung entzündete ein neues Feuer einen neuen Brand in allen unseren Sinnen, und wir löschten diesen in einem Meer von neuen Wonnen. Bellino fühlte die Verpflichtung, mich meine Leiden vergessen zu machen und mit eigener Person für die Glut einzustehen, die ihre Reize mir eingeflößt hatten. Ich aber verdoppelte mein eigenes Glück durch das, welches ich ihr verschaffte, denn ich hatte immer die Schwäche, vier Fünftel meines eigenen Genusses in der Wonne zu finden, die ich dem reizenden Wesen verschaffte, dem ich mein Glück verdankte. Dieses Gefühl muß leider Abscheu vor dem Alter geben, das sich wohl Genuß verschaffen, aber niemals welchen gewähren kann. Die Jugend flieht das Alter, denn dieses ist ihr furchtbarster Feind.

Endlich kam ein Augenblick der Ruhe, der durch die außerordentliche Lebhaftigkeit unserer Liebesfreuden notwendig geworden war. Unsere Sinne waren noch nicht ohnmächtig, aber sie bedurften jener Ruhe, die ihnen ihr Wohlbefinden wiedergibt und ihnen jene Spannkraft verleiht, die für die Spiele der Liebe notwendig ist. Bellino brach zuerst das Schweigen. »Mein Freund, bist du zufrieden? Hast du mich recht verliebt gefunden?«

»Verliebt? Verräterin! Du gibst also zu, daß ich mich nicht täuschte, als ich in dir ein reizendes Weib erriet? Und wenn es wahr ist, daß du mich liebtest – sage mir, wie hast du solange dein und mein Glück hinausschieben können; aber ist es auch ganz gewiß, daß ich mich nicht geirrt habe?«

»Ich bin ganz dein; überzeuge dich.«

Welche Untersuchung! Welche Reize! Welche Genüsse! Als ich aber nicht das geringste Zeichen von einer Mißbildung fand, die mich so sehr abgestoßen hatte, fragte ich sie: »Aber was ist denn aus jenem greulichen Ding geworden?«

»Höre zu!« antwortete sie, »ich werde deine Neugierde befriedigen. Ich heiße Teresa. Bei meinem Vater, einem armen Beamten am Institut von Bologna, wohnte der berühmte Kastrat Salimbeni, der wundervolle Sänger. Er war jung und schön, er schloß sich an mich an, und ich fühlte mich geschmeichelt, ihm zu gefallen und mich von ihm loben zu hören. Ich war erst zwölf Iahre alt; er erbot sich, mich in der Musik zu unterrichten, und da er meine Stimme schön fand, wandte er mir alle Sorgfalt zu, und in Jahresfrist wußte ich mich tadellos auf dern Klavier zu begleiten.

Er erhielt den Lohn, den seine Zärtlichkeit ihn von mir zu erbitten zwang, und ich gewährte ihm diesen, ohne mich für erniedrigt zu halten, denn ich betete ihn an. Ohne Zweifel sind Männer wie du im allgemeinen Männern seiner Art weit überlegen; aber Salimbeni bildete eine Ausnahme. Seine Schönheit und Klugheit, sein Benehmen, sein Talent und die hohen Vorzüge seines Herzens stellten ihn in meinen Augen weit über alle Männer, die ich bis dahin gekannt hatte. Er war bescheiden und zartfühlend, reich und freigebig, und ich bezweifle, daß er einer Frau hätte begegnen können, die ihm Widerstand geleistet hätte ; trotzdem habe ich ihn niemals sich seiner Triumphe bei Frauen rühmen hören. Die Verstümmelung hatte aus ihm ein Ungeheuer gemacht, aber alle Eigenschaften, die ihn schmückten, machten aus ihm einen Engel.

Salimbeni unterhielt in Nimini bei einem Musiklehrer einen jungen Knaben meines Alters. Dessen Vater war arm und hatte eine zahlreiche Familie; als er sein Ende herannahen fühlte, wußte er nichts Besseres zu tun, als seinen unglücklichen Sohn verschneiden zu lassen, damit er durch seine Stimme für den Unterhalt seiner Geschwister sorgen könnte. Dieser junge Knabe hieß Bellino. Die gute Frau, die du in Ancona gesehen hast, war seine Mutter und alle Welt hält sie für die meine.

Seit einem Jahre gehörte ich Salimbeni an, als er eines Tages mir weinend die Mitteilung machte, er müsse mich verlassen, um nach Rom zu gehen; aber er versprach mir zu gleicher Zeit, ich würde ihn wiedersehen. Diese Nachricht versetzte mich in Verzweiflung. Er hatte alle Anordnungen getroffen, damit mein Vater meine Ausbildung fortsetzen lassen könnte; aber gerade in jenem Augenblick wurde mein Vater krank; er starb, und ich stand als Waise da.

Als Salimbeni mich in diesem Zustand sah, besaß er nicht die Kraft, meinen Tränen zu widerstehen; er beschloß, mich nach Rimini zu bringen und mich in dieselbe Pension zu geben, wo er seinen jungen Schützling erziehen ließ. Wir stiegen in einem Gasthof ab, und nachdem er fich einen Augenblick ausgeruht hatte, verließ er mich und begab sich zu dem Musiklehrer, um mit ihm die nötigen Abreden wegen meiner Ausbildung zu treffen; kurz darauf aber sah ich ihn traurig und niedergeschlagen zurückkommen: Bellino war den Tag vorher gestorben.

Indem er sich vorstellte, welchen Schmerz der Verlust des jungen Mannes der Mutter verursachen würde, kam ihm der Gedanke, mich unter dem Namen Bellino nach Bologna zu bringen und bei dessen Mutter in Pension zu geben; da sie arm war, mußte sie ein Interesse daran haben, das Geheimnis zu bewahren. ›Ich werde ihr‹, sagte er zu mir, ›alle Mittel geben, deine Ausbildung zu vollenden; in vier Jahren werde ich dich nach Dresden kommen lassen (er stand im Dienst des Kurfürsten von Sachsen und Königs von Polen), und zwar nicht als Mädchen, sondern als Kastraten. Dort werden wir miteinander leben, ohne daß jemand etwas dagegen einwenden könnte, und du wirst mich bis zu meinem Tode glücklich machen. Es handelt sich nur darum, dich für Bellino auszugeben; und nichts ist leichter als das, denn in Bologna kennt dich kein Mensch. Nur Bellinos Mutter wird in das Geheimnis eingeweiht sein; denn ihre anderen Kinder, die ihren Bruder nur im zartesten Alter gesehen haben, werden von dem wahren Sachverhalt keine Ahnung haben. Aber du mußt, wenn du mich liebst, auf dein Geschlecht verzichten, du mußt sogar die Erinnerung verlieren, bis jetzt ein Mädchen gewesen zu sein, und mußt unter dem Namen Bellino und als Knabe gekleidet augenblicklich nach Bologna abreisen. Du hast dich um weiter nichts zu kümmern, als daß niemand dich als Mädchen kennt. Du wirst allein schlafen, dich niemals in Gegenwart anderer Leute an- und auskleiden, und wenn in einem oder zwei Jahren dein Busen sich gebildet hat, so wird das eine Eigentümlichkeit sein, die du mit vielen von uns gemeinsam hast. Außerdem werde ich dir, ehe ich fortgehe, ein kleines Instrument geben, und werde dich lehren, es so zu befestigen, daß man dich leicht für einen Mann halten kann, wenn du dich jemals einer Untersuchung solltest unterwerfen müssen. Wenn mein Plan dir gefällt, so bin ich sicher, daß ich in Dresden mit dir werde leben können, ohne daß die Königin, die sehr fromm ist, Anstoß daran nimmt. Bist du einverstanden?‹

An meiner Einwilligung brauche er nicht zu zweifeln, denn ich betete ihn an. Sobald ich als Junge verkleidet war, reisten wir nach Bologna ab, wo wir mit Einbruch der Nacht ankamen. Nachdem er mit Bellinos Mutter um den Preis einer kleinen Summe Geldes alles vereinbart hatte, trat ich bei ihr ein, indem ich sie Mutter nannte, und sie umarmte mich und nannte mich ihren lieben Sohn. Salimbeni ließ uns allein und kehrte einige Augenblicke darauf mit dem Instrument zurück, das meine Umwandlung vollständig machen sollte. Er lehrte mich in Gegenwart meiner neuen Mutter, es mit Klebgummi zu befestigen, und ich fand mich nun meinem Freunde so ähnlich, daß jedermann sich hätte täuschen können. Dies würde mich belustigt haben, hätte mir nicht die plötzliche Abreise des angebeteten Wesens das Herz zerrissen; denn Salimbeni fuhr ab, sobald das eigentümliche Experiment gemacht worden war. Man spottet über Vorgefühle, und ich selber glaube nicht daran, aber die Ahnung, die ich in dem Augenblick hatte, wo er mich umarmte, hat mich nicht betrogen. Ich fühlte einen Todesschauer durch alle meine Glieder rinnen, ich glaubte ihn zum letztenmal zu sehen: ich sank in Ohnmacht. Ach! meine Ahnung war nur zu richtig gewesen. Salimbeni ist in ganz jugendlichem Alter vor einem Jahr in Tirol als wahrer Philosoph gestorben. Sein Verlust zwang mich, aus meinen Talenten Vorteil zu ziehen, um meinen Lebendunterhalt zu bestreiten. Meine Mutter riet mir, mich auch künftig hin für einen Kastraten auszugeben; sie hoffte mich auf diese Weise in Rom auf dem Theater auftraten lassen zu können. Ich erklärte mich einverstanden, denn mir fehlte der Mut, einen bestimmten Entschluß zu fassen. Inzwischen nahm sie für mich ein Engagement beim Theater zu Ancona an und bestimmte Petronio dazu, dort als Tänzerin aufzutreten. So bildeten wir also die verkehrte Welt. Nach Salimbeni bist du der einzige Mann, den ich gekannt habe; und wenn du willst, so steht es nur bei dir, mich meinem Frauenberuf zurückzugeben und mich den Namen Bellino ablegen zu lassen, den ich seit dem Tode meines Beschützers verabscheue, und der mir allerlei unangenehme Verdrießlichkeiten zu verursachen beginnt. Ich bin nur in zwei Theatern aufgetreten und jedesmal bin ich gezwungen gewesen, mich der schmachvollen und demütigenden Prüfung zu unterwerfen; denn man findet überall, ich gleiche zu sehr einem Mädchen, und will mich stets nur zulassen, nachdem man sich die Überzeugung vom Gegenteile verschafft hat. Bis jetzt habe ich zum Glück nur mit alten Priestern zu tun gehabt, die in gutem Glauben sich mit einer leichten Besichtigung begnügt und dem Bischof einen entsprechenden Bericht abgestattet haben; aber es kann der Fall eintreten, daß ich an einen jungen Priester gerate, und dann würde die Untersuchung viel gründlicher vorgenommen werden. Außerdem finde ich mich täglichen Verfolgungen von zwei Sorten Männern ausgesetzt: von denen, die wie du nicht glauben können, daß ich ein Mann sei, und von solchen, die, um einen widernatürlichen Geschmack zu befriedigen, sich Glück dazu wünschen, daß ich es sei, oder die zum mindesten ihre Rechnung dabei finden, mich für einen Kastraten gelten zu lassen. Besonders die letzteren belästigen mich. Ihre Leidenschaften sind so niederträchtig, ihre Gewohnheiten sind so gemein, daß ich in tiefster Seele darüber empört bin und daß ich fürchte, ich werde einmal eines Tages einen von ihnen erdolchen, wenn die lange verhaltene Wut über ihre schändlichen Anträge sich einen Ausweg sucht.

Um Gottes willen, mein Engel, wenn du mich lieb hast, sei edel! Befreie mich aus dem schimpflichen Zustande der Verworfenheit. Nimm mich mit dir! Ich verlange nicht deine Frau zu werden; das wäre zu viel des Glückes; ich will nur deine Freundin sein, wie ich Salimbenis Freundin gewesen wäre. Mein Herz ist rein; ich fühle mich für ein ehrenhaftes Leben geschaffen, in dem ich meinem Geliebten unverbrüchliche Treue halte. Verlaß mich nicht! Die Zärtlichkeit, die du mir eingeflößt hast, ist echt; meine Zärtlichkeit für Salimbeni war unschuldig und hatte ihre Ursachen nur in meiner Jugend und in meiner Dankbarkeit; wirklich zum Weibe geworden bin ich erst durch dich.«

Die zärtliche Rührung, mit der sie sprach, ein unbeschreiblicher Reiz, der ihren Lippen die Gabe der Überredung verlieh, ließen mich Tränen der Liebe und zärtlicher Teilnahme vergießen. Ich vermischte sie mit denen, die ihren schönen Augen entströmten, und versprach ihr tief gerührt aufrichtigen Herzens, sie nicht zu verlassen und ihr Schicksal mit dem meinen zu verbinden. Ihre höchst eigentümliche Geschichte machte auf mich den Eindruck vollkommener Wahrheit und es drängte mich wirklich, sie glücklich zu machen; nur konnte ich mich nicht überreden, daß ich ihr während des kurzen Aufenthaltes in Ancona wirklich eine ewige Neigung eingeflößt haben sollte, da im Gegenteil mehrere Auftritte in ihr nur flüchtige Wünsche erweckt haben konnten. Ich sagte daher zu ihr: »Wenn du mich wirklich geliebt hättest, wie hättest du dann dulden können, daß ich aus Verdruß über deinen Widerstand mich deinen Schwestern hingab?«

»Ach, lieber Freund! Bedenke unsere große Armut; bedenke, wie schwer es mir fallen mußte, mich zu entdecken. Ich liebte dich; aber mußte ich nicht denken, daß das Feuer, das du mir zeigtest, nur vorübergehende Glut einer Laune sei? Indem ich dich so leicht von Cecilia zu Mariuetta übergehen sah, glaubte ich, du würdest mich ebenso behandeln, sobald du deine Wünsche befriedigt hättest. Meine Meinung von deinem flatterhaften Charakter und Mangel an Zartgefühl wurde bestärkt, als ich sah, was du auf dem türkischen Schiff machtest, ohne dir durch meine Gegenwart einen Zwang auferlegen zu lassen. Sie würde dir peinlich gewesen sein, wenn du mich geliebt hättest. Ich habe gefürchtet, mich verachtet zu sehen; und Gott weiß, was ich gelitten habe. Du hast mich, lieber Freund, auf hundert verschiedene Arten beleidigt; trotzdem verteidigte ich dich bei mir selber, denn ich sah, daß du gereizt und nach Rache begierig warft. Hast du mich nicht heute im Wagen bedroht? Ich gestehe, du hast mir Furcht eingejagt; aber glaube nur nicht, daß Furcht mich bestimmt hat, deinem Verlangen nachzugehen. Nein, ich war dazu entschlossen seit dem Augenblick, wo du mir durch Cecilia sagen ließest, du würdest mich nach Rimini mitnehmen, und deine heutige Zurückhaltung während eines Teiles des Fahrt hat mich in meinem Entschluß bestärkt; denn ich habe geglaubt, mich deinem edlen Charakter ruhig überliefern zu können.«

»Gib doch«, rief ich, »dein Engagement in Rimini auf! Wir wollen weiter reisen, uns ein paar Tage in Bologna aufhalten, und von dort wirst du mit mir nach Venedig gehen; wenn du als Frau gekleidet bist und einen anderen Namen trägst, so will ich es ruhig darauf ankommen lassen; der Impresario der Oper von Rimini mag nur versuchen, dich ausfindig zu machen.«

»Einverstanden. Dein Wille wird stets der meine sein. Ich bin meine eigene Herrin, und ich ergebe mich dir rückhaltlos; mein Herz gehört dir, und ich hoffe, daß ich mir das deine werde zu erhalten wissen.«

Es lebt in dem Menschen ein Trieb, immer über das Ziel hinauszustreben, das er bereits erreicht hat. Ich hatte alles erlangt, jetzt wollte ich noch mehr. »Zeige mir,« sagte ich, »wie du warst, als ich dich für einen Mann hielt.« Sie stand auf, öffnete ihren Koffer, holte das nachgebildete Glied nebst Gummi hervor und befestigte es sich; ich mußte die Erfindung bewundern. Nachdem meine Neugierde befriedigt war, verbrachte ich in ihren Armen eine glückliche Nacht.

Als ich am Morgen erwachte, betrachtete ich ihr entzückendes Gesicht, während sie noch schlief. Jedes Wort des Mädchens, ihre Schönheit, ihre Gaben, ihre Feinheit der Seele, die Kraft ihres Gefühles und ihre Unglücksfälle, von denen ohne Zweifel der bitterste der war, daß sie ein anderes Wesen vorstellen mußte, wodurch sie der Erniedrigung und Schmach preisgegeben wurde – dies alles brachte mich zu dem Entschluß, ihr Schicksal an das meinige zu knüpfen, oder meines an das ihrige; denn unsere Lage war ungefähr die gleiche.

Da ich mich ernstlich mit dem liebenswürdigen Geschöpf verbinden wollte, so setzte ich meinen Gedankengang fort und entschloß mich, unserer Verbindung die Weihe der Gesetze und der Religion zu geben, und sie zu meiner rechtmäßigen Frau zu machen; denn nach meinen damaligen Begriffen konnte dieses unsere Zärtlichkeit und gegenseitige Achtung nur erhöhen und uns die Anerkennung der Gesellschaft sichern, die unser Band niemals hätte gesetzlich finden können, wenn wir es nicht dem geltenden Herkommen unterworfen hätten. Teresas Talent gab mir die Sicherheit, daß es uns niemals am Notwendigen fehlen könne, und obgleich ich nicht wußte, wozu meine eigenen Anlagen gut sein konnten, so verlor ich doch darum den Mut nicht. Unsere gegenseitige Liebe hätte Schaden leiden können, Teresa wäre mir zu weit überlegen gewesen, und mein Selbstgefühl würde zu sehr gelitten haben, hätte ich von den Früchten ihrer Arbeit leben sollen. Dadurch hätte im Laufe der Zeit die Natur unserer Gefühle sich ändern können; meine Frau würde sich vielleicht nicht mehr als empfangenden Teil angesehen haben und hätte sich vielleicht als Beschützerin statt als Beschützte gefühlt; und hätte ich das Unglück gehabt, eine solche Denkungsart bei ihr anzutreffen, so würde sich – das fühlte ich – meine Liebe in tiefe Verachtung verwandelt haben. Obgleich ich auf das Gegenteil hoffte, so hatte ich doch das Bedürfnis, ihren Charakter zu untersuchen, und ich beschloß, sie einer Probe zu unterwerfen, die mich in den Stand setzen würde, sie sofort bis auf den Grund ihrer Seele zu beurteilen. Daher hielt ich folgende Ansprache an sie, sobald sie erwacht war:

»Meine liebe Teresa, alle deine Worte lassen mir nicht den geringsten Zweifel an deiner Liebe; und daß du dich gewiß fühlst, meines Herzens Herrin geworden zu sein, macht mich vollends in dich verliebt, so daß ich bereit bin, alles zu tun, um dich zu überzeugen, daß du dich nicht getäuscht hast. Zunächst will ich dir zeigen, daß ich deines edlen Vertrauens würdig bin, indem ich dir mit gleicher Aufrichtigkeit die Geschichte meines eigenen Lebens anvertraue.

Unsere Herzen müssen einander vollkommen gleich gegenüberstehen. Ich kenne dich, meme Teresa, aber du kennst mich noch nicht. Ich lese in deinen Blicken, daß dies dir gleichgültig ist, und diese Hingebung bürgt mir für deine vollkommene Liebe; aber sie erhebt dich zu weit über mich, und ich will dir einen so großen Vorteil nicht lassen. Ich bin gewiß, daß dieses Vertrauen deiner Liebe nicht nötig ist, daß du nichts weiter verlangst als mir anzugehören, und daß du nur nach dem Besitz meines Herzens strebst. Dies alles ist recht schön, liebe Teresa, aber es würde mich in gleicher Weise demütigen, über dich erhoben oder unter dich herabgedrückt zu werden, wenn es auch nur scheinbar wäre. Du hast mir deine Geheimnisse anvertraut; höre jetzt die meinigen; zuvor aber versprich mir, daß du mir, wenn du alles erfahren hast, wahrheitsgemäß sagen wirst, wenn in deinen Gefühlen oder in deinen Hoffnungen sich das geringste geändert hat.«

»Ich schwöre dir, ich werde dir nichts verheimlichen ; sei aber du so ehrlich, mir keine falschen Geständnisse zu machen; denn ich sage dir voraus, sie würden dir zu nichts nützen; wenn du Listen anwenden würdest, um zu entdecken, ob ich deiner weniger würdig wäre, als es tatsächlich der Fall ist, so könntest du dich höchstens in meinen Augen um ein weniges herabsetzen. Ich möchte dich nicht schlauer Hinterlist gegen mich für fähig wissen. Sei meiner gewiß, wie ich mich deiner gewiß gezeigt habe: sage mir ohne Umschweife die Wahrheit.«

»So höre denn die Wahrheit: Zunächst hältst du mich für reich, und das bin ich nicht; sobald meine Börse leer ist, werde ich nichts mehr haben. Ferner glaubst du vielleicht, ich sei von hoher Geburt, und in Wirklichkeit bin ich von geringerem Stande als du, oder höchstens von gleichem. Ich besitze kein gewinnbringendes Talent, ich habe keine Anstellung, ja ich habe nicht einmal eine Aussicht, um gewiß zu sein, daß ich in einigen Monaten meinen Lebensunterhalt haben werde. Ich habe weder Eltern noch Freunde, habe keinen Anspruch irgendwelcher Art, ja nicht einmal einen festen Lebensplan. Mit einem Wort, ich habe weiter nichts als Jugend, Gesundheit, Mut, ein bißchen Geist, ehrenhafte und rechtschaffene Gesinnung und beherrsche einige Anfangsgründe guter Literatur. Mein größter Schatz ist, daß ich mein eigener Herr bin, daß ich von niemandem abhänge und daß ich keine Furcht vor dem Unglück habe. Außerdem neige ich zur Verschwendung. Schöne Teresa, so ist dein Mann. Jetzt antworte!«

»Vor allen Dingen, lieber Freund, sei fest überzeugt, daß ich dir buchstäblich alles glaube, was du mir gesagt hast; sodann aber wisse, daß ich in gewissen Augenblicken in Ancona dich als einen solchen beurteilt habe, wie du dich jetzt schilderst; aber diese Ahnung deines Wesens war mir durchaus nicht peinlich, sondern ich fürchtete im Gegenteil, mich zu täuschen. Denn wenn du so warst, wie ich annahm, so durfte ich hoffen, daß mir dann deine Eroberung gelingen würde. Kurz und gut, mein Freund, da du wirklich arm bist und mit deinem Gelde leichtsinnig umgehst, so gestatte mir, dir zu versichern, daß mich dies freut; denn in diesem Fall wirst du, da du mich liebst, nicht das Geschenk verschmähen, das ich dir machen will. Dieses Geschenk besteht in mir, so wie ich bin und mit all meinen Gaben. Ich überliefere mich dir ohne jeden Rückhalt; ich bin dein und werde für dich sorgen. Denke in Zukunft nur daran, mich zu lieben; aber liebe mich einzig und allein. Von diesem Augenblick an bin ich nicht mehr Bellino. Laß uns nach Venedig gehen, wo mein Talent mir und dir den Unterhalt verschaffen wird; willst du aber anderswo hin, so gehen wir, wohin du willst.«

»Ich muß nach Konstantinopel gehen.«

»Gehen wir dorthin! Wenn du fürchtest, mich durch Unbeständigkeit zu verlieren, so heirate mich, und deine Rechte auf mich werden durch die Gesetze gestärkt sein. Ich werde dich darum nicht zärtlicher lieben; aber es wird mir angenehm sein, deine Gattin heißen zu dürfen.«

»Ich habe diese Absicht gehabt, und ich bin entzückt, daß du sie teilst. Übermorgen, keinen Tag später, wirst du in Bologna vor dem Altar meinen Treuschwur empfangen, wie ich ihn jetzt hier in den Armen der Liebe dir schwöre. Ich will, daß du mein bist, daß wir einander durch alle nur denkbaren Bande verknüpft angehören.«

»Ich bin über alle Maßen glücklich! Wir haben in Rimini nichts zu tun; laß uns nicht aufstehen; wir werden im Bett speisen, und morgen werden wir gut ausgeruht weiterreisen.«

Am nächsten Tage setzten wir unsere Reise fort und machten in Pesaro halt, um zu frühstücken. Im Augenblick, wo wir wieder in den Wagen steigen wollten, kam ein Unteroffizier mit zwei Füsilieren, fragte nach unseren Namen und verlangte unsere Pässe. Bellino gibt ihm seinen, ich aber suche vergeblich nach dem meinigen; ich finde ihn nicht.

Der Korporal befiehlt dem Postkutscher zu warten und geht fort, um seinen Bericht zu machen. Nach einer halben Stunde kommt er mit Bellinos Paß zurück und sagt ihm, er könne weiterreisen; mir aber bedeutet er, er habe Befehl, mich zum Kommandanten zu führen. Ich gehorche.

»Was haben Sie mit Ihrem Paß gemacht?« fragt mich der Offizier.

»Ich habe ihn verloren.«

»Einen Paß verliert man nicht.«

»Man verliert ihn; denn ich habe ihn verloren.«

»Sie werden nicht weiterreisen.«

»Ich komme von Rom und gehe nach Konstantinopel, um einen Brief vom Kardinal Acquaviva zu überbringen. Hier ist der Brief mit seinem Wappensiegel.«

»Alles, was ich für Sie tun kann, ist, daß ich Sie zu Herrn de Gages führen lasse.«

Ich fand den berühmten Feldherrn inmitten seines Generalstabes stehen. Nachdem ich ihm alles vorgetragen hatte, was ich bereits dem Kommandanten gesagt hatte, bat ich ihn, mich meine Reise fortsetzen zu lassen.

»Ich kann Ihnen nur die Gnade bewilligen, Sie in Arrest zu schicken, bis aus Rom unter dem von Ihnen angegebenen Namen ein neuer Paß für Sie ankommt. Das Unglück, einen Paß zu verlieren, stößt nur einem Leichtfuß zu, und der Kardinal wird daraus die Lehre ziehen, einem Leichtfuß keine Aufträge anzuvertrauen.«

Hierauf befahl er, mich nach dern Wachtposten Santa Maria vor der Stadt zu führen, nachdem ich vorher meinen Brief an den Kardinal geschrieben hätte, um einen neuen Paß zu erhalten. Seine erhabenen Befehle wurden ausgeführt. Zunächst führte man mich nach dem Wirtshaus zurück; dort schrieb ich meinen Brief, den ich durch reitenden Boten an Seine Eminenz schickte. Ich bat den Kardinal flehentlich, mir unverzüglich direkt an das Kriegsbureau in Pesaro einen Paß zu schicken. Hierauf umarmte ich Teresa, die über dieses Mißgeschick untröstlich war, bat sie, mich in Rimini erwarten zu wollen, und nötigte sie, hundert Zechinen von mir anzunehmen. Sie wollte in Pesaro bleiben; dem widersetzte ich mich; und nachdem ich meinen Koffer hatte abladen lassen, sah ich sie abfahren und ließ mich an den Ort bringen, den der große General mir angewiesen hatte. Sehr weh tat mir Teresas Schmerz; sie war fast erstickt von dem Bemühen, ihre Tränen zurückzuhalten, als sie mich gerade im Augenblick unserer Vereinigung ihren Armen entrissen sah. Sie würde mich nicht verlassen haben, hätte ich ihr nicht klar gemacht, daß sie in Pesaro nicht bleiben könnte, und hätte ich sie nicht überzeugt, daß ich in zehn Tagen wieder bei ihr sein würde, um sie niemals mehr zu verlassen. Aber das Schicksal hatte anders bestimmt.

In Santa Maria ließ der wachhabende Offizier mich sofort in die Wachstube bringen, wo ich mich auf meinen Koffer setzte. Er war ein schweigsamer Katalonier, der mich nicht einmal einer Antwort würdigte, als ich ihm sagte, ich hätte Geld, und ihn bat, jemanden zur Bedienung zuzuweisen. Ich erhielt nichts zu essen und mußte die Nacht auf einem bißchen Stroh inmitten katalonischer Soldaten verbringen. Dies war die zweite Nacht, die das Schicksal mich auf solche Weise verbringen ließ, nachdem ich vorher zwei köstliche Nächte genossen hatte. Ohne Zweifel machte mein Schutzgeist sich den Spaß, mich zu meiner Belehrung solche Vergleiche anstellen zu lassen. Jedenfalls ist eine solche Schule von unfehlbarer Wirkung auf Charaktere von gewisser Anlage.

Willst du einem sogenannten Philosophen den Mund stopfen, wenn er dir sagt, in unserem Leben sei die Summe der Leiden größer als die der Freuden, so frage ihn nur, ob er ein Leben haben wolle, worin es weder die einen noch die anderen gebe. Er wird dir nicht antworten oder er wird Ausflüchte machen; denn wenn er die Frage verneint, so liebt er das Leben so wie es ist, und wenn er es liebt, so findet er es also angenehm; angenehm aber könnte es nicht sein, wenn es lästig wäre. Wenn er aber die Frage bejaht, so gesteht er, daß er ein Dummkopf ist, denn dann muß er das Vergnügen in der Gleichgültigkeit erblicken, und das ist Unsinn.

Leiden ist untrennbar verbunden mit der menschlichen Natur; aber wir werden niemals leiden, ohne Hoffnung auf Heilung zu hegen, oder zum mindesten kann dieser Fall nur sehr selten vorkommen; Hoffnung aber ist eine Freude. Wenn zuweilen vielleicht ein Mensch ohne Hoffnung auf Genesung leidet, so muß die unfehlbare Zuversicht, daß sein Leben einmal ein Ende haben wird, eine Freude sein; denn auf alle Fälle ist das schlimmste, was uns widerfahren kann, ein Schlaf der Ermattung, während dessen uns glückliche Träume trösten, oder der Verlust der Empfindung; aber wenn wir genießen, dann stört uns niemals der Gedanke, daß auf unsere Freude Leid folgen werde. Die Freude ist also immer rein, wenn sie sich betätigt; das Leid ist immer gemildert.

Ich nehme an, lieber Leser, du bist zwanzig Jahr alt und gerade dabei, ein Mann zu werden, indem du deinen Geist mit den Kenntnissen ausstattest, die durch die Arbeit deines Gehirns dich zu einem nützlichen Wesen machen werden. Der Rektor tritt ein und sagt dir: ich bringe dir dreißig Lebensjahre – dies ist der unwandelbare Beschluß des Schicksals; fünfzehn aufeinanderfolgende Jahre sollen glücklich sein, die anderen fünfzehn Unglück. Du hast freie Wahl, mit welcher Hälfte du beginnen willst.

