Fünfzehntes Kapitel


Rom. – Der spitzbübische Kommödiant wird bestraft. – Lord Baltimore. – Neapel. – Sara Goudar. – Bettys Abreise. – Agata. – Callimene. – Medim. – Albergoni. – Miß Chudleigh, Herzogin von Kingston. – Der Fürst von Francavilla. – Die Schwimmer und Schwimmerinnen.

Als ich mit dem Engländer hinfiel, hatte ich mir an einem Nagel oder Splitter den vierten Finger der linken Hand verletzt, und das Blut strömte hervor, wie wenn eine Ader getroffen wäre. Betty half mir ein Taschentuch um die Wunde zu binden, während Sir B. M. meinen Brief mit der größten Aufmerksamkeit las. Ich erblickte in Bettys Handlung ein Vertrauen, das mir sehr gefiel; sie bewies mir dadurch, daß sie der Aussöhnung mit ihrem Liebhaber sicher war.

Ich nahm meinen Nachtsack und meinen Rock und ging in das Nebenzimmer, um die Wäsche zu wechseln und mich anzuziehen. Ich war glücklich, daß eine so heikle Sache, die mir beinahe verhängnisvoll geworden wäre, allem Anschein nach einen glücklichen Ausgang fand, und bedauerte unter diesen Umständen keineswegs, daß meine Liebschaft ein so schnelles Ende nahm.

Ich war bereits seit einer halben Stunde angezogen; da ich sie jedoch ziemlich ruhig englisch miteinander sprechen hörte, so wollte ich sie nicht unterbrechen. Endlich klopfte der Engländer leise an meine Tür, trat mit traurigem Gesicht ein, streckte mir die Hand entgegen und sagte mir: »Ich bin vollkommen überzeugt, daß Sie nicht nur meine Betty gerettet, sondern sie auch von ihrer tollen Liebe geheilt haben. Sie werden mir verzeihen, mein Herr! Ich konnte ja nicht ahnen, daß der Mann, den ich bei meiner Freundin fand, ihr Befreier und nicht ihr Entführer war, ebensowenig, daß der Wagen, den ich vor der Tür sah, und mit welchem, wie man mir sagte, eine schöne Frau und ein Mann angekommen waren, von Rom herkam; hätte man mir diesen letzteren Umstand mitgeteilt, so wäre ich nicht einmal hinaufgekommen. Ich segne das Schicksal, daß Sie mich sofort von hinten packten; denn ich würde Sie getötet haben, sobald ich Sie gesehen hätte, und ich wäre in diesem Augenblick der unglücklichste aller Menschen. Seien Sie mein Freund, mein Herr, und umarmen Sie mich.«

Ich umarmte ihn sogleich und sagte, ich fände sein Benehmen vollkommen natürlich und hätte es an seiner Stelle auch nicht anders gemacht.

Wir gingen wieder in das andere Zimmer, wo wir Betty an das Bett gelehnt stehen sahen. Sie weinte herzbrechend.

Da das Blut immer noch aus meinem Finger heworströmte, ließ ich mir einen Wundarzt holen. Er fand, daß ich mir eine Ader verletzt hatte, und mußte mir einen regelrechten Verband anlegen.

Da Betty immer noch heiße Tränen weinte, glaubte ich dem Sir B. M. sagen zu müssen, sie verdiene seine Verzeihung.

»Wie, mein Herr? Glauben Sie, ich habe ihr nicht bereits vergeben? Ich wäre ja ein ganz gemeiner Mensch, wenn ich nicht anerkennen wollte, daß sie volle Vergebung verdient. Meine arme Betty hat ihren Irrtum eingesehen, sobald Sie ihr die Wahrheit handgreiflich nachgewiesen haben, und ich bin überzeugt, sie weint nur vor Kummer darüber, daß sie sich hat verführen lassen. Sie, mein Herr, können sie nicht so gut kennen wie ich; ich aber weiß, daß sie in Zukunft vor jedem Rückfall gesichert ist, gerade weil sie der Schwachheit einmal ihren Tribut gezahlt hat.«

Rührung ist ansteckend: Sir B. M. war tief gerührt, als er Betty in Tränen zerfließen sah. Er konnte sich nicht enthalten, seinen Tränen ebenfalls freien Lauf zu lassen, und auch ich konnte nicht anders, sondern weinte wie sie.

Als wir genug geweint und geschluchzt hatten, beruhigten wir uns ein wenig, denn die erschöpfte Natur verlangte Ruhe.

Sir B. M. war ein Mann von hochherzigstem Charakter. Er begann zu lachen und zu scherzen, und seine Liebkosungen beruhigten Betty. Wir speisten mit gutem Appetit zu Mittag, und der ausgezeichnete Muskatwein stellte vollends Zufriedenheit und Glück wieder her.

Da wir keine Eile mehr hatten, sagte Sir B. M. uns, wir würden gut tun, uns bis zum nächsten Tage auszuruhen; er war fünfzehn Posten geritten und konnte sich vor Müdigkeit kaum noch auf den Beinen halten.

Er erzählte uns: »Gestern kam ich in Livorno an. Als ich Betty nicht in ihrer Wohnung fand, erkundigte ich mich und erfuhr im Malteser Kreuz, von wo aus der Wagenverkehr nach Rom geht, daß der Kofferträger erzählt habe, der Offizier, dem der Koffer gehöre, habe ein Pferd gemietet und dafür eine Uhr als Pfand gelassen. Ich erkannte Bettys Uhr und wußte nun, daß Betty entweder mit ihrem Verführer zu Pferd war oder daß sie mit dem Wagen fuhr, worauf sich ihr Koffer befand. Überzeugt, daß ich sie unterwegs finden würde, zögerte ich keinen Augenblick, sie zu verfolgen. Ich versah mich mit zwei guten Pistolen; nicht um mich derselben gegen sie zu bedienen, denn die erste Regung meines Herzens war, sie zu beklagen, und die zweite, ihr zu verzeihen. Ich nahm die Pistolen in der festen Absicht mit, dem Menschen, der sie unglücklich gemacht hatte, das Hirn auszublasen, und bei diesem Entschluß soll es auch bleiben, bis ich mich für seine Schurkerei gerächt habe. Wir werden morgen nach Rom weiterreisen.«

Bei diesem Schluß seiner Erzählung strahlten Bettys Züge vor Freude; ich glaube, in diesem Augenblick wäre sie glücklich gewesen, mit eigener Hand das Herz des hinterlistigen Schurken durchbohren zu können, der sie an den Rand des Abgrundes gebracht hatte. Sie rief: »Wir werden ihn in Rolands Gasthof finden.«

Sir B. M. sah mich befriedigt an und schloß Betty in seine Arme, wie wenn er mich hätte auffordern wollen, die englische Seelengröße zu bewundern, die in ihrer Kraft allerdings die Schwäche des englischen Charakters bei weitem übertrifft.

»Ich verstehe Sie,« rief ich, »aber Sie werden nicht ohne mich reisen. Umarmen wir uns, und versprechen Sie mir, es mir zu überlassen, daß ich Ihnen Genugtuung verschaffe. Sonst fahre ich sofort ab, komme vor Ihnen in Rom an und rette den Unglücklichen, gegen den Sie beide so vielen Anlaß zur Beschwerde haben. Hätten Sie ihn getötet, bevor er Rom erreicht gehabt hätte, so wäre ihm ganz recht geschehen. In Rom aber wäre es etwas anderes, und Sie könnten es zu bereuen haben, wenn Sie sich Ihrer gerechten Entrüstung überließen. Sie kennen Rom nicht und kennen nicht die Gerechtigkeit der Priester. Also, Sir B. M,, geben Sie mir die Hand und Ihr Ehrenwort, daß Sie nichts ohne meine Zustimmung tun, oder ich verlasse Sie augenblicklich.«

Sir B. M. war ein Mann von meiner Größe, nur etwas magerer; er war fünf oder sechs Jahre jünger als ich, und der Leser kennt wohl schon seinen Charakter, ohne daß ich ihn zu beschreiben brauche.

Meine Rede war ein wenig despotisch und mußte ihn in Erstaunen setzen; er fühlte jedoch bald, was mich so sprechen ließ, und konnte, mir seine Hand nicht verweigern. Als er mich bei der Berührung unserer Hände als Bruder erkannte, leuchtete sein Auge vor Freude auf, und wir umarmten uns als gute Freunde.

»Ja, mein Herz,« sagte nun auch Betty, »überlassen wir unsere Rache dem Freunde, den der Himmel uns gesandt hat!«

»Ich bin damit einverstanden, in der Annahme, daß wir stets einig und gleicher Meinung sein werden.«

Nach diesen Worten trennten wir uns, da Sir B. M. der Ruhe bedürftig war. Ich begab mich zum Fuhrmann, um ihm seinen Lohn zu bezahlen und ihm zu sagen, daß wir am nächsten Tage wieder nach Rom zurückreisen würden.

»Nach Rom! Sie haben also Ihre Brieftasche wiedergefunden? Es wäre besser gewesen, mein guter Herr, Sie hätten sie gar nicht erst gesucht!«

Der gute Mann glaubte, wie alle anderen Leute, die mich mit dem Arm in der Binde sahen, ich hätte mich geschlagen.

Da Sir B. M. zu Bett gegangen war, so verbrachte ich den ganzen Tag mit Betty, die im Gefühl ihres Glücks, einem so wackeren Mann anzugehören, ganz und gar von Dankbarkeit und Liebe durchdrungen war. Sie sagte mir, wir dürften uns des zwischen uns Vorgefallenen nur erinnern, um unser ganzes Leben lang treue Freunde zu sein, ohne daß irgendein Liebesverkehr die Reinheit dieses schönen Bandes befleckte. Ich stimmte dieser Bedingung ohne allzu große Überwindung bei.

Da ihr Herz vor Verlangen brannte, sich an dem hinterlistigen Komödianten für den ihr zugefügten Schimpf zu rächen, so gab ich mir alle Mühe, ihr begreiflich zu machen, daß sie im Gegenteil Herrn B. M. dahin bringen müßte, in einer Stadt wie Rom jeden Gedanken an Gewalttätigkeiten aufzugeben; denn solche könnten ihm teuer zu stehen kommen, und außerdem würde es nur seinem guten Ruf schaden, wenn sein Abenteuer bekannt würde. »Ich verspreche Ihnen, den Burschen ins Gefängnis setzen zu lassen, sobald wir angekommen sind. Dies wird Ihnen genügen müssen; denn der Halunke wird sich in seinen Erwartungen getäuscht sehen und wird statt des Gewinnes, den er erhoffte, nur Elend und Verdruß haben.«

Nachdem Sir B. M. sieben oder acht Stunden ununterbrochen geschlafen hatte, war er viel weniger zornig gegen den Verführer seiner Schönen und nahm meinen Plan unter der Bedingung an, daß er sich das Vergnügen machen dürfte, den Komödianten zu besuchen, denn ihm läge daran, den Burschen kennen zu lernen.

Nachdem wir diese vernünftige Abmachung getroffen und ein ausgezeichnetes Abendessen zu uns genommen hatten, legte ich mich allein zu Bett. Ich tat dies ohne Bedauern, denn ich empfand das Glück, eine gute Handlung vollbracht zu haben.

Am anderen Morgen fuhren wir gleich nach Sonnenaufgang ab. In Acquapendente beschlossen wir die Post zu nehmen und so in zwölf Stunden einen Weg zu machen, wozu wir sonst drei Tage gebraucht haben würden.

In Rom begab ich mich gleich nach unserer Ankunft auf das Zollamt und übergab dem Vorsteher die von dem Notar aufgenommene Urkunde, um Bettys Koffer herauszubekommen. Man brachte uns diesen am nächsten Tage in den Gasthof.

Da Sir B. M. es vollkommen mir überlassen hatte, die Geschichte mit dem Komödianten in Ordnung zu bringen, so begab ich mich zum Bargello, der in Rom eine wichtige Persönlichkeit ist und seine Obliegenheiten stets sehr schnell erledigt, wenn eine Angelegenheit ihm zur Genüge klar gemacht wird, und wenn die Antragsteller keine Kosten scheuen. Er ist denn auch reich und lebt mit einem gewissen Luxus; er hat sozusagen freien oder doch wenigstens bequemen Zutritt zum Kardinalvikar, zum Gouverneur und sogar zum Heiligen Vater.

Er bewilligte mir sofort eine geheime Unterredung. Ich erzählte ihm die ganze Geschichte und sagte zum Schluß: »Man verlangt weiter nichts, als daß der Spitzbube gefangen gesetzt wird und daß er seine Freiheit nur wieder erhält, um aus der Stadt ausgewiesen zu werden. Dieses Verlangen ist sehr gerecht, und Sie begreifen sofort, daß man dies alles leicht auf gesetzlichem Wege erreichen würde; da wir es jedoch eilig haben, so muß ich Sie bitten, alles auf sich zu nehmen, und damit Sie Ihre Erkundigungen recht schnell einziehen können, so biete ich Ihnen fünfzig Scudi an, die wir an Gerichtskosten sparen werden.«

Der Bargello verlangte zunächst den falschen Wechsel und die in dem Köfferchen des Abenteurers enthaltenen Sachen und Briefe.

Da ich den Wechsel bei mir hatte, so gab ich ihm diesen gegen Quittung und bat ihn, die Sachen im Gasthof abholen zu lassen.

Er sagte mir: »Sobald es mir gelungen ist, ihn in Gegenwart mehrerer zuverlässiger Zeugen zum Geständnis einiger der von Ihnen angeführten Vergehungen zu bringen, wird die Sache nicht lange dauern. Ich weiß bereits, daß der Mensch bei Roland wohnt und daß er auf dem Zollamt war, um den Koffer der Engländerin herauszubekommen. Es liegt gegen ihn genügend viel vor, um ihn für ein paar Jahre auf die Galeeren zu schicken, wenn man statt fünfzig Scudi hundert ausgeben will.«

»Das können wir noch sehen; zunächst haben wir am Gefängnis genug.«

Der Bargello war sehr erfreut, als er vernahm, daß das Pferd dem Komödianten nicht gehörte; er sagte mir, wenn ich gegen neun Uhr wieder vorsprechen wollte, könnte er mir ganz gewiß etwas Neues mitteilen.

Ich versprach es ihm.

Ich hatte in Rom sehr viel zu tun, vor allen Dingen den Kardinal Bernis aufzusuchen; ich verschob jedoch alles andere auf später, um mich nur mit dieser Angelegenheit zu beschäftigen, für die ich mich ganz besonders interessierte.

In unserem Gasthof fand ich einen Lohndiener, den Sir B. M. zu unserer Bedienung angenommen hatte. Er sagte mir, der Engländer sei schon zu Bett gegangen.

Da wir einen Mietswagen brauchten, ließ ich den Wirt kommen und war sehr überrascht, als ich Roland selbst vor mir sah.

»Wie? Ich glaubte. Sie seien noch am Spanischen Platz?«

»Ich habe mein Geschäft meiner ältesten Tochter überlassen; sie hat einen Franzosen geheiratet, der dort gute Geschäfte macht. Ich haben diesen Palazzo genommen, worin ich herrliche Zimmer habe.«

»Hat Ihre Tochter augenblicklich viele Fremde?«

Sie hat in diesem Augenblick nur einen einzigen Franzosen, einen gewissen Grafen de l’Etoile, der sein Gepäck erwartet und ein gutes Pferd besitzt, das ich ihm abzukaufen gedenke.«

«Ich rate Ihnen, bis morgen zu warten und unter keinen Umständen zu sagen, von wem Sie diesen Rat haben.«

»Warum soll ich warten?«

»Für den Augenblick kann ich Ihnen nicht mehr sagen.«

Dieser Roland war Vater der Teresa, die ich neun Jahre früher geliebt hatte und die mein Bruder Giovanni ein Jahr nach meiner Abreise, im Jahre 1762, heiratete. Er sagte mir, mein Bruder sei in Rom mit dem Fürsten Beloselski, dem russischen Gesandten am Dresdener Hof.

»Ich glaubte, mein Bruder könne nicht nach Rom kommen?«

»Er ist hier mit einem Geleitsbrief, den die Kurfürstin-Witwe von Sachsen vom Heiligen Vater erbeten hat. Er will, daß seine unglückselige Geschichte noch einmal abgeurteilt wird, und er hat unrecht; denn wenn er sie auch hundertmal wiederaufnehmen ließe, so würde er stets dieselbe Verurteilung erleiden. Kein Mensch sieht ihn, jedermann weicht ihm aus; selbst Mengs will ihn nicht sehen.«

»Mengs ist hier? Ich glaubte, er sei in Madrid?«

»Er hat einen Urlaub auf ein Jahr erhalten; aber seine Familie ist in Spanien geblieben.«

Nachdem ich alle diese verdrießlichen Nachrichten erhalten hatte – denn ich wünschte weder meinen Bruder noch Mengs zu sehen –, legte ich mich zu Bett, indem ich Befehl gab, mich zum Mittagessen zu wecken.

Eine Stunde darauf riß man mich aus meinem Schlaf, weil jemand da wäre, der einen Brief zu meinen eigenen Händen zu bestellen hätte. Es war einer von den Leuten des Vargello, der die Sachen des Schauspielers l’Etoile abholen sollte.

Beim Mittagessen berichtete ich dem Sir B. M. über alles, was ich getan hatte, und wir kamen überein, daß er mich am Abend zum Bargello begleiten sollte.

Am Nachmittag besuchten wir im Wagen die hauptsächlichsten Villen, und nachdem wir Betty nach dem Gasthof gebracht hatten, begaben wir uns zum Bargello, der uns sagte, unser Mann sei bereits in sicherem Gewahrsam, und wenn uns etwas daran liege, so werde er zu den Galeren verurteilt werden.

»Bevor ich einen Entschluß fasse,« sagte Sir B. M. zu ihm, »möchte ich mit ihm sprechen.«

»Das können Sie morgen tun. Er hat ohne Widerrede alles gestanden, und zwar mit lachendem Munde, denn er stellt die Sache als einen Eulenspiegelstreich dar und behauptet, ihm könne deshalb nichts geschehen, denn das Fräulein sei freiwillig mit ihm gereist. Ich habe ihm den Wechsel zurückgegeben; er nahm ihn mit der größten Gleichgültigkeit in Empfang. Er sagte mir, er sei allerdings Schauspieler von Beruf, nichtsdestoweniger aber von adligem Stande; das Pferd könne er nach seinem Belieben verkaufen, denn die von ihm als Pfand hinterlassene Uhr sei mehr wert als das Tier.«

Ich hatte vergessen, dem Bargello zu sagen, daß die versetzte Uhr Betty gehörte.

Nachdem wir diesem ehrenwerten Beamten der summarischen Justiz Roms fünfzig römische Scudi anvertraut hatten, gingen wir zu Betty, um mit ihr zu Abend zu essen; wir fanden sie damit beschäftigt, ihren wiedererlangten Koffer auszupacken und ihre Sachen zu ordnen.

Sie freute sich, als sie hörte, daß der Spitzbube im Gefängnis war, aber sie verspürte durchaus keine Lust, ihn dort zu besuchen.

Am nächsten Nachmittag suchten wir ihn auf. Der Bargello hatte uns einen Advokaten gegeben; dieser verlangte schriftlich von dem Häftling die Bezahlung der Reisekosten und seiner Verhaftung, sowie einer Geldentschädigung für die von ihm getäuschte Person, falls er nicht etwa binnen sechs Wochen durch eine Bescheinigung des französischen Gesandten seinen gräflichen Stand nachwiese.

Wir fanden l’Etoile mit diesem Schriftstück in der Hand, das einer seiner Mitgefangenen ihm ins Französische übersetzte.

Sobald er mich erblickte, sagte der Bursche mir lachend, ich sei ihm von unserer Wette her fünfundzwanzig Zechinen schuldig; denn er habe Betty bei mir schlafen lassen.

Der Engländer, dem wir den Sachverhalt mitgeteilt hatten, sagte ihm: »Sie lügen; aber ich weiß, daß Sie bei ihr geschlafen haben.«

»Sind Sie Bettys Liebhaber?«

»Ja; und wenn ich dich bei ihr getroffen hätte, hätte ich dir eine Kugel durch den Kopf geschossen; denn du hast sie doppelt betrogen: du bist ja nur ein Bettelkomödiant.«

»Ich habe dreitausend Scudi!«

»Ich hinterlege sechstausend als Bürgschaft, wenn der Wechsel nicht falsch ist. Bis dies festgestellt ist, bleibst du eingesperrt, und wenn er falsch ist, wie ich glaube, so wirst du auf den Galeren dafür büßen.«

»Ich nehme den Vorschlag an.«

»Ich werde mit dem Advokaten darüber sprechen.«

Wir begaben uns zu dem Advokaten, denn dem Engländer lag daran, den frechen Menschen auf den Galeren zu sehen. Es kam jedoch keine Einigung zustande, denn der Unverschämte wollte wohl den Wechsel herausgeben, aber er verlangte, daß bis zum Eintreffen der Antwort der Engländer ihm täglich einen Scudi aussetzen solle, damit er im Gefängnis leben könne.

Da er nun einmal da war, so wollte Sir B. M. sich Rom ansehen; er mußte sich daher vom Kopfe bis zu den Füßen neu kleiden lassen und Wäsche kaufen; denn er hatte sich so wie er war in den Sattel gesetzt. Betty dagegen hatte alles, was sie brauchte, denn ihr Koffer war ein riesiges Ding. Ich wich nicht von ihrer Seite; denn ich wollte ihre Abreise abwarten, um mir mein Leben nach meinem Gefallen einzurichten. Ich liebte Betty, ohne ihrer zu begehren, und hatte an dem Geist des Engländers Gefallen gefunden, denn er war ein sehr liebenswürdiger Mann. Er wollte anfangs nur vierzehn Tage in Rom zubringen und dann nach Livorno zurückkehren; in der Zwischenzeit war aber sein Freund Lord Baltimore eingetroffen, und dieser überredete ihn, einige Tage in Neapel zu verbringen.

Der Lord, der eine sehr hübsche Französin und zwei Bediente bei sich hatte, übernahm es, alle Vorkehrungen zur Reise zu treffen, und bestand darauf, daß ich mitkäme; denn ich hatte den Vorzug gehabt, ihn in London kennen zu lernen.

Mit Freude benutzte ich die Gelegenheit, Neapel wiederzusehen.

Das erste, was ich dort erfuhr, war der Tod des Herzogs von Matalone und die Wiedervermählung seiner Witwe mit dem Herzog von Caramanica.

Da durch diesen Tod die Bekanntschaften, die ich durch den Herzog gemacht hatte, nutzlos für mich wurden, so dachte ich nur noch daran, mich mit meinen Reisegefährten zu belustigen, wie wenn ich noch niemals in Neapel gewesen wäre. Lord Baltimore war bereits mehrere Male dort gewesen, aber seine Geliebte kannte es noch gar nicht und wollte gerne alles sehen, ebenso Betty und deren Geliebter. Ich diente ihnen daher als Cicerone; denn Mylord und ich wußten viel besser Bescheid als diese lästigen Schwätzer.

Gleich am Tage nach unserer Ankunft sah ich zu meiner unangenehmen Überraschung den allzu bekannten Chevalier Goudar, mit dem ich in London verkehrt hatte, dem Lord Baltimore einen Besuch abstatten.

Der berüchtigte Wüstling und seine Frau hatten ein Haus am Posilippo; diese Frau aber war keine andere als die schöne Irländerin Sara, die frühere Aufwirterin in einer Londoner Bierschenke, deren der Leser sich gewiß noch erinnert. Da Goudar wußte, daß ich sie kannte, so hielt er es für notwendig, mich zu ihren Gunsten einzunehmen, indem er uns alle für den nächsten Tag zum Mittagessen einlud.

Sara war nicht im geringsten verlegen, als sie mich sah, ich aber war wie versteinert. Sie war mit der größten Eleganz gekleidet, benahm sich ausgezeichnet mit dem gewandtesten und edelsten Anstand, sprach elegant Italienisch und war von einer entzückenden Schönheit; ich war wie betäubt, denn die Verwandlung war geradezu wunderbar.

Innerhalb einer Viertelstunde sahen wir die Gäste ankommen: es waren fünf oder sechs Damen von höchstem Range, zehn oder zwölf Herzöge, Fürsten, Marchesen und etliche Fremde von allen möglichen Nationen.

Bevor wir uns an den Tisch setzten, der für mehr als dreißig Personen gedeckt war, nahm Madame Goudar vor dem Klavier Platz und sang einige Lieder mit einer Sirenenstimme und mit einer Sicherheit, die die Gesellschaft, die sie bereits kannte, nicht überraschte, die aber mich und meine Reisegefährten in Staunen versetzte, denn es war herrlich.

Diese Art von Wunder hatte Goudar bewirkt. Es war der Erfolg der Erziehung, die er ihr sechs oder sieben Jahre lang hatte geben lassen.

Um ein unbestreitbares Recht auf sie zu haben, hatte er sie geheiratet. Hierauf hatte er sie nach Paris, Wien, Venedig, Florenz, Rom und nach anderen Orten geführt; da er jedoch nirgends ein Glück fand, wie er es beanspruchte, so hatte er sich in Neapel niedergelassen. Hier hatte seine Frau, um Einlaß bei der großen Gesellschaft zu finden, auf seine Veranlassung ihren Ketzerglauben abgeschworen; unter den Auspizien der Königin hatte er eine Katholikin aus ihr gemacht. Das Scherzhafte bei dieser Komödie war, daß die Irländerin Sara von Geburt an katholisch war und niemals aufgehört hatte, es zu sein.

Abgeschmackt fand ich es, daß der ganze Adel, ja sogar der Hof, zu Sara ging, daß aber die schöne Irländerin nirgendwohin ging, weil sie nicht eingeladen wurde. Das war die echte adelige Schmarotzerei, die man in allen Ländern trifft.

Goudar, der mir das alles erzählte, vertraute mir an, daß er sich nur durch das Glücksspiel halte. Pharao und Biribi bestritten die Kosten seiner Haushaltung; andere Mittel hatte er nicht, aber offenbar brachte das Spiel ihm viel ein, denn bei ihm war alles prächtig.

Er lud mich ein, mich bei diesem Geschäft zu beteiligen, und ich lehnte dies nicht ab, da ich sicher war, an dem Gewinn teilzunehmen, den ich der Gesellschaft verschaffen konnte, indem ich mich klug benahm. Ich wußte, was man in solchen Fällen zu tun hat. Meine Börse näherte sich zusehends der Erschöpfung, und ich hatte keine anderen Mittel, um auch weiterhin so leben zu können, wie ich es bisher getan hatte.

Nachdem ich diesen Entschluß gefaßt hatte, entschuldigte ich mich bei Betty und Sir B. M., daß ich nicht mit ihnen nach Rom zurückkehren könnte. Er bestand darauf, mir alles zu ersetzen, was ich für sie ausgegeben hätte. Ich war nicht in der Lage, den Großmütigen zu spielen, und nahm daher sein Anerbieten an.

Zwei Monate nach ihrer Abreise erfuhr ich in Rom vom Bargello, daß l’Etoile auf Fürsprache des Kardinals Bernis aus dem Gefängnis befreit worden war und Rom verlassen hatte. Im folgenden Jahre hörte ich in Florenz, daß Sir B. M. nach England zurückgekehrt war; dort wird er ohne Zweifel sofort nach dem Tode seiner Frau seine Betty geheiratet haben.

Der berühmte Lord Baltimore, Herr von Boston, verließ Neapel einige Tage nach meinen neuen Freunden, um nach seiner Gewohnheit in Italien umherzureisen. Drei Jahre später ging er durch seine angelsächsische Waghalsigkeit zugrunde. Gegen jede Regel der Vorsicht reiste er im Monat August durch die Pontinischen Sümpfe. Er verbrachte eine einzige Nacht in Piperno und starb an der schlechten Luft, die während der heißen Jahreszeit diese vergifteten Gegenden beherrscht.

Ich blieb nach wie vor in Neapel in dem Gasthof zu den Crocielle, weil dort alle reichen Fremden abstiegen; so konnte ich leicht Bekanntschaft mit ihnen machen und ihnen das Glück verschaffen, bei der schönen Goudar ihr Geld zu verlieren. Allerdings tat mir dies im innersten Herzen weh, aber ich mußte mich der Macht der Umstände fügen.

Fünf oder sechs Tage nach Bettys Abreise begegnete ich zufällig dem Abbate Gama; ich fand ihn sehr gealtert, aber fröhlich und gesund. Nachdem wir uns eine halbe Stunde über unsere beiderseitigen Abenteuer unterhalten hatten, sagte er mir, die Streitigkeiten zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Hofe von Neapel seien durch Ganganellis, tapfere Haltung beigelegt; er werde daher nach Rom zurückkehren. Vor seiner Abreise wolle er mich aber einer Person vorstellen, die ich mit Freuden wiedersehen werde.

Ich dachte an Donna Leonilda oder deren Mutter Donna Lucrezia; wie überrascht war ich aber, als ich Agata sah, die Tänzerin, die ich in Turin geliebt hatte, nachdem ich mich von der Corticelli losgesagt hatte! Der Abbate hatte ihr nichts vorher gesagt, und so war die schöne Frau ebenso überrascht wie ich.

Wir waren beide über unser Wiedersehen entzückt und erzählten uns sofort alle Abenteuer, die wir seit unserer Trennung erlebt hatten.

Sie hatte in Neapel nur ein Jahr lang getanzt. Ein Advokat hatte sich in sie verliebt und sie geheiratet, und sie zeigte mir vier schöne Kinder, die sie ihm geschenkt hatte. Der Gatte kam zum Abendessen, und da sie ihm viel von mir erzählt hatte, so fiel er mir um den Hals, sobald sie ihm meinen Namen nannte. Er war ein geistvoller Mann, wie die meisten Paglietti von Neapel. Wir speisten wie alte Freunde miteinander, und während der Abbate Gama sich sofort nach dem Essen empfahl, blieb ich noch bis Mitternacht bei ihnen. Ich mußte ihnen versprechen, am nächsten Tage in ihrer Familie zu speisen.

Obgleich Agata sehr schön war und in der Blüte ihrer Jahre stand, entzündete sie doch nicht wieder das Feuer, womit ich einst für sie geglüht hatte; so war nun einmal mein Charakter, außerdem war ich zehn Jahre älter. Ich freute mich meiner Kühle, denn es wäre mir unlieb gewesen, den Frieden einer glücklichen Ehe zu stören.

Da ich mich ziemlich nahe beim Posilippo befand und an Goudars Bank stark beteiligt war, so begab ich mich von Agata zu Goudar, bei dem ich ein Dutzend Spieler um den grünen Tisch versammelt fand. Dies war in der Ordnung, aber der Anblick des Bankhalters überraschte mich sehr: es war der Graf Medini.

Erst vor drei oder vier Tagen hatte man diesen Medini aus dem Hause des französischen Gesandten, Herrn von Choiseul, gejagt, weil man ihn beim Falschspiel ertappt hatte. Ich hatte mich ebenfalls von früher her über ihn zu beklagen, und der Leser erinnert sich vielleicht noch, daß wir uns auf Degen geschlagen hatten. Ich warf einen Blick auf das Geld der Bank und sah, daß sie in den letzten Zügen lag; denn sie mußte ungefähr sechshundert Unzen stark gewesen sein, und er hatte kaum noch hundert vor sich liegen. Ich war mit einem Drittel beteiligt.

Ich prüfte das Gesicht des Spielers, der diese Verwüstung angerichtet hatte, und erriet sofort, daß Medini mit ihm unter einer Decke steckte. Man sah den Gauner zum ersten Male bei Goudar.

Als die Taille zu Ende war, kam Goudar zu mir und sagte, der Spieler sei ein reicher Franzose, den Medini vorgestellt habe, und ich solle mich nicht ärgern, daß er an diesem Tage gewinne, denn er könne ein anderes Mal viel mehr verlieren.

»Ich frage nicht, wer der Spieler ist«, antwortete ich; »denn dies kann mir gleichgültig sein, da ich in aller Form erklärt habe, ich wolle mich nicht an der Bank beteiligen, wenn Medini abziehe.«

»Ich habe Medini diesen Grund vorgehalten und wollte die Bank um ein Drittel verkleinern, aber er spielte den Beleidigten und sagte mir, im Falle des Verlustes werde er Ihnen Ihren Anteil zurückerstatten, aber die Bank müsse unangetastet bleiben.«

»Gut. Aber wenn er mir nicht morgen früh mein Geld wiedergibt, geschieht irgendein Unglück. Auf alle Fälle ist es Ihre Sache, mich zu entschädigen, denn ich habe mit aller Bestimmtheit erklärt, daß ich auf jede Beteiligung verzichte, wenn Medini die Bank halte.«

»Gewiß können Sie Ihre zweihundert Unzen von mir verlangen; aber ich denke, Sie werden Vernunft annehmen: denn es wäre grausam, wenn ich zwei Drittel verlieren sollte.«

Ich glaubte Goudar nicht; denn ich wußte, daß er ein noch größerer Gauner war als Medini. Ich wartete daher mit Ungeduld das Ende des Spieles ab, um die Sache ins reine zu bringen. Um ein Uhr war alles zu Ende. Der glückliche Spieler entfernte sich goldbeladen, und Medini sagte mit einer ganz unangebrachten Heiterkeit, dieser Sieg würde dem Sieger teuer zu stehen kommen.