Gestehe, lieber Leser, du wirst nicht lange nachzudenken brauchen, um dich zu entscheiden, und du wirst mit den Leidensjahren beginnen; denn du wirst fühlen, daß die Aussicht auf fünfzehn köstliche Jahre dir unfehlbar die nötige Kraft geben wird, um die Schmerzensjahre zu ertragen; wir werden sogar mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit annehmen können, daß die Erwartung eines gesicherten Glücks die Dauer der Leiden in gewisser Weise mildern wird.

Ich bin überzeugt, du hast bereits erraten, worauf ich hinaus will. Glaube mir, ein Weiser kann niemals ganz unglücklich sein; und ich glaube gerne meinem Freunde Horaz, der im Gegenteil sagt, er sei immer glücklich: nisi quum pituita molesta est – wenn nicht der Katarrh beschwerlich wird. Aber welcher Mensch hätte wohl beständig Katarrh?

Tatsache ist, daß diese scheußliche Nacht, die ich in Santa Maria vor Pesaro verbrachte, mir wenig Verlust und viel Gewinn brachte. Der kleine Verlust bestand darin, daß ich meine liebe Teresa entbehren mußte; da ich aber gewiß war, sie in zehn Tagen wiederzusehen, so war dies ein geringes Unglück; der Gewinn dagegen bestand in Mehrung meiner Lebenskenntnisse, die die wahre Schule des Menschen ist. Ich verdankte ihr ein völliges System gegen die Unbesonnenheit, ein System der Umsicht. Es ist hundert gegen eins zu wetten, daß ein junger Mensch, der einmal seine Börse oder seinen Paß verloren hat, niemals wieder weder die eine noch den anderen verlieren wird. Diese beiden Unglücksfälle sind mir zugestoßen, jeder ein einziges Mal, und sie hätten mir oft zustoßen können, hätte ich nicht die beständige Furcht davor gehabt. Ein echter Leichtfuß aber hat nicht das Wort Furcht in seinem Lebenslexikon.

Der Offizier, der am nächsten Tage meinen bärbeißigen Katalonier ablöste, schien mir von ganz anderer Art zu sein: Er hatte ein freundliches Gesicht, das mir gefiel. Er war Franzose, und ich muß bei dieser Gelegenheit bemerken, daß die Franzosen mir immer gefallen haben und die Spanier niemals; denn in den Manieren der einen ist etwas so Zuvorkommendes, so Liebenswürdiges, daß man sich zu ihnen hingezogen fühlt wie zu alten Bekannten; den anderen gibt eine Miene übelangebrachten Stolzes einen gewissen abstoßenden Ausdruck, der nicht zu ihren Gunsten einnimmt. Indessen bin ich mehr als einmal von Franzosen betrogen worden, niemals aber von Spaniern. Hüten wir uns vor unseren Neigungen!

Der Offizier trat mit edlem, höflichem Anstand auf mich zu und fragte: »Welchem Zufall, Herr Abbate, verdanke ich die Ehre, Sie in meiner Obhut zu haben?«

Solch ein Stil gibt den Lungen ihre ganze Spannkraft wieder!

Ich erzählte ihm lang und hreit mein ganzes Mißgeschick. Er fand es komisch; aber ein Charakter, der mein Pech lächerlich fand, konnte mir nicht mißfallen; denn ich ahnte, daß er mehr als einen Berührungspunkt mit meiner eigenen Denkweise haben werde. Er gab mir sofort einen Soldaten zu meiner Bedienung, und bald hatte ich ein Bett, Stühle und einen Tisch. Sein Zartgefühl ging sogar so weit, daß er mein Bett in sein Zimmer stellen ließ – eine Freundlichkeit, gegen die ich nicht unempfindlich war.

Nachdem er mich höflich eingeladen hatte, an seinem Mittagessen teilzunehmen, schlug er mir eine Partie Pikett vor. Aber schon gleich im Anfang unseres Spieles machte er mich darauf aufmerksam, daß er mir überlegen sei, und sagte mir, der Offizier, der ihn ablösen werde, spiele noch besser als er; ich verlor drei oder vier Dukaten. Zum Schluß riet er mir, am nächsten Tage mich des Spieles zu enthalten; ich befolgte seinen Rat. Auch sagte er mir, es werde zum Abendessen Besuch bekommen; nach der Mahlzeit werde man Pharao spielen, aber der Bankhalter sei ein Grieche, ein feiner Spieler; ich dürfe daher nicht spielen. Ich fand diesen Rat sehr zartfühlend, besonders als ich sah, daß alle Mitspieler verloren und daß der Grieche, unbekümmert um das Schimpfen der Betrogenen, seelenruhig sein Geld in die Tasche steckte, nachdem er dem wachhabenden Offizier, der an der Bank beteiligt war, seinen Anteil ausgezahlt hatte.

Dieser Bankhalter nannte sich Don Bepe il Cadetto, und an seiner Aussprache erkannte ich ihn als Neapolitaner. Ich teilte meine Beobachtungen dem Offizier mit und fragte ihn, warum er mir gesagt habe, daß er Grieche sei. Er erklärte mir, daß dieser Ausdruck einen Falschspieler bedeute, und die Belehrung, womit er seine Erklärung begleitete, war mir für die Folge sehr nützlich.

Während der folgenden fünf Tage war mein Leben eintönig und ziemlich trübselig; am sechsten Tage aber bezog wieder der Franzose den Wachtposten; ich sah ihn mit Vergnügen kommen. Er sagte mir lachend, er sei entzückt, mich wieder zu finden, und ich nahm das Kompliment für das, was es war. Am Abend fand das gleiche Spiel statt, und mit demselben Ergebnis, abgesehen davon, daß einer der Mitspieler dem Buchhalter einen kräftigen Stockhieb über den Rücken gab, den der Grieche mit stoischem Gleichmut unbeachtet ließ. Neun Jahre später sah ich dasselbe Individuum als Kapitän im Dienste Maria Theresias in Wien wieder; er nannte sich damals d’Afflissio. Zehn Jahre darauf sah ich ihn als Obersten wieder, und kurze Zeit darauf als Millionär; endlich aber habe ich ihn vor dreizehn oder vierzehn Jahren als Galeerensträfling gesehen. Er war hübsch; komischerweise aber hatte er trotz seiner Schönheit eine Galgenphysiognomie. Ich habe andere Gesichter von derselben Sorte gesehen: Cagliostro z. B. und einen anderen, der noch nicht auf den Galeeren ist, ihnen aber nicht entrinnen wird. Wenn der Leser neugierig ist, will ich ihm den Namen ins Ohr sagen.

Etwa am neunten oder zehnten Tage war ich in der ganzen Armee bekannt und beliebt; ich wartete immer noch auf meinen Paß, dessen Eintreffen mir aber unfehlbar bald gemeldet werden mußte. Ich war beinahe frei und ging sogar außer Sehweite der Schildwache spazieren. Man hatte recht, daß man meine Flucht nicht befürchtete, denn es wäre sehr töricht von mir gewesen, daran zu denken. Unversehens jedoch hatte ich das sonderbarste Erlebnis, das mir in meinem ganzen Leben zugestoßen ist.

Es war sechs Uhr in der Früh. Ich ging etwa hundert Schritt von der Schildwache spazieren, als ein Offizier herangeritten kam, vom Pferde stieg, demselben den Zügel auf den Hals legte und sich entfernte, um ein Bedürfnis zu verrichten. Ich bewunderte die Gelehrigkeit des Pferdes, denn es stand da wie ein treuer Diener, dem sein Herr befohlen hätte, auf ihn zu warten. Ich trat an das Tier heran, nahm, ohne mir etwas dabei zu denken, den Zügel in die Hand, setzte den Fuß in den Steigbügel und – eins, zwei, drei war ich im Sattel

Es war das erstemal in meinem Leben, daß ich zu Pferde saß. Ich weiß nicht, ob ich es vielleicht mit meinem Stock oder mit dem Absatz berührte, genug, plötzlich ging das Tier in voller Karriere durch. Ich umklammerte es mit meinen Absätzen, da mein rechter Fuß den Steigbügel verloren hatte; das Pferd wurde wild, ich wußte nicht, wie ich es zum Stehen bringen sollte, und es lief immer schneller. Der letzte Vorposten ruft mir zu, ich solle halten; ich kann dem Befehl nicht nachkommen, da das Perd wie der Wind davonsaust; endlich höre ich einige Kugeln pfeifen, die ich meinem unfreiwilligen Ungehorsam verdanke. Beim ersten Vorposten der Österreicher hält man endlich mein Pferd an, und ich danke Gott, daß ich absteigen kann.

Ein Husarenoffizier fragt mich, wohin ich so eilig reite; mein Wort ist schneller als mein Gedanke, und ich antworte unwillkürlich, darüber werde ich nur dem Fürsten Lobkowitz Rechenschaft ablegen; dies war der Kommandierende der Armee, dessen Hauptquartier sich in Rimini befand. Infolge meiner Antwort läßt der Offizier zwei Husaren aufsitzen, man befiehlt mir, ein drittes Pferd zu besteigen, und bringt mich im Galopp nach Rimini, wo der wachhabende Offizier mich sofort vor den Fürsten führen läßt.

Ich finde Seine Hoheit allein und erzähle ihm ganz einfach alles, was mir passiert ist. Meine Erzählung brachte ihn zum Lachen; doch sagte er, dies alles wäre wenig glaubhaft. »Ich müßte Sie, Herr Abbate, in Arrest setzen lassen; aber ich will Ihnen diese Unannehmlichkeit ersparen.« Hierauf rief er einen seiner Adjutanten und befahl ihm, mich bis vor das Cesenische Tor zu begleiten. »Von dort«, fuhr er zu mir gewandt fort, »können Sie gehen, wohin Sie wollen; aber nehmen Sie sich in acht, daß Sie nicht ohne Paß zu meiner Armee zurückkehren; denn das könnte Ihnen übel bekommen.« Ich bat ihn, mir das Pferd zurückgeben zu lassen; er antwortete mir, es gehöre mir nicht. Ich vergaß, ihn zu bitten, mich dorthin zurückzuschicken, wo ich hergekommen war, und meine Vergeßlichkeit ärgerte mich; doch war es im Grunde vielleicht gut so.

Der Offizier, der mit meiner Begleitung beauftragt war, fragte mich, als wir an einem Kaffeehaus vorüberkamen, ob ich eine Tasse Schokolade trinken wollte, und wir traten ein. Ich sah Petronio vorübergehen, benutzte einen Augenblick, wo der Offizier mit einem Bekannten sprach, und befahl dem Knaben, er solle so tun, als ob er mich nicht kenne, und solle nur sagen, wo sie wohnten. Als wir die Schokolade getrunken hatten, bezahlte der Offizier und wir gingen weiter. Unterwegs plauderten wir, er nannte mir seinen Namen, und ich sagte ihm den meinigen und erzählte ihm, wie ich nach Rimini gekommen sei. Er fragte mich, ob ich mich einige Zeit in Ancona aufgehalten hätte, und als ich diese Frage bejahte, sagte er mir lächelnd, ich könnte in Bologna einen Paß nehmen, ohne Besorgnis nach Rimini und Pesaro zurückkehren und mir meinen Koffer wieder verschaffen, indem ich dem spanischen Offizier das durchgegangene Pferd zahlte. Am Tor wünschte er mir gute Reise, und wir trennten uns.

Ich sah mich frei, im Besitze von Gold- und Schmucksachen, aber ohne meinen Koffer. Teresa war in Rimini, und es war mir verboten, dorthin zurückzukehren. Ich beschloß, mich schnell nach Bologna zu begeben, mir einen Paß ausstellen zu lassen und nach Pesaro zurückzukehren, wo inzwischen ohne Zweifel mein römischer Paß eintreffen mußte, denn ich konnte mich nicht entschließen, meinen Koffer zu verlieren, und ich wollte nicht Teresa bis zum Ende ihres Engagements bei dem Operndirektor von Rimini entbehren.

Es regnete; ich war in Seidenstrümpfen, und da ich ein schlechter Fußgänger war, so brauchte ich einen Wagen. Ich stellte mich unter eine Kirchentür, um das Aufhören des Regens abzuwarten, und drehte meinen schönen Überrock um, um nicht als Abbate erkannt zu werden. Ein Bauer kam vorbei; ich fragte ihn, ob er wohl einen Wagen hätte, um mich nach Cesena zu bringen.

»Ich habe einen, Herr,« antwortete er mir, »aber er ist eine halbe Meile von hier.«

»Hole ihn und komm damit hierher; ich werde auf dich warten.«

Während ich auf die Rückkehr des Bauern mit dem Wagen warte, kommt eine Karawane von vierzig beladenen Maultieren, die nach Rimini hineingetrieben werden. Es regnete immer noch; die Maultiere kamen ganz dicht an mir vorüber; ich legte mechanisch einem von ihnen den Arm um den Hals, folgte dem langsamen Schritt der Tiere und kam wieder nach Rimini hinein, ohne daß man im geringsten auf mich achtete; nicht einmal die Treiber bemerkten mich. Ich gab dem ersten Gassenjungen, dem ich begegnete, ein Geldstück und ließ mich nach Teresas Wohnung führen.

Ich hatte meine Haare mit einer Nachtmütze gedeckt, die Hutkrempe heruntergeschlagen, meinen schönen Spazierstock unter meinem Überzieher verborgen; so sah ich nach nichts aus. Ich fragte nach Bellinos Mutter, und die Hauswirtin führte mich in ein Zimmer, wo ich die ganze Familie besammen fand; Teresa trug Frauenkleider. Ich gedachte, sie zu überraschen; da aber Petronio ihnen schon von mir erzählt hatte, so erwarteten sie mich. Ich erzählte meine Geschichte; Teresa aber erschrak ob der Gefahr, der ich mich aussetzte, und sagte mir trotz ihrer Liebe, ich müßte unbedingt nach Bologna gehen, wie Herr Vais mir geraten habe. »Ich kenne diesen Offizier,« sagte sie, »er ist ein Ehrenmann, aber er kommt jeden Abend hierher, und du mußt dich verstecken.« Es war erst acht Uhr in der Früh, wir hatten den ganzen Tag vor uns, und alle versprachen, verschwiegen zu sein. Ich beruhigte Teresa, indem ich ihr versicherte, ich würde leicht ein Mittel finden, unbemerkt aus der Stadt heraus zu gelangen. Teresa führte mich in ihr Zimmer und erzählte mir, sie sei auf der Reise nach Rimini unterwegs ihrem Direktor begegnet; er habe sie in die für sie und ihre Familie bestimmte Wohnung gebracht; sie habe ihm erklärt, sie sei Mädchen und wolle nicht für einen Kastraten gelten; dem Direktor sei das ganz recht gewesen, weil Rimini zu einer anderen Legation gehöre als Ancona und Frauen hier auf der Bühne auftreten könnten. Zum Schluß sagte sie mir, sie sei nur bis Anfang Mai verpflichtet und werde überall hinkommen, wo ich auf sie warten wollte.

»Sobald ich einen Paß habe,« sagte ich ihr, »wird nichts mich hindern können, so lange bei dir zu bleiben, bis du frei bist. Aber sage mir doch: Herr Vais verkehrt ja bei dir; hast du ihm nicht gesagt, ich hätte mich einige Tage in Ancona aufgehalten?« »Jawohl; ich habe ihm sogar gesagt, daß man dich arretiert hat, weil du deinen Paß verloren hast.«

Nun begriff ich, warum der Offizier gelächelt hatte, als er mir seinen Rat gab.

Nach dieser wichtigen Unterhaltung empfing ich die Komplimente der Mutter und der beiden jüngeren Schwestern; doch fand ich diese letzteren weniger lustig und weniger offenherzig als in Ancona. Sie fühlten, daß Bellino jetzt als Teresa eine zu gefährliche Nebenbuhlerin war. Ich hörte geduldig alle Klagelieder der Mutter an; sie behauptete, Teresa habe ihr Glück aufgegeben, indem sie die schöne Kastratenrolle aufgegeben; denn in Rom hätte sie jährlich tausend Zechinen verdienen können. »In Rom, meine gute Frau,« sagte ich ihr, »wäre der falsche Bellino entlarvt und Teresa wäre in ein elendes Kloster eingesperrt worden; und dazu ist sie nicht geschaffen.«

Trotz der gefährlichen Lage, in der ich mich befand, verbrachte ich den ganzen Tag im Beisammensein mit meiner Liebsten, und es kam mir vor, als entdeckte ich in jedem Augenblick an ihr neue Reize und an mir mehr Liebe. Um acht Uhr abends hörten wir jemanden kommen; sie ließ mich allein, und ich blieb im Dunkeln; doch konnte ich alles sehen und hören. Ich sah den Baron Vais eintreten, und Teresa reichte ihm ihre Hand zum Kuß mit der Anmut einer hübschen Frau und mit der ganzen Würde einer Fürstin. Das erste, was er ihr sagte, war die Nachricht über mich; sie tat, als freute sie sich darüber, und hörte mit gleichgültiger Miene zu, als er ihr erzählte, er habe mir geraten, mit einem Paß zurückzukehren. Er verbrachte eine Stunde mit ihr, und ich fand Teresa bewunderungswürdig in ihrem Verhalten wie in ihren Manieren; mit einem Wort, sie benahm sich so, daß ich nicht den kleinsten Anlaß zur Eifersucht hätte entdecken können. Mariana leuchtete dem Offizier, als er fortging, und Teresa begab sich zu mir. Wir speisten fröhlich miteinander, und im Augenblick, wo wir uns zu Bett legen wollten, kam Petronio und sagte mir, sechs Maultiertreiber sollten zwei Stunden vor Tagesanbruch nach Cesena abgehen; wenn ich eine Viertelstunde vorher zu ihnen ginge und ihnen ein Trinkgeld gäbe, könnte ich ganz gewiß ohne Schwierigkeit aus der Stadt herauskommen. Dieser Meinung war auch ich, und ich entschloß mich, das Abenteuer zu versuchen; ich bat ihn, nicht zu Bett zu gehen, damit er mich zur rechten Zeit weckte. Es wäre nicht nötig gewesen, denn ich war schon vor der Zeit fertig. Ich verließ Teresa, fest überzeugt von meiner Liebe und Treue, aber ein wenig unruhig wegen meines Herauskommens aus Rimini. Sie hatte noch sechzig Zechinen und wollte mich nötigen, diese zurückzunehmen; ich fragte sie aber, was sie wohl von mir denken würde, wenn ich sie nähme, und es war nicht mehr die Rede davon.

Ich ging nach dem Stall, gab einem Maultiertreiber ein Trinkgeld und sagte ihm, ich möchte gerne auf einem seiner Maultiere bis Sarignano reiten. »Das können Sie tun,« sagte mir der gute Mann, »aber es wäre besser, wenn Sie erst vor der Stadt aufstiegen und das Tor zu Fuß passierten, wie wenn Sie ein Treiber wären.« Das wollte ich ja gerade. Petromo begleitete mich bis ans Tor, wo ich ihm ein reichliches Zeichen meiner Dankbarkeit gab. Ich kam ohne die geringste Schwierigkeit hinaus und verließ die Maultiertreiber in Sarignano, von wo ich mit der Post nach Bologna fuhr. Bald sah ich, daß es mir unmöglich sein würde, einen Paß zu erhalten, schon deshalb, weil man mir sagte, ich brauchte keinen; damit hatten sie allerdings unter gewöhnlichen Umständen recht; ich aber wußte, daß das Gegenteil der Fall war, und es lag mir nichts daran, sie ins Geheimnis zu ziehen. Ich entschloß mich, an den französischen Offizier zu schreiben, der mich auf der Wache von Santa Maria so höflich behandelt hatte; ich bat ihn, sich auf dem Kriegssekretariat zu erkundigen, ob mein Paß noch nicht gekommen wäre, und, wenn dies der Fall wäre, ihn mir zu schicken. Ich bat ihn ferner, sich nach dem Besitzer des mit mir durchgegangenen Pferdes zu erkundigen; denn ich fand es nicht mehr als recht und billig, diesem seinen Schaden zu ersetzen. Auf alle Fälle beschloß ich, Teresa in Bologna zu erwarten, und ich teilte ihr dies mit, indem ich sie bat, mir sehr oft zu schreiben. Der Leser wird sehen, was fur einen neuen Entschluß ich noch am selben Tage faßte.

5

Es war vier Uhr morgens, als er die Treppe zu seiner Wohnung hinaufschritt. Er begab sich vor allem in sein Sprechzimmer, verschloß das Maskengewand sorgfältig in einen Schrank, und da er es vermeiden wollte, Albertine zu wecken, legte er Schuhe und Kleider ab, noch ehe er ins Schlafzimmer trat. Vorsichtig schaltete er das gedämpfte Licht seiner Nachttischlampe ein. Albertine lag ruhig, die Arme im Nacken verschlungen, ihre Lippen waren halb geöffnet, schmerzliche Schatten zogen rings um sie; es war ein Antlitz, das Fridolin nicht kannte. Er beugte sich über ihre Stirne, die sich sofort, wie unter einer Berührung, in Falten legte, ihre Mienen verzerrten sich sonderbar; und plötzlich, immer noch im Schlafe, lachte sie so schrill auf, daß Fridolin erschrak. Unwillkürlich rief er sie beim Namen. Sie lachte von neuem, wie zur Antwort, in einer völlig fremden, fast unheimlichen Weise. Nochmals und lauter rief Fridolin sie an. Nun öffnete sie die Augen, langsam, mühselig, groß, blickte ihn starr an, als erkenne sie ihn nicht.

»Albertine!« rief er zum dritten Male. Nun erst schien sie sich zu besinnen. Ein Ausdruck der Abwehr, der Furcht, ja des Entsetzens trat in ihr Auge. Sie streckte die Arme empor, sinnlos und wie verzweifelt, ihr Mund blieb geöffnet.

»Was ist dir?« fragte Fridolin stockenden Atems. Und da sie ihn immer noch wie mit Entsetzen anstarrte, fügte er wie beruhigend hinzu: »Ich bin’s, Albertine.« Sie atmete tief, versuchte ein Lächeln, ließ die Arme auf die Bettdecke sinken, und wie aus der Ferne fragte sie: »Ist es schon Morgen?«

»Bald«, erwiderte Fridolin. »Vier Uhr vorüber. Eben erst bin ich nach Hause gekommen.« Sie schwieg. Er fuhr fort: »Der Hofrat ist tot. Er lag schon im Sterben, als ich kam, – und ich konnte natürlich – die Angehörigen nicht gleich allein lassen.«

Sie nickte, schien ihn aber kaum gehört oder verstanden zu haben, starrte wie durch ihn hindurch ins Leere, und ihm war – so unsinnig ihm selbst der Einfall im gleichen Augenblick erschien, als müßte ihr bekannt sein, was er in dieser Nacht erlebt hatte. Er neigte sich über sie und berührte ihre Stirn. Sie erschauerte leicht.

»Was ist dir?« fragte er wieder.

Sie schüttelte nur langsam den Kopf. Er strich ihr über die Haare. »Albertine, was ist dir?«

»Ich habe geträumt«, sagte sie fern.

»Was hast du denn geträumt?« fragte er mild.

»Ach, so viel. Ich kann mich nicht recht besinnen.«

»Vielleicht doch.«

»Es war so wirr – und ich bin müde. Und du mußt doch auch müde sein?«

»Nicht im geringsten, Albertine, ich werde kaum mehr schlafen. Du weißt ja, wenn ich so spät nach Hause komme – das Vernünftigste wäre eigentlich, ich setzte mich sofort an den Schreibtisch – gerade in solchen Morgenstunden – –« Er unterbrach sich. »Aber willst du mir nicht doch lieber deinen Traum erzählen?« Er lächelte etwas gezwungen.

Sie antwortete: »Du solltest dich doch noch ein wenig hinlegen.«

Er zögerte eine Weile, dann tat er nach ihrem Wunsch und streckte sich an ihrer Seite aus. Doch er hütete sich, sie zu berühren. Ein Schwert zwischen uns, dachte er in der Erinnerung an eine halb scherzhafte Bemerkung gleicher Art, die einmal bei ähnlicher Gelegenheit von seiner Seite gefallen war. Sie schwiegen beide, lagen mit offenen Augen, fühlten gegenseitig ihre Nähe, ihre Ferne. Nach einer Weile stützte er den Kopf auf seinen Arm, betrachtete sie lange, als vermöchte er mehr zu sehen als nur die Umrisse ihres Antlitzes.

»Deinen Traum!« sagte er plötzlich noch einmal, und es war, als hätte sie diese Aufforderung nur erwartet. Sie streckte ihm eine Hand entgegen; er nahm sie, und gewohnheitsmäßig, mehr zerstreut als zärtlich, hielt er wie spielend ihre schlanken Finger umklammert. Sie aber begann:

»Erinnerst du dich noch des Zimmers in der kleinen Villa am Wörthersee, wo ich mit den Eltern im Sommer unserer Verlobung gewohnt habe?«

Er nickte.

»So fing der Traum nämlich an, daß ich in dieses Zimmer trat, ich weiß nicht woher – wie eine Schauspielerin auf die Szene. Ich wußte nur, daß die Eltern sich auf Reisen befanden und mich allein gelassen hatten. Das wunderte mich, denn morgen sollte unsere Hochzeit sein. Aber das Brautkleid war noch nicht da. Oder irrte ich mich vielleicht? Ich öffnete den Schrank, um nachzusehen, da hingen statt des Brautkleides eine ganze Menge von anderen Kleidern, Kostüme eigentlich, opernhaft, prächtig, orientalisch. Welches soll ich denn nur zur Hochzeit anziehen? dachte ich. Da fiel der Schrank plötzlich wieder zu oder war fort, ich weiß nicht mehr. Das Zimmer war ganz hell, aber draußen vor dem Fenster war finstere Nacht… Mit einem Male standest du davor, Galeerensklaven hatten dich hergerudert, ich sah sie eben im Dunkel verschwinden. Du warst sehr kostbar gekleidet, in Gold und Seide, hattest einen Dolch mit Silbergehänge an der Seite und hobst mich aus dem Fenster. Ich war jetzt auch herrlich angetan, wie eine Prinzessin, beide standen wir im Freien im Dämmerschein, und feine graue Nebel reichten uns bis an die Knöchel. Es war die wohlvertraute Gegend: dort war der See, vor uns die Berglandschaft, auch die Landhäuser sah ich, sie standen da wie aus einer Spielzeugschachtel. Wir zwei aber, du und ich, wir schwebten, nein, wir flogen über die Nebel hin, und ich dachte: Dies ist also unsere Hochzeitsreise. Bald aber flogen wir nicht mehr, wir gingen einen Waldweg hin, den zur Elisabethhöhe, und plötzlich befanden wir uns sehr hoch im Gebirge in einer Art Lichtung, die auf drei Seiten von Wald umfriedet war, während rückwärts eine steile Felswand in die Höhe ragte. Über uns aber war ein Sternenhimmel so blau und weit gespannt, wie er in Wirklichkeit gar nicht existiert, und das war die Decke unseres Brautgemachs. Du nahmst mich in die Arme und liebtest mich sehr.«

»Du mich hoffentlich auch«, meinte Fridolin mit einem unsichtbaren bösen Lächeln.

»Ich glaube, noch viel mehr«, erwiderte Albertine ernst. »Aber, wie soll ich dir das erklären – trotz der innigsten Umarmung war unsere Zärtlichkeit ganz schwermütig wie mit einer Ahnung von vorbestimmtem Leid. Mit einemmal war der Morgen da. Die Wiese war licht und bunt, der Wald ringsum köstlich betaut, und über der Felswand zitterten Sonnenstrahlen. Und wir beide sollten nun wieder zurück in die Welt, unter die Menschen, es war die höchste Zeit. Doch nun war etwas Fürchterliches geschehen. Unsere Kleider waren fort. Ein Entsetzen ohnegleichen erfaßte mich, brennende Scham bis zu innerer Vernichtung, zugleich Zorn gegen dich, als wärst du allein an dem Unglück schuld; – und all das: Entsetzen, Scham, Zorn war an Heftigkeit mit nichts zu vergleichen, was ich jemals im Wachsein empfunden habe. Du aber im Bewußtsein deiner Schuld stürztest davon, nackt wie du warst, um hinabzusteigen und uns Gewänder zu verschaffen. Und als du verschwunden warst, wurde mir ganz leicht zumut. Du tatest mir weder leid, noch war ich in Sorge um dich, ich war nur froh, daß ich allein war, lief glückselig auf der Wiese umher und sang: es war die Melodie eines Tanzes, die wir auf der Redoute gehört haben. Meine Stimme klang wundervoll, und ich wünschte, man sollte mich unten in der Stadt hören. Diese Stadt sah ich nicht, aber ich wußte sie. Sie lag tief unter mir und war von einer hohen Mauer umgeben; eine ganz phantastische Stadt, die ich nicht schildern kann. Nicht orientalisch, auch nicht eigentlich altdeutsch, und doch bald das eine, bald das andere, jedenfalls eine längst und für immer versunkene Stadt. Ich aber lag plötzlich auf der Wiese hingestreckt im Sonnenglanz – viel schöner, als ich je in Wirklichkeit war, und während ich so dalag, trat aus dem Wald ein Herr, ein junger Mensch hervor, in einem hellen, modernen Anzug, er sah, wie ich jetzt weiß, ungefähr aus wie der Däne, von dem ich dir gestern erzählt habe. Er ging seines Weges, grüßte sehr höflich, als er an mir vorüberkam, beachtete mich aber nicht weiter, ging geradenwegs auf die Felswand zu und betrachtete sie aufmerksam, als überlegte er, wie man sie bezwingen könnte. Zugleich aber sah ich auch dich. Du eiltest in der versunkenen Stadt von Haus zu Haus, von Kaufladen zu Kaufladen, bald unter Laubengängen, bald durch eine Art von türkischem Bazar, und kauftest die schönsten Dinge ein, die du für mich nur finden konntest: Kleider, Wäsche, Schuhe, Schmuck; – und all das tatest du in eine kleine gelblederne Handtasche, in der doch alles Platz fand. Immerfort aber warst du von einer Menschenmenge verfolgt, die ich nicht wahrnahm, ich hörte nur ihr dumpfes, drohendes Geheul. Und nun erschien der andere wieder, der Däne, der früher vor der Felswand stehengeblieben war. Wieder kam er vom Walde her auf mich zu – und ich wußte, daß er indessen um die ganze Welt gewandert war. Er sah anders aus als zuvor, aber doch war er derselbe. Er blieb wie das erstemal vor der Felswand stehen, verschwand wieder, dann kam er wieder aus dem Wald hervor, verschwand, kam aus dem Wald; das wiederholte sich zwei oder drei oder hundertmal. Es war immer derselbe und immer ein anderer, jedesmal grüßte er, wenn er an mir vorüberkam, endlich aber blieb er vor mir stehen, sah mich prüfend an, ich lachte verlockend, wie ich nie in meinem Leben gelacht habe, er streckte die Arme nach mir aus, nun wollte ich fliehen, doch ich vermochte es nicht – und er sank zu mir auf die Wiese hin.«

Sie schwieg. Fridolin war die Kehle trocken, im Dunkel des Zimmers merkte er, wie Albertine das Gesicht in den Händen gleichsam verborgen hielt.