»Wollen Sie mir wohl meine zweihundert Unzen wiedergeben?« sagte ich zu ihm. »Goudar hat Ihnen doch jedenfalls gesagt, daß ich nicht am Spiel beteiligt sei?«

»Ich gestehe, daß ich Ihnen diese Summe schulde, wenn Sie durchaus nicht beteiligt sein wollen; aber ich bitte Sie, mir zu sagen, warum Sie nicht die Bank mithalten wollen, wenn ich abziehe?«

»Weil ich kein Vertrauen zu Ihrem Glück habe.«

»Sie begreifen wohl, daß der von Ihnen angeführte Grund bei den Haaren herbeigezogen ist, und daß ich ihn sehr übel auslegen könnte?«

»Ich gedenke Sie durchaus nicht daran zu hindern, ihn nach Ihrem Belieben auszulegen; aber es steht bei mir, zu denken, was mir gut scheint. Ich will zweihundert Unzen haben und überlasse Ihnen alle künftigen Siege über Ihren Sieger. Sie brauchen sich nur mit Herrn Goudar auseinanderzusetzen, und Sie, Herr Goudar, werden mir morgen Mittag diese Summe übergeben.«

»Ich werde sie Ihnen erst übergeben können, wenn Graf Medini sie mir gegeben hat; denn ich habe kein Geld.«

»Ich bin sicher, mein werter Herr, morgen Mittag werden Sie es haben. Adieu!«

Ohne auf seine Gründe zu hören, die nur schlecht sein konnten, ging ich nach Hause. Ich fand die Gaunerei augenscheinlich und war entschlossen, mich von der Spielhölle loszusagen, sobald ich, auf gütlichem Wege oder mit Gewalt, mein Geld zurückerlangt hätte.

Am anderen Morgen um neun Uhr erhielt ich von Medini einen Brief, worin er mich bat, ich möchte bei ihm vorsprechen, um die Angelegenheit zu erledigen. Ich ließ ihm antworten, er möchte sich mit Goudar auseinandersetzen und mich entschuldigen, wenn ich nicht zu ihm ginge.

Eine Stunde später trat er in mein Zimmer und bot seine ganze Beredsamkeit auf, damit ich von ihm einen in acht Tagen zahlbaren Wechsel über zweihundert Unzen annähme. Ich schlug das rundweg ab und wiederholte, ich wollte nur mit Goudar zu tun haben, und verlangte von diesem mein Geld bis Mittag; ich wäre zu allem entschlossen, wenn er es mir nicht wiedergäbe, denn er hätte es von mir nur in Verwahrung. Medini wurde laut und rief, mein Widerstand sei eine Beleidigung für ihn. Ich ergriff ein Pistol, schlug es auf ihn an und befahl ihm, augenblicklich hinauszugehen. Er tat das erbleichend und ohne ein einziges Wort zu sagen.

Um zwölf Uhr mittags ging ich zu Goudar, ohne Degen, aber mit zwei guten Pistolen in der Tasche. Ich fand bei ihm Medini, der mir sofort den Vorwurf machte, ich hätte ihn in meiner Wohnung ermorden wollen.

Ich antwortete ihm nicht, hielt mich immer auf meiner Hut und sagte Goudar, er solle mir meine zweihundert Unzen wiedergeben.

Goudar verlangte sie von Medini.

Und nun wäre der Streit losgegangen, wenn ich diesen nicht dadurch verhindert hätte, daß ich die Treppe hinuntereilte, nachdem ich Goudar gesagt hätte, ich würde gegen ihn einen Krieg führen, der ihn zugrunde richten sollte, wenn mein Geld mir nicht unverzüglich zugestellt würde.

Als ich auf der Schwelle der Torfahrt war, sah ich die schöne Sara, die mich von ihrem Fenster aus bat, die Hintertreppe hinaufzugehen und mit ihr unter vier Augen zu sprechen.

Als ich sie bat, mich zu entschuldigen, sagte sie, sie werde herunterkommen. Einen Augenblick darauf war sie bei mir und sagte: »Sie haben recht, mein lieber Freund, wenn Sie Ihr Geld verlangen; aber mein Mann hat augenblicklich kein Geld und darum müssen Sie zwei oder drei Tage warten. Ich bürge Ihnen für die Bezahlung.«

»Es tut mir leid, meine Gnädige, in diesem Augenblick nichts für eine so liebenswürdige Dame wie Sie tun zu können; aber nichts kann mich beruhigen als mein Geld, und Sie werden mich nicht wieder in Ihrem Hause sehen, dem ich hiermit den Krieg erkläre.«

Kaum hatte ich dies gesagt, so zog sie von ihrem Finger einen Solitär, den ich kannte und der mindestens vierhundert Unzen wert war. Sie bat mich, diesen Ring als Pfand anzunehmen.

Ich nahm ihn, machte ihr meine Verbeugung und ging. Ohne Zweifel war sie sehr erstaunt, denn sie war in einem Morgengewande von so verführerischer Unordnung, daß sie wohl kaum eine Abweisung zu befürchten brauchte.

Sehr zufrieden mit meinem Siege ging ich zu dem Advokaten, Agatas Mann, bei dem ich zu Mittag essen sollte. Ich erzählte ihm die Geschichte mit allen Einzelheiten und bat ihn, jemanden ausfindig zu machen, der mir zweihundert Unzen auf den Ring gäbe. Er sagte, er werde das selber machen, schrieb mir eine Quittung in aller Form und gab mir sofort zweihundert Unzen; hierauf schickte er in meinem Namen an Goudar ein Briefchen und teilte ihm mit, daß der Ring bei ihm hinterlegt sei.

Nachdem diese Sache in Ordnung gebracht war, fand ich meine gute Laune wieder.

Vor dem Essen nahm Agata mich mit sich in ihr Zimmer, öffnete einen schönen Juwelenkasten und zeigte mir die herrlichen Ohrgehänge und die anderen Schmucksachen, die ich ihr geschenkt hatte, als ich reich und in sie verliebt war. Dazu sagte sie: »Ich bin jetzt reich und verdanke Ihnen mein ganzes Glück, mein lieber Freund; Sie würden mich daher glücklich machen, indem Sie alles wiedernehmen, was Sie mir gegeben haben. Fassen Sie dies nicht als Beleidigung auf! Mein Herz ist voller Dankbarkeit, und was ich Ihnen sage, ist heute morgen zwischen meinem guten Manne und mir verabredet worden.«

Um mir alle Bedenken zu nehmen, zeigte sie mir hierauf alle Diamanten, die ihr Gemahl ihr geschenkt hatte. Sie hatten früher seiner ersten Frau gehört und besaßen einen sehr beträchtlichen Wert. Voller Dankbarkeit und Bewunderung für ein so edles und zartfühlendes Benehmen konnte ich keine Worte finden, um ihr meine Gefühle auszudrücken, aber ich drückte ihr innig die Hände, und meine Blicke sagten ihr deutlich genug, was ich in meinem Herzen fühlte.

In diesem Augenblick trat ihr Gatte ein. Es war wirklich alles zwischen ihnen verabredet worden; denn der brave Mann ergriff freundschaftlich meine Hand und sagte mir, ich dürfte nicht zögern, den Vorschlag seiner Frau anzunehmen, die mir dadurch ihre und seine aufrichtige Freundschaft bewiese. Mit diesen Worten umarmte er mich zärtlich.

Wir begaben uns wieder zur Gesellschaft, die aus einem Dutzend guter Freunde bestand; aber der einzige, der meine Aufmerksamkeit fesselte, war ein sehr junger Mann, der offenbar in Agata verliebt war. Er hieß Don Pasquale Latilla. Er besaß alles, was ein Mann braucht, um geliebt zu werden: Geist, Liebenswürdigkeit, Manieren und ein sehr hübsches Gesicht. Wir machten uns bei Tisch näher miteinander bekannt. Unter den Angehörigen des schönen Geschlechts entzückte mich vor allen ein junges Mädchen. Sie war erst vierzehn Jahre alt, aber wie eine Achtzehnjährige entwickelt. Agata sagte mir, sie studiere Musik, um sich dem Theater zu widmen, denn sie sei arm.

»Arm und so schön?«

»Ja, denn sie will sich nur ganz und gar hingeben, und wenn ein Mann sie haben wollte, müßte er für alles aufkommen; in Neapel aber sind Männer solcher Art sehr selten.«

»Es ist unmöglich, daß sie keinen Liebhaber hat!«

»Wenn es der Fall ist, so weiß wenigstens kein Mensch etwas davon. Du kannst ihre Bekanntschaft machen und sie besuchen; dann wirst du es bald erfahren.«

»Wie heißt sie?«

»Callimene. Sie wohnt am Platz beim Eierschloß. Die Dame, die in diesem Augenblick mit ihr spricht, ist ihre Tante, und ich errate, daß sie von dir sprechen.«

Wir setzten uns zu Tisch. Das Essen war ausgezeichnet: reichlich und verständig zubereitet. Agata strahlte vor Freude, daß sie mich von ihrem Glück überzeugen konnte. Der alte Abbate Gama war ganz stolz darauf, daß er mich eingeführt hatte; Don Pasquale Lattila konnte nicht eifersüchtig sein auf die Aufmerksamkeiten, die sein Abgott für mich hatte, denn ich war ein Fremder und konnte Anspruch darauf machen; und Agatas Mann glänzte durch seinen Geist und durch die Abwesenheit der gewöhnlichen Vorurteile, durch die der natürliche und lebhafte Geist seiner Landsleute noch sehr verdunkelt wird.

Während man mich so von allen Seiten mit Aufmerksamkeiten überhäufte, beschäftigte ich mich beständig mit Callimene. Ich wünschte sie geistreich zu finden und richtete daher oft das Wort an sie; sie antwortete mir höflich, aber immer so kurz, daß ich ein scherzhaftes Gespräch nicht anknüpfen konnte.

Ich fragte sie, ob Callimene ihr Familienname oder ihr Rufname sei.

»Es ist mein Taufname.«

»Der Name ist griechisch, und Sie wissen ohne Zweifel, was er bedeutet.«

»Nein.«

»Rasende Schönheit oder schöner Mond.«

«Ich freue mich, zu vemehmen, daß ich mit meinem Namen nichts gemein habe.«

»Haben Sie Brüder und Schwestern?«

»Ich habe nur eine verheiratete Schwester, die Sie vielleicht kennen.«

»Wie heißt sie und wo ist sie verheiratet?«

»Ihr Mann ist Piemontese, aber sie lebt von ihm getrennt.«

»Sollte es etwa Madame Slopis sein, die mit dem Ritter Acton reist?«

»Ganz recht.«

»Ich werde Ihnen angenehme Nachrichten über sie geben.«

Nach Tisch fragte ich Agata, in welcher Eigenschaft das reizende Geschöpf bei ihr zu Mittag äße.

»Mein Mann ist ihr Pate und tut für sie, was er kann.«

»Wie alt ist sie genau?«

»Vierzehn Jahre.«

»Das ist ein Wunder! Welch eine Schönheit«

»Aber ihre Schwester ist noch schöner.«

»Ich kenne sie nur dem Namen nach.«

In diesem Augenblick meldete man Goudar, der mit dem Herrn Advokaten eine geheime Unterredung zu haben wünschte.

Der Advokat empfing ihn in einem Nebenzimmer, und als er eine Viertelstunde darauf wieder kam, sagte er mir, er habe die zweihundert Unzen empfangen und dafür den Ring herausgegeben.

So war also die Geschichte erledigt. Ich war sehr froh darüber. Allerdings war ich mit Goudar auf ewig erzürnt, aber daraus machte ich mir sehr wenig.

Es wurde Karten gespielt, und Agata brachte mich mit Callimene zusammen, die mich durch ihren reizenden Charakter entzückte, der ebenso völlig ungekünstelt war wie ihre Schönheit.

Ich sagte ihr alles, was ich von ihrer Schwester wußte und versprach ihr, mich in Turin zu erkundigen, wo sie sich augenblicklich aufhielte. Ich sagte ihr, daß ich sie liebte, und fragte sie, ob sie mir erlaubte, sie zu besuchen. Ich war von ihrer Antwort sehr befriedigt.

Am anderen Morgen hatte ich nichts Eiligeres zu tun, als ihr guten Tag zu sagen. Ich fand sie mit ihrem Lehrer am Klavier. Ihr Talent war mittelmäßig, aber die Liebe ließ es mich hervorragend finden.

Als der Lehrer fort war, blieb ich mit ihr allein. Die reizende Kleine entschuldigte sich tausendmal wegen ihres armseligen Morgenrockes und wegen der armseligen Möbel. Sie bedauerte unendlich, daß es ihr unmöglich sei, mir ein anständiges Frühstück oder Mittagessen anzubieten.

»Dies alles trägt nur dazu bei, in meinen Augen Ihren Wert zu erhöhen; ich fühle mich unglücklich, daß ich nicht imstande bin. Ihnen ein Ihrer würdiges Vermögen anzubieten.«

Während sie anhörte, was ich zum Lobe ihrer Schönheit sagte, erlaubte sie mir, sie mit Küssen zu bedecken; als ich aber weitergehen wollte, hielt sie mich zurück, indem sie mir gleichzeitig einen Kuß gab, wie wenn sie mich besänftigen wollte. Ich machte eine Anstrengung, mich zu beherrschen, und es gelang mir, ruhig zu bleiben. Dann bat ich sie, mir aufrichtig zu gestehen, ob sie einen Geliebten habe.

»Ich habe keinen.«

»Haben Sie einen gehabt?«

»Niemals.«

»Nicht einmal vorübergehend, so aus Laune?«

»O nein, nie!«

»Wie? Sie sind so schön und, wie ich glaube, auch sinnlich, und es sollte in Neapel kein Mann sein, der es verstanden hätte, Ihnen Wünsche einzuflößen?«

»Niemand; denn niemals hat einer dies versucht. Niemand hat bis jetzt so zu mir gesprochen wie Sie! Das können Sie mir glauben.«

»Ich glaube Ihnen, und ich sehe, daß ich meine Abreise beschleunigen muß, um nicht der unglücklichste aller Menschen zu werden.«

»Wieso denn?«

»Indem ich Sie liebe, ohne daß ich hoffen kann, Sie zu besitzen.«

»Lieben Sie mich und bleiben Sie! Warum sollten Sie es nicht dahin bringen, daß ich Sie liebe? Mäßigen Sie nur Ihre Erregung; denn Sie werden begreifen, daß ich nicht in Sie verliebt werden kann, wenn ich sehe, daß Sie sich nicht selber beherrschen können.«

»Wie jetzt zum Beispiel?«

»Ja. Wenn ich Sie ruhig sehe, werde ich denken, Sie mäßigen sich mir zuliebe, und Liebe entspringt oft aus Dankbarkeit.«

Sie sagte mir damit auf feine Weise, daß sie mich noch nicht liebte, daß es aber wohl allmählich dahin kommen könnte, und ich begriff, daß der von ihr angedeutete Weg der beste war, um mich zum Ziel zu führen. Ich befand mich in dem Alter, wo ein Mann sich leicht entschließt, geduldig vorzugehen.

Nachdem ich sie zärtlich umarmt hatte, fragte ich sie beim Abschied, ob sie Geld nötig hätte.

Über diese Frage errötete sie; gleich darauf aber sagte sie mir, ich möchte ihre Tante, die im Nebenzimmer wäre, danach fragen.

Ich ging allein hinein und war ein wenig verlegen, als ich zwei sehr bescheidene Kapuziner bei ihr fand, die sie mit einem einfachen und scherzhaften Geplauder unterhielten, während sie nähte; dicht bei ihnen waren drei junge Mädchen damit beschäftigt, Wäsche zu nähen.

Die Tante wollte aufstehen, um mich zu begrüßen; ich hielt sie davon ab, erkundigte mich nach ihrer Gesundheit und machte ihr lächelnd ein Kompliment über ihre Gesellschaft. Sie lächelte ebenfalls, die Kapuziner aber blieben wie Bildsäulen auf ihren Plätzen, ohne mich eines Blickes zu würdigen.