»Ein merkwürdiger Traum«, sagte er. »Ist er schon zu Ende?« Und da sie verneinte: »So erzähl‘ doch weiter.«

»Es ist nicht so leicht«, begann sie wieder. »In Worten lassen sich diese Dinge eigentlich kaum ausdrücken. Also – mir war, als erlebte ich unzählige Tage und Nächte, es gab weder Zeit noch Raum, es war auch nicht mehr die von Wald und Fels eingefriedete Lichtung, in der ich mich befand, es war eine weit, unendlich weithin gedehnte, blumenbunte Fläche, die sich nach allen Seiten in den Horizont verlor. Ich war auch längst – seltsam: dieses längst! – nicht mehr mit diesem einen Mann allein auf der Wiese. Aber ob außer mir noch drei oder zehn oder noch tausend Paare da waren, ob ich sie sah oder nicht, ob ich nur jenem einen oder auch andern gehörte, ich könnte es nicht sagen. Aber so wie jenes frühere Gefühl von Entsetzen und Scham über alles im Wachen Vorstellbare weit hinausging, so gibt es gewiß nichts in unserer bewußten Existenz, das der Gelöstheit, der Freiheit, dem Glück gleichkommt, das ich nun in diesem Traum empfand. Und dabei hörte ich keinen Augenblick lang auf, von dir zu wissen. Ja, ich sah dich, ich sah, wie du ergriffen wurdest, von Soldaten, glaube ich, auch Geistliche waren darunter; irgendwer, ein riesengroßer Mensch, fesselte deine Hände, und ich wußte, daß du hingerichtet werden solltest. Ich wußte es ohne Mitleid, ohne Schauer, ganz von fern. Man führte dich in einen Hof, in eine Art von Burghof. Da standest du nun mit nach rückwärts gefesselten Händen und nackt. Und so wie ich dich sah, obwohl ich anderswo war, so sahst du auch mich, auch den Mann, der mich in seinen Armen hielt, und alle die anderen Paare, diese unendliche Flut von Nacktheit, die mich umschäumte, und von der ich und der Mann, der mich umschlungen hielt, gleichsam nur eine Welle bedeuteten. Während du nun im Burghof standest, erschien an einem hohen Bogenfenster zwischen roten Vorhängen eine junge Frau mit einem Diadem auf dem Haupt und im Purpurmantel. Es war die Fürstin des Landes. Sie sah hinab zu dir mit einem streng fragenden Blick. Du standest allein, die andern, so viele es waren, hielten sich abseits, an die Mauern gedrückt, ich hörte ein tückisches, gefahrdrohendes Murmeln und Raunen. Da beugte sich die Fürstin über die Brüstung. Es wurde still, und die Fürstin gab dir ein Zeichen, als gebiete sie dir, zu ihr hinaufzukommen, und ich wußte, daß sie entschlossen war, dich zu begnadigen. Aber du merktest ihren Blick nicht oder wolltest ihn nicht bemerken. Plötzlich aber, immer noch mit gefesselten Händen, doch in einen schwarzen Mantel gehüllt, standest du ihr gegenüber, nicht etwa in einem Gemach, sondern irgendwie in freier Luft, schwebend gleichsam. Sie hielt ein Pergamentblatt in der Hand, dein Todesurteil, in dem auch deine Schuld und die Gründe deiner Verurteilung aufgezeichnet waren. Sie fragte dich – ich hörte die Worte nicht, aber ich wußte es –, ob du bereit seist, ihr Geliebter zu werden, in diesem Fall war dir die Todesstrafe erlassen. Du schütteltest verneinend den Kopf. Ich wunderte mich nicht, denn es war vollkommen in der Ordnung und konnte gar nicht anders sein, als daß du mir auf alle Gefahr hin und in alle Ewigkeit die Treue halten mußtest. Da zuckte die Fürstin die Achseln, winkte ins Leere, und da befandest du dich plötzlich in einem unterirdischen Kellerraum, und Peitschen sausten auf dich nieder, ohne daß ich die Leute sah, die die Peitschen schwangen. Das Blut floß wie in Bächen an dir herab, ich sah es fließen, war mir meiner Grausamkeit bewußt, ohne mich über sie zu wundern. Nun trat die Fürstin auf dich zu. Ihre Haare waren aufgelöst, flossen um ihren nackten Leib, das Diadem hielt sie in beiden Händen dir entgegen – und ich wußte, daß sie das Mädchen vom dänischen Strande war, das du einmal des Morgens nackt auf der Terrasse einer Badehütte gesehen hattest. Sie sprach kein Wort, aber der Sinn ihres Hierseins, ja ihres Schweigens war, ob du ihr Gatte und der Fürst des Landes werden wolltest. Und da du wieder ablehntest, war sie plötzlich verschwunden, ich aber sah zugleich, wie man ein Kreuz für dich aufrichtete; – nicht unten im Burghof, nein, auf der blumenübersäten unendlichen Wiese, wo ich in den Armen eines Geliebten ruhte, unter all den andern Liebespaaren. Dich aber sah ich, wie du durch altertümliche Gassen allein dahinschrittest ohne jede Bewachung, doch wußte ich, daß dein Weg dir vorgezeichnet und jede Flucht unmöglich war. Jetzt gingst du den Waldpfad bergan. Ich erwartete dich mit Spannung, aber ohne jedes Mitgefühl. Dein Körper war mit Striemen bedeckt, die aber nicht mehr bluteten. Du stiegst immer höher hinan, der Pfad wurde breiter, der Wald trat zu beiden Seiten zurück, und nun standest du am Wiesenrand in einer ungeheuern, unbegreiflichen Ferne. Doch du grüßtest mich lächelnd mit den Augen, wie zum Zeichen, daß du meinen Wunsch erfüllt hattest und mir alles brachtest, wessen ich bedurfte: – Kleider und Schuhe und Schmuck. Ich aber fand dein Gebaren über alle Maßen töricht und sinnlos, und es lockte mich, dich zu verhöhnen, dir ins Gesicht zu lachen – und gerade darum, weil du aus Treue zu mir die Hand einer Fürstin ausgeschlagen, Foltern erduldet und nun hier heraufgewankt kamst, um einen furchtbaren Tod zu erleiden. Ich lief dir entgegen, auch du schlugst einen immer rascheren Gang ein – ich begann zu schweben, auch du schwebtest in den Lüften; doch plötzlich entschwanden wir einander, und ich wußte: wir waren aneinander vorbeigeflogen. Da wünschte ich, du solltest doch wenigstens mein Lachen hören, gerade während man dich ans Kreuz schlüge. – Und so lachte ich auf, so schrill, so laut ich konnte. Das war das Lachen, Fridolin – mit dem ich erwacht bin.«

Sie schwieg und blieb ohne jede Regung. Auch er rührte sich nicht und sprach kein Wort. Jedes wäre in diesem Augenblick matt, lügnerisch und feig erschienen. Je weiter sie in ihrer Erzählung fortgeschritten war, um so lächerlicher und nichtiger erschienen ihm seine eigenen Erlebnisse, soweit sie bisher gediehen waren, und er schwor sich, sie alle zu Ende zu erleben, sie ihr dann getreulich zu berichten und so Vergeltung zu üben an dieser Frau, die sich in ihrem Traum enthüllt hatte als die, die sie war, treulos, grausam und verräterisch, und die er in diesem Augenblick tiefer zu hassen glaubte, als er sie jemals geliebt hatte.

Nun merkte er, daß er immer noch ihre Finger mit seinen Händen umfaßt hielt und daß er, wie sehr er diese Frau auch zu hassen gewillt war, für diese schlanken, kühlen, ihm so vertrauten Finger eine unveränderte, nur schmerzlicher gewordene Zärtlichkeit empfand; und unwillkürlich, ja gegen seinen Willen – ehe er diese vertraute Hand aus der seinen löste, berührte er sie sanft mit seinen Lippen.

Albertine öffnete noch immer nicht die Augen, Fridolin glaubte zu sehen, wie ihr Mund, ihre Stirn, ihr ganzes Antlitz mit beglücktem, verklärtem, unschuldsvollem Ausdruck lächelte, und er fühlte einen ihm selbst unbegreiflichen Drang, sich über Albertine zu beugen und auf ihre blasse Stirn einen Kuß zu drücken. Aber er bezwang sich in der Erkenntnis, daß es nur die allzu begreifliche Ermüdung nach den aufwühlenden Ereignissen der letzten Stunden war, die in der trügerischen Atmosphäre des Ehegemachs sich in sehnsüchtige Zärtlichkeit verkleidet hatte.

Doch wie immer es in diesem Augenblicke mit ihm stand zu welchen Entschlüssen er im Laufe der nächsten Stunden gelangen sollte, das dringende Gebot des Augenblicks für ihn war, sich auf eine Weile wenigstens in Schlaf und Vergessen zu flüchten. Auch in der Nacht, die dem Tod seiner Mutter gefolgt war, hatte er geschlafen, hatte tief und traumlos schlafen können, und er sollte es in dieser nicht? Und er streckte sich an der Seite Albertinens hin, die schon eingeschlummert zu sein schien. Ein Schwert zwischen uns, dachte er wieder. Und dann: wie Todfeinde liegen wir hier nebeneinander. Aber es war nur ein Wort.

6

Das leise Klopfen des Dienstmädchens weckte ihn um sieben Uhr früh. Er warf einen raschen Blick auf Albertine. Manchmal, nicht immer, weckte dieses Klopfen auch sie. Heute schlief sie regungslos, allzu regungslos weiter. Fridolin machte sich rasch fertig. Ehe er fortging, wollte er seine kleine Tochter sehen. Sie lag ruhig in ihrem weißen Bett, die Hände nach Kinderart zu kleinen Fäustchen verkrampft. Er küßte sie auf die Stirn. Und noch einmal, auf den Fußspitzen, schlich er zur Tür des Schlafzimmers, wo Albertine immer noch ruhte, unbeweglich wie vorher. Dann ging er. In seiner schwarzen Arztenstasche, wohl verwahrt, trug er Mönchskutte und Pilgerhut mit sich. Das Programm für den Tag hatte er sorgfältig, ja mit einiger Pedanterie entworfen. An erster Stelle stand ein Besuch ganz in der Nähe bei einem schwerkranken jungen Rechtsanwalt. Fridolin nahm eine sorgfältige Untersuchung vor, fand den Zustand etwas gebessert, gab seiner Befriedigung darüber ehrlich erfreuten Ausdruck und versah ein altes Rezept mit dem üblichen Repetatur. Dann begab er sich unverzüglich nach dem Hause, in dessen Kellertiefen Nachtigall gestern abend Klavier gespielt hatte. Das Lokal war noch gesperrt, doch im Café oben die Kassiererin wußte, daß Nachtigall in einem kleinen Hotel der Leopoldstadt wohne. Eine Viertelstunde darauf fuhr Fridolin dort vor. Es war ein elender Gasthof. Im Flur roch es nach ungelüfteten Betten, schlechtem Fett und Zichorienkaffee. Ein übel aussehender Portier, mit rotgeränderten pfiffigen Augen, stets auf polizeiliche Einvernahme gefaßt, gab bereitwillig Auskunft. Herr Nachtigall sei heute morgen um fünf Uhr in Gesellschaft zweier Herren vorgefahren, die ihr Gesicht durch hochgeschlungene Halstücher vielleicht absichtlich beinahe unkenntlich gemacht hätten. Während Nachtigall sich in sein Zimmer begeben, hätten die Herren seine Rechnung für die letzten vier Wochen bezahlt; als er nach einer halben Stunde nicht wieder erschienen war, hätte ihn der eine Herr persönlich heruntergeholt, worauf alle drei zum Nordbahnhof gefahren wären. Nachtigall hatte einen höchst aufgeregten Eindruck gemacht; ja – warum sollte man einem so vertrauenerweckenden Herrn nicht die ganze Wahrheit sagen – er hatte dem Portier einen Brief zuzustecken versucht, was die beiden Herren aber sofort verhindert hatten. Briefe, die für Herrn Nachtigall kämen – so hatten die Herren weiter erklärt –, würden von einer hierzu legitimierten Person abgeholt werden. Fridolin empfahl sich, es war ihm angenehm, daß er seine Arztenstasche in der Hand trug, als er aus dem Haustor trat; so würde man ihn wohl nicht für einen Bewohner dieses Hotels halten, sondern für eine Amtsperson. Mit Nachtigall war es also vorderhand nichts. Man war recht vorsichtig gewesen und hatte wohl allen Anlaß dazu.

Nun fuhr er zur Maskenverleihanstalt. Herr Gibiser öffnete selbst. »Hier bringe ich das entliehene Kostüm zurück«, sagte Fridolin, »und wünsche meine Schuld zu begleichen.« Herr Gibiser nannte einen mäßigen Betrag, nahm das Geld in Empfang, machte eine Eintragung in ein großes Geschäftsbuch und sah vom Bürotisch einigermaßen verwundert zu Fridolin auf, der keine Miene machte, sich zu entfernen.

»Ich bin ferner hier«, sagte Fridolin im Ton eines Untersuchungsrichters, »um ein Wort wegen ihres Fräulein Tochter mit Ihnen zu reden.«

Irgend etwas zuckte um die Nasenflügel des Herrn Gibiser; – Unbehagen, Spott oder Ärger, es war nicht recht zu entscheiden.

»Wie meinen der Herr?« fragte er in einem gleichfalls völlig unbestimmbaren Ton.

»Sie bemerkten gestern«, sagte Fridolin, die eine Hand mit gespreizten Fingern auf den Bürotisch gestützt, »daß Ihr Fräulein Tochter geistig nicht ganz normal sei. Die Situation, in der wir sie betrafen, legte diese Vermutung tatsächlich nahe. Und da mich der Zufall nun einmal zum Teilnehmer oder wenigstens zum Zuschauer jener sonderbaren Szene gemacht hat, so möchte ich Ihnen doch nahelegen, Herr Gibiser, einen Arzt zu Rate zu ziehen.«

Gibiser, einen unnatürlich langen Federstiel in der Hand hin und her drehend, maß Fridolin mit einem unverschämten Blick.

»Und Herr Doktor wären vielleicht selbst so gütig, die Behandlung zu übernehmen?«

»Ich bitte mir keine Worte in den Mund zu legen«, erwiderte Fridolin scharf, aber etwas heiser, »die ich nicht ausgesprochen habe.«

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, die nach den Innenräumen führte, und ein junger Herr mit offenem Überzieher über dem Frackanzug trat heraus. Fridolin wußte sofort, daß es niemand anders sein konnte als einer der Femrichter von heute nacht. Kein Zweifel, er kam aus Pierrettens Zimmer. Er schien betreten, als er Fridolins ansichtig wurde, faßte sich aber sofort, grüßte Gibiser flüchtig durch ein Winken mit der Hand, zündete sich dann noch eine Zigarette an, wozu er sich eines auf dem Bürotisch befindlichen Feuerzeugs bediente, und verließ die Wohnung.

»Ach so«, bemerkte Fridolin mit einem verächtlichen Zucken der Mundwinkel und mit einem bitteren Geschmack auf der Zunge.

»Wie meinen der Herr?« fragte Gibiser mit vollkommenem Gleichmut.

»Sie haben also darauf verzichtet, Herr Gibiser«, und er ließ den Blick überlegen von der Wohnungstür nach der andern schweifen, aus der der Femrichter getreten war, »verzichtet, die Polizei zu verständigen.«

»Man hat sich auf anderm Weg geeinigt, Herr Doktor«, bemerkte Gibiser kühl und erhob sich, als wäre eine Audienz beendet. Fridolin wandte sich zum Gehen, Gibiser öffnete beflissen die Türe, und mit unbeweglicher Miene sagte er: »Wenn der Herr Doktor wieder einen Bedarf haben sollten… Es muß ja nicht gerade ein Mönchsgewand sein.«

Fridolin schlug die Tür hinter sich zu. Dies wäre nun erledigt, dachte er mit einem Gefühl des Ärgers, das ihn selbst unverhältnismäßig dünkte. Er eilte die Treppen hinab, begab sich ohne besondere Eile auf die Poliklinik und telephonierte vor allem nach Hause, um sich zu erkundigen, ob ein Patient nach ihm geschickt habe, ob Post gekommen sei, was es sonst Neues gebe. Das Dienstmädchen hatte kaum ihre Antworten erteilt, als Albertine selbst an den Apparat kam und Fridolin begrüßte. Sie wiederholte alles, was das Dienstmädchen schon gesagt, dann erzählte sie unbefangen, daß sie eben erst aufgestanden sei und mit dem Kinde gemeinsam frühstücken wolle. »Gib ihr einen Kuß von mir«, sagte Fridolin, »und laßt es euch gut schmecken.«

Ihre Stimme hatte ihm wohlgetan, und gerade darum läutete er rasch ab. Er hatte eigentlich noch fragen wollen, was Albertine im Laufe dieses Vormittags vorhabe, aber was ging ihn das an? In der Tiefe seiner Seele war er doch fertig mit ihr, wie immer das äußere Leben weitergehen sollte. Die blonde Schwester half ihm aus den Ärmeln seines Rocks und reichte ihm den weißen Ärztekittel. Dabei lächelte sie ihn ein wenig an, wie sie eben alle zu lächeln pflegen, ob man sich um sie kümmerte oder nicht.

Ein paar Minuten darauf war er im Krankensaal. Der Chefarzt hatte melden lassen, daß er eines Konsiliums wegen plötzlich habe verreisen müssen, die Herren Assistenten möchten ohne ihn Visite machen. Fridolin fühlte sich beinahe glücklich, als er, von den Studenten gefolgt, von Bett zu Bett ging, Untersuchungen vornahm, Rezepte schrieb, mit Hilfsärzten und Wärterinnen sich fachlich besprach. Es gab allerlei Neuigkeiten. Der Schlossergeselle Karl Rödel war in der Nacht gestorben. Sektion nachmittag halb fünf. Im Weibersaal war ein Bett frei geworden, aber schon wieder belegt. Die Frau von Bett siebzehn hatte man auf die chirurgische Abteilung transferieren müssen. Zwischendurch wurden auch Personalfragen berührt. Die Neubesetzung der Augenabteilung sollte übermorgen entschieden werden; Hügelmann, jetzt Professor in Marburg, vor vier Jahren noch zweiter Assistent bei Stellwag, hatte die meisten Chancen. Rasche Karriere, dachte Fridolin. Ich werde nie für die Leitung einer Abteilung in Betracht kommen, schon weil mir die Dozentur fehlt. Zu spät. Warum eigentlich? Man müßte eben wieder wissenschaftlich zu arbeiten anfangen oder manches Begonnene mit größerem Ernst wieder aufnehmen. Die Privatpraxis ließ immer noch Zeit genug.

Er bat Herrn Doktor Fuchstaler, die Ambulanz zu leiten, und mußte sich gestehen, daß er lieber hier geblieben als auf den Galitzinberg gefahren wäre. Und doch, es mußte sein. Nicht nur sich allein gegenüber war er verpflichtet, der Sache weiter nachzugehen; noch allerlei anderes gab es heute zu erledigen. Und so entschloß er sich für alle Fälle, Herrn Doktor Fuchstaler auch mit der Abendvisite zu betrauen. Das junge Mädchen mit dem verdächtigen Spitzenkatarrh dort im letzten Bett lächelte ihm zu. Es war dieselbe, die neulich bei Gelegenheit einer Untersuchung ihre Brüste so zutraulich an seine Wange gepreßt hatte. Fridolin erwiderte ihren Blick ungnädig und wandte sich stirnrunzelnd ab. Eine wie die andere, dachte er mit Bitterkeit, und Albertine ist wie sie alle – sie ist die Schlimmste von allen. Ich werde mich von ihr trennen. Es kann nie wieder gut werden.

Auf der Treppe wechselte er noch ein paar Worte mit einem Kollegen von der chirurgischen Abteilung. Nun, wie stand es eigentlich mit der Frau, die heute nacht hinübertransferiert worden war? Er für seinen Teil glaubte nicht recht an die Notwendigkeit einer Operation. Man werde ihm doch das Resultat der histologischen Untersuchung berichten?

»Selbstverständlich, Herr Kollega.«

An der Ecke nahm er einen Wagen. Er zog sein Notizbuch zu Rate, lächerliche Komödie vor dem Kutscher, als müsse er sich jetzt erst entscheiden. »Nach Ottakring«, sagte er dann, »die Straße gegen den Galitzinberg. Ich werde Ihnen sagen, wo Sie zu halten haben.«

Im Wagen kam plötzlich wieder eine schmerzlich-sehnsüchtige Erregung über ihn, ja beinahe ein Schuldbewußtsein, daß er in den letzten Stunden seiner schönen Retterin kaum mehr gedacht hatte. Ob es ihm nun gelingen würde, das Haus zu finden? Nun, das konnte nicht sonderlich schwierig sein. Die Frage war nur: was dann? Polizeiliche Anzeige? Das konnte gerade für die Frau, die sich vielleicht für ihn geopfert oder bereit gewesen war, sich für ihn zu opfern, üble Folgen nach sich ziehen. Oder sollte er sich an einen Privatdetektiv wenden? Das erschien ihm ziemlich abgeschmackt und seiner nicht ganz würdig. Aber was blieb ihm sonst noch übrig? Er hatte doch weder die Zeit noch wahrscheinlich das Talent, die nötigen Nachforschungen kunstgerecht durchzuführen. – Eine geheime Gesellschaft? Nun ja, jedenfalls geheim. Aber untereinander kannten sie sich doch? Aristokraten, vielleicht gar Herren vom Hof? Er dachte an gewisse Erzherzöge, denen man dergleichen Scherze schon zutrauen konnte. Und die Damen? Vermutlich… aus Freudenhäusern zusammengetrieben. Nun, das war keineswegs sicher. Jedenfalls ausgesuchte Ware. Aber die Frau, die sich ihm geopfert hatte? Geopfert? Warum er nur immer wieder sich einbilden wollte, daß es wirklich ein Opfer gewesen war! Eine Komödie. Selbstverständlich war das Ganze eine Komödie gewesen. Eigentlich sollte er froh sein, so leichten Kaufs davongekommen zu sein. Nun ja, er hatte gute Haltung bewahrt. Die Kavaliere konnten wohl merken, daß er nicht der erste beste war. Und sie hatte es jedenfalls auch gemerkt. Wahrscheinlich war er ihr lieber als alle diese Erzherzöge oder was sie sonst gewesen sein mochten.

Am Ende des Liebhartstals, wo der Weg entschiedener nach aufwärts führte, stieg er aus und schickte den Wagen vorsichtshalber wieder fort. Der Himmel war blaßblau, mit weißen Wölkchen, und die Sonne schien frühlingswarm. Er blickte zurück – nichts Verdächtiges war zu sehen. Kein Wagen, kein Fußgänger. Langsam stieg er bergan. Der Mantel wurde ihm schwer; er legte ihn ab und warf ihn um die Schultern. Er kam an die Stelle, wo rechts die Seitenstraße abbiegen mußte, in der das geheimnisvolle Haus stand; er konnte nicht fehlgehen; sie führte nach abwärts, aber keineswegs so steil, als es ihn nachts im Fahren gedünkt hatte. Eine stille Gasse. In einem Vorgarten standen Rosenstöcke, sorgfältig in Stroh gehüllt, in einem nächsten stand ein Kinderwägelchen; ein Bub, ganz in blaue Wolle gekleidet, tollte hin und her; vom Parterrefenster aus schaute eine junge Frau lachend zu. Dann kam ein unbebauter Platz, dann ein wilder eingezäunter Garten, dann eine kleine Villa, dann ein Rasenplatz, und nun, kein Zweifel – dies hier war das Haus, das er suchte. Es sah keineswegs groß oder prächtig aus, es war eine einstöckige Villa in bescheidenem Empirestil und offenbar vor nicht allzu langer Zeit renoviert. Die grünen Jalousien waren überall heruntergelassen, nichts deutete darauf hin, daß die Villa bewohnt sein könnte. Fridolin blickte rings um sich. Niemand war in der Gasse zu sehen; nur weiter unten gingen, sich entfernend, zwei Knaben mit Büchern unter dem Arm. Er stand vor der Gartentür. Und was nun? Einfach wieder zurückspazieren? Das wäre ihm geradezu lächerlich erschienen. Er suchte nach dem elektrischen Taster. Und wenn man ihm aufschlösse, was sollte er sagen? Nun, ganz einfach – ob das hübsche Landhaus nicht über den Sommer zu vermieten wäre? Doch schon tat sich das Haustor von selbst auf, ein alter Diener in einfacher Morgenlivree trat heraus und ging langsam den schmalen Pfad bis zur Gartentür. Er hielt einen Brief in der Hand und reichte ihn stumm zwischen den Gitterstäben Fridolin, dem das Herz klopfte.

»Für mich?« fragte er stockend. Der Diener nickte, wandte sich, ging, und die Haustür fiel hinter ihm zu. Was bedeutet das? fragte sich Fridolin. Am Ende von ihr? Sie ist es vielleicht selbst, der das Haus gehört? Rasch schritt er wieder die Straße aufwärts, jetzt erst merkte er, daß auf dem Kuvert sein Name stand in steiler, hoheitsvoller Schrift. An der Ecke öffnete er den Brief, entfaltete ein Blatt und las: »Geben Sie Ihre Nachforschungen auf, die völlig nutzlos sind, und betrachten Sie diese Worte als zweite Warnung. Wir hoffen in Ihrem Interesse, daß keine weitere nötig sein wird.« Er ließ das Blatt sinken.

Diese Botschaft enttäuschte ihn in jeder Hinsicht; jedenfalls aber war es eine andere, als die er törichterweise für möglich gehalten hatte. Immerhin, der Ton war merkwürdig zurückhaltend, gänzlich ohne Schärfe. Er ließ erkennen, daß die Leute, die diese Botschaft gesandt, sich keineswegs sicher fühlten.

Zweite Warnung? Wieso? Ach ja, in der Nacht war die erste an ihn ergangen. Warum aber zweite – und nicht letzte? Wollten sie seinen Mut nochmals erproben? Sollte er eine Prüfung zu bestehen haben? Und woher kannten sie seinen Namen? Nun, das war weiter nicht sonderbar, wahrscheinlich hatte man Nachtigall gezwungen, ihn zu verraten. Und überdies – er lächelte unwillkürlich über seine Zerstreutheit – im Futter seines Pelzes war sein Monogramm und seine genaue Adresse eingenäht.

Doch wenn er auch nicht weiter war als vorher, – der Brief hatte ihn im ganzen beruhigt – ohne daß er recht zu sagen gewußt hätte, warum. Insbesondere war er überzeugt, daß die Frau, um deren Schicksal er gebangt hatte, sich noch am Leben befand und daß es nur an ihm lag, sie zu finden, wenn er mit Vorsicht und Schlauheit zu Werke ging.

Als er etwas ermüdet, aber in einer seltsam erlösten Stimmung, die er doch zugleich als trügerisch empfand, zu Hause anlangte, hatten Albertine und das Kind schon zu Mittag gegessen, leisteten ihm aber Gesellschaft, während er selbst sein Mahl einnahm. Da saß sie ihm gegenüber, die ihn heute nacht ruhig ans Kreuz hatte schlagen lassen, mit engelhaftem Blick, hausfraulich-mütterlich, und er verspürte zu seiner Verwunderung keinerlei Haß gegen sie. Er ließ es sich schmecken, befand sich in etwas erregter, aber eigentlich heiterer Laune, und nach seiner Art sprach er sehr lebhaft von den kleinen Berufserlebnissen des Tages, insbesondere von den ärztlichen Personalfragen, über die er Albertine immer genau zu unterrichten pflegte. Er erzählte, daß die Ernennung Hügelmanns so gut wie sicher sei, und sprach von seinem eigenen Vorsatz, die wissenschaftlichen Arbeiten wieder mit etwas größerer Energie aufzunehmen. Albertine kannte diese Stimmung, wußte, daß sie nicht allzulange anzuhalten pflegte, und ein leises Lächeln verriet ihre Zweifel. Fridolin ereiferte sich, worauf Albertine mit milder Hand ihm beruhigend über die Haare strich. Jetzt zuckte er leicht zusammen und wandte sich dem Kinde zu, wodurch er seine Stirn weiterer peinlicher Berührung entzog. Er nahm die Kleine auf den Schoß, schickte sich eben an, sie auf den Knien zu schaukeln, als das Dienstmädchen meldete, daß schon einige Patienten warteten. Fridolin erhob sich wie befreit, erwähnte noch beiläufig, daß doch Albertine und das Kind die schöne sonnige Nachmittagsstunde zum Spazierengehen benützen sollten, und begab sich in sein Sprechzimmer.

Im Laufe der nächsten zwei Stunden hatte Fridolin sechs alte Patienten und zwei neue vorzunehmen. Er war in jedem einzelnen Fall völlig bei der Sache, untersuchte, machte Notizen, verordnete – und freute sich, daß er nach den zwei letzten, fast ohne Schlaf verbrachten Nächten sich so wunderbar frisch und geistesklar fühlte.

Nach Erledigung der Sprechstunde sah er noch einmal, wie es seine Gewohnheit war, nach Frau und Kind und stellte nicht ohne Befriedigung fest, daß Albertine eben Besuch von ihrer Mutter hatte, sowie daß die Kleine mit dem Fräulein Französisch lernte. Und erst auf der Stiege kam ihm wieder zu Bewußtsein, daß all diese Ordnung, all dies Gleichmaß, all diese Sicherheit seines Daseins nur Schein und Lüge zu bedeuten hatten.

Trotzdem er die Nachmittagsvisite abgesagt hatte, zog es ihn doch unwiderstehlich auf die Abteilung. Es lagen zwei Fälle dort, die für die wissenschaftliche Arbeit, die er vor allem plante, besonders in Betracht kamen, und er beschäftigte sich eine Weile eingehender mit ihnen, als er es bisher getan. Dann hatte er noch einen Krankenbesuch in der inneren Stadt zu erledigen, und so war es sieben Uhr abends geworden, als er vor dem alten Hause in der Schreyvogelgasse stand. Nun erst, da er zu Mariannens Fenster aufblickte, wurde ihm ihr Bild, das indes völlig verblaßt war, noch mehr als das aller anderen wieder lebendig. Nun – hier konnte es ihm nicht fehlen. Ohne Aufwand besonderer Mühe konnte er hier sein Rachewerk beginnen, hier gab es für ihn keine Schwierigkeit, keine Gefahr; und das, wovor andere vielleicht zurückgeschreckt wären, der Verrat an dem Bräutigam, das bedeutete für ihn beinahe einen Anreiz mehr. Ja, verraten, betrügen, lügen, Komödie spielen, da und dort, vor Marianne, vor Albertine, vor diesem guten Doktor Roediger, vor der ganzen Welt; – eine Art von Doppelleben führen, zugleich der tüchtige, verläßliche, zukunftsreiche Arzt, der brave Gatte und Familienvater sein – und zugleich ein Wüstling, ein Verführer, ein Zyniker, der mit den Menschen, mit Männern und Frauen spielte, wie ihm just die Laune ankam – das erschien ihm in diesem Augenblick als etwas ganz Köstliches; – und das Köstlichste dran war, daß er später einmal, wenn Albertine sich schon längst in der Sicherheit eines ruhigen Ehe- und Familienlebens geborgen wähnte, ihr kühl lächelnd alle seine Sünden eingestehen wollte, um so Vergeltung zu üben für das, was sie ihm in einem Traume Bitteres und Schmachvolles angetan hatte.

Im Hausflur fand er sich dem Doktor Roediger gegenüber, der ihm harmlos-herzlich die Hand entgegenreichte.

»Wie geht es Fräulein Marianne?« fragte Fridolin. »Hat sie sich ein wenig beruhigt?«

Doktor Roediger zuckte die Achseln. »Sie war lange genug auf das Ende vorbereitet, Herr Doktor. – Nur als man heute gegen Mittag die Leiche holte – –«

»Ah, ist das schon geschehen?«

Doktor Roediger nickte. »Morgen nachmittag drei Uhr findet das Begräbnis statt…«

Fridolin sah vor sich hin. »Es sind wohl – die Verwandten bei Fräulein Marianne?«

»Nicht mehr«, erwiderte Doktor Roediger, »jetzt ist sie allein. Es wird sie gewiß freuen, Sie noch zu sehen, Herr Doktor. Morgen bringen wir sie nämlich nach Mödling, meine Mutter und ich«, und auf einen höflich fragenden Blick Fridolins: »Meine Eltern haben nämlich dort ein kleines Häuschen. Auf Wiedersehen, Herr Doktor. Ich habe noch allerlei zu besorgen. Ja, was so ein – Fall zu tun gibt! Ich hoffe, Sie noch oben anzutreffen, Herr Doktor, wenn ich zurückkomme.« Und schon trat er aus dem Haustor auf die Straße.

Fridolin zögerte einen Augenblick, dann schritt er langsam die Treppe hinauf. Er klingelte; und Marianne selbst war es, die ihm öffnete. Sie war schwarz gekleidet, um den Hals trug sie eine schwarze Jettkette, die er noch nie an ihr gesehen. Ihr Antlitz rötete sich leise.

»Sie lassen mich lange warten«, sagte sie mit einem schwachen Lächeln.

»Verzeihen Sie, Fräulein Marianne, ich hatte heute einen besonders angestrengten Tag.«

Er folgte ihr durch das Sterbezimmer, in dem das Bett nun leer stand, in den Nebenraum, wo er gestern unter dem Bilde mit dem weißuniformierten Offizier den Totenschein für den Hofrat geschrieben hatte. Auf dem Schreibtisch brannte schon eine kleine Lampe, so daß Zwielicht im Zimmer war. Marianne wies ihm einen Platz auf dem schwarzen Lederdiwan an, sie selbst setzte sich ihm gegenüber an den Schreibtisch.

»Eben bin ich im Hausflur Herrn Doktor Roediger begegnet. – Also morgen schon fahren Sie aufs Land?«

Marianne sah ihn an, als wundere sie sich über den kühlen Ton seiner Fragen, und ihre Schultern senkten sich, als er mit beinahe harter Stimme fortsetzte: »Ich finde das sehr vernünftig.« Und er erläuterte sachlich, wie günstig die gute Luft, die neue Umgebung auf sie wirken würde.

Sie saß unbeweglich, und Tränen flössen ihr über die Wangen. Er sah es ohne Mitgefühl, eher mit Ungeduld; und die Vorstellung, daß sie vielleicht in der nächsten Minute wieder zu seinen Füßen liegen, ihr gestriges Geständnis wiederholen könnte, erfüllte ihn mit Angst. Und da sie schwieg, stand er brüsk auf. »So leid es mir tut, Fräulein Marianne « Er sah auf die Uhr.

Sie hob den Kopf, blickte Fridolin an, und ihre Tränen flossen weiter. Er hätte ihr gern irgendein gutes Wort gesagt und war es nicht imstande.

»Sie bleiben wohl einige Tage auf dem Land«, begann er gezwungen. »Ich hoffe, Sie geben mir Nachricht… Herr Doktor Roediger sagt mir übrigens, daß die Hochzeit bald stattfinden werde. Erlauben Sie mir schon heute Ihnen meinen Glückwunsch auszusprechen.«

Sie rührte sich nicht, als hätte sie seinen Glückwunsch, seinen Abschied überhaupt nicht zur Kenntnis genommen. Er streckte ihr die Hand entgegen, die sie nicht nahm, und fast in einem Ton des Vorwurfs wiederholte er: »Also, ich hoffe zuversichtlich, Sie geben mir Nachricht über Ihr Befinden. Auf Wiedersehen, Fräulein Marianne.« Sie saß da wie versteinert. Er ging, eine Sekunde lang blieb er in der Türe stehen, als gewähre er ihr noch eine letzte Frist, ihn zurückzurufen, sie schien den Kopf eher wegzuwenden, und nun schloß er die Türe hinter sich. Auf dem Gang draußen verspürte er irgend etwas wie Reue. Einen Augenblick dachte er daran, umzukehren, aber er fühlte, daß das vor allem andern sehr lächerlich gewesen wäre.

Aber was nun? Nach Hause? Wohin sonst! Heute konnte er ja doch nichts mehr unternehmen. Und morgen? Was? Und wie? Er fühlte sich ungeschickt, hilflos, alles zerfloß ihm unter den Händen; alles wurde unwirklich, sogar sein Heim, seine Frau, sein Kind, sein Beruf, ja, er selbst, wie er so mit schweifenden Gedanken die abendlichen Straßen mechanisch weiterging.

Von der Uhr des Rathausturmes schlug es halb acht. Es war übrigens gleichgültig, wie spät es war; die Zeit lag in völliger Überflüssigkeit vor ihm. Nichts, niemand ging ihn an. Er verspürte ein leises Mitleid mit sich selbst. Ganz flüchtig, nicht etwa wie ein Vorsatz, kam ihm der Einfall, zu irgendeinem Bahnhof zu fahren, abzureisen, gleichgültig wohin, zu verschwinden für alle Leute, die ihn gekannt, irgendwo in der Fremde wieder aufzutauchen und ein neues Leben zu beginnen als ein anderer, neuer Mensch. Er besann sich gewisser merkwürdiger Krankheitsfälle, die er aus psychiatrischen Büchern kannte, sogenannter Doppelexistenzen: ein Mensch verschwand plötzlich aus ganz geordneten Verhältnissen, war verschollen, kehrte nach Monaten oder nach Jahren wieder, erinnerte sich selbst nicht, wo er in dieser Zeit gewesen, aber später erkannte ihn irgendwer, der irgendwo in einem fernen Land mit ihm zusammengetroffen war, und der Heimgekehrte wußte gar nichts davon. Solche Dinge kamen freilich selten vor, aber immerhin, sie waren erwiesen. Und in abgeschwächter Form erlebte sie wohl mancher. Wenn man aus Träumen wiederkehrte zum Beispiel? Freilich, man erinnerte sich… Aber gewiß gab es auch Träume, die man völlig vergaß, von denen nichts übrigblieb als irgendeine rätselhafte Stimmung, eine geheimnisvolle Benommenheit. Oder man erinnerte sich erst später, viel später und wußte nicht mehr, ob man etwas erlebt oder nur geträumt hatte. Nur – nur – –!

Und wie er so weiterging und doch unwillkürlich die Richtung nach seiner Wohnung zu nahm, geriet er in die Nähe der dunklen, ziemlich verrufenen Gasse, in der er vor weniger als vierundzwanzig Stunden einem verlorenen Geschöpf nach ihrer armseligen und doch traulichen Behausung gefolgt war. Verloren, gerade die? Und gerade diese Gasse verrufen? Wie man doch immer wieder, durch Worte verführt, Straßen, Schicksale, Menschen in träger Gewohnheit benennt und beurteilt. War dieses junge Mädchen nicht im Grunde von allen, mit denen seltsame Zufälle ihn in der letzten Nacht zusammengeführt, das anmutigste, ja geradezu das reinste gewesen? Er fühlte einige Rührung, wenn er ihrer dachte. Und nun erinnerte er sich auch seines Vorsatzes von gestern; rasch entschlossen kaufte er im nächsten Laden allerlei Eßbares ein; und als er mit dem kleinen Päckchen die Häusermauern entlangschritt, fühlte er sich geradezu froh in dem Bewußtsein, daß er im Begriffe war, eine zum mindesten vernünftige, vielleicht sogar lobenswerte Handlung zu begehen. Immerhin schlug er den Kragen hoch, als er in den Hausflur trat, nahm beim Treppensteigen einige Stufen auf einmal, die Wohnungsglocke tönte ihm mit unerwünschter Schrille ins Ohr; und als er von einer übel aussehenden Frauensperson den Bescheid erhielt, daß das Fräulein Mizzi nicht zu Hause sei, atmete er auf. Doch ehe die Frau noch Gelegenheit hatte, das Päckchen für die Abwesende in Empfang zu nehmen, trat ein anderes, noch junges, nicht unhübsches Frauenzimmer, in eine Art von Bademantel gehüllt, ins Vorzimmer und sagte: »Wen sucht der Herr? Die Fräuln Mizzi? Die wird so bald nicht z’haus kommen.«

Die Alte gab ihr ein Zeichen zu schweigen; Fridolin aber, als wünschte er dringend eine Bestätigung zu erhalten für das, was er irgendwie doch schon geahnt hatte, bemerkte einfach: »Sie ist im Spital, nicht wahr?«

»Na, wenn’s der Herr eh weiß. Aber mir sein g’sund, Gott sei Dank«, rief sie fröhlich aus und trat ganz nahe an Fridolin heran mit halbgeöffneten Lippen und einem frechen Zurückwerfen ihres üppigen Leibes, so daß der Bademantel sich öffnete. Fridolin sagte ablehnend: »Ich bin nur im Vorbeigehen heraufgekommen, um der Mizzi was zu bringen«, und er erschien sich plötzlich wie ein Gymnasiast. Und in einem neuen, sachlichen Ton fragte er: »Auf welcher Abteilung liegt sie denn?«

Die Junge nannte ihm den Namen eines Professors, auf dessen Klinik Fridolin vor einigen Jahren Sekundararzt gewesen war. Und dann fügte sie gutmütig hinzu: »Geben S‘ es her, die Packerln, ich bring ihr’s morgen. Können sich drauf verlassen, daß ich nichts wegnaschen werde. Und grüßen werd‘ ich sie auch von Ihnen und ihr ausrichten, Sie sein ihr nicht untreu worden.«

Zugleich aber trat sie näher auf ihn zu und lachte ihn an. Doch als er leicht zurückwich, gab sie es sofort auf und bemerkte tröstend: »In sechs, spätestens acht Wochen, hat der Doktor g’sagt, is sie wieder zu Haus.«

Als Fridolin aus dem Haustor auf die Straße trat, fühlte er Tränen in der Kehle; aber er wußte, daß das nicht so sehr Ergriffenheit zu bedeuten hatte als ein allmähliches Versagen seiner Nerven. Er nahm absichtlich einen rascheren und lebhafteren Schritt an, als seiner Stimmung gemäß war. Sollte dieses Erlebnis ein weiteres, ein letztes Zeichen sein, daß ihm alles mißlingen mußte? Warum? Daß er einer so großen Gefahr entgangen war, konnte immerhin auch ein gutes Zeichen bedeuten. Und war es gerade das, worauf es ankam: Gefahren zu entgehen? Allerlei andere standen ihm wohl noch bevor. Er dachte keineswegs daran, die Nachforschungen nach der wunderbaren Frau von heute nacht aufzugeben. Nun war freilich nicht mehr Zeit dazu. Und überdies mußte genau erwogen werden, auf welche Art diese Nachforschungen weiterzuführen waren. Ja, wenn man jemanden hätte, mit dem man sich beraten könnte! Aber er wußte keinen, den er in die Abenteuer der vergangenen Nacht gerne eingeweiht hätte. Seit Jahren war er mit keinem Menschen wirklich vertraut als mit seiner Frau, und mit der konnte er sich in diesem Fall doch kaum beraten, in diesem nicht und in keinem andern. Denn man mochte es nehmen, wie man wollte: heute nacht hatte sie ihn ans Kreuz schlagen lassen.

Und nun wußte er, warum seine Schritte ihn statt in der Richtung seines Hauses unwillkürlich immer weiter in die entgegengesetzte führten. Er wollte, er konnte Albertine jetzt nicht entgegentreten. Das Vernünftigste war es, irgendwo auswärts zur Nacht zu essen, dann auf die Abteilung nach seinen zwei Fällen sehen – und keinesfalls daheim sein – »daheim!« –, bevor er sicher sein konnte, Albertine schon schlafend anzutreffen.

Er trat in ein Café, eines der vornehmeren, stilleren in der Nähe des Rathauses, telephonierte nach Hause, daß man ihn zum Abendessen nicht erwarten solle, läutete rasch ab, damit nicht etwa Albertine noch ans Telephon käme, dann setzte er sich an ein Fenster und zog den Vorhang zu. In einer entfernten Ecke nahm eben ein Herr Platz; in dunklem Überzieher, auch sonst ganz unauffällig gekleidet. Fridolin erinnerte sich, diese Physiognomie im Laufe dieses Tages schon irgendwo gesehen zu haben. Das konnte natürlich auch Zufall sein. Er nahm ein Abendblatt zur Hand und las, so wie er es gestern nacht in einem anderen Kaffeehaus getan, da und dort ein paar Zeilen: Berichte über politische Ereignisse, Theater, Kunst, Literatur, über kleine und große Unglücksfälle aller Art. In irgendeiner Stadt Amerikas, deren Namen er niemals gehört hatte, war ein Theater abgebrannt. Der Rauchfangkehrermeister Peter Korand hatte sich zum Fenster hinausgestürzt. Es kam Fridolin irgendwie sonderbar vor, daß auch Rauchfangkehrer sich zuweilen umbrachten, und er fragte sich unwillkürlich, ob der Mann sich vorher ordentlich gewaschen oder schwarz, wie er war, ins Nichts gestürzt hatte. In einem vornehmen Hotel der inneren Stadt hatte sich heute früh eine Frau vergiftet, eine Dame, die unter dem Namen einer Baronin D. vor wenigen Tagen dort abgestiegen war, eine auffallend hübsche Dame. Fridolin fühlte sich sofort ahnungsvoll berührt. Die Dame war morgens um vier Uhr in Begleitung zweier Herren nach Hause gekommen, die am Tore sich von ihr verabschiedeten. Vier Uhr. Gerade zu der Stunde, da auch er nach Hause gekommen war. Und gegen Mittag war sie bewußtlos – so hieß es weiter – mit den Anzeichen einer schweren Vergiftung im Bette aufgefunden worden… Eine auffallend hübsche junge Dame… Nun, es gab manche auffallend hübsche junge Damen… Es war kein Anlaß, anzunehmen, daß die Baronin D., vielmehr die Dame, die unter dem Namen Baronin D. in dem Hotel abgestiegen war, und eine gewisse andere ein und dieselbe Person vorstellen. Und doch – ihm klopfte das Herz, und das Blatt bebte in seiner Hand. In einem vornehmen Stadthotel… in welchem? Warum so geheimnisvoll? – So diskret?…

Er ließ das Blatt sinken und sah, wie zugleich der Herr dort in der fernen Ecke eine Zeitung, eine große illustrierte Zeitung, wie einen Vorhang vor sein Gesicht schob. Sofort nahm auch Fridolin sein Blatt wieder zur Hand, und er wußte in diesem Augenblick, daß die Baronin D. unmöglich jemand anders sein konnte als die Frau von heute nacht… In einem vornehmen Stadthotel… Es gab nicht so viele, die in Betracht kamen – für eine Baronin D…. Und nun mochte geschehen, was da wolle – diese Spur mußte verfolgt werden. Er rief nach dem Kellner, zahlte, ging. An der Tür wandte er sich noch einmal nach dem verdächtigen Herrn in der Ecke um. Der aber war sonderbarerweise schon verschwunden…

Schwere Vergiftung… Aber sie lebte… In dem Augenblick, da man sie aufgefunden hatte, lebte sie noch. Und es war am Ende kein Grund, anzunehmen, daß sie nicht gerettet war. Jedenfalls, ob sie lebte oder tot war – er würde sie finden. Und er würde sie sehen – in jedem Fall –, ob tot oder lebendig. Sehen würde er sie; kein Mensch auf der Erde konnte ihn daran hindern, die Frau zu sehen, die seinetwegen, ja, die für ihn in den Tod gegangen war. Er war schuldig an ihrem Tod – er allein – wenn sie es war. Ja, sie war es. Um vier Uhr morgens nach Hause gekommen in Begleitung zweier Herren! Wahrscheinlich derselben, die ein paar Stunden später Nachtigall zur Bahn gebracht hatten. Sie hatten kein sonderlich reines Gewissen, diese Herren.

Er stand auf dem großen weiten Platz vor dem Rathaus und blickte nach allen Seiten. Nur wenige Menschen befanden sich innerhalb seiner Sehweite, der verdächtige Herr aus dem Kaffeehaus war nicht unter ihnen. Und wenn auch – die Herren fürchteten sich, der Überlegene war er. Fridolin eilte weiter, auf dem Ring nahm er einen Wagen, ließ sich zuerst zum Hotel Bristol fahren und erkundigte sich bei dem Portier, als wäre er dazu befugt oder beauftragt, ob die Frau Baronin D., die sich heute morgen bekanntlich vergiftet, hier in dem Hotel gewohnt habe. Der Portier schien weiter nicht erstaunt, hielt Fridolin vielleicht für einen Herrn von der Polizei oder sonst eine Amtsperson, in jedem Fall erwiderte er höflich, daß sich der traurige Fall nicht hier, sondern im Hotel Erzherzog Karl zugetragen habe…

Fridolin fuhr sofort in das bezeichnete Hotel und erhielt dort die Auskunft, daß die Baronin D. unverzüglich nach ihrer Auffindung ins Allgemeine Krankenhaus geschafft worden sei. Fridolin erkundigte sich, auf welche Weise die Entdeckung des Selbstmordversuches erfolgt sei. Was für Anlaß denn vorgelegen habe, sich schon um die Mittagsstunde um eine Dame zu kümmern, die doch erst um vier Uhr früh nach Hause gekommen war? Nun, das war ganz einfach: zwei Herren (also wieder zwei Herren!) hatten vormittags um elf Uhr nach ihr gefragt. Da die Dame sich auf wiederholten telephonischen Anruf nicht gemeldet, hatte das Stubenmädchen an die Türe geklopft; da sich darauf wieder nichts gerührt hatte und die Türe von innen verriegelt blieb, war nichts übriggeblieben, als sie aufzusprengen, und da hatte man die Baronin bewußtlos im Bette liegend gefunden. Man hatte sofort Rettungsgesellschaft und Polizei verständigt.

»Und die zwei Herren?« fragte Fridolin scharf und kam sich selbst vor wie ein Geheimpolizist.

Ja, die Herren, das gab freilich zu denken, die waren indes spurlos verschwunden. Im übrigen dürfte es sich keineswegs um eine Baronin Dubieski gehandelt haben, unter welchem Namen die Dame im Hotel gemeldet war. Sie war das erstemal in diesem Hotel abgestiegen, und es gab überhaupt keine Familie dieses Namens, jedenfalls keine adlige.

Fridolin dankte für die Auskunft, entfernte sich ziemlich rasch, da einer der eben hinzugetretenen Hoteldirektoren ihn mit unangenehmer Neugier zu mustern begann, stieg wieder in den Wagen und ließ sich zum Krankenhaus fahren. Wenige Minuten später, in der Aufnahmekanzlei, erfuhr er nicht nur, daß die angebliche Baronin Dubieski auf die zweite interne Klinik eingeliefert worden, sondern daß sie nachmittags um fünf, trotz aller ärztlichen Bemühungen – ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben – gestorben war.

Fridolin holte tief Atem, so glaubte er, doch es war ein schwerer Seufzer gewesen, der sich ihm entrungen. Der diensthabende Beamte blickte mit einiger Verwunderung zu ihm auf. Fridolin faßte sich gleich wieder, empfahl sich höflich und stand in der nächsten Minute im Freien. Der Krankenhausgarten war fast menschenleer. In einer benachbarten Allee unter einer Laterne ging eben eine Wärterin in blau weiß gestreiftem Kittel und weißem Häubchen. »Tot«, sagte Fridolin vor sich hin. Wenn sie es ist. Und wenn sie es nicht ist? Wenn sie noch lebt, wie kann ich sie finden?

Wo der Leichnam der Unbekannten sich in diesem Augenblick befand, diese Frage konnte er sich leicht beantworten. Da sie erst vor wenigen Stunden gestorben war, lag sie jedenfalls in der Totenkammer, nur wenige hundert Schritte von hier. Schwierigkeiten für ihn als Arzt, sich auch in dieser späten Stunde dort Eingang zu verschaffen, gab es natürlich nicht. Doch – was wollte er dort? Er kannte ja nur ihren Körper, ihr Antlitz hatte er nie gesehen, nur eben einen flüchtigen Schimmer davon erhascht in der Sekunde, da er heute nacht den Tanzsaal verlassen hatte oder, richtiger gesagt, aus dem Saal gejagt worden war. Doch daß er diesen Umstand bis jetzt gar nicht erwogen, das kam daher, daß er in diesen ganzen letztverflossenen Stunden, seit er die Zeitungsnotiz gelesen, die Selbstmörderin, deren Antlitz er nicht kannte, sich mit den Zügen Albertinens vorgestellt hatte, ja, daß ihm, wie er nun erst erschaudernd wußte, ununterbrochen seine Gattin als die Frau vor Augen geschwebt war, die er suchte. Und nochmals fragte er sich, was er eigentlich in der Totenkammer wollte? Ja, hätte er sie lebend wiedergefunden, heute, morgen – in Jahren, wann, wo und in welcher Umgebung immer –, an ihrem Gang, ihrer Haltung, ihrer Stimme vor allem hätte er sie, so war er überzeugt, unwidersprechlich erkannt. Nun aber sollte er nur den Körper wiedersehen, einen toten Frauenkörper und ein Antlitz, von dem er nichts kannte als die Augen – Augen, die nun gebrochen waren. Ja – diese Augen kannte er und die Haare, die sich in jenem letzten Augenblick, ehe man ihn aus dem Saal gejagt, plötzlich gelöst und die nackte Gestalt verhüllt hatten. Würde das genug sein, um ihn untrüglich wissen zu lassen, ob sie es sei oder nicht?

Und langsamen, zögernden Schritts nahm er den Weg durch die wohlbekannten Höfe nach dem Pathologisch-anatomischen Institut. Er fand das Tor unverschlossen, so daß er nicht nötig hatte zu klingeln. Der steinerne Fußboden hallte unter seinen Tritten, als er durch den schwach beleuchteten Gang schritt. Ein vertrauter, gewissermaßen heimatlicher Geruch von allerlei Chemikalien, der den angestammten Duft dieses Gebäudes übertönte, umfing Fridolin. Er klopfte an die Tür des histologischen Kabinetts, wo er wohl noch einen Assistenten bei der Arbeit vermuten durfte. Auf ein etwas unwirsches »Herein« trat Fridolin in den hohen, geradezu festlich erhellten Raum, in dessen Mitte, das Auge eben vom Mikroskop entfernend, wie Fridolin beinahe erwartet, sein alter Studienkollege, der Assistent des Institutes, Doktor Adler, sich von seinem Stuhl erhob.

»Oh, lieber Kollege«, begrüßte ihn Doktor Adler immer noch etwas unwillig, aber zugleich verwundert, »was verschafft mir die Ehre zu so ungewohnter Stunde?«

»Entschuldige die Störung«, sagte Fridolin. »Du bist gerade mitten in der Arbeit.«

»Allerdings«, erwiderte Adler in dem scharfen Ton, der ihm noch von seiner Burschenzeit eigen war. Und leichter fügte er hinzu: »Was sollte man in diesen heiligen Hallen sonst um Mitternacht zu schaffen haben? Aber du störst mich natürlich nicht im geringsten. Womit kann ich dienen?«

Und da Fridolin nicht gleich antwortete: »Der Addison, den ihr uns heute heruntergeliefert habt, liegt noch in holder Unberührtheit da drüben. Sektion morgen früh acht Uhr dreißig.«

Und auf eine verneinende Bewegung Fridolins: »Ah so – der Pleuratumor! Nun – die histologische Untersuchung hat unwiderleglich Sarkom ergeben. Darüber braucht ihr euch also auch keine grauen Haare wachsen zu lassen.«

Fridolin schüttelte wieder den Kopf. »Es handelt sich um keine – dienstliche Angelegenheit.«

»Na, um so besser«, sagte Adler, »ich hab‘ schon geglaubt, das schlechte Gewissen treibt dich da herunter zu nachtschlafender Zeit.«

»Mit schlechtem Gewissen oder wenigstens mit Gewissen überhaupt hängt es schon eher zusammen«, erwiderte Fridolin.

»Oh!«

»Kurz und gut« – er befliß sich eines harmlos-trockenen Tones –, »ich möchte gern Auskunft wegen einer Frauensperson, die heute abend auf der zweiten Klinik an Morphiumvergiftung gestorben ist und die jetzt da herunten liegen dürfte, eine gewisse Baronin Dubieski.« Und rascher fuhr er fort: »Ich habe nämlich die Vermutung, daß diese angebliche Baronin Dubieski eine Person ist, die ich vor Jahren flüchtig gekannt habe. Und es würde mich interessieren, ob meine Vermutung stimmt.«

»Suicidium?« fragte Adler.

Fridolin nickte. »Ja. Selbstmord«, übersetzte er, als wünschte er damit der Angelegenheit wieder ihren privaten Charakter zu verleihen.

Adler deutete mit humoristisch gestrecktem Zeigefinger auf Fridolin. »Unglückliche Liebe zu Euer Hochwohlgeboren?«

Fridolin verneinte etwas ärgerlich. »Der Selbstmord dieser Baronin Dubieski hat mit meiner Person nicht das geringste zu tun.«

»Bitte, bitte, ich will nicht indiskret sein. Wir können uns ja sofort überzeugen. Meines Wissens ist heute abend keine Anforderung von der gerichtlichen Medizin gekommen. Also jedenfalls –«

Gerichtliche Obduktion, zuckte es durch Fridolins Hirn. Das könnte wohl noch der Fall sein. Wer weiß, ob ihr Selbstmord überhaupt ein freiwilliger war? Die zwei Herren fielen ihm wieder ein, die so plötzlich aus dem Hotel verschwunden waren, nachdem sie von dem Selbstmordversuch erfahren hatten. Die Angelegenheit könnte sich wohl noch zu einer Kriminalaffäre ersten Ranges entwickeln. Und ob er – Fridolin – nicht gar als Zeuge vorgeladen würde ja, ob er nicht eigentlich verpflichtet wäre, sich freiwillig bei Gericht zu melden?

Er folgte Doktor Adler über den Gang zu der gegenüberliegenden Türe, die halb offen stand. Der kahle hohe Raum war durch die zwei offenen, etwas heruntergeschraubten Flammen eines zweiarmigen Gaslüsters schwach beleuchtet. Von den zwölf oder vierzehn Leichentischen war nur die geringere Anzahl belegt. Einige Körper lagen nackt da, über die anderen waren Leinentücher gebreitet. Fridolin trat zu dem ersten Tisch gleich an der Türe und zog vorsichtig das Tuch von dem Kopf der Leiche weg. Ein greller Lichtschein von der elektrischen Taschenlampe des Doktor Adler fiel plötzlich hin. Fridolin sah ein gelbes, graubärtiges Männergesicht und bedeckte es gleich wieder mit dem Leichentuch. Auf dem nächsten Tisch lag ein hagerer nackter Jünglingsleib. Doktor Adler, von einem anderen Tische her, sagte: »Eine zwischen sechzig und siebzig, die wird’s also wohl auch nicht sein.«

Fridolin aber, wie plötzlich hingezogen, schritt ans Ende des Saales, von wo ein Frauenleib ihm fahl entgegenleuchtete. Der Kopf war zur Seite gesenkt; lange, dunkle Haarsträhnen fielen fast bis zum Fußboden herab. Unwillkürlich streckte Fridolin die Hand aus, um den Kopf zurechtzurücken, doch mit einer Scheu, die ihm, dem Arzt, sonst fremd war, zögerte er wieder. Doktor Adler war herzugetreten und bemerkte hinter sich deutend: »Kommen alle nicht in Betracht – – also die?« Und er leuchtete mit der elektrischen Lampe auf den Frauenkopf, den Fridolin eben, seine Scheu überwindend, mit beiden Händen gefaßt und ein wenig emporgehoben hatte. Ein weißes Antlitz mit halbgeschlossenen Lidern starrte ihm entgegen. Der Unterkiefer hing schlaff herab, die schmale, hinaufgezogene Oberlippe ließ das bläuliche Zahnfleisch und eine Reihe weißer Zähne sehen. Ob dieses Antlitz irgendeinmal, ob es vielleicht gestern noch schön gewesen – Fridolin hätte es nicht zu sagen vermocht –, es war ein völlig nichtiges, leeres, es war ein totes Antlitz. Es konnte ebensogut einer Achtzehnjährigen als einer Achtunddreißigjährigen angehören.

»Ist sie’s?« fragte Doktor Adler.