Ich nahm einen Stuhl und setzte mich ihr ganz dicht gegenüber.

Die Tante streifte, wie man zu sagen pflegt, das fünfzigste Jahr, wenn sie nicht schon rittlings quer darüber saß; ihre Manieren waren höflich, ihr Benehmen anständig und ihre Züge zeigten die Spuren einer Schönheit, die der Rost der Jahre angefressen hatte.

Obwohl ich völlig frei von Vorurteilen bin, war die Gegenwart der beiden Bocksbärte, die in ihren Kutten schwitzten und infolgedessen ekelhafte Gerüche ausströmten, mir im höchsten Grade unbequem. Es kam mir als eine Beleidigung vor, daß sie so hartnäckig blieben. Ich wußte wohl, daß sie Menschen waren wie ich, und daß sie trotz ihrem Bocksbart und ihrer schmierigen Kutte dieselben Neigungen haben mußten wie ich; aber ich fand ihre Frechheit unverzeihlich, denn sie verachteten offenbar mein Recht, sie schlecht zu behandeln. Ich konnte sie nicht beleidigen, ohne die Dame zu beleidigen, und das wußten die Burschen; sie wußten, daß ich Rücksicht auf die Dame nehmen mußte. Niemand weiß solche Berechnungen besser auszunützen als ein Mönch.

Nachdem ich ganz Europa durchzogen habe, kann ich sagen, daß ich nur in Frankreich eine anständige Geistlichkeit gefunden habe, die sich in den Grenzen ihres Standes zu halten weiß.

Nach einer Viertelstunde konnte ich es nicht mehr aushalten und sagte der Tante, ich hätte ihr etwas unter vier Augen mitzuteilen; ich glaubte, nun würden die beiden Satyrn verschwinden; aber ich hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Die Tante stand auf und führte mich in das andere Zimmer.

Auf meine Frage, die ich so schonend wie möglich stellte, antwortete sie mir: »Ach, ich brauche nur allzu dringend zwanzig Dukaten (ungefähr achtzig Franken), um meine Miete zu bezahlen.«

Ich drückte ihr diesen Betrag in die Hand und sah sie tief von Dankbarkeit durchdrungen; aber ich entfernte mich, ohne ihr Zeit zu lassen, mir diese auszudrücken.

An diesem Tage hatte ich ein eigentümliches Erlebnis, das ich meinen Lesern, wenn ich jemals welche haben sollte, mitteilen muß.

Als ich allein auf meinem Zimmer speiste, meldete man mir einen Venetianer, der mich zu kennen behauptete und mit mir zu sprechen wünschte.

Ich ließ ihn eintreten und sah ein Gesicht, das mir nicht unbekannt war, auf das ich mich aber nicht besinnen konnte.

Der Mann war von meiner Größe; aus seinen Zügen sprachen Hunger, Elend und Erschöpfung; er hatte einen außerordentlich langen Bart und einen kahlen Kopf. Er trug eine eselsgraue Kutte und um den Leib einen dicken Strick, woran sich ein Rosenkranz und ein schmutziges Taschentuch befanden, über seinen Rücken hing eine große Kapuze herab; in der linken Hand hielt er einen viereckigen Korb und in der rechten einen langen Stock. Dieser Mensch, der mir noch heute vor den Augen steht, sah nicht aus wie ein Diener Gottes, ein reuiger Sünder, ein demütiger Almosenempfänger, sondern wie ein Verzweifelter, ein Rasender, ein Mörder.

»Wer sind Sie? Es kommt mir vor, wie wenn ich Sie irgendwo einmal gesehen habe, aber…«

»Ich werde Ihnen sagen, wer ich bin, und Sie werden überrascht sein, wenn Sie meine Leiden vernehmen; zuvor aber lassen Sie mir etwas zu essen geben, denn ich sterbe vor Hunger; seit drei Tagen habe ich nur eine schlechte Suppe gegessen.«

»Gern. Lassen Sie sich unten etwas zu essen geben, und kommen Sie dann wieder; denn während des Essens könnten Sie ja doch nicht mit mir sprechen.«

Mein Lakai ging mit ihm hinunter, um ihm etwas zu essen geben zu lassen; als er wieder hinaufkam, befahl ich ihm, mich nicht mit dem Mann allein zu lassen; denn dieser flößte mir Angst ein.

Trotzdem war ich ungeduldig, seine Geschichte zu hören, denn ich war überzeugt, daß ich ihn kennen mußte.

Nach dreiviertel Stunden kam er wieder; er sah aus wie ein Kranker, dem ein Fieberanfall das Gesicht entflammt hat.

»Setzen Sie sich und sprechen Sie frei heraus!«

«Ich bin Albergoni.«

»Wie?«

Dieser Albergoni war ein Edelmann aus Padua, mit dem ich fünfundzwanzig Jahre früher sehr eng befreundet gewesen war.

Albergoni hatte wenig Vermögen, aber viel Geist und eine große Neigung zur Genußsucht und zur Satire. Er machte sich über die Behörden und über die betrogenen Ehemänner lustig, feierte Venus und Bacchus als ein wahrer Athlet, frönte der Päderastie und war ein entschlossener Spieler. Außerdem war dieser jetzt abstoßend häßliche Mann bis zum Alter von fünfundzwanzig Jahren schön wie ein Antinous gewesen.

Er erzählte mir folgendes:

»Eine Gesellschaft von etlichen jungen Tollköpfen, zu denen ich gehörte, hatte ein Kasino auf der Zuecca, wo wir köstliche Stunden verbrachten, ohne einem Menschen etwas zuleide zu tun. Irgend jemand bildete sich ein, unsere Gesellschaften seien unerlaubten Vergnügungen gewidmet, man machte uns im tiefsten Geheimnis den Prozeß, das Kasino wurde geschlossen, und gegen die Mitglieder wurden Haftbefehle erlassen. Alle flohen, außer mir und einem gewissen Branzandi. Nachdem wir zwei Jahre lang auf den Ausgang unseres Prozesses gewartet hatten, kam endlich das ungerechte Urteil heraus. Mein unglücklicher Leidensgefährte wurde verurteilt, enthauptet, um dann verbrannt zu werden; ich erhielt zehn Jahre carcere duro. Im Jahre 1765 wurde ich in Freiheit gesetzt und zog mich nach Padua zurück, wo ich ruhig leben zu können hoffte; aber man quälte mich unaufhörlich, und um mir diesen Aufenthalt zu verekeln, klagte man mich abermals desselben Verbrechens an. Ich glaubte, dem Blitzstrahl nicht trotzen zu können, und begab mich nach Rom; zwei Jahre darauf verurteilte der Rat der Zehn mich zu lebenslänglicher Verbannung. Man kann eine solche Strafe geduldig ertragen, wenn man seinen Lebensunterhalt hat; aber mein hinterlistiger Schwager hat sich meines Vermögens bemächtigt, und das ungerechte Tribunal hat ihn dabei begünstigt. Ein römischer Sachwalter ist beauftragt worden, mir eine Pension von täglich zwei Paoli anzubieten unter der Bedingung, daß ich in rechtsgültiger Form auf alle Ansprüche irgendwelcher Art verzichte. Ich habe diese unbillige Bedingung abgelehnt und Rom verlassen, um hier bei Neapel Eremit zu werden. Seit zwei Jahren treibe ich dieses traurige Gewerbe; aber ich kann es nicht länger aushalten, das Elend tötet mich.«

»Kehren Sie nach Rom zurück; ich glaube mit zwei Paoli täglich werden Sie dort leben können.«

»Ich bin entschlossen, lieber zu sterben, als in solche Schmach einzuwilligen.«

Ich bedauerte ihn aufrichtig, mußte ihm aber leider sagen, daß ich nicht reich sei. Ich lud ihn jedoch ein, während meines ganzen Aufenthaltes in Neapel in meinem Gasthof auf meine Rechnung zu essen; ich würde den Wirt benachrichtigen. Zugleich gab ich ihm eine Zechine.

Drei oder vier Tage darauf sagte mein Bedienter mir, der Unglückliche habe sich das Leben genommen.

Man fand in seiner Kammer fünf Lotterienummern, die er Medini und mir zum Dank für die ihm erwiesenen Wohltaten vermachte. Diese fünf Nummern brachten der Lotterie von Neapel viel Geld ein; denn jedermann spielte darauf, nur ich nicht. Keine einzige der Zahlen kam heraus; aber diese Enttäuschung heilte keinen Menschen; denn es besteht nun einmal das Vorurteil, daß die Nummern, die jemand unmittelbar vor seinem Selbstmord aufschreibt, unfehlbar seien. Dieses Vorurteil ist bei dem unwissendsten, wenn auch zugleich geistreichsten Volk Europas unausrottbar eingewurzelt.

Ich besuchte die Leiche des Unglücklichen, bei dessen Anblick sich mir das Herz umdrehte. Hierauf ging ich in ein Kaffeehaus, wo ein Klugsprecher seine Ansicht über den Selbstmord zum besten gab und behauptete, der Tod durch Erhängen müsse köstlich sein, denn jeder Mann, der sich aufhänge, habe im Augenblick des Todes eine Erektion. Er hatte vielleicht recht, andererseits könnte die Erektion auch von einer schmerzhaften Erregung erzeugt sein, und ich dachte daher damals, wie ich noch heute denke: um diese Frage entscheiden zu können, müßte man alles selber durchgemacht haben.

Als ich das Kaffeehaus verließ, hatte ich das Glück, einen kleinen Taschentücherdieb bei der Hand zu erwischen, als er mir gerade ungefähr das zwanzigste im Laufe eines Monats stehlen wollte, überall, besonders aber in Neapel, gibt es eine ganze Menge kleiner Schlingel, die nur von diesem Gewerbe leben und deren Geschicklichkeit erstaunlich ist.

Als der Bursche sich erwischt sah, bat er mich, keinen Lärm zu machen; er werde mir alle Taschentücher wiedergeben, die er mir gestohlen habe, im ganzen sieben oder acht.

»Du hast mir mehr als zwanzig weggenommen.«

»Nicht ich, sondern einer meiner Kameraden. Kommen Sie mit mir, vielleicht finden Sie sie alle wieder.«

»Ist es weit?«

»Am Schloßplatz. Aber lassen Sie mich los, man beobachtet uns.«

Der kleine Spitzbube führte mich nach einem elenden Wirtshaus und ließ mich in ein Zimmer eintreten, wo ein sehr beweglicher Mann mich fragte, ob ich alte Sachen kaufen wollte. Als er erfuhr, daß ich Taschentücher wünschte, die mir gestohlen worden wären, öffnete er einen großen Schrank und zeigte mir mindestens zweihundert, unter denen ich ein Dutzend von den meinigen fand, die ich für eine Kleinigkeit zurückkaufte.

Einige Tage später kaufte ich ohne alle Gewissensbedenken mehrere andere von ihm, obwohl ich bestimmt wußte, daß sie gestohlen waren.

Dieser ehrliche neapolitanische Händler, ein richtiger Jude in seinem Beruf, hielt mich offenbar für unfähig, ihn zu verraten; denn zwei oder drei Tage vor meiner Abreise aus Neapel sagte er mir im Vertrauen: wenn ich ihm für zehn- oder zwölftausend Dukaten Waren abkaufen wollte, könnte ich in Rom oder anderswo das Vierfache daran verdienen.

»Was sind das für Waren?«

»Uhren, Tabaksdosen, Ringe, die ich hier nicht zu verkaufen wage.«

»Und Sie fürchten nicht, entdeckt zu werden?«

»Ich habe nicht viel zu befürchten; auch vertraue ich mich nicht aller Welt an.«

Ich dankte ihm, weigerte mich aber, seine Kleinodien zu sehen; denn ich fürchtete, der Versuchung nicht widerstehen zu können, für zehn zu kaufen, was fünfzig wert war. Dies hätte mich in einen Abgrund stürzen können.

In meinen Gasthof zurückgekehrt, fand ich dort neu angekommene Fremde, von denen einige mir bekannt waren. Bartoldi war von Dresden mit zwei jungen Sachsen angekommen, deren Mentor er war. Die jungen Herren waren schön, reich und sahen ganz danach aus, wie wenn sie das Vergnügen liebten.

Bartoldi war ein alter Bekannter von mir. Er hatte in der italienischen Komödie des vorigen Königs von Polen den Harlekin gespielt. Nach dem Tode des Herrschers war Bartoldi zum Kommissionsrat für die Opera buffa ernannt worden. Die Kurfürsten-Witwe, die eine große Musikkennerin war, liebte diese Oper sehr.

Die anderen Fremden, die zu gleicher Zeit mit großem Gefolge angekommen waren, waren Miß Chudleigh, die inzwischen Herzogin von Kingston geworden war, ein Lord und ein Chevalier, deren Namen ich vergessen habe.

Die Herzogin erkannte mich sofort und war ohne Zögern damit einverstanden, daß ich ihr den Hof machen wollte. Eine Stunde darauf machte Herr Hamilton ihr einen Besuch, und ich war entzückt, seine Bekanntschaft zu machen. Wir speisten alle zusammen. Herr Hamilton war ein genialer Mann; trotzdem hat er sich schließlich mit einem jungen Mädchen verheiratet, die das Talent besaß, ihn in sie verliebt zu machen. Dieses Unglück stößt oft klugen Leuten zu, wenn sie alt werden. Sich zu verheiraten, ist immer eine Dummheit; aber wenn ein Mann sie zu einer Zeit begeht, wo seine körperlichen Kräfte abnehmen, so wird sie unverzeihlich; denn die Frau, die er heiratet, kann – besonders wenn sie jung ist – nur Gefälligkeiten für ihn haben, die er stets teuer bezahlen muß; wenn aber zufällig die Frau in ihn verliebt ist, so tötet sie ihn. Vor sieben Jahren war ich dicht daran, diese Dummheit zu begehen; ich danke Gott, daß ich meine Absicht nicht ausführte.

Nach unserem Mittagessen stellte ich der Herzogin die beiden Sachsen vor, die ihr Nachrichten von ihrer sehr guten Freundin, der Kurfürstin-Witwe, gaben; hierauf gingen wir zusammen ins Theater. Zufällig befand Madame Goudar sich in der Loge neben der unsrigen, und Hamilton amüsierte die Herzogin, indem er ihr die Geschichte der schönen Insulanerin erzählte; sie war jedoch nicht neugierig, deren Bekanntschaft zu machen.

Nach dem Abendessen machte die Herzogin eine Partie Quinze mit den beiden Engländern und den beiden Sachsen. Das Spiel war klein, der Verlust mittelmäßig, und die beiden Sachsen waren siegreich. Ich hatte nicht mitgespielt, beschloß jedoch, am nächsten Tage mich ebenfalls an dem Spiel zu beteiligen.

An diesem Tage speisten wir alle bei dem Fürsten von Francavilla, der uns ein herrliches Mahl gab. Gegen Abend führte er uns nach einem ihm gehörenden kleinen Bade am Meere und zeigte uns ein Wunder. Ein Priester warf sich nackt in das Wasser und schwamm, ohne irgendwelche Bewegung zu machen, wie ein Fichtenbrett. Es war nichts Künstliches dabei, denn es ist unzweifelhaft, daß er diese Fähigkeit der Einrichtung seines inneren Organismus verdankte. Hierauf gab der Fürst der Herzogin ein sehr interessantes Schauspiel: er ließ gleichzeitig alle seine Pagen, Jünglinge von fünfzehn bis siebzehn Jahren und schön wie Liebesgötter, ins Wasser springen. Sie tauchten fast gleichzeitig aus den Wellen empor und schwammen vor unseren Augen, indem sie durch tausend verschiedene Stellungen ihre Kraft und ihre Anmut zeigten. Alle diese jungen Adonisse waren die Mignons des liebenswürdigen und prachtliebenden Fürsten, der in der Liebe Ganymed der Hebe vorzog.

Die Engländer fragten den Fürsten, ob er ihnen dasselbe Schauspiel mit Nymphen an Stelle der Adonisse geben würde, und er versprach es ihnen für den nächsten Tag in einem ungeheuern Marmorbassin zu geben, das er mitten im Garten seines prachtvollen Hauses in der Umgegend von Portici hatte herstellen lassen.

Sechzehntes Kapitel


Meine Liebschaft mit Callimene. – Reise nach Sorrent. – Medini. – Goudar. – Miß Chudleigh. – Der Marchese della Petina. – Gaetano. – Der Sohn der Cornelis. – Geschichte von Sara Goudar. – Die von dem König geprellten Florentiner. – Meine glückliche Reise nach Salerno. – Abreise von Neapel und Ankunft in Rom.

Der Fürst von Francavilla war ein prachtliebender, geistvoller, reicher Epikuräer, der den Wahlspruch hatte Fovet et favet hatte.

Er stand in Spanien in Gunst; der König hatte jedoch geglaubt, ihn in Neapel lassen zu müssen, weil er fürchtete, daß er seine perversen Neigungen dem Prinzen von Asturien, seinem Bruder und vielleicht dem ganzen Hofadel mitteilen könnte.

Am nächsten Tage zeigte er uns seinem Versprechen gemäß das Bassin von zehn oder zwölf jungen Mädchen belebt, die bis zum Abend vor uns ihre Schwimmkunst machten.

Miß Chudleigh und die beiden anderen Damen fanden diese Unterhaltung langweilig, aber das Schauspiel des vorigen Tages hatten sie köstlich gefunden.

Diese Gesellschaft verhinderte mich nicht, meine liebe Callimene, die mich schmachten ließ, zweimal täglich zu besuchen.

Agata, die ich alle Tage sah, war die Vertraute meiner Flamme; sie hätte gern ein Mittel gefunden, um mich ans Ziel zu bringen, aber ihre Würde erlaubte ihr nicht, offen vorzugehen. Sie versprach mir, sie zu einem beabsichtigten Ausflug nach Sorrent einzuladen, in der Hoffnung, daß es mir während der Nacht, die wir dort zubringen würden, gelingen könnte, sie zu besiegen.

Bevor diese Partie mit Agata zustande kam, verabredete Hamilton denselben Ausflug mit der Herzogin von Kingston, und da es sich um ein Picknick handelte, so nahm ich ebenfalls daran teil; ferner beteiligten sich die beiden Sachsen und ein reizender Abbate Giuliani, mit dem ich später in Rom genauer bekannt wurde.

Um vier Uhr morgens fuhren wir in einer Feluke mit zwölf Ruderern von Neapel ab, und um neun Uhr kamen wir in Sorrent an.

Wir waren fünfzehn, alle in heiterster Stimmung und hingerissen von den Freuden, die dieses irdische Paradies uns bot.

Hamilton führte uns in einen Garten, der dem Herzog von Serra Capriola gehörte; zufällig war der Herr selber dort mit seiner Gemahlin, einer Piemontesin, die damals schön wie ein Stern und in ihren Gatten verliebt war.

Der Herzog war seit ein paar Monaten auf dieses Landgut verbannt, weil er sich in einer zu glänzenden Equipage auf der Promenade gezeigt hatte. Der Minister Tanucci hatte beim König durchgesetzt, daß der Herzog bestraft werde, weil er die Luxusgesetze verletzt und dadurch ein verderbliches Beispiel gegeben habe. Der König, der noch nicht gelernt hatte, dem Willen seines Ministers zu widerstehen, hatte den Herzog und seine Frau verbannt, aber er hatte ihnen das angenehmste Gefängnis seines Königreichs angewiesen. Leider mißfällt jedes Paradies, wenn man gezwungen ist, es zu bewohnen; daher starb das verbannte Ehepaar vor Langeweile, und unser Erscheinen war für alle beide ein wahrer Balsam.

Ein Abbate Bettoni, den ich vor neun Jahren bei dem verstorbenen Herzog von Matalone kennen gelernt hatte, besuchte die beiden liebenswürdigen Exilierten und war sehr erfreut, mich bei ihnen zu finden.

Dieser Abbate war ein Edelmann aus Brescia, der Sorrent zu seinem dauernden Wohnsitz erwählt hatte. Er hatte dreitausend Taler Einkünfte und lebte an diesem Ort im Überflusse aller Gaben des Bacchus, der Ceres, des Comus und besonders auch der Venus, die seine Lieblingsgottheit war. Er brauchte nur zu begehren, so erhielt er, und er konnte nicht mehr begehren, als was die verschwenderische Natur ihm in Sorrent darbot. Er war zufrieden und lachte über die Philosophen, die der Meinung sind, ein Mensch könnte mit einem mittelmäßigen Vermögen nicht glücklich sein, selbst wenn er nur mäßige Leidenschaften hätte und sich einer vollkommenen Gesundheit erfreute. Es berührte mich peinlich, in seiner Gesellschaft den Grafen Medini zu sehen, der mein Feind sein mußte und den ich verachtete; wir begrüßten uns denn auch sehr kalt.

Bei Tisch waren wir zweiundzwanzig Personen. Wir erhielten eine ausgezeichnete Mahlzeit, denn in jener Gegend ist alles ganz köstlich, besonders auch das Mehl; es gibt dem Brot einen würzigen Geschmack, den man sonst nirgendwo findet.

Den Nachmittag über streiften wir durch die Dörfer, deren Alleen schöner sind als die der prachtvollsten Schlösser Europas.

Wir fanden beim Abbate Bettoni Gefrorenes von Zitronen, Kaffee und Schokolade und köstlichen Rahmkäse. Bekanntlich ist dieser in Neapel ausgezeichnet, aber der Abbate war ganz besonders gut bedient. Er hatte fünf oder sechs entzückend schöne junge Bauernmädchen, die so sauber waren, daß sie durchaus nicht den Eindruck gewöhnlicher Mägde machten. Als ich ihn fragte, ob dies sein Serail sei, antwortete er mir, das könne wohl sein; aber die Eifersucht sei ausgeschlossen, und es liege nur an mir, mich davon zu überzeugen, indem ich acht Tage bei ihm zubringe.

Ich bewunderte diesen glücklichen Sterblichen, aber ich beklagte ihn zugleich; denn er war mindestens zwölf Jahre älter als ich, und ich war bereits nicht mehr jung. Sein Glück konnte nicht von langer Dauer sein.

Gegen Abend kehrten wir zum Herzog zurück, bei dem wir ein Abendessen vorfanden, das aus Fischen verschiedener Arten bestand.

Die Luft in Sorrent gibt ständigen Appetit, und das Abendessen wurde mit Behagen verspeist.

Nach dem Essen wünschte Mylady, daß eine Pharaobank aufgelegt werde. Abbate Bettoni, der Medini als berufsmäßigen Spieler kannte, schlug ihm vor, die Bank zu halten. Er entschuldigte sich jedoch damit, daß er nicht genug Geld bei sich habe.

Der Wunsch der Herzogin mußte jedoch erfüllt werden, und so erbot ich mich, die Bank zu übernehmen.

Man brachte Karten, und ich schüttete meine arme Börse aus, die nicht mehr als vierhundert Unzen enthielt, obgleich dies mein ganzes Vermögen war.

Jeder zog Geld hervor und nahm Karten.

Medini fragte mich, ob ich ihn an meiner Bank beteiligen wolle; ich antwortete, dies sei mir nicht möglich, da ich mein Geld nicht zählen wolle.

Ich zog bis nach Mitternacht ab und hatte nur noch etwa fünfzig Unzen vor mir liegen, als ich aufhörte. Alle Anwesenden hatten gewonnen, mit Ausnahme eines Chevalier Rosbury, der kein Guld bei sich hatte und nur mit englischen Banknoten setzte, die ich in meine Tasche steckte, ohne sie zu zählen.

Als ich in meinem Zimmer war, hatte ich nichts Eiligeres zu tun, als meine Banknoten zu untersuchen; denn der Aderlaß, den meine Börse erlitten hatte, beunruhigte mich. Man stelle sich meine Freude vor: ich fand vierhundertundfünfzig Pfund Sterling, mehr als das Doppelte von dem, was ich verloren hatte.

Sehr zufrieden mit meinem Tagwerk legte ich mich mit dem Vorsatz zu Bett, von meinem Glück nichts verlauten zu lassen.

Da die Herzogin von Kingston gesagt hatte, daß wir um neun Uhr abfahren würden, so bat Frau von Serra Capriola uns, erst noch Kaffee zu trinken, bevor wir zu Schiff gingen.

Nach dem Frühstück kamen Medini und Bettoni, und der erstere fragte Herrn Hamilton, ob er nicht etwa störe, wenn er mit uns nach Neapel zurückfahre. Da Hamilton nicht gut nein sagen konnte, so wurde er zugelassen. Um zwei Uhr waren wir wieder in unserem Gasthof, wo ich zu meiner Überraschung in meinem Vorzimmer eine junge Dame fand, die mit traurigem Gesicht auf mich zutrat und mich fragte, ob ich sie wiedererkenne. Es war die älteste von den fünf Hannoveranerinnen, die ich in London geliebt hatte – jene, die mit dem Marchese della Petina geflohen war.

Ich war ebenso neugierig wie überrascht und ließ sie eintreten, indem ich zugleich mein Mittagessen bestellte.

»Wenn Sie allein speisen, werde ich gerne mit Ihnen essen.«

»Sehr angenehm.«

Ich bestellte das Essen für zwei Personen.

Ihre Geschichte war nicht lang. Sie befand sich in Neapel mit ihrem Gatten, den seine Mutter nicht hatte sehen wollen. Der Unglückliche hatte sich mit seiner Frau in eine elende Schenke zurückgezogen und hatte alles verkauft, was sie besaß; ein paar Monate später hatte man ihn wegen sieben oder acht Fälschungen ins Gefängnis gesetzt. Seit sieben Jahren unterhielt die arme Hannoveranerin ihn im Gefängnis. Sie hatte gehört, daß ich in Neapel war, und wollte mich nur bitten, ihr zu helfen, nicht etwa indem ich ihr Geld gäbe, wie der Marchese es wünschte, sondern indem ich die Herzogin von Kingston veranlaßte, sie in ihren Dienst zu nehmen, damit sie wieder nach Deutschland kommen könnte.

»Sind Sie die Frau des Marchese?«

»Nein.«

»Wie haben Sie ihn sieben Jahre lang erhalten können?«

»Ach!… Denken Sie sich hundert Geschichten aus, und sie werden alle wahr sein.«

»Ich errate.«

»Können Sie mir eine Unterredung mit der Herzogin verschaffen?«

»Ich werde mit ihr sprechen; aber ich mache Sie darauf aufmerksam, daß ich nur die Wahrheit sagen werde.«

»Vortrefflich! Ich auch. Ich kenne Ihren Charakter.«

»Kommen Sie morgen wieder.«

Gegen sechs Uhr besuchte ich Hamilton, um mich zu erkundigen, wie ich die am Tage vorher gewonnenen englischen Banknoten umwechseln könnte. Er gab mir selber den Wert.

Vor dem Abendessen sprach ich mit der Herzogin zugunsten der armen Hannoveranerin. Mylady sagte, sie erinnere sich, sie gesehen zu haben, aber sie wolle erst mit ihr sprechen, bevor sie sich entscheide. Ich stellte ihr am nächsten Tage die Hannoveranerin vor und ließ sie dann miteinander allein. Das Ergebnis der Unterhaltung war, daß die Herzogin sie an Stelle einer Römerin in ihre Dienste nahm und daß sie mit ihr nach England reiste. Ich habe nie wieder etwas von ihr gehört. Einige Tage nach ihrer Abreise konnte ich Petinas Bitten nicht länger widerstehen und besuchte ihn im Gefängnis der Vicaria. Ich fand bei ihm einen jungen Mann, den ich als seinen Bruder erkannte, obwohl der Jüngling sehr hübsch und er selber sehr häßlich war; aber zwischen Schönheit und Häßlichkeit ist oft nur ein fast unmerklicher Übergang.

Dieser Besuch, zu dem mich mehr Neugierde als Gefühl veranlaßt hatte, erheiterte mich nicht, denn ich mußte eine ebenso langweilige wie lange Erzählung über mich ergehen lassen.

Als ich fort ging, fand ich unten an der Treppe des Gefängnisses einen Beamten, der mir sagte, ein Gefangener wünsche mit mir zu sprechen.

»Wer ist es?«

»Er behauptet, Ihr Verwandter zu sein; er heißt Gaëtano.«

Mein Verwandter und Gaëtano! Ich glaubte, es könnte der Abbate sein.

Ich stieg mit dem Beamten nach dem zweiten Stockwerke hinauf und fand einige zwanzig Unglückliche, die auf der Erde saßen und im Chor unzüchtige Lieder sangen.

In den Gefängnissen und auf den Galeren ist Lustigkeit das einzige Mittel gegen Elend und Verzweiflung; der Selbsterhaltungstrieb läßt die Menschen zu diesem Mittel greifen.

Einer von den Unglücklichen kam auf mich los und nannte mich Gevatter. Da er Miene machte, mich zu umarmen, so wich ich zurück; er nannte seinen Namen, und ich erkannte in ihm jenen Gaëtano, der vor zwölf Jahren in Paris unter meiner Gevatterschaft die hübsche Frau geheiratet hatte, die ich später wieder aus seinen Klauen befreit hatte. Der Leser wird sich der Geschichte vielleicht noch erinnern.

»Ich bedauere, Sie hier zu sehen; aber worin kann ich Ihnen nützlich sein?«

»Indem Sie mir etwa hundert Taler bezahlen, die Sie mir für mehrere an Sie verkaufte Waren von Paris her noch schuldig sind.«

Da diese Behauptung eine Lüge war, so drehte ich ihm den Rücken zu und sagte nur, er wäre im Gefängnis wohl verrückt geworden.

Als ich wieder herunter kam, fragte ich, warum er im Gefängnis wäre, und hörte, er sei ein Fälscher und sei dem Galgen nur durch ein formales Versehen entgangen; infolgedessen sei er zu lebenslänglicher Haft verurteilt.

Ich dachte schon nicht mehr an den Elenden, als ich am Nachmittage den Besuch eines Advokaten erhielt, der in Gaëtanos Auftrag hundert Dukaten von mir verlangte. Zur Unterstützung der Ansprüche zeigte er mir ein dickes Geschäftsbuch, worin auf verschiedenen Seiten mein Name stand für Waren, die ich in Paris auf Kredit entnommen haben sollte.

»Herr Advokat,« sagte ich, »der Mann ist verrückt; ich bin ihm nichts schuldig, und dieses Buch hat nicht den geringsten Wert.«

»Sie irren sich, mein Herr: dieses Buch ist eine Autorität, und die Justiz dieses Landes ist den Ansprüchen armer Gefangener sehr günstig gesinnt. Ich bin deren Anwalt, und ich erkläre Ihnen, daß ich Sie morgen vor Gericht laden lasse, wenn Sie sich nicht heute mit mir einigen.«

Ich bezähmte meine Entrüstung, bat ihn höflich um seinen Namen und seine Adresse, die er mir sofort aufschrieb, und versicherte ihm, ich würde die Sache vor Ablauf von vierundzwanzig Stunden ordnen.

Ich begab mich zu Agata, und ihr Mann fing an zu lachen, als ich ihm alles erzählte, was sein Kollege mir gesagt hatte.

Er ließ mich eine Vollmacht unterzeichnen, und von diesem Augenblick an übernahm er alles, indem er für meinen Prozeß und für meine Person eintrat; dem anderen Anwalt ließ er mitteilen, daß er nur noch mit ihm zu tun habe.

Die in Neapel sehr zahlreichen Paglietti leben, abgesehen von einigen ehrenvollen Ausnahmen, nur von Gaunereien, besonders auf Kosten von Fremden.

Da der Chevalier Rosbury in Neapel geblieben war, so wurde ich mit allen neuankommenden Engländern bekannt. Sie stiegen alle in den Crocielle ab; denn die Engländer sind in dieser Beziehung noch hammelhafter als die Champagner: der eine folgt dem anderen, sie ahmen einander nach, gehen alle nach demselben Ort, ziehen alle dieselbe Straße. Wir machten oft Ausflüge miteinander mit den beiden Sachsen; ich unterhielt mich sehr gut. Trotzdem wäre ich nach der Messe abgereist, wenn mich nicht meine Liebe zu Callimene zurückgehalten hätte. Ich sah das schöne Mädchen alle Tage und machte ihr Geschenke, aber sie bewilligte mir nur leichte Gunstbezeigungen.

Die Messe neigte sich ihrem Ende zu, und Agata veranstaltete den Ausflug nach Sorrent, wie sie es mir versprochen hatte. Sie bat ihren Mann, eine Frau einzuladen, die er vor ihrer Heirat geliebt hatte; dieser forderte seinerseits den schönen Pasquale Latilla auf, und damit jeder seinen Anteil hätte, lud man meine liebe Callimene ein.

Wir waren also drei Paare, und die Kosten des Ausfluges sollten von den drei Kavalieren getragen werden.

Agatas Mann behielt sich die Oberleitung des Ganzen vor.

Am Tage vor diesem Ausflug erschien zu meiner großen Überraschung Joseph, der Sohn der Cornelis und Bruder meiner geliebten Sophie.