Fridolin beugte sich unwillkürlich tiefer herab, als könnte sein bohrender Blick den starren Zügen eine Antwort entreißen. Und er wußte doch zugleich, auch wenn es wirklich ihr Antlitz wäre, ihre Augen, dieselben Augen, die gestern so lebensheiß in die seinen geleuchtet, er wüßte es nicht, könnte es – wollte es am Ende gar nicht wissen. Und sanft legte er den Kopf wieder auf die Platte hin und ließ seinen Blick den toten Körper entlang schweifen, vom wandernden Schein der elektrischen Lampe geleitet. War es ihr Leib? – der wunderbare, blühende, gestern noch so qualvoll ersehnte? Er sah einen gelblichen, faltigen Hals, er sah zwei kleine und doch etwas schlaff gewordene Mädchenbrüste, zwischen denen, als wäre das Werk der Verwesung schon vorgebildet, das Brustbein mit grausamer Deutlichkeit sich unter der bleichen Haut abzeichnete, er sah die Rundung des mattbraunen Unterleibs, er sah, wie von einem dunklen, nun geheimnis- und sinnlos gewordenen Schatten aus wohlgeformte Schenkel sich gleichgültig öffneten, sah die leise auswärts gedrehten Kniewölbungen, die scharfen Kanten der Schienbeine und die schlanken Füße mit den einwärts gekrümmten Zehen. All dies versank nacheinander rasch wieder im Dunkel, da der Lichtkegel der elektrischen Lampe den Weg zurück mit vielfacher Geschwindigkeit zurücklegte, bis er endlich leicht zitternd über dem bleichen Antlitz ruhen blieb. Unwillkürlich, ja wie von einer unsichtbaren Macht gezwungen und geführt, berührte Fridolin mit beiden Händen die Stirne, die Wangen, die Schultern, die Arme der toten Frau; dann schlang er seine Finger wie zu einem Liebesspiel in die der Toten, und so starr sie waren, es schien ihm, als versuchten sie sich zu regen, die seinen zu ergreifen; ja ihm war, als irrte unter den halbgeschlossenen Lidern ein ferner, farbloser Blick nach dem seinen; und wie magisch angezogen beugte er sich herab.

Da flüsterte es plötzlich hinter ihm: »Aber was treibst du denn?«

Fridolin kam jählings zur Besinnung. Er löste seine Finger aus denen der Toten, umklammerte ihre schmalen Handgelenke und legte sorglich, ja mit einer gewissen Pedanterie die eiskalten Arme zu seiten des Rumpfes hin. Und ihm war, als ob jetzt, eben erst in diesem Augenblick, dieses Weib gestorben sei. Dann wandte er sich ab, lenkte die Schritte zur Türe und über den hallenden Gang, trat in das Arbeitskabinett zurück, das man früher verlassen. Doktor Adler folgte ihm schweigend und schloß hinter ihnen ab.

Fridolin trat ans Waschbecken. »Du erlaubst«, sagte er und reinigte seine Hände sorgfältig mit Lysol und Seife. Indes schien Doktor Adler ohne weiteres seine unterbrochene Arbeit wieder aufnehmen zu wollen. Er hatte die entsprechende Lichtvorrichtung neu eingeschaltet, drehte die Mikrometerschraube und blickte ins Mikroskop. Als Fridolin zu ihm trat, um sich zu verabschieden, war Doktor Adler völlig in seine Arbeit vertieft.

»Willst du dir das Präparat einmal anschauen?« fragte er.

»Warum?« fragte Fridolin abwesend.

»Nun, zur Beruhigung deines Gewissens«, erwiderte Doktor Adler – als nähme er doch an, daß Fridolins Besuch nur einen medizinisch-wissenschaftlichen Zweck gehabt hätte.

»Findest du dich zurecht?« fragte er, während Fridolin ins Mikroskop schaute. »Es ist nämlich eine ziemlich neue Färbungsmethode.«

Fridolin nickte, ohne das Auge vom Glas zu entfernen. »Geradezu ideal«, bemerkte er, »ein farbenprächtiges Bild, könnte man sagen.«

Und er erkundigte sich nach verschiedenen Einzelheiten der neuen Technik.

Doktor Adler gab ihm die gewünschten Aufklärungen, und Fridolin äußerte die Ansicht, daß ihm diese neue Methode bei einer Arbeit, die er für die nächste Zeit vorhabe, voraussichtlich gute Dienste leisten würde. Er erbat sich die Erlaubnis, morgen oder übermorgen wiederkommen zu dürfen, um sich weitere Aufschlüsse zu holen.

»Stets gerne zu Diensten«, sagte Doktor Adler, begleitete Fridolin über die hallenden Steinfliesen bis zum Tore, das indessen geschlossen worden war, und sperrte es mit seinem eigenen Schlüssel auf.

»Du bleibst noch?« fragte Fridolin.

»Aber natürlich«, erwiderte Doktor Adler, »das sind ja die allerschönsten Arbeitsstunden – so von Mitternacht bis früh. Da ist man wenigstens vor Störungen ziemlich sicher.«

»Na –«, sagte Fridolin mit einem leisen, wie schuldbewußten Lächeln.

Doktor Adler legte die Hand beruhigend auf Fridolins Arm, dann fragte er mit einiger Zurückhaltung: »Also – war sie’s?«

Fridolin zögerte einen Augenblick, dann nickte er wortlos, und war sich kaum bewußt, daß diese Bejahung möglicherweise eine Unwahrheit bedeutete. Denn ob die Frau, die nun da drin in der Totenkammer lag, dieselbe war, die er vor vierundzwanzig Stunden zu den wilden Klängen von Nachtigalls Klavierspiel nackt in den Armen gehalten, oder ob diese Tote irgendeine andere, eine Unbekannte, eine ganz Fremde war, der er niemals vorher begegnet; er wußte: auch wenn das Weib noch am Leben war, das er gesucht, das er verlangt, das er eine Stunde lang vielleicht geliebt hatte, und, wie immer sie dieses Leben weiter lebte; – was da hinter ihm lag in der gewölbten Halle, im Scheine von flackernden Gasflammen, ein Schatten unter ändern Schatten, dunkel, sinn- und geheimnislos wie sie – ihm bedeutete es, ihm konnte es nichts anderes mehr bedeuten als, zu unwiderruflicher Verwesung bestimmt, den bleichen Leichnam der vergangenen Nacht.

7

Durch die finsteren menschenleeren Gassen eilte er nach Hause, und wenige Minuten später, nachdem er, wie vierundzwanzig Stunden vorher, schon in seinem Ordinationszimmer sich entkleidet hatte, so leise als möglich betrat er das eheliche Schlafgemach.

Er hörte den gleichmäßig-ruhigen Atem Albertinens und sah die Umrisse ihres Kopfes sich auf dem weichen Polster abzeichnen. Ein Gefühl von Zärtlichkeit, ja von Geborgenheit, wie er es nicht erwartet, durchdrang seine Herz. Und er nahm sich vor, ihr bald, vielleicht morgen schon, die Geschichte der vergangenen Nacht zu erzählen, doch so, als wäre alles, was er erlebt, ein Traum gewesen – und dann, erst wenn sie die ganze Nichtigkeit seiner Abenteuer gefühlt und erkannt hatte, wollte er ihr gestehen, daß sie Wirklichkeit gewesen waren. Wirklichkeit? fragte er sich – und gewahrte in diesem Augenblick, ganz nahe dem Antlitz Albertines auf dem benachbarten, auf seinem Polster etwas Dunkles, Abgegrenztes, wie die umschatteten Linien eines menschlichen Gesichts. Einen Moment nur stand ihm das Herz still, im nächsten schon wußte er, woran er war, griff nach dem Polster hin und hielt die Maske in der Hand, die er während der vorigen Nacht getragen, die ihm, während er heute morgen das Paket zusammengerollt, ohne daß er es bemerkt, entglitten, und von dem Stubenmädchen oder Albertine selbst gefunden sein mochte. So konnte er auch nicht daran zweifeln, daß Albertine nach diesem Fund mancherlei ahnte und vermutlich noch mehr und noch Schlimmeres, als sich tatsächlich ereignet hatte. Doch die Art, wie sie ihm das zu verstehen gab, ihr Einfall, die dunkle Larve neben sich auf das Polster hinzulegen, als hätte sie nun sein, des Gatten, ihr nun rätselhaft gewordenes Antlitz zu bedeuten, diese scherzhafte, fast übermütige Art, in der zugleich eine milde Warnung und die Bereitwilligkeit des Verzeihens ausgedrückt schien, gab Fridolin die sichere Hoffnung, daß sie, wohl in Erinnerung ihres eigenen Traums – was auch geschehen sein mochte, geneigt war, es nicht allzu schwer zu nehmen. Fridolin aber, mit einem Male am Ende seiner Kräfte, ließ die Maske zu Boden gleiten, schluchzte, sich selbst ganz unerwartet, laut und schmerzlich auf, sank neben dem Bette nieder und weinte leise in die Kissen hinein.

Nach wenigen Sekunden fühlte er eine weiche Hand über seine Haare streichen. Da erhob er sein Haupt, und aus der Tiefe seines Herzens entrang sich’s ihm: »Ich will dir alles erzählen.«

Sie hob zuerst, wie in leiser Abwehr die Hand; er faßte sie, behielt sie in der seinen, sah wie fragend und zugleich bittend zu ihr auf, sie nickte ihm zu und er begann.

Der Morgen dämmerte grau durch die Vorhänge, als Fridolin zu Ende war. Nicht ein einziges Mal hatte ihn Albertine mit einer neugierigen oder ungeduldigen Frage unterbrochen. Sie fühlte wohl, daß er ihr nichts verschweigen wollte und konnte. Ruhig lag sie da, die Arme im Nacken verschlungen, und schwieg noch lange, als Fridolin schon längst geendet hatte. Endlich – er lag an ihrer Seite hingestreckt – beugte er sich über sie, und in ihr regungsloses Antlitz mit den großen hellen Augen, in denen jetzt auch der Morgen aufzugehen schien, fragte er zweifelnd und hoffnungsvoll zugleich: »Was sollen wir tun, Albertine?«

Sie lächelte, und nach kurzem Zögern erwiderte sie: »Dem Schicksal dankbar sein, glaube ich, daß wir aus allen Abenteuern heil davongekommen sind – aus den wirklichen und aus den geträumten.«

»Weißt du das auch ganz gewiß?« fragte er.

»So gewiß, als ich ahne, daß die Wirklichkeit einer Nacht, ja daß nicht einmal die eines ganzen Menschenlebens zugleich auch seine innerste Wahrheit bedeutet.«

»Und kein Traum«, seufzte er leise, »ist völlig Traum.«

Sie nahm seinen Kopf in beide Hände und bettete ihn innig an ihre Brust. »Nun sind wir wohl erwacht«, sagte sie – »für lange.«

Für immer, wollte er hinzufügen, aber noch ehe er die Worte ausgesprochen, legte sie ihm einen Finger auf die Lippen und, wie vor sich hin, flüsterte sie: »Niemals in die Zukunft fragen.«

So lagen sie beide schweigend, beide wohl auch ein wenig schlummernd und einander traumlos nah – bis es wie jeden Morgen um sieben Uhr an die Zimmertür klopfte und mit den gewohnten Geräuschen von der Straße her, einem sieghaften Lichtstrahl durch den Vorhangspalt und einem hellen Kinderlachen von nebenan der neue Tag begann.

1

»Vierundzwanzig braune Sklaven ruderten die prächtige Galeere, die den Prinzen Amgiad zu dem Palast des Kalifen bringen sollte. Der Prinz aber, in seinen Purpurmantel gehüllt, lag allein auf dem Verdeck unter dem dunkelblauen, sternbesäten Nachthimmel, und sein Blick –«

Bis hierher hatte die Kleine laut gelesen; jetzt, beinahe plötzlich, fielen ihr die Augen zu. Die Eltern sahen einander lächelnd an, Fridolin beugte sich zu ihr nieder, küßte sie auf das blonde Haar und klappte das Buch zu, das auf dem noch nicht abgeräumten Tische lag. Das Kind sah auf wie ertappt.

»Neun Uhr«, sagte der Vater, »es ist Zeit schlafen zu gehen.« Und da sich nun auch Albertine zu dem Kind herabgebeugt hatte, trafen sich die Hände der Eltern auf der geliebten Stirn, und mit zärtlichem Lächeln, das nun nicht mehr dem Kinde allein galt, begegneten sich ihre Blicke. Das Fräulein trat ein, mahnte die Kleine, den Eltern gute Nacht zu sagen; gehorsam erhob sie sich, reichte Vater und Mutter die Lippen zum Kuß und ließ sich von dem Fräulein ruhig aus dem Zimmer führen. Fridolin und Albertine aber, nun allein geblieben unter dem rötlichen Schein der Hängelampe, hatten es mit einemmal eilig, ihre vor dem Abendessen begonnene Unterhaltung über die Erlebnisse auf der gestrigen Redoute wieder aufzunehmen.

Es war in diesem Jahr ihr erstes Ballfest gewesen, an dem sie gerade noch vor Karnevalschluß teilzunehmen sich entschlossen hatten. Was Fridolin betraf, so war er gleich beim Eintritt in den Saal wie ein mit Ungeduld erwarteter Freund von zwei roten Dominos begrüßt worden, über deren Person er sich nicht klar zu werden vermochte, obzwar sie über allerlei Geschichten aus seiner Studenten- und Spitalzeit auffallend genauen Bescheid wußten. Aus der Loge, in die sie ihn mit verheißungsvoller Freundlichkeit geladen, hatten sie sich mit dem Versprechen entfernt, sehr bald, und zwar unmaskiert, zurückzukommen, waren aber so lange fortgeblieben, daß er, ungeduldig geworden, vorzog, sich ins Parterre zu begeben, wo er den beiden fragwürdigen Erscheinungen wieder zu begegnen hoffte. So angestrengt er auch umherspähte, nirgends vermochte er sie zu erblicken; statt ihrer aber hing sich unversehens ein anderes weibliches Wesen in seinen Arm: seine Gattin, die sich eben jäh einem Unbekannten entzogen, dessen melancholisch-blasiertes Wesen und fremdländischer, anscheinend polnischer Akzent sie anfangs bestrickt, der sie aber plötzlich durch ein unerwartet hingeworfenes, häßlich-freches Wort verletzt, ja erschreckt hatte. Und so saßen Mann und Frau, im Grunde froh, einem enttäuschend banalen Maskenspiel entronnen zu sein, bald wie zwei Liebende, unter andern verliebten Paaren, im Büfettraum bei Austern und Champagner, plauderten sich vergnügt, als hätten sie eben erst Bekanntschaft miteinander geschlossen, in eine Komödie der Galanterie, des Widerstandes, der Verführung und des Gewährens hinein; und nach einer raschen Wagenfahrt durch die weiße Winternacht sanken sie einander daheim zu einem schon lange Zeit nicht mehr so heiß erlebten Liebesglück in die Arme. Ein grauer Morgen weckte sie allzubald. Den Gatten forderte sein Beruf schon in früher Stunde an die Betten seiner Kranken; Hausfrau und Mutterpflichten ließen Albertine kaum länger ruhen. So waren die Stunden nüchtern und vorbestimmt in Alltagspflicht und Arbeit hingegangen, die vergangene Nacht, Anfang wie Ende, war verblaßt; und jetzt erst, da beider Tagewerk vollendet, das Kind schlafen gegangen und von nirgendher eine Störung zu gewärtigen war, stiegen die Schattengestalten von der Redoute, der melancholische Unbekannte und die roten Dominos, wieder zur Wirklichkeit empor; und jene unbeträchtlichen Erlebnisse waren mit einemmal vom trügerischen Scheine versäumter Möglichkeiten zauberhaft und schmerzlich umflossen. Harmlose und doch lauernde Fragen, verschmitzte, doppeldeutige Antworten wechselten hin und her; keinem von beiden entging, daß der andere es an der letzten Aufrichtigkeit fehlen ließ, und so fühlten sich beide zu gelinder Rache aufgelegt. Sie übertrieben das Maß der Anziehung, das von ihren unbekannten Redoutenpartnern auf sie ausgestrahlt hätte, spotteten der eifersüchtigen Regungen, die der andere merken ließ, und leugneten ihre eigenen weg. Doch aus dem leichten Geplauder über die nichtigen Abenteuer der verflossenen Nacht gerieten sie in ein ernsteres Gespräch über jene verborgenen, kaum geahnten Wünsche, die auch in die klarste und reinste Seele trübe und gefährliche Wirbel zu reißen vermögen, und sie redeten von den geheimen Bezirken, nach denen sie kaum Sehnsucht verspürten und wohin der unfaßbare Wind des Schicksals sie doch einmal, und wär’s auch nur im Traum, verschlagen könnte. Denn so völlig sie einander in Gefühl und Sinnen angehörten, sie wußten, daß gestern nicht zum erstenmal ein Hauch von Abenteuer, Freiheit und Gefahr sie angerührt; bang, selbstquälerisch, in unlauterer Neugier versuchten sie eines aus dem andern Geständnisse hervorzulocken und, ängstlich näher zusammenrückend, forschte jedes in sich nach irgendeiner Tatsache, so gleichgültig, nach einem Erlebnis, so nichtig es sein mochte, das für das Unsagbare als Ausdruck gelten und dessen aufrichtige Beichte sie vielleicht von einer Spannung und einem Mißtrauen befreien könnte, das allmählich unerträglich zu werden anfing. Albertine, ob sie nun die Ungeduldigere, die Ehrlichere oder die Gütigere von den beiden war, fand zuerst den Mut zu einer offenen Mitteilung; und mit etwas schwankender Stimme fragte sie Fridolin, ob er sich des jungen Mannes erinnere, der im letztverflossenen Sommer am dänischen Strand eines Abends mit zwei Offizieren am benachbarten Tisch gesessen, während des Abendessens ein Telegramm erhalten und sich daraufhin eilig von seinen Freunden verabschiedet hatte.

Fridolin nickte. »Was war’s mit dem?« fragte er.

»Ich hatte ihn schon des Morgens gesehen«, erwiderte Albertine, »als er eben mit seiner gelben Handtasche eilig die Hoteltreppe hinanstieg. Er hatte mich flüchtig gemustert, aber erst ein paar Stufen höher blieb er stehen, wandte sich nach mir um, und unsere Blicke mußten sich begegnen. Er lächelte nicht, ja, eher schien mir, daß sein Antlitz sich verdüsterte, und mir erging es wohl ähnlich, denn ich war bewegt wie noch nie. Den ganzen Tag lag ich traumverloren am Strand. Wenn er mich riefe – so meinte ich zu wissen –, ich hätte nicht widerstehen können. Zu allem glaubte ich mich bereit; dich, das Kind, meine Zukunft hinzugeben, glaubte ich mich so gut wie entschlossen, und zugleich – wirst du es verstehen? – warst du mir teurer als je. Gerade an diesem Nachmittag, du mußt dich noch erinnern, fügte es sich, daß wir so vertraut über tausend Dinge, auch über unsere gemeinsame Zukunft, auch über das Kind plauderten, wie schon seit lange nicht mehr. Bei Sonnenuntergang saßen wir auf dem Balkon, du und ich, da ging er vorüber unten am Strand, ohne aufzublicken, und ich war beglückt, ihn zu sehen. Dir aber strich ich über die Stirne und küßte dich aufs Haar, und in meiner Liebe zu dir war zugleich viel schmerzliches Mitleid. Am Abend war ich sehr schön, du hast es mir selber gesagt, und trug eine weiße Rose im Gürtel. Es war vielleicht kein Zufall, daß der Fremde mit seinen Freunden in unserer Nähe saß. Er blickte nicht zu mir her, ich aber spielte mit dem Gedanken, aufzustehen, an seinen Tisch zu treten und ihm zu sagen: Da bin ich, mein Erwarteter, mein Geliebter nimm mich hin. In diesem Augenblick brachte man ihm das Telegramm, er las, erblaßte, flüsterte dem jüngeren der beiden Offiziere einige Worte zu, und mit einem rätselhaften Blick mich streifend, verließ er den Saal.«

»Und?« fragte Fridolin trocken, als sie schwieg.

»Nichts weiter. Ich weiß nur, daß ich am nächsten Morgen mit einer gewissen Bangigkeit erwachte. Wovor mir mehr bangte – ob davor, daß er abgereist, oder davor, daß er noch da sein könnte –, das weiß ich nicht, das habe ich auch damals nicht gewußt. Doch als er auch mittags verschwunden blieb, atmete ich auf. Frage mich nicht weiter, Fridolin, ich habe dir die ganze Wahrheit gesagt. – Und auch du hast an jenem Strand irgend etwas erlebt, – ich weiß es.«

Fridolin erhob sich, ging ein paarmal im Zimmer auf und ab, dann sagte er: »Du hast recht.« Er stand am Fenster, das Antlitz im Dunkel. »Des Morgens«, begann er mit verschleierter, etwas feindseliger Stimme, »manchmal sehr früh noch, ehe du aufgestanden warst, pflegte ich längs des Ufers dahinzuwandern, über den Ort hinaus; und, so früh es war, immer lag schon die Sonne hell und stark über dem Meer. Da draußen am Strand gab es kleine Landhäuser, wie du weißt, die, jedes, dastanden, eine kleine Welt für sich, manche mit umplankten Gärten, manche auch nur von Wald umgeben, und die Badehütten waren von den Häusern durch die Landstraße und ein Stück Strand getrennt. Kaum daß ich je in so früher Stunde Menschen begegnete; und Badende waren überhaupt niemals zu sehen. Eines Morgens aber wurde ich ganz plötzlich einer weiblichen Gestalt gewahr, die, eben noch unsichtbar gewesen, auf der schmalen Terrasse einer in den Sand gepfählten Badehütte, einen Fuß vor den andern setzend, die Arme nach rückwärts an die Holzwand gespreitet, sich vorsichtig weiterbewegte. Es war ein ganz junges, vielleicht fünfzehnjähriges Mädchen mit aufgelöstem blonden Haar, das über die Schultern und auf der einen Seite über die zarte Brust herabfloß. Das Mädchen sah vor sich hin, ins Wasser hinab, langsam glitt es längs der Wand weiter, mit gesenktem Auge nach der andern Ecke hin, und plötzlich stand es mir gerade gegenüber; mit den Armen griff sie weit hinter sich, als wollte sie sich fester anklammern, sah auf und erblickte mich plötzlich. Ein Zittern ging durch ihren Leib, als müßte sie sinken oder fliehen. Doch da sie auf dem schmalen Brett sich doch nur ganz langsam hätte weiterbewegen können, entschloß sie sich innezuhalten – und stand nun da, zuerst mit einem erschrockenen, dann mit einem zornigen, endlich mit einem verlegenen Gesicht. Mit einemmal aber lächelte sie, lächelte wunderbar; es war ein Grüßen, ja ein Winken in ihren Augen – und zugleich ein leiser Spott, mit dem sie ganz flüchtig zu ihren Füßen das Wasser streifte, das mich von ihr trennte. Dann reckte sie den jungen schlanken Körper hoch, wie ihrer Schönheit froh, und, wie leicht zu merken war, durch den Glanz meines Blicks, den sie auf sich fühlte, stolz und süß erregt. So standen wir uns gegenüber, vielleicht zehn Sekunden lang, mit halboffenen Lippen und flimmernden Augen. Unwillkürlich breitete ich meine Arme nach ihr aus, Hingebung und Freude war in ihrem Blick. Mit einemmal aber schüttelte sie heftig den Kopf, löste einen Arm von der Wand, deutete gebieterisch, ich solle mich entfernen; und als ich es nicht gleich über mich brachte zu gehorchen, kam ein solches Bitten, ein solches Flehen in ihre Kinderaugen, daß mir nichts anderes übrigblieb, als mich abzuwenden. So rasch als möglich setzte ich meinen Weg wieder fort; ich sah mich kein einziges Mal nach ihr um, nicht eigentlich aus Rücksicht, aus Gehorsam, aus Ritterlichkeit, sondern darum, weil ich unter ihrem letzten Blick eine solche, über alles je Erlebte hinausgehende Bewegung verspürt hatte, daß ich mich einer Ohnmacht nah fühlte.« Und er schwieg.

»Und wie oft«, fragte Albertine, vor sich hinsehend und ohne jede Betonung, »bist du nachher noch denselben Weg gegangen?«

»Was ich dir erzählt habe«, erwiderte Fridolin, »ereignete sich zufällig am letzten Tag unseres Aufenthalts in Dänemark. Auch ich weiß nicht, was unter anderen Umständen geworden wäre. Frag‘ auch du nicht weiter, Albertine.«

Er stand immer noch am Fenster, unbeweglich. Albertine erhob sich, trat auf ihn zu, ihr Auge war feucht und dunkel, leicht gerunzelt die Stirn. »Wir wollen einander solche Dinge künftighin immer gleich erzählen«, sagte sie.

Er nickte stumm.

»Versprich’s mir.«

Er zog sie an sich. »Weißt du das nicht?« fragte er; aber seine Stimme klang immer noch hart.

Sie nahm seine Hände, streichelte sie und sah zu ihm auf mit umflorten Augen, auf deren Grund er ihre Gedanken zu lesen vermochte. Jetzt dachte sie seiner andern, wirklicherer, dachte seiner Jünglingserlebnisse, in deren manche sie eingeweiht war, da er, ihrer eifersüchtigen Neugier allzu willig nachgebend, ihr in den ersten Ehejahren manches verraten, ja, wie ihm oftmals scheinen wollte, preisgegeben, was er lieber für sich hätte behalten sollen. In dieser Stunde, er wußte es, drängte manche Erinnerung sich ihr mit Notwendigkeit auf, und er wunderte sich kaum, als sie, wie aus einem Traum, den halbvergessenen Namen einer seiner Jugendgeliebten aussprach. Doch wie ein Vorwurf, ja wie eine leise Drohung klang er ihm entgegen.

Er zog ihre Hände an seine Lippen.

»In jedem Wesen – glaub‘ es mir, wenn es auch wohlfeil klingen mag –, in jedem Wesen, das ich zu lieben meinte, habe ich immer nur dich gesucht. Das weiß ich besser, als du es verstehen kannst, Albertine.«

Sie lächelte trüb. »Und wenn es auch mir beliebt hätte, zuerst auf die Suche zu gehen?« sagte sie. Ihr Blick veränderte sich, wurde kühl und undurchdringlich. Er ließ ihre Hände aus den seinen gleiten, als hätte er sie auf einer Unwahrheit, auf einem Verrat ertappt; sie aber sagte: »Ach, wenn ihr wüßtet«, und wieder schwieg sie.

»Wenn wir wüßten –? Was willst du damit sagen?«

Mit seltsamer Härte erwiderte sie: »Ungefähr, was du dir denkst, mein Lieber.«

»Albertine – so gibt es etwas, was du mir verschwiegen hast?«

Sie nickte und blickte mit einem sonderbaren Lächeln vor sich hin.

Unfaßbare, unsinnige Zweifel wachten in ihm auf.

»Ich verstehe nicht recht«, sagte er. »Du warst kaum siebzehn, als wir uns verlobten.«

»Sechzehn vorbei, ja, Fridolin. Und doch« – sie sah ihm hell in die Augen – »lag es nicht an mir, daß ich noch jungfräulich deine Gattin wurde.«

»Albertine –!«

Und sie erzählte:

»Es war am Wörthersee, ganz kurz vor unserer Verlobung, Fridolin, da stand an einem schönen Sommerabend ein sehr hübscher, junger Mensch an meinem Fenster, das auf die große, weite Wiese hinaussah, wir plauderten miteinander, und ich dachte im Laufe dieser Unterhaltung, ja höre nur, was ich dachte: Was ist das doch für ein lieber, entzückender, junger Mensch – er müßte jetzt nur ein Wort sprechen, freilich, das richtige müßte es sein, so käme ich zu ihm hinaus auf die Wiese und spazierte mit ihm, wohin es ihm beliebte – in den Wald vielleicht; – oder schöner noch wäre es, wir führen im Kahn zusammen in den See hinaus – und er könnte von mir in dieser Nacht alles haben, was er nur verlangte. Ja, das dachte ich mir. – Aber er sprach das Wort nicht aus, der entzückende junge Mensch; er küßte nur zart meine Hand, – und am Morgen darauf fragte er mich – ob ich seine Frau werden wollte. Und ich sagte ja.«

Fridolin ließ unmutig ihre Hand los. »Und wenn an jenem Abend«, sagte er dann, »zufällig ein anderer an deinem Fenster gestanden hätte und ihm wäre das richtige Wort eingefallen, zum Beispiel – –«, er dachte nach, welchen Namen er nennen sollte, da streckte sie schon wie abwehrend die Arme vor.

»Ein anderer, wer immer es gewesen wäre, er hätte sagen können, was er wollte – es hätte ihm wenig geholfen. Und wärst nicht du es gewesen, der vor dem Fenster stand« – sie lächelte zu ihm auf –, »dann wäre wohl auch der Sommerabend nicht so schön gewesen.«

Er verzog spöttisch den Mund. »So sagst du in diesem Augenblick, so glaubst du vielleicht in diesem Augenblick. Aber –«

Es klopfte. Das Dienstmädchen trat ein und meldete, die Hausbesorgerin aus der Schreyvogelgasse sei da, den Herrn Doktor zum Hofrat zu holen, dem es wieder sehr schlecht gehe. Fridolin begab sich ins Vorzimmer, erfuhr von der Botin, daß der Hofrat einen Herzanfall erlitten und sich sehr übel befinde; und er versprach, unverzüglich hinzukommen.

»Du willst fort –?« fragte ihn Albertine, als er sich rasch zum Fortgehen bereit machte, so ärgerlichen Tons, als füge er ihr mit Vorbedacht ein Unrecht zu.

Fridolin erwiderte, beinahe verwundert: »Ich muß wohl.«

Sie seufzte leicht.

»Es wird hoffentlich nicht so schlimm sein«, sagte Fridolin, »bisher haben ihm drei Centi Morphin immer noch über den Anfall weggeholfen.«

Das Stubenmädchen hatte den Pelz gebracht, Fridolin küßte Albertine ziemlich zerstreut, als wäre das Gespräch der letzten Stunde aus seinem Gedächtnis schon weggewischt, auf Stirn und Mund und eilte davon.