»Wie kommen Sie denn nach Neapel, und mit wem sind Sie hier?«

»Ich bin ganz allein hier. Ich hatte Lust, Italien zu sehen, und meine Mutter hat mir diesen Wunsch erfüllt. Ich sah Turin, Mailand, Genua, Florenz, Venedig, Rom, und sobald ich das übrige Italien besucht habe, werde ich mir die Schweiz und Deutschland ansehen und mich dann in Holland einschiffen, um nach London zurückzukehren.«

»In wieviel Zeit gedenken Sie diese kleine Reise zu vollenden?«

»In sechs Monaten.«

»Und wenn Sie nach London zurückkommen,, werden Sie imstande sein, über alle Merkwürdigkeiten dieser Länder Rechenschaft abzulegen?«

»Ich hoffe, Mama zu überzeugen, daß das Geld, das diese Reise ihr kostet, nicht nutzlos ausgegeben ist.«

»Wieviel glauben Sie, daß die Reise ihr kosten wird?«

»Die fünfhundert Guineen, die sie mir gegeben hat, und nicht mehr.«

»Wie? Sie sollten sechs Monate leben, diese große Reise machen und nur fünfhundert Guineen ausgeben? Das ist unglaublich!«

»Wenn man sich die Mühe machen will, zu sparen, kann man sogar noch weniger ausgeben.«

»Das mag sein. Und an wen sind Sie denn empfohlen gewesen in all diesen Ländern, die Sie jetzt so gründlich kennen?«

»An keinen Menschen. Ich habe einen englischen Paß und lasse die Leute glauben, daß ich Engländer sei.«

»Sie haben keine Furcht vor schlechter Gesellschaft?«

»Ich setze mich solcher Gefahr nicht aus. Ich eröffne mich keinem Menschen. Wenn man das Wort an mich richtet, gebe ich nur einsilbige Antworten; in den Gasthöfen vereinbare ich stets vorher den Preis für Essen und Wohnung. Da ich nur mit der allgemeinen Post reise, so laufe ich keine Gefahr, übervorteilt zu werden.«

»Vortrefflich. Hier in Neapel werden Sie etwas sparen; denn ich werde alle Kosten für Sie übernehmen und Ihnen einen ausgezeichneten Cicerone geben, der Ihnen nichts kosten wird.«

»Sie werden mir verzeihen, wenn ich es nicht annehme; denn ich habe meiner Mutter versprochen, von keinem Menschen etwas anzunehmen.«

»Mir scheint, ich muß eine Ausnahme bilden.«

»Nein. Ich habe in Venedig Verwandte; ich habe sie besucht, aber ich habe nicht einmal ein Mittagessen von ihnen angenommen, weil ich meiner Mutter diesen Schwur getan hatte. Was ich verspreche, halte ich.«

Da ich seinen Fanatismus kannte, so drang ich nicht weiter in ihn. Der junge Mann war dreiundzwanzig Jahre alt. Er war sehr klein, und da er zugleich auch sehr hübsch war, so hätte man ihn leicht für ein verkleidetes Mädchen halten können, wenn er nicht seinen Backenbart bis an den Mund hätte wachsen lassen.

Obgleich diese Reise offenbar ein Unsinn war, mußte ich doch unwillkürlich einen gewissen Mut und einen unbestimmten Wissensdrang daran bewundern.

Als ich mich nach den Verhältnissen seiner Mutter und nach der Lage meiner Tochter erkundigte, gab er mir rückhaltlos Auskunft.

Ich erfuhr, daß die Cornelis tiefer denn je in Schulden steckte. Ihre Gläubiger ließen sie jedes Jahr fünf- oder sechsmal einsperren; sie bekam aber immer ihre Freiheit wieder, indem sie neue Bürgschaft stellte oder Vereinbarungen mit ihren Gläubigern traf, die sie aus dem Gefängnis herauslassen mußten, damit sie ihre Bälle geben konnte; denn dies war das einzige Mittel, etwas Geld zur Befriedigung der Gläubiger zu beschaffen.

Meine Tochter, damals siebzehn Jahre alt, war hübsch, talentvoll und erfreute sich der Protektion der ersten Damen von London. Sie gab Konzerte und war unglücklich durch die Kränkungen, die sie ihrer Mutter wegen erleiden mußte.

Ich fragte ihn, mit wem man Sophie habe verheiraten wollen, als man sie aus der Pension fortgenommen habe. Er antwortete mir, er wisse nicht, daß dergleichen überhaupt jemals beabsichtigt worden sei.

»Haben Sie eine Beschäftigung?«

»Nein. Meine Mutter will mich von Jahr zu Jahr mit einem Schiff voller Waren auf meine eigene Rechnung nach Indien schicken. Sie sagt, ich werde dadurch den Grund zu einem großen Vermögen legen. Aber bis jetzt ist der Augenblick niemals gekommen, und ich fürchte sehr, er wird überhaupt nicht kommen: denn um Ware zu bekommen, braucht man Geld, und meine Mutter hat nur Schulden.«

Trotz seinem Schwur überredete ich ihn endlich, sich von meinem Bedienten begleiten zu lassen, der ihm in acht Tagen alle Merkwürdigkeiten Neapels zeigte.

Es war mir unmöglich, ihn zu bewegen, noch acht Tage länger zu bleiben. Er reiste nach Rom und schrieb mir von dort aus, er habe sechs Hemden und seinen Überrock in einem Schubfach vergessen, und bitte mich ihm diese mitzubringen; seine Adresse gab er jedoch nicht an.

Er war ein Windhund mit leerem Kopf; aber mit drei oder vier Grundsätzen sehr gewöhnlicher Art versehen, durchzog er halb Europa, ohne daß ihm ein Unglück zustieß.

Ich empfing einen sehr unerwarteten Besuch von Goudar. Er wußte, in welcher Art Gesellschaft ich verkehrte, und bat mich, ihn und seine Frau zu einem Mittagessen mit den Sachsen und Engländern einzuladen. Er wußte, daß ich mit ihnen Ausflüge machte, ohne zu spielen, und sagte: »Es ist ein wahrer Mord, diese Leute nicht spielen zu lassen; denn sie sind eigens dazu gemacht, um zu verlieren.«

Ich bewunderte seine Logik und versprach, ihm diesen Gefallen zu tun, unter der ausdrücklichen Bedingung jedoch, daß nicht bei mir gespielt würde, denn ich wollte mich keiner Unannehmlichkeit aussetzen. Er war damit vollkommen zufrieden, denn er war sicher, daß seine Frau sie in seine Wohnung locken würde, wo man, wie er mir sagte, ohne jede Besorgnis spielen könnte.

Da ich am nächsten Tage nach Sorrent fahren sollte, so setzte ich das Mittagessen auf den Tag nach meiner Rückreise fest.

Dieser Ausflug nach Sorrent war für mich der letzte Tag wirklichen Glückes.

Der Advokat führte uns in ein Haus, wo wir mit aller wünschenswerten Bequemlichkeit untergebracht waren. Wir hatten vier Zimmer: eines für Agata und ihren Mann, das zweite für Callimene und die frühere Freundin des Advokaten, eine sehr liebenswürdige, obwohl schon etwas ältliche Dame, das dritte für Pasquale Latilla und das vierte für mich.

Wir besuchten den Herzog und die Herzogin von Serra Capriola und den Abbate Bettoni, nahmen jedoch weder Mittag- noch Abendessen an.

Nach dem Abendessen gingen wir früh zu Bett, und am Morgen waren wir mit Sonnenaufgang auf den Beinen und gingen spazieren, wohin ein jeder Lust hatte. Der Advokat mit seiner alten Freundin, Agata mit ihrem Pasquale, und ich mit meiner Callimene. Um zwölf Uhr waren wir alle wieder beisammen, um ein köstliches Mittagessen einzunehmen; hierauf überließen wir den Advokaten seinem süßen Mittagsschlaf, Pasquale machte einen Spaziergang mit Agata und der Freundin ihres Mannes, und ich verlor mich mit Callimene in den dichten Laubgängen, in die kein Strahl der glühenden Sonne eindringen konnte. Dort gab meine schöne Callimene mir den süßesten Lohn, nachdem sie zwei Tage lang gegen sich selber gekämpft hatte. Das schöne Kind opferte weder dem Eigennutz noch der Dankbarkeit, denn ich hatte ihr nur Kleinigkeiten geschenkt; ihre Erstlinge erhielt die Liebe, daran konnte ich nicht zweifeln. Sie gab sich mir mit überschwenglichem Gefühl hin und bereute, daß sie so lange gezögert hatte, mich glücklich zu machen.

Am vierten Tage kehrten wir in drei Kaleschen nach Neapel zurück, da der Wind sehr stark war. Callimene überredete mich, ihrer Tante zu sagen, was zwischen uns vorgefallen war, damit wir uns in voller Freiheit sehen könnten. Ich fand den Rat nach meinem Geschmack, denn ich war überzeugt, daß ich mit der Tante leicht fertig werden würde. Nachdem ich ihr ihre Nichte übergeben hatte, nahm ich sie beiseite, vertraute ihr alles an und machte ihr vernünftige Anerbietungen.

Die brave Frau nahm mein Bekenntnis sowohl wie meinen Vorschlag sehr gut auf und sagte mir: da ich etwas für ihre Nichte tun wollte, so würde sie mir bei meinem nächsten Besuch ein Verzeichnis der notwendigsten Anschaffungen geben. Ich sagte ihr, daß ich in wenigen Tagen nach Rom zurückkehren müßte und daher jeden Abend mit ihrer Nichte zu speisen wünschte. Sie fand diesen Wunsch ganz natürlich, und wir gingen zu Callimene, die sehr erfreut war, als sie von unseren Vereinbarungen erfuhr.

Um keine Zeit zu verlieren, speiste ich gleich denselben Abend bei ihr. Hierauf verbrachten wir die Nacht miteinander. Ich gewann vollends ihr Herz durch meine Liebe und indem ich ihr die Sachen kaufte, deren sie dringend bedurfte. Es waren für etwa hundert Louis Kleider und Wäsche, und diese Summe erschien mir gering im Vergleich zu meinem Glück, wennschon meine Börse recht schmal geworden war. Agata, die ich in mein Glück einweihte, war hocherfreut, es mir verschafft zu haben.

Zwei oder drei Tage später gab ich ein Mittagessen, wozu ich die Engländer, die beiden Sachsen, ihren Hofmeister Bartoldi und Goudar nebst Frau einlud.

Die Engländer und die Sachsen waren schon da, und wir erwarteten nur noch Herrn und Frau Goudar, da sah ich die Engländerin mit dem Grafen Medini eintreten. Angesichts einer solchen Unverschämtheit fühlte ich all mein Blut mir zu Kopfe steigen. Ich hatte jedoch die Kraft, mich bis zu Goudars Ankunft zu beherrschen. Ich setzte mich sofort mit ihm auseinander, denn wir hatten abgemacht, daß seine Frau mit ihm kommen sollte. Der Erzgauner brauchte Ausflüchte und suchte mich zu überzeugen, daß Medini an der Sprengung der Bank unschuldig gewesen sei; aber er verschwendete seine Beredsamkeit vergeblich.

Unser Mittagessen war köstlich und sehr heiter. Die schöne Irländerin glänzte, denn sie besaß alles, um zu gefallen: Schönheit, Anmut, Geist, Jugend, Talent und Frohsinn, und zu alledem noch ein vornehmes und zugleich liebenswürdiges Wesen, das sie unwiderstehlich machte. Diese Kellnerin wäre würdig gewesen, einen Thron einzunehmen! Das Glück ist blind!

Nach dem Essen machte ein vornehmer Russe, Herr von Buturlin, ein großer Liebhaber schöner Frauen, mir einen Besuch. Er war durch die süße Stimme der schönen Goudar angelockt worden, die ein neapolitanisches Lied zur Gitarre sang. Ich war also für meinen reichen Nachbarn nur ein Reflexspiegel; aber ich nahm ihm dies durchaus nicht übel. Buturlin verliebte sich augenblicklich in Sara, und einige Monate nach meiner Abreise besaß er sie für fünfhundert Louis, die Goudar brauchte, weil er den Befehl erhalten hatte, Neapel binnen dreimal vierundzwanzig Stunden zu verlassen.

Diese Ohrfeige erhielt er von der Königin, die entdeckt hatte, daß der König in Procida eine geheime Unterhaltung mit der Goudar gehabt hatte. Sie überraschte ihren königlichen Gemahl, wie er aus vollem Halse über einen Brief lachte, den er ihr nicht zeigen wollte.

Durch den Widerstand ihres Gemahls wurde die Neugier der Königin noch mehr erregt; sie bestand darauf, den Brief zu erhalten, und als der König schließlich nachgab, las sie folgende bezeichnende Worte:

»Ti aspettero nel medemiso luogo, ed alla stessa ora, coll‘ impazienza medesima che ha una vaca che desidera l’avvicinamento del toro.«

Für keusche Ohren ist das nicht zu übertragen.

»Che infamia!« rief die Königin. Kraft ihrer eigenen Machtvollkommenheit ließ Ihre Majestät dem Gatten der Kuh mitteilen, daß sie ihm drei Tage Zeit lasse, um außerhalb ihres Königreiches Stiere für sie zu finden.

Ohne dieses Ereignis wäre Herr von Buturlin nicht so billig davongekommen.

Nach meinem Diner lud Goudar die ganze Gesellschaft ein, am nächsten Abend in seinem Hause am Posilippo zu speisen. Das Mahl war prachtvoll; als aber Medini sich an einen großen Tisch setzte und die Karten ergriff, um hinter einem großen Goldhaufen Bank zu halten, fand sich niemand ein, um zu setzen. Die schöne Goudar forderte vergebens auf, Karten zu nehmen. Die Engländer und die Sachsen sagten ihr galant, sie seien bereit zu setzen, wenn sie selber die Bank halten oder mich an ihrer Stelle abziehen lassen wolle; denn sie fürchteten, wie sie sagten, die allzu glückliche Hand des Grafen.

Hierauf erkühnte Goudar sich, mir den Vorschlag zu machen, die Bank zu übernehmen und mich mit einem Viertel daran zu beteiligen. »Ich werde mich zur Hälfte beteiligen«, antwortete ich ihm, »oder gar nicht; indessen habe ich durchaus kein Vertrauen zu meinem Glück.«

Goudar sprach mit Medini; dieser fürchtete die Gelegenheit zu verlieren, irgendeinen großen Raubzug machen zu können; er stand auf, steckte seinen Anteil der Bank in die Tasche und überließ mir seinen Platz.

Ich hatte nur zweihundert Unzen in der Börse. Ich vermischte diese mit zweihundert Unzen von Goudar, und in weniger als einer Stunde war meine Bank gesprengt. Ohne mich darüber zu ärgern, ging ich zu meiner Callimene, der es nicht schwer wurde, mich zu trösten.

Da ich mich also vollkommen ohne Geld sah, so entschloß ich mich, das Gewissen des Advokaten zu erleichtern, der im Verein mit seiner Frau Agata beständig in mich drang, die Ohrgehänge wieder zu nehmen, die ich ihr in Turin geschenkt hatte. Ich sagte Agaten, ich würde mich niemals auf einen derartigen Vorschlag eingelassen haben, wenn das Glück mich nicht so arg mißhandelt hätte. Als sie meinen Entschluß ihrem Gatten mitgeteilt hatte, kam der brave Mann mit ausgebreiteten Armen aus seinem Arbeitszimmer heraus, fiel mir um den Hals, nannte mich seinen würdigen Freund und dankte mir, wie wenn ich sein Glück gemacht hätte.

Ich sagte ihm, ich wünschte den Wert des Schmuckes in barem Gelde zu erhalten, und er übernahm es, mir dieses bis zum nächsten Tage zu beschaffen. So sah ich mich von neuem im Besitz von ungefähr fünfzehntausend Franken.

Hierauf traf ich sofort meine Vorbereitungen, um nach Rom zu reisen, wo ich acht Monate zuzubringen gedachte; vor meiner Abreise lud der Advokat mich ein, in einem hübschen Kasino, das er in Portici hatte, zu Mittag zu essen.

Welche Gedanken kamen über mich, als ich mich in demselben Hause sah, wo ich vor siebenundzwanzig Jahren ein kleines Vermögen erworben hatte, indem ich den wackeren Griechen mit der falschen Vermehrung des Quecksilbers anführte. Der König war damals mit seinem ganzen Hof in Portici. Neugier lockte uns an, und wir waren Zeugen eines sehr eigentümlichen Schauspiels, das zwar höchst lächerlich war, uns aber durchaus nicht lachen machte.