2

Auf der Straße mußte er den Pelz öffnen. Es war plötzlich Tauwetter eingetreten, der Schnee auf dem Fußsteig beinahe weggeschmolzen, und in der Luft wehte ein Hauch des kommenden Frühlings. Von Fridolins Wohnung in der Josefstadt nahe dem Allgemeinen Krankenhaus, war es kaum eine Viertelstunde in die Schreyvogelgasse; und so stieg Fridolin bald die schlecht beleuchtete gewundene Treppe des alten Hauses in das zweite Stockwerk hinauf und zog an der Glocke; doch ehe der altväterische Klingelton sich vernehmen ließ, merkte er, daß die Türe nur angelehnt war; er trat durch den unbeleuchteten Vorraum in das Wohnzimmer und sah sofort, daß er zu spät gekommen war. Die grün verhängte Petroleumlampe, die von der niederen Decke herabhing, warf einen matten Schein über die Bettdecke, unter der regungslos ein schmaler Körper hingestreckt lag. Das Antlitz des Toten war überschattet, doch Fridolin kannte es so gut, daß er es in aller Deutlichkeit zu sehen vermeinte – hager, runzlig, hochgestirnt, mit dem weißen, kurzen Vollbart, den auffallend häßlichen weißbehaarten Ohren. Marianne, die Tochter des Hofrats, saß am Fußende des Bettes mit schlaff herabhängenden Armen, wie in tiefster Ermüdung. Es roch nach alten Möbeln, Medikamenten, Petroleum, Küche; auch ein wenig nach Kölnisch Wasser und Rosenseife, und irgendwie spürte Fridolin auch den süßlich faden Geruch dieses blassen Mädchens, das noch jung war und seit Monaten, seit Jahren in schwerer häuslicher Arbeit, anstrengender Krankenpflege und Nachtwachen langsam verblühte.

Als der Arzt eingetreten war, hatte sie den Blick zu ihm gewandt, doch in der kärglichen Beleuchtung sah er kaum, ob ihre Wangen sich röteten wie sonst, wenn er erschien. Sie wollte sich erheben, eine Handbewegung Fridolins verwehrte es ihr, sie nickte ihm mit großen, aber trüben Augen einen Gruß zu. Er trat an das Kopfende des Bettes, berührte mechanisch die Stirn des Toten, dessen Arme, die in weiten offenen Hemdärmeln über der Bettdecke lagen, dann senkte er mit leichtem Bedauern die Schultern, steckte die Hände in die Taschen seines Pelzrockes, ließ den Blick im Zimmer umherschweifen und endlich auf Marianne verweilen. Ihr Haar war reich und blond, aber trocken, der Hals wohlgeformt und schlank, doch nicht ganz faltenlos und von gelblicher Tönung, und die Lippen wie von vielen ungesagten Worten schmal.

»Nun ja«, sagte er flüsternd und fast verlegen, »mein liebes Fräulein, es trifft Sie wohl nicht unvorbereitet.«

Sie streckte ihm die Hand entgegen. Er nahm sie teilnahmsvoll, fragte pflichtgemäß nach dem Verlauf des letzten tödlichen Anfalls, sie berichtete sachlich und kurz und sprach dann von den letzten, verhältnismäßig guten Tagen, in denen Fridolin den Kranken nicht mehr gesehen hatte. Fridolin hatte einen Stuhl herangerückt, setzte sich Marianne gegenüber und gab ihr tröstend zu bedenken, daß ihr Vater in den letzten Stunden kaum gelitten haben dürfte; dann erkundigte er sich, ob Verwandte verständigt seien. Ja; die Hausbesorgerin sei schon auf dem Weg zum Onkel, und jedenfalls werde bald Herr Doktor Roediger erscheinen, »mein Verlobter«, setzte sie hinzu und blickte Fridolin auf die Stirn statt ins Auge.

Fridolin nickte nur. Er war Doktor Roediger im Verlaufe eines Jahres zwei oder dreimal hier im Hause begegnet. Der überschlanke, blasse, junge Mensch mit kurzem, blondem Vollbart und Brille, Dozent für Geschichte an der Wiener Universität, hatte ihm recht gut gefallen, ohne weiter sein Interesse anzuregen. Marianne sähe sicher besser aus, dachte er, wenn sie seine Geliebte wäre. Ihr Haar wäre weniger trocken, ihre Lippen röter und voller. Wie alt mag sie sein? fragte er sich weiter. Als ich zum erstenmal zum Hofrat gerufen wurde, vor drei oder vier Jahren, war sie dreiundzwanzig. Damals lebte ihre Mutter noch. Sie war heiterer, als ihre Mutter noch lebte. Hat sie nicht eine kurze Zeit hindurch Gesangslektionen genommen? Also diesen Dozenten wird sie heiraten. Warum tut sie das? Verliebt ist sie gewiß nicht in ihn, und viel Geld dürfte er auch nicht haben. Was wird das für eine Ehe werden? Nun, eine Ehe wie tausend andere. Was kümmert’s mich. Es ist wohl möglich, daß ich sie niemals wiedersehen werde, denn nun habe ich in diesem Hause nichts mehr zu tun. Ach, wie viele Menschen habe ich nie mehr wiedergesehen, die mir näher standen als sie.

Während ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen, hatte Marianne von dem Verstorbenen zu reden begonnen – mit einer gewissen Eindringlichkeit, als wäre er durch die einfache Tatsache seines Todes plötzlich ein merkwürdigerer Mensch geworden. Also wirklich erst vierundfünfzig Jahre war er alt gewesen? Freilich, die vielen Sorgen und Enttäuschungen, die Gattin immer leidend – und der Sohn hatte ihm so viel Kummer bereitet! Wie, sie besaß einen Bruder? Gewiß. Sie hatte es dem Doktor doch schon einmal erzählt. Der Bruder lebte jetzt irgendwo im Auslande, da drin in Mariannens Kabinett hing ein Bild, das er im Alter von fünfzehn Jahren gemalt hatte. Es stellte einen Offizier dar, der einen Hügel hinuntersprengt. Der Vater hatte immer getan, als sähe er das Bild überhaupt nicht. Aber es war ein gutes Bild. Der Bruder hätte es schon weiterbringen können unter günstigem Umständen.

Wie erregt sie spricht, dachte Fridolin, und wie ihre Augen glänzen! Fieber? Wohl möglich. Sie ist magerer geworden in der letzten Zeit. Spitzenkatarrh vermutlich.

Sie sprach immer weiter, aber ihm schien, als wüßte sie gar nicht recht, zu wem sie sprach; oder als spräche sie zu sich selbst. Zwölf Jahre war der Bruder nun fort vom Haus, ja, sie war noch ein Kind gewesen, als er plötzlich verschwand. Vor vier oder fünf Jahren zu Weihnachten war die letzte Nachricht von ihm gekommen, aus einer kleinen italienischen Stadt. Sonderbar, sie hatte den Namen vergessen. So redete sie noch eine Weile gleichgültige Dinge, ohne Notwendigkeit, fast ohne Zusammenhang, bis sie mit einemmal schwieg und nun stumm dasaß, den Kopf in den Händen. Fridolin war müde und noch mehr gelangweilt, wartete sehnlich, daß jemand käme, die Verwandten oder der Verlobte. Das Schweigen im Raume lastete schwer. Es war ihm, als schwiege der Tote mit ihnen; nicht etwa weil er nun unmöglich mehr reden konnte, sondern absichtsvoll und mit Schadenfreude.

Und mit einem Seitenblick auf ihn sagte Fridolin: »Jedenfalls, wie die Dinge nun einmal liegen, ist es gut, Fräulein Marianne, daß Sie nicht mehr allzulange in dieser Wohnung bleiben müssen« – und da sie den Kopf ein wenig hob, ohne aber zu Fridolin aufzuschauen –, »Ihr Bräutigam wird wohl bald eine Professur erhalten; an der philosophischen Fakultät liegen ja die Verhältnisse in dieser Beziehung günstiger als bei uns.« – Er dachte daran, daß er vor Jahren auch eine akademische Laufbahn angestrebt, daß er aber bei seiner Neigung zu einer behaglicheren Existenz sich am Ende für die praktische Ausübung seines Berufes entschieden hatte; – und plötzlich kam er sich dem vortrefflichen Doktor Roediger gegenüber als der Geringere vor.

»Im Herbst werden wir übersiedeln«, sagte Marianne, ohne sich zu regen, »er hat eine Berufung nach Göttingen.«

»Ah«, sagte Fridolin und wollte eine Art Glückwunsch anbringen, aber das schien ihm wenig angemessen in diesem Augenblick und in dieser Umgebung. Er warf einen Blick nach dem geschlossenen Fenster und, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen, wie in Ausübung eines ärztlichen Rechtes öffnete er beide Flügel und ließ die Luft herein, die, indes noch wärmer und frühlingshafter geworden, einen linden Duft aus den erwachenden fernen Wäldern mitzubringen schien. Als er sich wieder ins Zimmer wandte, sah er die Augen Mariannens wie fragend auf sich gerichtet. Er trat näher zu ihr hin und bemerkte: »Die frische Luft wird Ihnen hoffentlich wohl tun. Es ist geradezu warm geworden, und gestern nacht« – er wollte sagen: fuhren wir im Schneegestöber von der Redoute nach Hause, aber er formte rasch den Satz um und ergänzte: »Gestern abend lag der Schnee noch einen halben Meter hoch in den Straßen.«

Sie hörte kaum, was er sagte. Ihre Augen wurden feucht, große Tränen liefen ihr über die Wangen herab, und wieder verbarg sie ihr Gesicht in den Händen. Unwillkürlich legte er seine Hand auf ihren Scheitel und strich ihr über die Stirn. Er fühlte, wie ihr Körper zu zittern begann, sie schluchzte in sich hinein, kaum hörbar zuerst, allmählich lauter, endlich ganz ungehemmt. Mit einemmal war sie vom Sessel herabgeglitten, lag Fridolin zu Füßen, umschlang seine Knie mit den Armen und preßte ihr Antlitz daran. Dann sah sie zu ihm auf mit weit offenen, schmerzlich-wilden Augen und flüsterte heiß: »Ich will nicht fort von hier. Auch wenn Sie niemals wiederkommen, wenn ich Sie niemals mehr sehen soll; ich will in Ihrer Nähe leben.«

Er war mehr ergriffen als erstaunt; denn er hatte es immer gewußt, daß sie in ihn verliebt war oder sich einbildete, es zu sein.

»Stehen Sie doch auf, Marianne«, sagte er leise, beugte sich zu ihr herab, richtete sie milde auf und dachte: natürlich ist auch Hysterie dabei. Er warf einen Seitenblick auf den toten Vater. Ob er nicht alles hört, dachte er. Vielleicht ist er scheintot? Vielleicht ist jeder Mensch in diesen ersten Stunden nach dem Verscheiden nur scheintot –? Er hielt Marianne in den Armen, aber zugleich etwas entfernt von sich, und drückte beinahe unwillkürlich einen Kuß auf ihre Stirn, was ihm selbst ein wenig lächerlich vorkam. Flüchtig erinnerte er sich eines Romans, den er vor Jahren gelesen und in dem es geschah, daß ein ganz junger Mensch, ein Knabe fast, am Totenbett der Mutter von ihrer Freundin verführt, eigentlich vergewaltigt wurde. Im selben Augenblick, er wußte nicht warum, mußte er seiner Gattin denken. Bitterkeit gegen sie stieg in ihm auf und ein dumpfer Groll gegen den Herrn in Dänemark mit der gelben Reisetasche auf der Hotelstiege. Er zog Marianne fester an sich, doch verspürte er nicht die geringste Erregung; eher flößte ihm der Anblick des glanzlos trockenen Haares, der süßlichfade Geruch ihres ungelüfteten Kleides einen leichten Widerwillen ein. Nun ertönte die Glocke draußen, er fühlte sich wie erlöst, küßte Marianne die Hand rasch, gleichwie in Dankbarkeit, und ging öffnen. Es war Doktor Roediger, der in der Tür stand, in dunkelgrauem Havelock, mit Überschuhen, einen Regenschirm in der Hand, mit einem den Umständen angemessenen ernsten Gesichtsausdruck. Die beiden Herren nickten einander zu, vertrauter, als es ihren tatsächlichen Beziehungen entsprach. Dann traten sie beide ins Zimmer, Roediger drückte Marianne nach einem befangenen Blick auf den Toten seine Teilnahme aus; Fridolin begab sich ins Nebenzimmer, um die ärztliche Todesanzeige abzufassen, drehte die Gasflamme über dem Schreibtisch höher, und sein Blick fiel auf das Bildnis des weißuniformierten Offiziers, der mit geschwungenem Säbel den Hügel hinabsprengte, einem unsichtbaren Feind entgegen. Es war in einen altgoldenen schmalen Rahmen gespannt und wirkte nicht viel besser als ein bescheidener Öldruck.

Mit dem ausgefüllten Totenschein trat Fridolin wieder in den Nebenraum, wo am Bett des Vaters, die Hände ineinander verschlungen, die Brautleute saßen.

Wieder ertönte die Türglocke, Doktor Roediger erhob sich und ging öffnen; indessen sagte Marianne, unhörbar fast, auf den Boden blickend: »Ich liebe dich.« Fridolin erwiderte nur, indem er, nicht ohne Zärtlichkeit, Mariannens Namen aussprach. Roediger trat wieder ein mit einem älteren Ehepaar. Es waren der Onkel und die Tante Mariannens; einige Worte, den Umständen entsprechend, wurden gewechselt, mit der Befangenheit, die die Anwesenheit eines eben Verstorbenen rings zu verbreiten pflegt. Das kleine Zimmer sah plötzlich wie von Trauergästen überfüllt aus, Fridolin erschien sich überflüssig, empfahl sich und wurde von Roediger zur Tür geleitet, der sich zu einigen Dankesworten verpflichtet fühlte und die Hoffnung baldiger Wiederbegegnung aussprach.

3

Fridolin, vor dem Haustor, sah zu dem Fenster auf, das er früher selbst geöffnet hatte; die Flügel zitterten leise im Vorfrühlingswinde. Die Menschen, die dort oben zurückgeblieben waren, die lebendigen geradeso wie der Tote, waren ihm in gleicher Weise gespensterhaft unwirklich. Er selbst erschien sich wie entronnen; nicht so sehr einem Erlebnis als vielmehr einem schwermütigen Zauber, der keine Macht über ihn gewinnen sollte. Als einzige Nachwirkung empfand er eine merkwürdige Unlust, sich nach Hause zu begeben. Der Schnee in den Straßen war geschmolzen, links und rechts waren kleine schmutzigweiße Häuflein aufgeschichtet, die Gasflammen in den Laternen flackerten, von einer nahen Kirche schlug es elf. Fridolin beschloß, vor dem Schlafengehen noch eine halbe Stunde in einer stillen Kaffeehausecke nahe seiner Wohnung zu verbringen, und nahm den Weg durch den Rathauspark. Auf beschatteten Bänken saß da und dort ein Paar eng aneinandergeschmiegt, als wäre wirklich schon der Frühling da und die trügerischwarme Luft nicht schwanger von Gefahren. Auf einer Bank der Länge nach ausgestreckt, den Hut in die Stirn gedrückt, lag ein ziemlich zerlumpter Mensch. Wenn ich ihn aufweckte, dachte Fridolin, und ihm Geld für ein Nachtlager schenkte? Ach, was wäre damit getan, überlegte er weiter, dann müßte ich morgen auch für eines sorgen, sonst hätte es ja keinen Sinn, und am Ende würde ich noch sträflicher Beziehungen mit ihm verdächtigt. Und er beschleunigte seinen Schritt, wie um jeder Art von Verantwortung und Versuchung so rasch als möglich zu entfliehen. Warum gerade der? fragte er sich, Tausende von solchen armen Teufeln gibt’s in Wien allein. Wenn man sich um die alle kümmern wollte um die Schicksale aller Unbekannten! Und der Tote fiel ihm ein, den er eben verlassen, und mit einigem Schauer, ja nicht ohne Ekel dachte er daran, daß in dem langdahingestreckten mageren Leib unter der braunen Flanelldecke nach ewigen Gesetzen Verwesung und Zerfall ihr Werk schon begonnen hatten. Und er freute sich, daß er noch lebte, daß für ihn aller Wahrscheinlichkeit nach all diese häßlichen Dinge noch ferne waren; ja daß er noch mitten in seiner Jugend stand, eine reizende und liebenswerte Frau zu eigen hatte und auch noch eine oder mehrere dazu haben konnte, wenn es ihm gerade beliebte. Zu dergleichen hätte freilich mehr Muße gehört, als ihm vergönnt war; und es fiel ihm ein, daß er morgen um acht Uhr früh auf der Abteilung sein, von elf bis eins Privatpatienten besuchen, nachmittags von drei bis fünf Ordination halten mußte und daß ihm auch für die Abendstunden noch einige Krankenbesuche bevorstanden. – Nun – hoffentlich würde er wenigstens nicht wieder mitten in der Nacht geholt werden, wie es ihm heute geschehen war.

Er überquerte den Rathausplatz, der trüb erglänzte wie ein bräunlicher Teich, und wandte sich dem heimatlichen Josefstädter Bezirk zu. Von weitem hörte er dumpfe, regelmäßige Schritte und sah, noch ziemlich entfernt, eben um eine Straßenecke biegend, einen kleinen Trupp von Couleurstudenten, die, sechs oder acht an der Zahl, ihm entgegenkamen. Als die jungen Leute in den Schein einer Laterne gerieten, glaubte er die blauen Alemannen in ihnen zu erkennen. Er selbst hatte nie einer Verbindung angehört, aber seinerzeit ein paar Säbelmensuren ausgefochten. Im Zusammenhang mit dieser Erinnerung an seine Studentenzeit fielen ihm die roten Dominos ein, die ihn gestern nacht in die Loge gelockt und so bald wieder schnöde verlassen hatten. Die Studenten waren ganz nahe, sie redeten laut und lachten; – ob er nicht einen oder den andern aus dem Spitale kennen mochte? Doch bei der unsicheren Beleuchtung war es nicht möglich, die Physiognomien deutlich auszunehmen. Er mußte sich ganz nahe an die Mauer halten, um nicht mit ihnen zusammenzustoßen; – jetzt waren sie vorbei; nur der zuletzt ging, ein langer Kerl im offnen Winterrock, eine Binde über dem linken Auge, schien geradezu absichtlich ein Stückchen zurückzubleiben und stieß mit seitlich abgestrecktem Ellbogen an ihn an. Es konnte kein Zufall sein. Was fällt dem Kerl ein, dachte Fridolin und blieb unwillkürlich stehen; der andere nach zwei Schritten tat desgleichen, und so sahen sie einander einen Moment lang aus mäßiger Entfernung in die Augen. Plötzlich aber wandte Fridolin sich wieder ab und ging weiter. Er hörte ein kurzes Lachen hinter sich – fast hätte er sich nochmals umgewandt, um den Burschen zu stellen, aber er verspürte ein sonderbares Herzklopfen – ganz wie einmal vor zwölf oder vierzehn Jahren, als es so heftig an seine Tür gepocht hatte, während das anmutige junge Ding bei ihm war, das immer von einem entfernt lebenden, wahrscheinlich gar nicht existierenden Bräutigam zu faseln liebte; es war auch tatsächlich nur der Briefträger gewesen, der so drohend gepocht hatte. – Und geradeso wie damals fühlte er jetzt sein Herz klopfen. Was ist das, fragte er sich ärgerlich und merkte nun, daß ihm die Knie ein wenig zitterten. Feig? Unsinn, erwiderte er sich selbst. Soll ich mich mit einem betrunkenen Studenten herstellen, ich, ein Mann von fünfunddreißig Jahren, praktischer Arzt, verheiratet, Vater eines Kindes! – Kontrahage! Zeugen! Duell! Und am Ende wegen einer solchen dummen Rempelei einen Hieb in den Arm? Und für ein paar Wochen berufsunfähig? – Oder ein Auge heraus? – Oder gar Blutvergiftung? – Und in acht Tagen so weit wie der Herr in der Schreyvogelgasse unter der Bettdecke aus braunem Flanell! Feig? Drei Säbelmensuren hatte er ausgefochten, und auch zu einem Pistolenduell war er einmal bereit gewesen, und nicht auf seine Veranlassung war die Sache damals gütlich beigelegt worden. Und sein Beruf! Gefahren von allen Seiten und in jedem Augenblick – man vergaß nur immer wieder dran. Wie lange war es her, daß das diphtheritiskranke Kind ihm ins Gesicht gehustet hatte? Drei oder vier Tage, nicht mehr. Das war immerhin eine bedenklichere Sache als so eine kleine Säbelfechterei. Und er hatte überhaupt nicht mehr daran gedacht. Nun, wenn er dem Kerl wieder begegnete, ließ sich die Angelegenheit immer noch ins reine bringen. Keineswegs war er verpflichtet, um Mitternacht auf dem Weg von einem Kranken oder auch zu einem Kranken, das hätte ja schließlich auch der Fall sein können – nein, er war wirklich nicht verpflichtet, auf solch eine alberne Studentenrempelei zu reagieren. Wenn jetzt zum Exempel der junge Däne ihm entgegenkäme, mit dem Albertine – ach nein, was fiel ihm denn nur ein? Nun – es war ja doch nicht anders, als wenn sie seine Geliebte gewesen wäre. Schlimmer noch. Ja, der sollte ihm jetzt entgegenkommen. Oh, eine wahre Wonne wäre es, dem irgendwo in einer Waldlichtung gegenüberzustehen und auf die Stirn mit dem glattgestrichenen Blondhaar den Lauf einer Pistole zu richten.

Er fand sich, mit einem Male, schon über sein Ziel hinaus in einer engen Gasse, durch die nur ein paar armselige Dirnen auf nächtlichem Männerfang umherstrichen. Gespenstisch, dachte er. Und auch die Studenten mit den blauen Kappen wurden ihm plötzlich gespenstisch in der Erinnerung, ebenso Marianne, ihr Verlobter, Onkel und Tante, die er sich nun alle, Hand in Hand, um das Totenbett des alten Hofrats gereiht vorstellte; auch Albertine, die ihm nun im Geist als tief Schlafende, die Arme unter dem Nacken verschränkt, vorschwebte – sogar sein Kind, das jetzt zusammengerollt in dem schmalen weißen Messingbettchen lag, und das rotbäckige Fräulein mit dem Muttermal an der linken Schläfe –, sie alle waren ihm völlig ins Gespenstische entrückt. Und in dieser Empfindung, obzwar sie ihn ein wenig schaudern machte, war zugleich etwas Beruhigendes, das ihn von aller Verantwortung zu befreien, ja aus jeder menschlichen Beziehung zu lösen schien.

Eines der herumstreifenden Mädchen forderte ihn zum Mitgehen auf. Es war ein zierliches, noch ganz junges Geschöpf, sehr blaß mit rotgeschminkten Lippen. Könnte gleichfalls mit Tod enden, dachte er, nur nicht so rasch! Auch Feigheit? Im Grunde schon. Er hörte ihre Schritte, bald ihre Stimme hinter sich. »Willst nicht mitkommen, Doktor?«

Unwillkürlich wandte er sich um. »Woher kennst du mich?« fragte er.

»Ich kenn‘ Ihnen nicht«, sagte sie, »aber in dem Bezirk sind ja alle Doktors.«

Seit seiner Gymnasiastenzeit hatte er mit einem Frauenzimmer dieser Art nichts zu tun gehabt. Geriet er plötzlich in seine Knabenjahre zurück, daß dieses Geschöpf ihn reizte? Er erinnerte sich eines flüchtigen Bekannten, eines eleganten jungen Mannes, dem man ein fabelhaftes Glück bei Frauen nachsagte, mit dem er als Student nach einem Ball in einem Nachtlokal gesessen hatte und der, ehe er sich mit einer der gewerbsmäßigen Besucherinnen entfernte, Fridolins etwas verwunderten Blick mit den Worten erwidert hatte: »Es bleibt immer das Bequemste; – und die Schlimmsten sind es auch nicht.«

»Wie heißt du?« fragte Fridolin.

»No, wie wir i denn heißen? Mizzi natürlich.« Schon hatte sie den Schlüssel im Haustor umgedreht, trat in den Flur und wartete, daß Fridolin ihr folgte.

»G’schwind!« sagte sie, als er zögerte. Plötzlich stand er neben ihr, das Tor fiel hinter ihm zu, sie sperrte ab, zündete ein Wachskerzchen an und leuchtete ihm vor. – Bin ich verrückt? fragte er sich. Ich werde sie natürlich nicht anrühren.

In ihrem Zimmer brannte eine Öllampe. Sie drehte den Docht weiter auf, es war ein ganz behaglicher Raum, nett gehalten, und jedenfalls roch es da viel angenehmer als zum Beispiel in Mariannens Behausung. Freilich – hier hatte kein alter Mann monatelang krank gelegen. Das Mädchen lächelte, näherte sich ohne Zudringlichkeit Fridolin, der sie sanft abwehrte. Dann wies sie auf einen Schaukelstuhl, in den er sich gerne sinken ließ.

»Bist gewiß sehr müd«, meinte sie. Er nickte. Und sie, während sie sich ohne Hast entkleidete:

»Na ja, so ein Mann, was der den ganzen Tag zu tun hat. Da hat’s unsereiner leichter.«

Er merkte, daß ihre Lippen gar nicht geschminkt, sondern von einem natürlichen Rot gefärbt waren, und machte ihr ein Kompliment darüber.

»Ja warum soll ich mich denn schminken?« fragte sie. »Was glaubst denn du, wie alt ich bin?«

»Zwanzig?« riet Fridolin.

»Siebzehn«, sagte sie, setzte sich auf seinen Schoß und schlang wie ein Kind den Arm um seinen Nacken.

Wer auf der Welt möchte vermuten, dachte er, daß ich mich jetzt gerade in diesem Raum befinde? Hätte ich selbst es vor einer Stunde, vor zehn Minuten für möglich gehalten? Und – warum? Warum? Sie suchte mit ihren Lippen die seinen, er bog sich zurück, sie sah ihn groß, etwas traurig an, ließ sich von seinem Schoß heruntergleiten. Fast tat es ihm leid, denn in ihrer Umschlingung war viel tröstende Zärtlichkeit gewesen.

Sie nahm einen roten Schlafrock, der über der Lehne des offenen Bettes hing, schlüpfte hinein und preßte die Arme über der Brust zusammen, so daß ihre ganze Gestalt verhüllt war.

»Ist’s dir jetzt recht?« fragte sie ohne Spott, wie schüchtern, als gäbe sie sich Mühe, ihn zu verstehen. Er wußte kaum, was antworten.

»Du hast es richtig erraten«, sagte er dann, »ich bin wirklich müd, und ich finde es sehr angenehm, hier im Schaukelstuhl zu sitzen und dir einfach zuzuhören. Du hast so eine liebe, sanfte Stimme. Red‘ nur, erzähl‘ mir was.«

Sie saß auf dem Bett und schüttelte den Kopf.

»Du fürchtest dich halt«, sagte sie leise – und dann vor sich hin, kaum vernehmlich, »schad‘!«

Dieses letzte Wort jagte eine heiße Welle durch sein Blut. Er trat zu ihr hin, wollte sie umfassen, erklärte ihr, daß sie ihm völliges Vertrauen einflöße, und sprach damit sogar die Wahrheit. Er zog sie an sich, er warb um sie, wie um ein Mädchen, wie um eine geliebte Frau. Sie widerstand, er schämte sich und ließ endlich ab.

Sie sagte: »Man kann ja nicht wissen, irgendeinmal muß es ja doch kommen. Du hast ganz recht, wenn du dich fürchten tust. Und wenn was passiert, dann möchtest du mich verfluchen.«

Die Banknoten, die er ihr bot, lehnte sie mit solcher Bestimmtheit ab, daß er nicht weiter in sie dringen konnte. Sie nahm einen schmalen blauen Wollschal um, zündete eine Kerze an, leuchtete ihm, begleitete ihn hinab und sperrte das Tor auf. »Ich bleib heut schon z’Haus«, sagte sie. Er nahm ihre Hand und küßte sie unwillkürlich. Sie sah erstaunt, fast erschrocken zu ihm auf, dann lachte sie verlegen und beglückt. »Wie einer Fräuln«, sagte sie.

Das Tor fiel hinter ihm zu, und Fridolin prägte mit einem raschen Blick seinem Gedächtnis die Hausnummer ein, um in der Lage zu sein, dem lieben armen Ding morgen Wein und Näschereien heraufzuschicken.

4

Es war indes noch etwas wärmer geworden. Der laue Wind brachte in die enge Gasse einen Duft von feuchten Wiesen und fernem Bergfrühling. Wohin jetzt? dachte Fridolin, als wäre es nicht das Selbstverständliche, endlich nach Hause zu gehen und sich schlafen zu legen. Aber dazu konnte er sich nicht entschließen. Wie heimatlos, wie hinausgestoßen erschien er sich seit der widerwärtigen Begegnung mit den Alemannen… Oder seit Mariannens Geständnis? – Nein, länger schon – seit dem Abendgespräch mit Albertine rückte er immer weiter fort aus dem gewohnten Bezirk seines Daseins in irgendeine andere, ferne, fremde Welt.

Er wandelte kreuz und quer durch die nächtlichen Straßen, ließ den leichten Föhn um seine Stirne wehen, und endlich, entschlossenen Schritts, als wäre er nun an ein langgesuchtes Ziel gelangt, trat er in ein Kaffeehaus niederen Ranges ein, das altwienerisch gemütlich, nicht besonders geräumig, mäßig beleuchtet und zu dieser späten Stunde nur wenig besucht war.

In einer Ecke spielten drei Herren Karten; ein Kellner, der ihnen bisher zugeschaut hatte, half Fridolin beim Ablegen des Pelzes, nahm seine Bestellung entgegen und legte ihm illustrierte Zeitungen und Abendblätter auf den Tisch. Fridolin erschien sich wie geborgen und begann flüchtig die Journale zu durchblättern. Da und dort blieb sein Blick haften. In irgendeiner böhmischen Stadt waren deutschsprachige Straßentafeln heruntergerissen worden. In Konstantinopel gab es eine Konferenz wegen eines Bahnbaus in Kleinasien, an der auch Lord Cranford teilnahm. Die Firma Benies & Weingruber war insolvent geworden. Die Prostituierte Anna Tiger hatte auf ihre Freundin Hermine Drobizky ein Eifersuchtsattentat mit Vitriol verübt. Heute abend fand ein Heringsschmaus in den Sophiensälen statt. Ein junges Mädchen, Marie B., wohnhaft Schönbrunner Hauptstraße 28, hatte sich mit Sublimat vergiftet. – Alle diese Tatsachen, die gleichgültigen und die traurigen, in ihrer trockenen Alltäglichkeit wirkten irgendwie ernüchternd und beruhigend auf Fridolin. Das junge Mädchen, Marie B., tat ihm leid; Sublimat, wie dumm. In dieser Sekunde, während er gemütlich im Café sitzt und Albertine ruhig schläft mit im Nacken verschränkten Armen und der Hofrat schon alles irdische Leid überwunden hat, windet sich Marie B., Schönbrunner Hauptstraße 28, in sinnlosen Schmerzen.