Der König, der damals erst neunzehn Jahre alt war, belustigte sich mit der Königin in einem großen Saal mit allen möglichen Possenstreichen. Er bekam Lust, sich prellen zu lassen. Ein König läßt sich prellen, verwandelt sich in einen Sancho Pansa! Ohne Zweifel war das ein nicht eben alltäglicher Einfall für ein gekröntes Haupt.

Was ein König will, wird schnell von der Rotte der Schmeichler und Speichellecker ausgeführt, und Seine sizilianische Majestät wurde nach Wunsch geprellt. Aber nachdem der junge Herrscher oben in der Luft gezappelt hatte, wollte er seinerseits auf Kosten derer lachen, die er erheitert hatte. Zunächst schlug er dieses Spiel der Königin vor, die aber lachend abwehrte. Er bestand nicht weiter darauf, ebensowenig wie bei den Hofdamen; bei diesen letzteren hatte er, glaube ich, Angst, daß sie den Vorschlag annähmen.

Die alten Höflinge drückten sich voller Angst. Ich bedauerte dies sehr, denn es hätte mir das größte Vergnügen gemacht, etliche von ihnen alle Beine in die Luft strecken zu sehen, besonders den Prinzen Paul Nicander, der den König sehr schlecht erzogen hatte; denn er hatte einen wahren Lazzarone aus ihm gemacht und seinen kleinen Geist mit allen möglichen Vorurteilen vollgepfropft.

Der König ließ aber nicht locker, und da er bemerkte, daß die Alten sich aus dem Staub gemacht hatten, so blieb ihm nichts anderes übrig, als das edle Spiel den anwesenden jungen Kavalieren vorzuschlagen, die vielleicht sogar von Herzen nach dieser eigentümlichen Gunstbezeigung ihres eigentümlichen Herrn begierig waren.

Ich fürchtete diese Ehre nicht, denn ich war unbekannt und nicht vornehm genug, um sie zu verdienen.

So wurden drei oder vier junge Leute geprellt, die alle mehr oder weniger ihren Mut leuchten ließen, während die Königin sich die Seiten hielt und ihre Hofdamen und die anderen Herrschaften nach neapolitanischer Art aus vollem Halse lachten; denn in Neapel lacht man nicht verstohlen in sich hinein wie in Madrid, man lächelt nicht mit den Mundwinkeln wie in Versailles, noch weniger lacht man wie an den nordischen Höfen, wo das Lachen ein unterdrücktes Niesen ist, wo man sich auf die Lippen beißt, um nicht vor Langeweile zu gähnen. Plötzlich erblickte der König zwei iunge Kavaliere aus Florenz, die ganz frisch in Neapel angekommen waren. Sie waren da mit ihrem Hofmeister, und sie hatten alle drei herzlich gelacht, als sie das lustige Prellspiel des Königs und seiner Hofkavaliere sahen.

Der Monarch trat sehr freundlich an sie heran und schlug ihnen vor, sich prellen zu lassen.

Die beiden armen Toskaner waren von der Natur recht stiefmütterlich bedacht worden: sie waren klein, bucklig und häßlich.

Als der König ihnen den Vorschlag machte, wurden ihre kleinen Gesichter lang, und ihre Augen trübten sich; sie lagen auf der Folter. Alle Anwesenden warteten ungeduldig in tiefstem Schweigen auf die Wirkungen der Beredsamkeit des Königs. Er forderte sie wiederholt auf, sich zu entkleiden, und sagte ihnen, es stünde Ihnen übel an, noch länger Widerstand zu leisten, denn wenn es ihnen widerstrebte, sich von der Gesellschaft auslachen zu lassen, so müßten sie diesen Gedanken aufgeben; denn da er selber es zuerst getan hätte, so dürften sie sich deshalb nicht für erniedrigt halten.

Der Hofmeister begriff, daß der König keine Weigerung gelten lassen wollte; er sagte ihnen, sie könnten sich der Einladung Seiner Majestät nicht entziehen, und die beiden kleinen Affen legten ihre Röcke ab.

Beim Anblick dieser armseligen Buckligen unterbrach ein lautes Gelächter das Schweigen. Der König sagte ihnen, es sei keine Gefahr für sie dabei, nahm einen von ihnen bei der Hand und ließ ihn sich mitten auf die Decke niederlegen. Um ihn besonders zu ehren, ergriff er selber einen der Zipfel, aber dies hielt den kläglichen Kavalier nicht ab, dicke Tränen zu weinen.

Nachdem er drei- oder viermal in der Luft gezappelt hatte, zum Gaudium aller Anwesenden, die sich über den Anblick seiner langen dünnen Beine totlachen wollten, ging er in eine Ecke, um sich anzukleiden; sein jüngerer Bruder nahm mit munterem Wesen seinen Platz ein und wurde dafür durch ein Händeklatschen belohnt.

Der Gouverneur hatte Seine Majestät in Verdacht, ihm dieselbe Ehre erweisen zu wollen, an der ihm jedoch gar nichts lag. Er hatte sich heimlich aus dem Staube gemacht, und der König lachte darüber aus vollem Halse. So hatten wir umsonst ein Schauspiel, das man vergeblich sich mit schwerem Gelde zu verschaffen suchen würde.

Don Pasquale Latilla, den der König glücklicherweise nicht bemerkt hatte, erzählte uns bei Tisch eine Menge reizender Anekdoten von dem guten König; alle diese Geschichten sprachen für einen ausgezeichneten Charakter und eine unwiderstehliche Neigung zur Fröhlichkeit. Er versicherte uns, daß jeder, der mit dem König zu tun hätte, ihn lieben müßte; denn dieser wolle lieber als Freund behandelt werden, als den Ausdruck der Furcht auf den Stirnen sehen.

Niemals war er tiefer betrübt, so erzählte uns Pasquale, als wenn sein Minister Tanucci ihn zu notwendigen strengen Maßregeln veranlaßte, und niemals war er fröhlicher, als wenn er Gnade üben konnte.

Ferdinand hatte keinen Schimmer von literarischer Bildung, aber er war mit einem gesunden Menschenverstand begabt und legte den größten Wert auf wissenschaftlich gebildete Männer, sowie überhaupt auf solche, die sich durch ihr Können oder ihre Tugenden auszeichneten. Er verehrte den Minister Marco, er schätzte das Andenken an Lelio Caraffa, an die Herzöge von Matalone und hatte für einen Neffen des berühmten Genovesi in Anbetracht der Verdienste seines Oheims anständig gesorgt.

Das Glücksspiel war verboten. Eines Tages überraschte er die Offiziere seiner Schloßwache bei einer Partie Pharao. Die jungen Leute bekamen einen Schreck, als sie den König sahen, und wollten ihre Karten und ihr Geld verbergen. »Machen Sie keine Umstände!« sagte der gute König. »Nehmen Sie sich nur in acht, daß Tanucci nichts von Ihrer Kühnheit erfährt; ich für meine Person verspreche Ihnen, ihm nichts zu sagen.«

Als dieser gute König ungefähr vierzig Jahre alt war, ergriff er mit viel Verstand die Gelegenheit, sich bei seinem Volke, in ganz Italien und in einem großen Teil von Deutschland beliebt zu machen, indenm er überall seinen guten Charakter und seine Tugenden an den Tag legte.

Sein Vater liebte ihn zärtlich bis zu dem Tage, wo die Staatsraison ihn nötigte, den Befehlen des Königs von Spanien zu widersprechen und den Forderungen seiner eigenen Minister nachzugeben.

Ferdinand wußte, daß er nicht nur ein Sohn des Königs von Spanien, sondern nicht weniger auch König beider Sizilien war und daß seine Königspflichten seinen Kindespflichten vorgingen. Er hatte dem Einfluß Tanuccis zur Genüge nachgegeben.

Einige Monate nach der Unterdrückung des Jesuitenordens schrieb er seinem Vater einen Brief, dessen Anfang folgendermaßen lautete:

»Unter den Dingen, die ich nicht verstehe, finde ich besonders vier erstaunlich. Erstens: Daß man bei den gemaßregelten Jesuiten, die doch so reich sein sollten, keinen Heller findet; zweitens: daß alle Scrivani meines Königreiches reich sind, obwohl sie nach dem Gesetz keinen Lohn empfangen dürfen; drittens: daß alle jungen Frauen, die einen jungen Mann haben, früher oder später einmal schwanger werden, daß aber die meinige es niemals wird; viertens: daß jedermann am Ende seines Lebens stirbt, nur Tanucci nicht, der, wie ich glaube, bis ans Ende der Jahrhunderte leben wird.«

Der König von Spanien zeigte im Esturial diesen Brief allen seinen Ministern, um ihnen zu beweisen, daß sein Sohn, der König von Neapel, Geist hätte; er täuschte sich nicht, denn ein Mann, der so schreibt, hat Geist.

Zwei oder drei Tage nach jenem Prellfeste kam der neunzehnjährige Cavaliere Morosini nach Neapel. Er war der Neffe des Prokurators und der einzige Erbe des erlauchten Hauses; ihn begleitete sein Lehrer, Graf Stratico, Professor der Mathematik an der Universität Padua – derselbe, der mir einen Empfehlungsbrief an seinen Bruder, den Mönch in Pisa, gegeben hatte. Er stieg in den Crocielle ab, und wir freuten uns beide, uns wiederzusehen.

Der junge Venetianer reiste, um seine Erziehung zu vollenden. Er hatte drei Jahre an der Turiner Akademie verbracht, und er reiste mit einem Gelehrten, unter dessen Anleitung er alle Vorzüge sich hätte aneignen können, um in seiner Heimat die höchsten Stellen zu bekleiden und sich von der Menge des venetianischen Adels, der die Republik beherrscht, vorteilhaft zu unterscheiden. Unglücklicherweise aber fehlte dem jungen Herrn, der ein hübscher Junge, reich und geistvoll war, der gute Wille, etwas zu lernen. Er liebte die Weiber bis zur Brutalität, suchte den Umgang junger Wüstlinge und gähnte, wenn er sich in guter Gesellschaft befand. Er war ein Feind vom Studieren und dachte nur immer an neue Lustbarkeiten. Das Geld, das er erhielt, warf er zum Fenster hinaus, mehr um sich an seinem Oheim für dessen Sparsamkeit zu rächen, als aus Freigebigkeit. Er beklagte sich, daß man ihn unter Vormundschaft halten wolle, obgleich er doch mündig sei. Er hatte sich ausgerechnet, daß er monatlich achthundert Zechinen ausgeben konnte, und ärgerte sich, daß man ihn nur zweihundert ausgeben ließ. Infolgedessen gab er sich alle mögliche Mühe, um Schulden zu machen; er ließ den Grafen Stratico abfallen, wenn dieser ihm in aller Milde seine tollen Ausgaben vorwarf und ihm begreiflich zu machen suchte, daß er in Venedig nach seiner Rückkehr besonders prächtig auftreten könnte, wenn er jetzt ein wenig sparte. Dort hatte sein Oheim ihm eine ausgezeichnete Heiratspartie mit einem sehr hübschen Mädchen, der Erbin des Hauses Grimani de‘ Servi, vermittelt.

Zum Glück besaß der junge Kavalier eine Eigenschaft, die seinen Mentor davor bewahrte, fortwährend in einer Todesangst zu sein: er hatte die größte Abneigung gegen jede Art von Spiel.

Seitdem man meine Bank gesprengt hatte, war ich wohl noch zu Goudar gegangen, hatte aber vom Spiel nichts mehr wissen wollen. Medini war mein Todfeind geworden; er ging, wenn er mich kommen sah; aber ich tat, wie wenn ich es nicht bemerkte. An dem Tage, als ich Morosini und seinen Mentor vorstellte, war Medini anwesend; er warf sofort seinen Blick auf den jungen Mann und machte sich mit diesem bekannt; als er ihn aber unerschütterlich in seinem Entschluß, nicht zu spielen, fand, wuchs sein Haß gegen mich, weil er überzeugt war, daß ich schuld wäre, wenn der junge Herr nicht spielen wollte.

Morosini verliebte sich in Saras Reize und dachte nur daran, durch Liebe ihren Besitz zu erlangen. Er befand sich noch in jenem Stadium jugendlicher Überspanntheit, die sie ihm verhaßt gemacht haben würde, wenn er hätte ahnen können, daß er sie nur durch Aufopferung einer großen Summe gewinnen könnte.

Er hatte mir mehrere Male gesagt: »Wenn ich eine Frau, die ich liebe, bezahlen müßte, um ihre Gunst zu erlangen, so würde ich mich für so erniedrigt halten, daß ich ohne Zweifel sofort von der Liebe genesen würde, die sie mir eingeflößt hätte.«

Er behauptete nämlich, und zwar mit Recht, daß er als Mann ebensoviel wert sei wie die Goudar als Weib.

Morosini hatte also auch noch den Vorzug, sich nicht von einer Frau betrügen lassen zu wollen, die ihre Huld nur als Lohn für empfangene Geschenke gewährte. Saras Grundsätze waren den seinigen genau entgegengesetzt; denn sie verlangte, daß ihre Liebe als ein Kreditbrief aufgefaßt würde.

Stratico war hocherfreut, seinen Zögling durch diese Liebschaft beschäftigt zu sehen. Die Hauptsache war, ihn zu beschäftigen; denn wenn sein Herz müßig war, so kannte er keinen anderen Zeitvertreib als schlechte Gesellschaft und Reiten. Er ritt aber nicht spazieren wie ein Kavalier, sondern sprengte zehn oder zwölf Meilen ohne anzuhalten im Galopp dahin, und wenn er ein Pferd totritt, so machte ihm dies Spaß, weil er sich freute, daß sein Oheim, der Geizhalz, wie er ihn nannte, es bezahlen mußte.

Ich hatte mich bereits zur Abreise entschlossen, als Don Pasquale Latilla mich mit dem Abbate Galiani besuchte, den ich in Paris gekannt hatte.

Man erinnert sich vielleicht, daß ich den Bruder dieses Abbate in Sant’Agata kennen gelernt, daß ich bei ihm gewohnt und Donna Lucrezia Castelli bei ihm zurückgelassen hatte.

Ich sagte ihm, daß ich die Absicht hätte, sie zu besuchen, und fragte ihn, ob Lucrezia noch bei seinem Bruder sei.

»Sie wohnt in Salerno bei der Marchesa C., ihrer Tochter.«

Ich war entzückt über diese Nachricht, denn ohne den Besuch des Abbate würde ich niemals erfahren haben, was aus den Damen geworden war.

Ich fragte ihn, ob er die Marchesea C. kenne.

»Ich kenne nur den Marchese, er ist alt und sehr reich.«

Mehr wollte ich nicht wissen.

Ein paar Tage darauf gab Morosini ein Mittagessen. Die Gäste waren außer Stratico und mir Sara, Goudar, zwei andere junge Spieler und Medini, der immer noch den Cavaliere auf irgendeine Weise zu betrügen hoffte.

Gegen Ende der Mahlzeit war Medini aus irgendeinem Anlaß anderer Meinung als ich. Da er sich etwas ärgerlich ausdrückte, so machte ich ihn darauf aufmerksam, daß ein höflicher Mensch seine Ausdrücke zu wählen verstehen müsse.

»Das kann sein; aber von Ihnen wünsche ich keine Höflichkeit zu lernen.«

Ich tat mir Gewalt an und antwortete nicht; aber ich war es müde, die Ausfälle zu ertragen, die der Mensch sich von Zeit zu Zeit erlaubte. Er hatte vielleicht Ursache mir zu grollen; da er jedoch im Grunde unrecht hatte, so hätte er seinen Haß verbergen müssen. Ich dachte, er schriebe vielleicht meine kluge Zurückhaltung der Furcht zu und würde daher von Tag zu Tag unverschämter werden. Ich beschloß daher, ihm diese Meinung zu benehmen.

Er stand auf dem Balkon, der nach dem Meere hinausging, und trank seinen Kaffee. Mit der Tasse in der Hand trat ich auf ihn zu, und da uns niemand hören konnte, so sagte ich ihm, ich wäre es müde, seine üble Laune zu ertragen, wenn wir uns zufällig in Gesellschaft träfen.