Er blickte von der Zeitung auf. Da sah er von einem gegenüberliegenden Tisch zwei Augen auf sich gerichtet. War es möglich? Nachtigall? Der hatte ihn schon erkannt, hob freudig überrascht beide Arme, trat auf Fridolin zu, ein großer, ziemlich breiter, beinahe plumper, noch junger Mensch mit langem, leicht gelocktem, blondem, schon etwas graumeliertem Haar und einem blonden, in polnischer Art herunterhängenden Schnurrbart. Er trug einen offenen grauen Havelock, darunter einen etwas speckigen Frack, ein zerdrücktes Hemd mit drei falschen Brillantknöpfen, einen zerknitterten Kragen und eine flatternde weiße Seidenkrawatte. Seine Lider waren gerötet wie von vielen durchwachten Nächten, doch die Augen strahlten heiter und blau.

»Du bist in Wien, Nachtigall?« rief Fridolin.

»Du weißt nicht«, sagte Nachtigall in polnisch weichem Akzent mit mäßigem jüdischen Beiklang. »Wie weißt du nicht? Ich bin doch so beriehmt.« Er lachte laut und gutmütig und setzte sich Fridolin gegenüber.

»Wie?« fragte Fridolin. »Vielleicht Professor der Chirurgie geworden im geheimen?«

Nachtigall lachte noch heller auf: »Hast du mich jetzt nicht geheert? Jetzt äben?«

»Wieso gehört? – Ach ja!« Und nun erst kam es Fridolin zu Bewußtsein, daß er während seines Eintretens, ja schon früher, als er sich dem Kaffeehaus genähert, aus irgendeiner Kellertiefe Klavierspiel heraufklingen gehört hatte. »Also das warst du?« rief er aus.

»Wer denn als ich?« lachte Nachtigall.

Fridolin nickte. Natürlich; – dieser eigentümlich energische Anschlag, diese sonderbaren, etwas willkürlichen aber wohlklingenden Harmonien der linken Hand waren ihm ja gleich so bekannt vorgekommen. »Also du hast dich ganz darauf verlegt?« meinte er. Er erinnerte sich, daß Nachtigall das Studium der Medizin schon nach der zweiten, sogar geglückten, wenn auch mit siebenjähriger Verspätung abgelegten Vorprüfung in Zoologie, endgültig aufgegeben hatte. Doch noch durch geraume Zeit hatte er sich in Krankenhaus, Seziersaal, Laboratorien und Hörsälen herumgetrieben, wo er mit seinem blonden Künstlerkopf, seinem stets zerknitterten Kragen, der flatternden, einst weiß gewesenen Krawatte eine auffallende, im heiteren Sinn populäre und nicht nur bei Kollegen, sondern auch bei manchen Professoren geradezu beliebte Figur vorgestellt hatte. Sohn eines jüdischen Branntweinschenkers in einem polnischen Nest war er seinerzeit aus der Heimat nach Wien gekommen, um Medizin zu studieren. Die geringfügigen elterlichen Unterstützungen waren von Anfang an kaum der Rede wert gewesen und überdies bald gänzlich eingestellt worden, was ihn nicht hinderte, auch weiterhin im Riedhof an einem Stammtisch von Medizinern zu erscheinen, dem auch Fridolin angehörte. Die Bezahlung seiner Zeche hatte von einem gewissen Zeitpunkt an jedesmal ein anderer der wohlhabenderen Kollegen übernommen. Auch Kleidungsstücke erhielt er manchmal zum Geschenk, was er sich gleichfalls gern und ohne falschen Stolz gefallen ließ. Schon in seinem Heimatstädtchen hatte er bei einem dort gestrandeten Pianisten die Anfangsgründe des Klavierspielens gelernt, und in Wien als Studiosus medicinae besuchte er zugleich das Konservatorium, wo er angeblich als vielversprechendes pianistisches Talent galt. Aber auch hier war er nicht ernst und fleißig genug, um sich regelrecht weiter auszubilden; und bald ließ er es sich an seinen musikalischen Erfolgen im Kreise seiner Bekannten, vielmehr an dem Vergnügen, das er ihnen durch sein Klavierspiel bereitete, vollauf genügen. Eine Zeitlang wirkte er in einer vorstädtischen Tanzschule als Pianist. Universitätskollegen und Tischgenossen versuchten ihn in besseren Häusern in gleicher Eigenschaft einzuführen, doch spielte er bei solcher Gelegenheit immer nur, was ihm eben und solange es ihm beliebte, ließ sich mit den jungen Damen in Unterhaltungen ein, die von seiner Seite nicht immer harmlos geführt waren, und trank mehr, als er vertragen konnte. Einmal spielte er im Hause eines Bankdirektors zum Tanze auf. Nachdem er schon vor Mitternacht durch anzüglich-galante Bemerkungen die vorbeitanzenden jungen Mädchen in Verlegenheit gebracht und bei ihren Herren Anstoß erregt hatte, fiel es ihm ein, einen wüsten Cancan zu spielen und mit seinem gewaltigen Baß ein zweideutiges Couplet dazu zu singen. Der Bankdirektor verwies es ihm heftig. Nachtigall, wie von seliger Heiterkeit erfüllt, erhob sich, umarmte den Direktor, dieser, empört, fauchte, obwohl selbst Jude, dem Pianisten ein landesübliches Schimpfwort ins Gesicht, das Nachtigall unverzüglich mit einer gewaltigen Ohrfeige quittierte – womit seine Laufbahn in den besseren Häusern der Stadt endgültig abgeschlossen erschien. In intimeren Zirkeln wußte er sich im allgemeinen anständiger zu betragen, wenn man auch bei solchen Gelegenheiten in vorgerückten Stunden manchmal genötigt war, ihn gewaltsam aus dem Lokal zu entfernen. Doch am nächsten Morgen waren solche Zwischenfälle von allen Beteiligten verziehen und vergessen. Eines Tages, seine Kollegen hatten längst alle ihre Studien beendet, war er plötzlich ohne Abschied aus der Stadt verschwunden. Einige Monate hindurch trafen noch Kartengrüße von ihm aus verschiedenen russischen und polnischen Städten ein; und einmal, ohne weitere Erklärung, wurde Fridolin, den Nachtigall stets besonders in sein Herz geschlossen hatte, nicht nur durch einen Gruß, sondern durch die Bitte um einen mäßigen Geldbetrag an Nachtigalls Existenz erinnert. Fridolin sandte die Summe unverzüglich ab, ohne jemals einen Dank oder sonst ein Lebenszeichen von Nachtigall zu erhalten.

In diesem Augenblick aber, um dreiviertel ein Uhr nachts, nach acht Jahren, bestand Nachtigall darauf, dieses Versäumnis unverzüglich gutzumachen, und in genau stimmender Anzahl entnahm er Banknoten einer ziemlich defekten Brieftasche, die übrigens leidlich gefüllt war, so daß Fridolin sich die Rückzahlung mit gutem Gewissen durfte gefallen lassen…

»Also es geht dir gut«, meinte er lächelnd, wie zu seiner eigenen Beruhigung.

»Kann nicht klagen«, erwiderte Nachtigall. Und seine Hand auf Fridolins Arm legend: »Aber jetzt sag‘ einmal, wie kommst du mitten in der Nacht daher?«

Fridolin erklärte seine Anwesenheit zu so später Stunde mit dem dringenden Bedürfnis, nach einem nächtlichen Krankenbesuch noch eine Tasse Kaffee zu sich zu nehmen; verschwieg aber, ohne recht zu wissen warum, daß er seinen Patienten nicht mehr am Leben getroffen. Dann äußerte er sich ganz im allgemeinen über seine ärztliche Tätigkeit an der Poliklinik und seine Privatpraxis und erwähnte, daß er verheiratet, glücklich verheiratet und Vater eines sechsjährigen Mädchens sei.

Nun berichtete Nachtigall. Er hatte sich, wie Fridolin richtig vermutet, die ganzen Jahre über als Pianist in allen möglichen polnischen, rumänischen, serbischen und bulgarischen Städten und Städtchen fortgebracht, in Lemberg lebte ihm eine Frau mit vier Kindern; – und er lachte hell, als wäre es ausnehmend lustig, vier Kinder zu haben, alle in Lemberg und alle von ein und derselben Frau. Seit dem vergangenen Herbst hielt er sich wieder in Wien auf. Das Varieté, das ihn engagiert hatte, war sofort verkracht, nun spielte er in den verschiedensten Lokalen, wie es sich eben fügte, manchmal auch in zweien oder dreien in derselben Nacht, hier unten zum Beispiel, im Keller – kein sehr vornehmes Etablissement, wie er bemerkte, eigentlich eine Art von Kegelbahn, und was das Publikum anbelangt… »Aber wenn man für vier Kinder zu sorgen hat und eine Frau in Lemberg« – und er lachte wieder, nicht mehr ganz so lustig wie vorher. »Auch privat habe ich manchmal zu tun«, fügte er rasch hinzu. Und als er ein erinnerndes Lächeln auf Fridolins Antlitz gewahrte – »nicht bei Bankdirektoren und soo, nein, in allen mäglichen Kreisen, auch gräßere, äffentliche und gehäime.«

»Geheime?«

Nachtigall blickte düster-pfiffig vor sich hin. »Sofort werd‘ ich wieder abgeholt.«

»Wie, heute noch spielst du?«

»Ja, dort fangt es nämlich erst um zwei an.«

»Das ist ja besonders fein«, sagte Fridolin.

»Ja und nein«, lachte Nachtigall, wurde aber gleich wieder ernst.

»Ja und nein?« wiederholte Fridolin neugierig.

Nachtigall beugte sich über den Tisch zu ihm.

»Ich spielle heute in einem Privathaus, aber wem es gehärt, weiß ich nicht.«

»Du spielst also heute zum erstenmal dort?« fragte Fridolin mit steigendem Interesse.

»Nein, das drittemal. Aber es wird wahrscheinlich wieder ein anderes Haus sein.«

»Das versteh‘ ich nicht.«

»Ich auch nicht«, lachte Nachtigall. »Besser du fragst nicht.«

»Hm«, machte Fridolin.

»Oh, du irrst dich. Nicht was du glaubst. Ich hab‘ schon viel gesehen, man glaubt nicht, in solchen kleinen Städten – besonders Rumänien –, man erläbt vieles. Aber hier…« Er schlug den gelben Fenstervorhang ein wenig zurück, blickte auf die Straße hinaus und sagte wie für sich: »Noch nicht da« – dann zu Fridolin, erklärend, »nämlich der Wagen. Immer holt mich ein Wagen ab, und immer ein anderer.«

»Du machst mich neugierig, Nachtigall«, meinte Fridolin kühl.

»Här‘ zu«, sagte Nachtigall nach einigem Zögern. »Wenn ich einem auf der Welt vergennte – aber, wie macht man nur –«, und plötzlich: »Hast du Courage?«

»Sonderbare Frage«, sagte Fridolin im Ton eines beleidigten Couleurstudenten.

»Ich meine nicht soo.«

»Also wie meinst du eigentlich? Wozu braucht man bei dieser Gelegenheit so besondere Courage? Was kann einem denn passieren?« Und er lachte kurz und verächtlich.

» Mir kann nichts passieren, heechstens, daß ich zum letzten Male heite – aber das ist vielleicht auch soo.« Er schwieg und blickte wieder durch den Vorhangspalt hinaus.

»Na also?«

»Wie meinst du?« fragte Nachtigall wie aus einem Traum.

»Erzähl‘ doch weiter. Wenn du schon einmal angefangen hast… Geheime Veranstaltung? Geschlossene Gesellschaft? Geladene Gäste?«

»Ich weiß nicht. Neilich waren dreißig Menschen, das erstemal nur sechzehn.«

»Ein Ball?«

»Natürlich ein Ball.« Er schien jetzt zu bereuen, daß er überhaupt gesprochen hatte.

»Und du machst Musik dazu?«

»Wieso dazu? Ich weiß nicht wozu. Wirklich, ich weiß nicht. Ich spielle, ich spielle – mit verbundene Augen.«

»Nachtigall, Nachtigall, was singst du da für ein Lied!«

Nachtigall seufzte leise. »Aber leider nicht ganz verbunden. Nicht so, daß ich gar nichts sehe. Ich seh‘ nämlich im Spiegel durch das schwarze Seidentuch über meine Augen…« Und wieder schwieg er.

»Mit einem Wort«, sagte Fridolin ungeduldig und verächtlich, fühlte sich aber sonderbar erregt… »nackte Frauenzimmer. «

»Sag nicht Frauenzimmer, Fridolin«, erwiderte Nachtigall wie beleidigt, »solche Weiber hast du nie gesehen.«

Fridolin räusperte sich leicht. »Und wie hoch ist das Entrée?« fragte er beiläufig.

»Billetts meinst du und soo? Ha, was fallt dir ein.«

»Also wie verschafft man sich Eintritt?« fragte Fridolin mit gepreßten Lippen und trommelte auf die Tischplatte.

»Parolle mußt du kennen, und jedesmal ist eine andere.«

»Und die heutige?«

»Weiß ich noch nicht. Erfahr‘ ich erst vom Kutscher.«

»Nimm mich mit, Nachtigall.«

»Unmeglich, zu gefährlich.«

»Vor einer Minute hattest du doch selbst die Absicht… mir zu ›vergennen‹. Es wird schon möglich sein.«

Nachtigall betrachtete ihn prüfend. »So wie du bist – kenntest du auf keinen Fall, nämlich alle sind maskiert, Herren und Damen. Hast du eine Maske bei dir und soo? Unmeglich. Vielleicht nächstes Mal. Werde mir was ausspekulieren.« Er horchte auf und blickte wieder durch den Vorhangspalt auf die Straße, und aufatmend: »Da ist der Wagen. Adieu.«

Fridolin hielt ihn beim Arm fest. »So kommst du mir nicht davon. Du wirst mich mitnehmen.«

»Aber Kollega…«

»Überlaß mir alles Weitere. Ich weiß schon, daß es ›gefährlich‹ ist – vielleicht lockt mich gerade das.«

»Aber ich sage dir schon – ohne Kostim und Larve –«

»Es gibt Maskenleihanstalten.«

»Um ein Uhr früh –!«

»Hör einmal zu, Nachtigall. Ecke Wickenburgstraße befindet sich so ein Unternehmen. Täglich gehe ich ein paarmal an der Tafel vorbei.« Und hastig, in wachsender Erregung: »Du bleibst hier noch eine Viertelstunde, Nachtigall, ich versuch‘ indessen dort mein Glück. Der Besitzer der Leihanstalt wohnt vermutlich im gleichen Haus. Wenn nicht – dann verzichte ich eben. Das Schicksal soll entscheiden. Im selben Haus ist ein Café, Café Vindobona heißt es, glaube ich. Du sagst dem Kutscher – daß du in dem Café irgend etwas vergessen hast, gehst hinein, ich warte nah der Tür, du sagst mir rasch die Parole, steigst wieder in deinen Wagen; ich, wenn es mir gelungen ist, ein Kostüm zu bekommen, nehme mir rasch einen andern, fahre dir nach – das Weitere muß sich finden. Dein Risiko, Nachtigall, mein Ehrenwort, trage ich in jedem Falle mit.«

Nachtigall hatte einige Male versucht, Fridolin zu unterbrechen, doch vergeblich. Fridolin warf die Zeche auf den Tisch mit einem allzu reichlichen Trinkgeld, wie ihm das in den Stil dieser Nacht zu passen schien, und ging. Draußen stand ein geschlossener Wagen, unbeweglich auf dem Bock saß ein Kutscher, ganz in Schwarz, mit hohem Zylinder; – wie eine Trauerkutsche, dachte Fridolin. Nach wenigen Minuten, im Laufschritt, war er zu dem Eckhaus gelangt, das er suchte, läutete, erkundigte sich beim Hausmeister, ob der Maskenverleiher Gibiser hier im Hause wohnte, und hoffte im stillen, daß es nicht der Fall wäre. Aber Gibiser wohnte tatsächlich hier, im Stockwerk unterhalb der Leihanstalt, der Hausmeister schien nicht einmal sonderlich erstaunt über den späten Besuch, sondern, durch das ansehnliche Trinkgeld Fridolins leutselig gestimmt, bemerkte er, daß während des Faschings gar nicht so selten auch in solcher Nachtstunde Leute kämen, um Kostüme auszuleihen. Er leuchtete von unten aus so lange mit der Kerze, bis Fridolin im ersten Stockwerk geklingelt hatte. Herr Gibiser, als hätte er an der Türe gewartet, öffnete selbst, er war hager, bartlos, kahl, trug einen altmodischen geblümten Schlafrock und eine türkische Mütze mit einer Troddel, so daß er wie ein lächerlicher Alter auf dem Theater aussah. Fridolin brachte sein Begehren vor und erwähnte, daß der Preis keine Rolle spiele, worauf Herr Gibiser beinahe wegwerfend bemerkte: »Ich verlange, was mir zukommt, nicht mehr.«

Er führte Fridolin über eine Wendeltreppe ins Magazin hinauf. Es roch nach Seide, Samt, Parfüms, Staub und trockenen Blumen; aus schwimmendem Dunkel blitzte es silbern und rot; und plötzlich glänzten eine Menge kleiner Lämpchen zwischen offenen Schränken eines engen, langgestreckten Gangs, der sich rückwärts in Finsternis verlor. Rechts und links hingen Kostüme aller Art; auf der einen Seite Ritter, Knappen, Bauern, Jäger, Gelehrte, Orientalen, Narren, auf der anderen Hofdamen, Ritterfräulein, Bäuerinnen, Kammerzofen, Königinnen der Nacht. Oberhalb der Kostüme waren die entsprechenden Kopfbedeckungen zu sehen, und es war Fridolin zumute, als wenn er durch eine Allee von Gehängten schritte, die im Begriffe wären, sich gegenseitig zum Tanz aufzufordern. Herr Gibiser ging hinter ihm einher. »Haben der Herr einen besonderen Wunsch? Louis Quatorze? Directoire? Altdeutsch?«

»Ich brauche eine dunkle Mönchskutte und eine schwarze Larve, nichts weiter.«

In diesem Augenblick tönte vom Ende des Gangs her ein gläsernes Geklirr. Fridolin sah dem Maskenverleiher erschrocken ins Gesicht, als sei dieser zu sofortiger Aufklärung verpflichtet. Gibiser selbst aber stand starr, tastete nach einem irgendwo versteckten Schalter – und eine blendende Helle ergoß sich sofort bis zum Ende des Gangs, wo ein kleines gedecktes Tischchen mit Tellern, Gläsern und Flaschen zu sehen war. Von zwei Stühlen rechts und links erhoben sich je ein Femrichter in rotem Talar, während ein zierliches helles Wesen im selben Augenblick verschwand. Gibiser stürzte mit langen Schritten hin, griff über den Tisch und hielt eine weiße Perücke in der Hand, während zugleich unter dem Tisch sich hervorschlängelnd ein anmutiges, ganz junges Mädchen, fast noch ein Kind, im Pierrettenkostüm mit weißen Seidenstrümpfen durch den Gang bis zu Fridolin gelaufen kam, der sie notgedrungen in seinen Armen auffing. Gibiser hatte die weiße Perücke auf den Tisch fallen lassen und hielt rechts und links die Femrichter an den Falten ihrer Talare fest. Zugleich rief er zu Fridolin hin: »Herr, halten Sie mir das Mädel fest.« Die Kleine preßte sich an Fridolin, als müßte er sie schützen. Ihr kleines schmales Gesicht war weiß bestäubt, mit einigen Schönheitspflästerchen bedeckt, von ihren zarten Brüsten stieg ein Duft von Rosen und Puder auf; – aus ihren Augen lächelte Schelmerei und Lust.

»Meine Herren«, rief Gibiser, »Sie bleiben hier so lange, bis ich Sie der Polizei übergeben habe.«

»Was fällt Ihnen ein?« riefen die beiden. Und wie aus einem Munde: »Wir sind einer Einladung des Fräuleins gefolgt.«

Gibiser ließ sie beide los, und Fridolin hörte, wie er zu ihnen sagte: »Hierüber werden Sie nähere Auskunft zu geben haben. Oder sahen Sie nicht sofort, daß Sie es mit einer Wahnsinnigen zu tun hatten?« und zu Fridolin gewendet: »Verzeihen Sie den Zwischenfall, mein Herr.«

»Oh, es tut nichts«, sagte Fridolin. Am liebsten wäre er dageblieben oder hätte die Kleine gleich mitgenommen, wohin immer – und was immer daraus gefolgt wäre. Sie sah lockend und kindlich zu ihm auf, wie gebannt. Die Femrichter am Ende des Ganges unterhielten sich aufgeregt miteinander. Gibiser wandte sich sachlich an Fridolin mit der Frage: »Sie wünschen eine Kutte, mein Herr, einen Pilgerhut, eine Larve?«

»Nein«, sagte die Pierrette mit leuchtenden Augen, »einen Hermelinmantel mußt du diesem Herrn geben und ein rotseidenes Wams.«

»Du rührst dich nicht von meiner Seite«, sagte Gibiser und wies auf eine dunkle Kutte, die zwischen einem Landsknecht und einem venezianischen Senator hing. »Dieses entspricht Ihrer Größe, hier der passende Hut, nehmen Sie, rasch.«

Nun meldeten sich von neuem die Femrichter. »Sie werden uns unverzüglich hinauslassen, Herr Chibisier«, sie sprachen den Namen Gibiser zu Fridolins Befremden französisch aus.

»Davon kann keine Rede sein«, erwiderte der Maskenverleiher höhnisch, »vorläufig werden Sie die Freundlichkeit haben, hier meine Rückkehr abzuwarten.«

Indes fuhr Fridolin in die Kutte, band die Enden der herunterhängenden weißen Schnur in einen Knoten, Gibiser reichte ihm, auf einer schmalen Leiter stehend, den schwarzen, breitkrempigen Pilgerhut herunter, und Fridolin setzte ihn auf; doch dies alles tat er wie unter einem Zwang, denn immer stärker empfand er es wie eine Verpflichtung, zu bleiben und der Pierrette in einer drohenden Gefahr beizustehen. Die Larve, die Gibiser ihm nun in die Hand drückte und die er gleich probierte, roch nach einem fremdartigen, etwas widerlichen Parfüm.

»Du gehst mir voran«, sagte Gibiser zu der Kleinen und wies gebieterisch zur Treppe. Pierrette wandte sich um, blickte zum Ende des Gangs und winkte einen wehmütig-heiteren Abschiedsgruß hin. Fridolin folgte ihrem Blick; dort standen keine Femrichter mehr, sondern zwei schlanke junge Herrn in Frack und weißer Krawatte, doch beide noch mit den roten Larven über den Gesichtern. Pierrette schwebte die Wendeltreppe hinab, Gibiser ging hinter ihr, ihnen folgte Fridolin. Im Vorzimmer unten öffnete Gibiser eine Tür, die nach den inneren Räumen führte, und sagte zu Pierrette: »Du gehst augenblicklich zu Bette, verworfenes Geschöpf, wir sprechen uns, sobald ich mit den Herren oben abgerechnet habe.«

Sie stand in der Türe, weiß und zart, und schüttelte mit einem Blick auf Fridolin traurig den Kopf. Fridolin erblickte in einem großen Wandspiegel rechts einen hageren Pilger, der niemand anderer war als er selbst, und wunderte sich darüber, mit so natürlichen Dingen es eigentlich zuging.

Pierrette war verschwunden, der alte Maskenverleiher sperrte hinter ihr ab. Dann öffnete er die Wohnungstür und drängte Fridolin ins Stiegenhaus.

»Verzeihen Sie«, sagte Fridolin, »meine Schuldigkeit…«

»Lassen Sie, mein Herr, Bezahlung erfolgt bei Rückstellung, ich traue Ihnen.«

Doch Fridolin rührte sich nicht vom Fleck. »Sie schwören mir, daß Sie dem armen Kind nichts Böses tun werden?«

»Was kümmert Sie das, Herr?«

»Ich hörte, wie Sie die Kleine vorher als wahnsinnig bezeichneten – und jetzt nannten Sie sie ein verworfenes Geschöpf. Ein auffallender Widerspruch, Sie werden es nicht leugnen.«

»Nun, mein Herr«, entgegnete Gibiser mit einem Ton wie auf dem Theater, »ist der Wahnsinnige nicht verworfen vor Gott?«

Fridolin schüttelte sich angewidert.

»Wie immer«, bemerkte er dann, »es wird sich Rat schaffen lassen. Ich bin Arzt. Wir reden morgen weiter über die Sache.«

Gibiser lachte höhnisch und lautlos. Im Stiegenhaus flammte plötzlich Licht auf, die Türe zwischen Gibiser und Fridolin schloß sich, und sofort wurde der Riegel vorgelegt. Fridolin entledigte sich, während er die Treppe hinunterging, des Huts, der Kutte, der Larve, nahm alles unter den Arm, der Hausbesorger öffnete das Tor, die Trauerkutsche stand gegenüber, mit dem unbeweglichen Lenker auf dem Bock. Nachtigall schickte sich eben an, das Café zu verlassen, und schien nicht sehr angenehm berührt, daß Fridolin pünktlich zur Stelle war.

»Du hast dir also richtig ein Kostüm verschafft?«

»Wie du siehst. Und die Parole?«

»Du bestehst also darauf?«

»Unbedingt.«

»Also – Parole ist Dänemark.«

»Bist du toll, Nachtigall?«

»Weshalb toll?«

»Nichts, nichts. – Ich war zufällig heuer im Sommer an der dänischen Küste. Also steig ein – aber nicht gleich, damit ich Zeit habe, mir drüben einen Wagen zu nehmen.«

Nachtigall nickte, zündete sich gemächlich eine Zigarette an, indes überquerte Fridolin rasch die Straße, nahm einen Fiaker und wies im harmlosen Ton, als handle es sich um einen Scherz, seinen Kutscher an, dem Trauerwagen zu folgen, der sich eben vor ihnen in Bewegung setzte.

Sie fuhren über die Alserstraße, dann unter einem Bahnviadukt der Vorstadt zu und weiter durch schlecht beleuchtete menschenleere Nebengassen. Fridolin erwog die Möglichkeit, daß der Kutscher seines Wagens die Spur des vorderen verlieren könnte; doch sooft er den Kopf durch das offene Fenster in die unnatürlich warme Luft hinaussteckte, immer sah er den anderen Wagen in mäßiger Entfernung vor sich, und unbeweglich saß der Kutscher mit dem hohen schwarzen Zylinder auf dem Bock. Es könnte auch übel ausgehen, dachte Fridolin. Dabei spürte er immer noch den Geruch von Rosen und Puder, der von Pierrettens Brüsten zu ihm aufgestiegen war. An welch einem seltsamen Roman bin ich da vorübergestreift? fragte er sich. Ich hätte nicht fortgehen sollen, vielleicht nicht dürfen. Wo bin ich nun eigentlich?

Zwischen bescheidenen Villen in langsamer Steigung ging es hinan. Nun glaubte Fridolin sich zurechtzufinden; Spaziergänge hatten ihn vor Jahren manchmal hierhergeführt: es mußte der Galitzinberg sein, den er hinanfuhr. Zur Linken in der Tiefe sah er die in Dunst verschwimmende, von tausend Lichtern flimmernde Stadt. Er hörte Räderrollen hinter sich und blickte aus dem Fenster nach rückwärts. Zwei Wagen fuhren hinter ihm, und das war ihm lieb, so konnte er dem Trauerkutscher in keinem Fall verdächtig sein.

Plötzlich, mit einem sehr heftigen Ruck, bog der Wagen seitlich ab, und zwischen Gittern, Mauern, Abhängen ging es abwärts wie in eine Schlucht. Fridolin fiel es ein, daß es höchste Zeit war, sich zu maskieren. Er zog den Pelz aus, fuhr in die Kutte, geradeso wie er jeden Morgen auf der Spitalabteilung in die Ärmel seines Leinenkittels zu schlüpfen pflegte; und wie an etwas Erlösendes dachte er daran, daß er in wenigen Stunden schon, wenn alles gut ging, wie jeden Morgen zwischen den Betten seiner Kranken herumgehen würde – ein hilfsbereiter Arzt.

Der Wagen stand still. Wie wär’s, dachte Fridolin, wenn ich gar nicht erst ausstiege – sondern lieber gleich zurückkehrte? Aber wohin? Zu der kleinen Pierrette? Oder zu dem Dirnchen in der Buchfeldgasse? Oder zu Marianne, der Tochter des Verstorbenen? Oder nach Hause? Und mit einem leichten Schauer empfand er, daß er nirgendshin sich weniger sehnte als gerade dorthin. Oder war es, weil dieser Weg ihn der weiteste dünkte? Nein, ich kann nicht zurück, dachte er bei sich. Weiter meinen Weg, und wär’s mein Tod. Er lachte selbst zu dem großen Wort, aber sehr heiter war ihm dabei nicht zumut.

Ein Gartentor stand weit offen. Die Trauerkutsche vor ihm fuhr eben tiefer in die Schlucht hinab oder in das Dunkel, das ihm so erschien. Nachtigall war also jedenfalls schon ausgestiegen. Fridolin sprang rasch aus dem Wagen, wies den Kutscher an, oben an jener Biegung seine Rückkehr abzuwarten, solange es auch dauern sollte. Und um sich seiner zu versichern, entlohnte er ihn im vorhinein reichlich und versprach ihm einen gleichen Betrag für die Rückfahrt. Die Wagen, die dem seinen gefolgt waren, kamen angefahren. Aus dem ersten sah Fridolin eine verhüllte Frauengestalt steigen; dann trat er in den Garten, nahm die Larve vor, ein schmaler, vom Hause her beleuchteter Pfad führte bis zum Tor, zwei Flügel sprangen auf, und Fridolin befand sich in einer schmalen weißen Vorhalle. Harmoniumklänge tönten ihm entgegen, zwei Diener in dunkler Livree, die Gesichter grau verlarvt, standen rechts und links.

»Parole?« umflüsterte es ihn zweistimmig. Und er erwiderte: »Dänemark.« Der eine Diener nahm seinen Pelz in Empfang und verschwand damit in einem Nebenraum, der andere öffnete eine Tür, und Fridolin trat in einen dämmerigen, fast dunklen hohen Saal, der ringsum von schwarzer Seide umhängen war. Masken, durchaus in geistlicher Tracht, schritten auf und ab, sechzehn bis zwanzig Personen, Mönche und Nonnen. Die Harmoniumklänge, sanft anschwellend, eine italienische Kirchenmelodie, schienen aus der Höhe herabzutönen. In einem Winkel des Saales stand eine kleine Gruppe, drei Nonnen und zwei Mönche; von dort aus hatte man sich flüchtig zu ihm hin und gleich wieder, wie mit Absicht, abgewandt. Fridolin merkte, daß er als einziger das Haupt bedeckt hatte, nahm den Pilgerhut ab und wandelte so harmlos als möglich auf und nieder; ein Mönch streifte seinen Arm und nickte einen Gruß; doch hinter der Maske bohrte sich ein Blick, eine Sekunde lang, tief in Fridolins Augen. Ein fremdartiger, schwüler Wohlgeruch, wie von südländischen Gärten, umfing ihn. Wieder streifte ihn ein Arm. Diesmal war es der einer Nonne. Wie die andern hatte auch sie um Stirn, Haupt und Nacken einen schwarzen Schleier geschlungen, unter den schwarzen Seidenspitzen der Larve leuchtete ein blutroter Mund. Wo bin ich? dachte Fridolin. Unter Irrsinnigen? Unter Verschwörern? Bin ich in die Versammlung irgendeiner religiösen Sekte geraten? War Nachtigall vielleicht beordert, bezahlt, irgendeinen Uneingeweihten mitzubringen, den man zum besten haben wollte? Doch für einen Maskenscherz schien ihm alles zu ernst, zu eintönig, zu unheimlich. Den Harmoniumklängen hatte sich eine weibliche Stimme beigesellt, eine altitalienische geistliche Arie tönte durch den Raum. Alle standen still, schienen zu lauschen, auch Fridolin gab sich für eine Weile der wundervoll anschwellenden Melodie gefangen. Plötzlich flüsterte eine weibliche Stimme hinter ihm: »Wenden Sie sich nicht nach mir um. Noch ist es Zeit, daß Sie sich entfernen. Sie gehören nicht hierher. Wenn man es entdeckte, erginge es Ihnen schlimm.«

Fridolin schrak zusammen. Eine Sekunde lang dachte er der Warnung zu folgen. Aber die Neugier, die Lockung und vor allem sein Stolz waren stärker als jedes Bedenken. Nun bin ich einmal so weit, dachte er, mag es enden, wie es wolle. Und er schüttelte verneinend den Kopf, ohne sich umzuwenden.

Da flüsterte die Stimme hinter ihm: »Es täte mir leid um Sie.«

Jetzt wandte er sich um. Er sah den blutroten Mund durch die Spitzen schimmern, dunkle Augen sanken in die seinen. »Ich bleibe«, sagte er in einem heroischen Ton, den er nicht an sich kannte, und wandte das Antlitz wieder ab. Der Gesang schwoll wundersam an, das Harmonium tönte in einer neuen, durchaus nicht mehr kirchlichen Weise, sondern weltlich, üppig, wie eine Orgel brausend; und um sich schauend, merkte Fridolin, daß die Nonnen alle verschwunden waren und sich nur mehr Mönche im Saale befanden. Auch die Gesangsstimme war indes aus ihrem dunklen Ernst über einen kunstvoll ansteigenden Triller ins Helle und Jauchzende übergegangen, statt des Harmoniums aber hatte irdisch und frech ein Klavier eingesetzt. Fridolin erkannte sofort Nachtigalls wilden, aufreizenden Anschlag, und die vorher so edle weibliche Frauenstimme hatte sich in einem letzten grellen, wollüstigen Aufschrei gleichsam durch die Decke davongeschwungen in die Unendlichkeit. Türen rechts und links hatten sich aufgetan, auf der einen Seite erkannte Fridolin am Klavier die verdämmernden Umrisse von Nachtigalls Gestalt, der gegenüberliegende Raum aber strahlte in blendender Helle, und Frauen standen unbeweglich da, alle mit dunklen Schleiern um Haupt, Stirn und Nacken, schwarze Spitzenlarven über dem Antlitz, aber sonst völlig nackt. Fridolins Augen irrten durstig von üppigen zu schlanken, von zarten zu prangend erblühten Gestalten; – und daß jede dieser Unverhüllten doch ein Geheimnis blieb und aus den schwarzen Masken als unlöslichste Rätsel große Augen zu ihm herüberstrahlten, das wandelte ihm die unsägliche Lust des Schauens in eine fast unerträgliche Qual des Verlangens. Doch wie ihm erging es wohl auch den andern. Die ersten entzückten Atemzüge wandelten sich zu Seufzern, die nach einem tiefen Weh klangen; irgendwo entrang sich ein Schrei; – und plötzlich, als wären sie gejagt, stürzten sie alle, nicht mehr in ihren Mönchskutten, sondern in festlichen weißen, gelben, blauen, roten Kavalierstrachten aus dem dämmerigen Saal zu den Frauen hin, wo ein tolles, beinahe böses Lachen sie empfing. Fridolin war der einzige, der als Mönch zurückgeblieben war, und schlich sich, einigermaßen ängstlich, in die entfernteste Ecke, wo er sich Nachtigall nahe befand, der ihm den Rücken zugewendet hatte. Fridolin sah wohl, daß Nachtigall eine Binde um die Augen trug, aber zugleich glaubte er zu bemerken, wie hinter dieser Binde seine Augen in den hohen Spiegel gegenüber sich bohrten, in dem die bunten Kavaliere mit ihren nackten Tänzerinnen sich drehten.

Plötzlich stand eine der Frauen neben Fridolin und flüsterte – denn niemand, als müßten auch die Stimmen Geheimnis bleiben, sprach ein lautes Wort : »Warum so einsam? Warum schließest du dich vom Tanze aus?«

Fridolin sah, daß von einer anderen Ecke her ihn zwei Edelleute scharf ins Auge gefaßt hatten, und er vermutete, daß das Geschöpf an seiner Seite – es war knabenhaft und schlank gewachsen – zu ihm gesandt war, ihn zu prüfen und zu versuchen. Trotzdem breitete er die Arme nach ihr aus, um sie an sich zu ziehen, als ein anderes der Weiber sich von ihrem Tänzer löste und geradewegs zu Fridolin gelaufen kam. Er wußte sofort, daß es seine Warnerin von früher war. Sie stellte sich an, als erblicke sie ihn zum erstenmal, und flüsterte, doch so vernehmlich, daß man sie auch in jener anderen Ecke hören mußte: »Bist du endlich zurück?« Und heiter lachend: »Es ist alles vergeblich, du bist erkannt.« Und zu der Knabenhaften gewandt: »Laß mir ihn nur für zwei Minuten. Dann sollst du ihn gleich wieder, wenn du willst, bis zum Morgen haben.« Und leiser zu ihr, wie freudig: »Er ist es, ja, er.« Die andere erstaunt: »Wirklich?« und schwebte fort in die Ecke zu den Kavalieren.

»Frage nicht«, sprach nun die Zurückbleibende zu Fridolin, »und wundere dich über nichts. Ich versuchte sie irrezuführen, aber ich sage dir gleich: auf die Dauer kann es nicht gelingen. Flieh, ehe es zu spät ist. Und es kann in jedem Augenblick zu spät sein. Und gib acht, daß man deine Spur nicht verfolgt. Niemand darf erfahren, wer du bist. Mit deiner Ruhe, mit dem Frieden deines Daseins wäre es vorbei für immer. Geh!«

»Seh‘ ich dich wieder?«

»Unmöglich.«

»So bleib‘ ich.«

Ein Zittern ging durch ihren nackten Leib, das sich ihm mitteilte und ihm fast die Sinne umnebelte.

»Es kann nicht mehr auf dem Spiel stehen als mein Leben«, sagte er, »und das bist du mir in diesem Augenblick wert.« Er faßte ihre Hände, versuchte sie an sich zu ziehen.

Sie flüsterte wieder, wie verzweifelt: »Geh!«

Er lachte und hörte sich, wie man sich im Traume hört. »Ich sehe ja, wo ich bin. Ihr seid doch nicht nur darum da, ihr alle, damit man von euerm Anblick toll wird! Du treibst nur einen besondern Spaß mit mir, um mich völlig verrückt zu machen.«

»Es wird zu spät, geh!«

Er wollte sie nicht hören. »Es sollte hier keine verschwiegenen Gemächer geben, in die Paare sich zurückziehen, die sich gefunden haben? Werden alle, die hier sind, mit höflichen Handküssen voneinander Abschied nehmen? Sie sehen nicht danach aus.«

Und er wies auf die Paare, die nach den rasenden Klängen des Klaviers in dem überhellen, spiegelnden Nebenraume weitertanzten, glühende, weiße Leiber an blaue, rote, gelbe Seide geschmiegt. Ihm war, als kümmerte sich jetzt niemand um ihn und die Frau neben ihm; sie standen in dem fast dunklen Mittelsaal ganz allein.

»Vergebliche Hoffnung«, flüsterte sie. »Es gibt hier keine Gemächer, wie du sie dir träumst. Es ist die letzte Minute. Flieh!«

»Komme mit mir.«

Sie schüttelte heftig den Kopf, wie verzweifelt.

Er lachte wieder und kannte sein Lachen nicht. »Du hältst mich zum besten. Sind diese Männer und diese Frauen hierher gekommen, nur um einander zu entflammen und dann zu verschmähen? Wer kann dir verbieten, mit mir fortzugehen, wenn du willst?«

Sie atmete tief auf und senkte das Haupt.

»Ah, nun versteh‘ ich«, sagte er. »Es ist die Strafe, die ihr dem bestimmt habt, der sich ungeladen einschleicht. Ihr hättet keine grausamere ersinnen können. Erlasse sie mir. Begnadige mich. Verhänge eine andere Buße über mich. Nur nicht diese, daß ich ohne dich gehen soll!«

»Du bist wahnsinnig. Ich kann nicht mit dir von hier fortgehen, sowenig – wie mit irgendeinem andern. Und wer versuchen wollte, mir zu folgen, hätte sein und mein Leben verwirkt.«

Fridolin war wie trunken, nicht nur von ihr, ihrem duftenden Leib, ihrem rotglühenden Mund, nicht nur von der Atmosphäre dieses Raums, den wollüstigen Geheimnissen, die ihn hier umgaben; – er war berauscht und durstig zugleich von all den Erlebnissen dieser Nacht, deren keines einen Abschluß gehabt hatte; von sich selbst, von seiner Kühnheit, von der Wandlung, die er in sich spürte. Und er rührte mit den Händen an den Schleier, der um ihr Haupt geschlungen war, als wollte er ihn herunterziehen.

Sie ergriff seine Hände. »Es war eine Nacht, da fiel es einem ein, einer von uns im Tanz den Schleier von der Stirn zu reißen. Man riß ihm die Larve vom Gesicht und peitschte ihn hinaus.«

»Und – sie?«

»Du hast vielleicht von einem schönen, jungen Mädchen gelesen… es sind erst wenige Wochen her, die am Tag vor ihrer Hochzeit Gift nahm.«

Er erinnerte sich, auch des Namens. Er nannte ihn. War es nicht ein Mädchen aus fürstlichem Hause, das mit einem italienischen Prinzen verlobt gewesen war?

Sie nickte.

Plötzlich stand einer der Kavaliere da, der vornehmste von allen, der einzige in weißer Tracht; und mit einer kurzen, zwar höflichen, doch zugleich gebieterischen Verneigung forderte er die Frau, mit der Fridolin sprach, zu einem Tanze auf. Es war Fridolin, als zögerte sie einen Augenblick. Doch schon hatte der andere sie umfaßt und wirbelte mit ihr davon zu den andern Paaren im erleuchteten Nebensaal.

Fridolin fand sich allein, und diese plötzliche Verlassenheit überfiel ihn wie Frost. Er sah um sich. In diesem Augenblick schien sich niemand um ihn zu kümmern. Vielleicht war jetzt noch eine letzte Möglichkeit, sich ungestraft zu entfernen. Was ihn trotzdem in seine Ecke gebannt hielt, wo er sich nun ungesehen und unbeachtet fühlen durfte – die Scheu vor einem ruhmlosen und etwas lächerlichen Rückzug, das ungestillte, quälende Verlangen nach dem wundersamen Frauenleib, dessen Duft noch um ihn strich; oder die Erwägung, daß alles, was bisher geschehen, vielleicht eine Prüfung seines Muts bedeutet hätte und daß ihm die herrliche Frau als Preis zufallen würde – das wußte er selbst nicht. Jedenfalls aber war ihm klar, daß diese Spannung nicht länger zu ertragen war und daß er auf alle Gefahr hin diesem Zustand ein Ende machen mußte. Wozu immer er sich entschlösse, das Leben konnte es nicht kosten. Er befand sich vielleicht unter Narren, vielleicht unter Wüstlingen, gewiß nicht unter Buben oder Verbrechern. Und es kam ihm der Einfall, unter sie hinzutreten, sich selbst als Eindringling zu bekennen und sich ihnen in ritterlicher Weise zur Verfügung zu stellen. Nur in solcher Art, wie mit einem edeln Akkord, durfte diese Nacht abschließen, wenn sie mehr bedeuten sollte als ein schattenhaft wüstes Nacheinander von düsteren, trübseligen, skurrilen und lüsternen Abenteuern, deren doch keines zu Ende gelebt worden war. Und aufatmend machte er sich bereit.

In diesem Augenblick aber flüsterte es neben ihm: »Parole!« Ein schwarzer Kavalier war unversehens zu ihm hingetreten, und da Fridolin nicht gleich erwiderte, stellte er seine Frage ein zweites Mal. »Dänemark«, sagte Fridolin.

»Ganz recht, mein Herr, dies ist die Parole des Eingangs. Die Parole des Hauses, wenn ich bitten darf?«

Fridolin schwieg.

»Sie wollen nicht die Güte haben, uns die Parole des Hauses zu sagen?« Es klang messerscharf.

Fridolin zuckte die Achseln. Der andere trat in die Mitte des Raumes, erhob die Hand, das Klavierspiel verstummte, der Tanz brach ab. Zwei andere Kavaliere, einer in Gelb, der andere in Rot, traten herzu. »Die Parole, mein Herr«, sagten sie beide gleichzeitig.

»Ich habe sie vergessen«, erwiderte Fridolin mit einem leeren Lächeln und fühlte sich ganz ruhig.

»Das ist ein Unglück«, sagte der Herr in Gelb, »denn es gilt hier gleich, ob Sie die Parole vergessen oder ob Sie sie nie gekannt haben.«

Die ändern männlichen Masken strömten herein, die Türen nach beiden Seiten schlossen sich. Fridolin stand allein da im Mönchsgewand mitten unter bunten Kavalieren.

»Die Maske herunter!« riefen einige zugleich. Wie zum Schutz hielt Fridolin die Arme vor sich hingestreckt. Tausendmal schlimmer wäre es ihm erschienen, der einzige mit unverlarvtem Gesicht unter lauter Masken dazustehen, als plötzlich unter Angekleideten nackt. Und mit fester Stimme sagte er: »Wenn einer von den Herren sich durch mein Erscheinen in seiner Ehre gekränkt fühlen sollte, so erkläre ich mich bereit, ihm in üblicher Weise Genugtuung zu geben. Doch meine Maske werde ich nur in dem Falle ablegen, daß Sie alle das gleiche tun, meine Herren.«

»Es handelt sich hier nicht um Genugtuung«, sagte der rotgekleidete Kavalier, der bisher noch nicht gesprochen hatte, »sondern um Sühne.«

»Die Maske herunter!« befahl wieder ein anderer mit einer hellen frechen Stimme, durch die sich Fridolin an den Kommandoton eines Offiziers erinnert fühlte. »Man wird Ihnen ins Gesicht sagen, was Ihrer harrt, und nicht in Ihre Larve.«

»Ich nehme sie nicht ab«, sagte Fridolin in noch schärferem Ton, »und wehe dem, der es wagt, mich zu berühren.«

Irgendein Arm griff plötzlich nach seinem Gesicht, wie um ihm die Maske herunterzureißen, als plötzlich die eine Tür sich auftat und eine der Frauen – Fridolin konnte sich nicht im Zweifel darüber befinden, welche es war – dastand, in Nonnentracht, so wie er sie zuerst erblickt hatte. Hinter ihr aber in dem überhellten Raum waren die andern zu sehen, nackt mit verhüllten Gesichtern, aneinandergedrängt, stumm, eine verschüchterte Schar. Doch die Türe schloß sich sofort wieder.

»Laßt ihn«, sagte die Nonne, »ich bin bereit, ihn auszulösen.«

Ein kurzes tiefes Schweigen, als wenn etwas Ungeheueres sich ereignet hätte, dann wandte sich der schwarze Kavalier, der Fridolin zuerst die Parole abverlangt hatte, an die Nonne mit den Worten: »Du weißt, was du damit auf dich nimmst.«

»Ich weiß es.«

Wie ein tiefes Aufatmen ging es durch den Raum.

»Sie sind frei«, sagte der Kavalier zu Fridolin, »verlassen Sie ungesäumt dieses Haus und hüten Sie sich, weiter nach den Geheimnissen zu forschen, in deren Vorhof Sie sich eingeschlichen haben. Sollten Sie irgend jemanden auf unsere Spur zu leiten versuchen, ob es nun glückte oder nicht – Sie wären verloren.«

Fridolin stand unbeweglich. »Auf welche Weise soll – diese Frau mich auslösen?« fragte er.

Keine Antwort. Einige Arme wiesen der Türe zu, zum Zeichen, er möge sich unverzüglich entfernen.

Fridolin schüttelte den Kopf. »Verhängen Sie über mich, meine Herren, was Ihnen beliebt, ich werde nicht dulden, daß ein anderes menschliches Wesen für mich bezahlt.«

»An dem Los dieser Frau«, sagte der schwarze Kavalier nun ganz sanft, »würden Sie doch nichts mehr ändern. Wenn hier ein Versprechen geleistet wurde, gibt es kein Zurück.«

Die Nonne nickte langsam wie zur Bestätigung. »Geh!« sagte sie zu Fridolin.

»Nein«, erwiderte dieser in erhöhtem Ton. »Das Leben hat keinen Wert mehr für mich, wenn ich ohne dich von hier fortgehen soll. Woher du kommst, wer du bist, ich frage nicht danach. Was kann es Ihnen, meine unbekannten Herren, bedeuten, ob Sie diese Faschingskomödie, und sei sie auch auf einen ernsthaften Schluß angelegt, zu Ende spielen oder nicht. Wer immer Sie sein mögen, meine Herren, Sie führen in jedem Fall noch eine andere Existenz als diese. Ich aber spiele keinerlei Komödie, auch nicht hier, und wenn ich es bisher notgedrungen getan habe, so gebe ich es jetzt auf. Ich fühle, daß ich in ein Schicksal geraten bin, das mit dieser Mummerei nichts mehr zu tun hat, ich will Ihnen meinen Namen nennen, ich will meine Larve abtun und nehme alle Folgen auf mich.«

»Hüte dich!« rief die Nonne aus, »du würdest dich verderben, ohne mich zu retten! Geh!« Und zu den andern gewendet: »Hier bin ich, hier habt ihr mich – alle!«

Die dunkle Tracht fiel wie durch einen Zauber von ihr ab, im Glanz ihres weißen Leibes stand sie da, sie griff nach dem Schleier, der ihr um Stirn, Haupt und Nacken gewunden war, und mit einer wundersamen runden Bewegung wand sie ihn los. Er sank zu Boden, dunkle Haare stürzten ihr über Schultern, Brust und Lenden – doch ehe noch Fridolin das Bild ihres Antlitzes zu erhaschen vermochte, war er von unwiderstehlichen Armen erfaßt, fortgerissen und zur Türe gedrängt worden; im Augenblick darauf befand er sich im Vorraum, die Türe hinter ihm fiel zu, ein verlarvter Bedienter brachte ihm den Pelz, war ihm beim Anziehen behilflich, und das Haustor öffnete sich. Wie von einer unsichtbaren Gewalt fortgetrieben eilte er weiter, er stand auf der Straße, das Licht hinter ihm erlosch, er blickte sich um und sah das Haus schweigend daliegen mit verschlossenen Fenstern, aus denen kein Schimmer drang. Daß ich mir nur alles genau einpräge, dachte er vor allem. Ich muß das Haus wiederfinden, alles Weitere ergibt sich.

Nacht war um ihn, in einiger Entfernung über ihm, dort, wo der Wagen seiner warten sollte, leuchtete trübrötlich eine Laterne. Aus der Tiefe der Gasse fuhr die Trauerkutsche vor, als hätte er nach ihr gerufen. Ein Diener öffnete den Schlag.

»Ich habe meinen Wagen«, sagte Fridolin. Der Bediente schüttelte den Kopf. » Sollte er davongefahren sein, so werde ich zu Fuß nach der Stadt zurückkehren.«

Der Diener antwortete mit einer Handbewegung so wenig bedientenhafter Art, daß sie jeden Widerspruch ausschloß. Der Zylinder des Kutschers ragte lächerlich lang in die Nacht auf. Der Wind blies heftig, über den Himmel hin flogen violette Wolken. Fridolin konnte sich nach seinen bisherigen Erlebnissen nicht darüber täuschen, daß ihm nichts übrigblieb, als in den Wagen zu steigen, der sich auch mit ihm unverzüglich in Bewegung setzte.

Fridolin fühlte sich entschlossen, auf alle Gefahr hin die Aufklärung des Abenteuers, sobald es anging, in Angriff zu nehmen. Sein Dasein, so schien ihm, hatte nicht den geringsten Sinn mehr, wenn es ihm nicht gelang, die unbegreifliche Frau wiederzufinden, die in dieser Stunde den Preis für seine Rettung bezahlte. Was für einen, das war allzu leicht zu erraten. Aber welchen Anlaß hatte sie, sich für ihn zu opfern? Zu opfern –? War sie überhaupt eine Frau, für die, was ihr bevorstand, was sie nun über sich ergehen ließ, ein Opfer bedeutete? Wenn sie an diesen Gesellschaften teilnahm – und es konnte heute nicht zum erstenmal der Fall sein, da sie sich in die Bräuche so eingeweiht zeigte –, was mochte ihr daran liegen, einem dieser Kavaliere oder ihnen allen zu Willen zu sein? Ja, konnte sie überhaupt etwas anderes sein als eine Dirne? Konnten alle diese Weiber etwas anderes sein? Dirnen – kein Zweifel. Auch wenn sie alle noch irgendein zweites, sozusagen bürgerliches Leben neben diesem führten, das eben ein Dirnenleben war. Und war nicht alles, was er eben erlebt, wahrscheinlich nur ein infamer Spaß gewesen, den man sich mit ihm erlaubt hatte? Ein Spaß, der für den Fall, daß sich einmal ein Unberufener hier einschleichen sollte, schon vorgesehen, vorbereitet, ja möglicherweise einstudiert war? Und doch, wenn er nun wieder dieser Frau dachte, die ihn von Anfang an gewarnt hatte, die nun bereit war, für ihn zu bezahlen – in ihrer Stimme, in ihrer Haltung, in dem königlichen Adel ihres unverhüllten Leibes war etwas gewesen, das unmöglich Lüge sein konnte. Oder hatte vielleicht nur seine, Fridolins plötzliche Erscheinung als Wunder gewirkt, sie zu verwandeln? Nach allem, was ihm in dieser Nacht begegnet war, hielt er – und er war sich in diesem Gedanken keiner Geckerei bewußt – auch ein solches Wunder nicht für unmöglich. Vielleicht gibt es Stunden, Nächte, dachte er, in denen solch ein seltsamer, unwiderstehlicher Zauber von Männern ausgeht, denen unter gewöhnlichen Umständen keine sonderliche Macht über das andere Geschlecht innewohnt?

Der Wagen fuhr immer hügelaufwärts, längst hätte er, wenn’s mit rechten Dingen zuging, in die Hauptstraße einbiegen müssen. Was hatte man mit ihm vor? Wohin sollte ihn der Wagen bringen? Sollte die Komödie vielleicht noch eine Fortsetzung finden? Und welcher Art sollte diese sein? Aufklärung vielleicht? Heiteres Wiederfinden an anderm Ort? Lohn nach rühmlich bestandener Probe, Aufnahme in die geheime Gesellschaft? Ungestörter Besitz der herrlichen Nonne –? Die Wagenfenster waren geschlossen, Fridolin versuchte hinauszublicken; – sie waren undurchsichtig. Er wollte die Fenster öffnen, rechts, links, es war unmöglich; und ebenso undurchsichtig, ebenso fest verschlossen war die Glaswand zwischen ihm und dem Kutschbock. Er klopfte an die Scheiben, er rief, er schrie, der Wagen fuhr weiter. Er wollte den Wagenschlag öffnen, rechts, links, sie gaben keinem Drucke nach, sein neuerliches Rufen verhallte im Knarren der Räder, im Sausen des Windes. Der Wagen begann zu holpern, fuhr bergab, immer rascher, Fridolin, von Unruhe, von Angst erfaßt, war eben daran, eines der blinden Fenster zu zerschmettern, als der Wagen plötzlich stillstand. Beide Türen öffneten sich gleichzeitig wie durch einen Mechanismus, als wäre nun Fridolin ironischerweise die Wahl zwischen rechts und links gegeben. Er sprang aus dem Wagen, die Türen klappten zu – und ohne daß der Kutscher sich um Fridolin im geringsten gekümmert hatte, fuhr der Wagen davon, über das freie Feld in die Nacht hinein.

Der Himmel war bedeckt, die Wolken jagten, der Wind pfiff, Fridolin stand im Schnee, der ringsum eine blasse Helligkeit verbreitete. Er stand allein mit offenem Pelz über seinem Mönchsgewand, den Pilgerhut auf dem Kopf, und es war ihm nicht eben heimlich zumute. In einiger Entfernung lief die breite Straße. Eine Prozession von trübflackernden Laternen bezeichnete die Richtung nach der Stadt. Fridolin aber lief geradeaus, den Weg abkürzend, über das mäßig sich senkende, beschneite Feld nach abwärts, um so rasch als möglich unter Menschen zu gelangen. Mit durchnäßten Füßen kam er in ein schmales, fast unbeleuchtetes Gäßchen, schritt zuerst zwischen hohen Planken hin, die im Sturme ächzten; um die nächste Ecke geriet er in eine etwas breitere Gasse, wo spärliche kleine Häuser und leere Bauplätze miteinander abwechselten. Von einer Turmuhr schlug es drei Uhr morgens. Jemand kam Fridolin entgegen, in kurzer Jacke, die Hände in den Hosentaschen, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, den Hut tief in die Stirne gedrückt. Fridolin stellte sich wie gegen einen Angriff in Bereitschaft, aber unerwarteterweise machte der Strolch plötzlich kehrt und lief davon. Was bedeutet das? fragte sich Fridolin. Dann besann er sich, daß er unheimlich genug aussehen mochte, nahm den Pilgerhut vom Kopf, knöpfte den Mantel zu, unter dem das Mönchshabit bis über die Knöchel schlotterte. Wieder bog er um eine Ecke; er betrat eine vorortliche Hauptstraße, ein ländlich gekleideter Mensch kam an ihm vorüber und grüßte, wie man einen Priester grüßt. Der Lichtstrahl einer Laterne fiel auf die Straßentafel des Eckhauses. Liebhartstal – also nicht sehr weit von dem Haus, das er vor kaum einer Stunde verlassen. Eine Sekunde lockte es ihn, den Weg zurück zu nehmen, in der Nähe des Hauses der weiteren Dinge zu harren. Doch er stand sofort ab, in der Erwägung, daß er sich in schlimme Gefahr begeben hätte und der Lösung des Rätsels doch kaum näher gekommen wäre. Die Vorstellung der Dinge, die sich eben jetzt in der Villa ereignen mochten, erfüllte ihn mit Grimm, Verzweiflung, Beschämung und Angst. Dieser Gemütszustand war so unerträglich, daß Fridolin beinahe bedauerte, von dem Strolch, dem er begegnet war, nicht angefallen worden zu sein, ja beinahe bedauerte, nicht mit einem Messerstich zwischen den Rippen an einer Planke in der verlorenen Gasse zu liegen. So hätte diese unsinnige Nacht mit ihren läppischen, abgebrochenen Abenteuern am Ende doch eine Art von Sinn erhalten. So heimzukehren, wie er nun im Begriff war, erschien ihm geradezu lächerlich. Aber noch war nichts verloren. Morgen war auch ein Tag. Er schwor sich, nicht zu ruhen, ehe er das schöne Weib wiedergefunden, dessen blendende Nacktheit ihn berauscht hatte. Und nun erst dachte er an Albertine – doch so, als hätte er auch sie erst zu erobern, als könnte sie, als dürfte sie nicht früher wieder die Seine werden, ehe er sie mit all den andern von heute nacht, mit der nackten Frau, mit Pierrette, mit Marianne, mit dem Dirnchen aus der engen Gasse hintergangen. Und sollte er sich nicht auch bemühen, den frechen Studenten ausfindig zu machen, der ihn angerempelt hatte, um ihn auf Säbel, lieber noch auf Pistolen zu fordern? Was lag ihm an eines andern, was an seinem eigenen Leben? Sollte man es immer nur aus Pflicht, aus Opfermut aufs Spiel setzen, niemals aus Laune, aus Leidenschaft oder einfach, um sich mit dem Schicksal zu messen?!

Und wieder fiel ihm ein, daß er möglicherweise schon den Keim einer Todeskrankheit im Leibe trug. Wäre es nicht zu albern, daran zu sterben, daß einem ein diphtheriekrankes Kind ins Gesicht gehustet hatte? Vielleicht war er schon krank. Hatte er nicht Fieber? Lag er in diesem Augenblick nicht daheim zu Bett – und all das, was er erlebt zu haben glaubte, waren nichts als Delirien gewesen?!

Fridolin riß die Augen so weit auf als möglich, strich sich über Stirn und Wange, fühlte nach seinem Puls. Kaum beschleunigt. Alles in Ordnung. Er war völlig wach.

Er ging die Straße weiter, der Stadt zu. Ein paar Marktwagen kamen hinter ihm, rumpelten vorbei, hin und wieder begegnete er ärmlich angezogenen Leuten, für die der Tag eben anfing. Hinter einem Kaffeehausfenster, an einem Tisch, über dem eine Gasflamme flackerte, saß ein dicker Mensch mit einem Schal um den Hals, den Kopf in die Hände gestützt und schlief. Die Häuser lagen noch im Dunkel, wenige vereinzelte Fenster waren erleuchtet. Fridolin glaubte zu fühlen, wie die Menschen allmählich erwachten, es war ihm, als sähe er sie in ihren Betten sich recken und rüsten zu ihrem armseligen, sauren Tag. Auch ihm stand einer bevor, aber doch nicht armselig und trüb. Und mit einem seltsamen Herzklopfen ward er sich freudig bewußt, daß er in wenigen Stunden schon im weißen Leinenkittel zwischen den Betten seiner Kranken herumgehen würde. An der nächsten Ecke stand ein Einspänner, der Kutscher schlief auf dem Bock, Fridolin weckte ihn, nannte ihm seine Adresse und stieg ein.