»Sie würden mich noch viel rücksichtsloser finden, wenn wir uns unter vier Augen ohne Zeugen treffen könnten.«

»Unter vier Augen«, antwortete ich ihm mit einem spöttischen Lächeln, »wäre es mir leicht, Sie zurecht zu weisen.«

»Ich bin sehr neugierig, das zu sehen.«

»Folgen Sie mir, sobald Sie mich hinausgehen sehen. Vor allen Dingen aber kein Wort!«

»Ich werde pünktlich sein.«

Ich begab mich wieder zur Gesellschaft; eine Viertelstunde später aber ging ich hinaus und entfernte mich mit langsamen Schritten den Posilippo entlang. Bald sah ich ihn mir von ferne folgen, und da ich wußte, daß er tapfer war, so bezweifelte ich nicht mehr, daß der Handel in wenigen Augenblicken ausgetragen sein würde, denn wir hatten beide unseren Degen an der Seite.

Am Ende des Strandweges wandte ich mich nach rechts, und sobald ich mich auf freiem Felde an einem Ort sah, wo wir unseren Streit ungestört ausmachen konnten, blieb ich stehen.

Als Medini mich eingeholt hatte, glaubte ich mit ihm sprechen zu können; ich bildete mir sogar ein, daß eine Aussprache ihm angenehm sein würde; aber der brutale Mensch lief wie ein Rasender mit gezücktem Degen auf mich los.

Ich sah, daß ich in Gefahr war, ermordet zu werden. Ich erwartete ihn also festen Fußes, zog und versetzte ihm meinen geraden Stoß in demselben Augenblick, wo er, ohne zu parieren, eine Quart nach mir stieß. Unsere beiden Klingen hatten unsere Ärmel getroffen, nur mit dem Unterschied, daß bei mir nur der Rock getroffen war, während meine Klinge ihm den Arm durchbohrt hatte.

Ich legte wieder aus, und er trat zurück. Da ich bemerkte, daß seine Parade keine Kraft mehr hatte, so sagte ich ihm, ich gäbe ihm Quartier, wenn seine Wunde ihn etwa verhindern sollte, sich zu verteidigen.

Da er nicht antwortete, so drückte ich seine Klinge herunter, so daß sein Degen zur Erde fiel. Sofort setzte ich den Fuß darauf.

Schäumend vor Wut sagte er nur, diesmal hätte ich die Oberhand behalten, aber er hoffte, ich würde ihm Revanche geben.

»Sehr gern. In Rom. Und ich hoffe, dann wird meine dritte Lektion vollständiger sein als die beiden, die Sie bereits empfangen haben.«

Da ich sah, daß er viel Blut verlor, steckte ich ihm den Degen in die Scheide und verließ ihn dann, indem ich ihm riet, zu Goudar zu gehen, dessen Haus nur zweihundert Schritt entfernt lag, und sich dort verbinden zu lassen.

Ich selber ging nach den Crocielle zurück, wie wenn gar nichts los gewesen wäre. Ich fand den Cavaliere Morosini, der der schönen Sara Komplimente machte, während Goudar mit Stratico und den beiden anderen eine Quadrille spielte.

Eine Stunde darauf verließ ich die Gesellschaft, ohne von meinem Abenteuer etwas gesagt zu haben, und ging zu meiner köstlichen Callimene, um zum letzten Male mit ihr zu soupieren. Ich sah sie erst sechs Jahre später, strahlend von Schönheit und Talent, in Venedig im Theater San Benedetto wieder.

Nachdem ich mit dem reizenden Mädchen eine köstliche Nacht verbracht hatte, begab ich mich mit Tagesanbruch nach den Crocielle und fuhr um acht Uhr in einer Postkalesche ab, ohne mich von einem Menschen zu verabschieden.

In Salerno kam ich nachmittags um zwei Uhr an; sobald ich meinen Koffer in einem guten Zimmer untergebracht hatte, schrieb ich an Donna Lucrezia Castelli beim Marchese C. Ich fragte sie, ob ich ihr einen Besuch machen könnte, um Salerno sofort darauf zu verlassen, und bat sie, mir ihre Antwort zukommen zu lassen, während ich zu Mittag essen würde.

Ich saß bei Tische, als ich zu meiner außerordentlichen Freude Lucrezia selber erscheinen sah. Sie stieß einen Freudenruf aus und warf sich in meine Arme, da sie in Worten ihre Freude über dieses Wiedersehen nicht ausdrücken konnte.

Diese ausgezeichnete Frau, eine wahre Zauberin, war genau so alt wie ich, aber man hätte sie für mindestens fünfzehn Jahre jünger gehalten als mich.

Nachdem ich ihr gesagt hatte, wie ich ihren Aufenthalt erfahren, fragte ich sie nach unserer Tochter.

»Sie erwartet dich mit lebhafter Ungeduld, ebenso wie ihr Gatte, ein ehrwürdiger alter Herr, der vor Verlangen brennt, dich kennen zu lernen.«

»Woher weiß er denn von mir?«

»Leonilda hat in den fünf Jahren, seitdem sie seine Frau ist, tausendmal von dir gesprochen. Er weiß sogar, daß du ihr fünftausend Dukaten geschenkt hast. Er erwartet dich, und wir werden zusammen zu Abend speisen.«

»Laß uns sofort hingehen, meine liebe Lucrezia; denn ich sterbe vor Verlangen, meine Leonilda zu sehen und den guten Gatten, den der liebe Gott ihr beschert hat. Hat sie Kinder?«

»Nein, und das ist ein Unglück für sie, denn nach dem Tode ihres Mannes wird das ganze Vermögen an seine Verwandten fallen. Trotzdem wird Leonilda stets reich sein; denn sie hat ein gesichertes Vermögen von hunderttausend Dukaten.«

»Du hast dich niemals verheiraten wollen?«

»Nein.«

»Du bist so schön wie vor sechsundzwanzig Jahren. Wäre der Abbate Galiani nicht gewesen, so wäre ich von Neapel abgereist, ohne dich zu sehen.«

Unter solchen Gesprächen begaben wir uns in ihr Haus. Ich fand in Leonilda eine vollendete Schönheit. Sie war jetzt fünfundzwanzig Jahre alt.

Die Anwesenheit ihres Gatten legte ihr keinen Zwang auf; sie empfing mich mit offenen Armen, so daß ich mich sofort heimisch fühlte.

Sie war meine Tochter, daran konnte ich nicht zweifeln, aber die Natur hatte die zärtlichsten Gefühle in mir nicht ertötet, sondern sie im Gegenteil mit der ganzen Glut der Jugend sich in meinem Herzen entfalten lassen.

Sie stellte mich ihrem Mann vor, der von einer bösen Gicht befallen war und sich nicht von seinem großen Lehnstuhl rühren konnte.

Der brave Mann nahm mit lachendem Gesicht seine Mütze ab, breitete die Arme aus und sagte: »Mein lieber Freund, umarmen Sie mich.«

Ich umarmte ihn mit herzlichem Gefühl, und als wir uns den Handschlag gaben, erkannte ich ihn als Bruder. Der Marchese hatte dies erwartet, ich aber nicht; denn ein adliger Herr von sechzig Jahren, der sich rühmen konnte, das Licht der Aufklärung erblickt zu haben, war vor dreißig Jahren etwas sehr Seltenes in den Staaten Seiner sizilianischen Majestät, geradezu eine Art von Wundertier.

Als ich neben ihm saß, umarmten wir uns noch einmal, um uns als Maurer zu begrüßen; die Damen waren ganz verblüfft, uns so befreundet zu sehen.

Donna Leonilda glaubte, wir wären schon seit langer Zeit bekannt; sie war hoch entzückt und umarmte ihren alten Gemahl, indem sie ihm ihre Freude aussprach. Der alte Herr strahlte vor Vergnügen. Lucrezia erriet die Wahrheit, biß sich aber lachend auf die Lippen und schwieg. Die schöne Marchesa verschob die Befriedigung ihrer Neugier auf später.

Der Marchese war ein vornehmer Herr, der ganz Europa bereist hatte. Er hatte viel gesehen und ans Heiraten nicht eher gedacht als bei dem Tode seines Vaters, der neunzig Jahre alt geworden war. Da er eine Rente von dreißigtausend Dukaten oder hundertzwanzigtausend Franken besaß, also in einem Lande, wo alles billig ist, sehr reich war, so bildete er sich ein, er könnte trotz seinem vorgerückten Alter noch Kinder haben. Er sah Leonilda und machte sie nach wenigen Tagen zu seiner Frau, indem er ihr ein Witwengeld von hunderttausend Dukaten aussetzte. Donna Lucrezia, die den Herzog von Matalone verloren hatte, zog zu ihrer Tochter. Der Marchese von C. konnte, obgleich er mit großer Pracht lebte, nur mit Mühe die Hälfte seiner Einkünfte ausgeben.

Er ließ alle seine Verwandten in seinem großen Palast wohnen; es waren drei Familien, die jede ihre Haushaltung für sich hatten.

Obgleich alle diese Verwandten bequem leben konnten, warteten sie mit Ungeduld auf den Tod ihres Familienoberhauptes, um sich in seine Reichtümer zu teilen. Dies betrübte den Marchese, der sie nicht liebte. Er hatte sich nur in der Hoffnung verheiratet, einen Erben zu erhalten, und er wagte einen solchen nicht mehr zu erwarten. Darum aber liebte er seine Frau nicht weniger, die ihn ihrerseits durch die Reize ihres Geistes und durch ihren liebenswürdigen Charakter beglückte.

Der Marchese und seine Frau waren Freigeister, aber davon wußte kein Mensch etwas; denn in Salerno war kein Verständnis dafür vorhanden. Der brave Mann lebte daher mit seiner Frau und Schwiegermutter allem Anschein nach als ein sehr guter Christ, indem er sich äußerlich allen Vorurteilen seiner Landsleute fügte.

Ich erfuhr dies alles drei Stunden später von Donna Lucrezia selber, als wir in einem schönen Garten spazieren gingen. Der Marchese hatte uns dorthin geschickt, nachdem dieser drei Stunden lang mit mir über interessante Dinge geplaudert hatte, die aber für die Damen kein Interesse haben konnten. Trotzdem verließen sie uns nicht einen Augenblick, denn sie waren entzückt, daß der würdige alte Herr sich freute, einmal mit jemandem sprechen zu können, der ihn verstand und seine Ansichten über Menschen und Dinge teilte.

Gegen sechs Uhr bat der Marchese Donna Lucrezia, mich in den Garten zu führen und mich bis zum Abend zu unterhalten. Er forderte seine Frau auf, bei ihm zu bleiben, da er etwas mit ihr zu besprechen hätte.

Wir befanden uns mitten im August, und die,Hitze war sehr stark. Aber ein sanfter Luftzug milderte sie im Zimmer des Erdgeschosses, worin wir uns befanden.

Da ich durch das Fenster sah, daß die Blätter der Bäume sich nicht bewegten, so mußte die Luft vollkommen ruhig sein, und ich konnte mich nicht enthalten, dem Marchese zu sagen, ich sei erstaunt, in seinem Zimmer mitten in der Sonnenglut den Frühling zu finden.

«Ihre Freundin«, antwortete er mir, »wird Ihnen dieses Geheimnis aufklären.«

Wir gingen durch eine Reihe von Gemächern und kamen nach etwa fünfzig Schritten in eine Kammer, in deren Ecke sich eine viereckige Öffnung von vier Fuß befand.

Aus dieser düsteren Öffnung kam ein sehr frischer, sogar heftiger Wind hervor. Sie befand sich über dem Ende einer Steintreppe von mehr als hundert Stufen, und diese Treppe führte zu einer Grotte, worin eine Quelle von eiskaltem Wasser entsprang.

Donna Lucrezia sagte mir, ich würde mich einer großen Gefahr aussetzen, wenn ich in diese Grotte hinunterstiege, ohne mich sehr warm anzuziehen.

»Ich bin niemals so waghalsig gewesen, um mich Gefahren dieser Art auszusetzen.«

Lord Baltimore würde darüber gelacht haben. Ich sagte meiner Freundin, daß ich mir sehr gut vorstellen könnte, wie die Sache sich verhielte, und daß ich durchaus nicht neugierig wäre, mich zu überzeugen, ob ich mich nicht täuschte.

Lucrezia lobte meine Vorsicht und führte mich in den Garten.

Dieser Garten war sehr groß; er war von dem zum gemeinsamen Gebrauch der drei verwandten Familien bestimmten getrennt. Man fand herrliche Blumen, die die Luft mit balsamischen Gerüchen erfüllten, Springbrunnen, Grotten, die mit den schönsten Muscheln ausgelegt waren, reizende Gartenhäuser mit Ottomanen und mit ebenso reicher wie geschmackvoller Einrichtung.

Ein großes, sehr tiefes Wasserbecken war mit den seltensten Fischen besetzt, die man sich durch die Wellen schlängeln sah; da sie nur zur Augenweide bestimmt waren, waren sie so zahm geworden, daß sie den Besuchern aus den Händen fraßen.

Die geschlossenen Laubgänge dieses schönen irdischen Paradieses waren von Weinreben gebildet, an denen die Trauben ebenso zahlreich waren wie die Blätter, die sie voneinander trennten; andere mit Früchten beladene Bäume bildeten zur Rechten und zur Linken den Säulengang, der die Reben stützte.

Ich sagte meiner lieben Lucrezia, die sich an meiner Überraschung weidete: ich sei durchaus nicht erstaunt, daß dieser Garten- mehr Eindruck auf mich mache als die Rebengänge von Tivoli und Frascati; denn je großartiger etwas sei, desto mehr blende es die Augen, anstatt die Seele zu rühren.

Sie sagte mir: »Meine Tochter ist vollkommen glücklich; der Marchese ist ein ausgezeichneter Mensch, der sich, abgesehen von seinen Gichtanfällen, einer vortrefflichen Gesundheit erfreut. Sein größter Schmerz ist, daß er keinen Nachfolger hat; aber er weiß diesen Kummer zu verbergen. Seine Philosophie wird auf eine harte Probe gestellt; denn unter seinen zehn oder zwölf Neffen hat er keinen einzigen gefunden, der es verdiente, wegen seiner körperlichen oder geistigen Eigenschaften von ihm ausgezeichnet zu werden. Sie sind alle häßlich, mürrisch und von plumpen Lehrern und unwissenden Priestern wie richtige Bauern erzogen worden; darum liebt der Marchese sie so wenig.«

»Aber ist denn Leonilda wirklich glücklich?«

»Sehr glücklich, obgleich sie in dem von ihr geliebten Gemahl nicht den Liebhaber findet, dessen sie in ihrem Alter bedürfte.

»Ihr Mann scheint mir wenig zur Eifersucht veranlagt zu sein.«

»Eifersüchtig ist er gar nicht, und ich bin überzeugt, wenn Leonilda einen ausgezeichneten Liebhaber gefunden hätte, so würde der Marchese mit seinem hohen Geiste diesen aufs freundschaftlichste behandeln. Auch bin ich überzeugt, daß er hoch erfreut wäre, wenn ein so schöner Boden von einem anderen befruchtet würde, da es ihm selber nicht gelungen ist, ihn zu befruchten.«

»Kann er tatsächlich die Gewißheit haben, daß er nicht der Vater sein kann, wenn sie ihm ein Kind schenkt?«

»Nein; denn wenn er gesund ist, tut er, was er kann; indessen ist augenscheinlich keine Aussicht mehr vorhanden, daß seine Zärtlichkeit glückliche Folgen haben kann. In den ersten sechs Monaten ihrer Ehe hatte meine Tochter einigen Grund zur Hoffnung; seitdem sind aber die Gichtanfälle so zahlreich und so stark geworden, daß sie befürchten muß, eine übermäßige Zärtlichkeit könne die verhängnisvollsten Folgen haben. Es macht ihr daher den größten Schmerz, wenn der Marchese zuweilen von seinem Gefühl getrieben wird, sich ihr als Gatte zu nahen.«

In meiner Bewunderung für die unverwüstliche Schönheit Lucrezias begann ich ihr die Gefühle auszusprechen, die sie von neuem in meinem Herzen erweckte; da erschien in dem Laubgang, worin wir spazieren gingen, die Marchesa mit einem Pagen und einem jungen Mädchen.

Ich begrüßte sie mit der größten Ehrerbietung, und sie beantwortete diese, wie wenn wir uns verabredet hätten, mit der adligsten Höflichkeit.

»Ich komme,« sagte sie zu mir, »um eine Angelegenheit in Ordnung zu bringen, die für mich von der größten Wichtigkeit ist; denn wenn ich mit meinen Bemühungen scheitern sollte, werde ich alle diplomatische Bedeutung verlieren, die ich in den Augen meines Gatten besitze.«

»Wer ist denn der Mensch, bei dem Sie, schöne Marchesa, fürchten können, sich ohne Erfolg zu bemühen?«

»Sie selber sind es.«

»Wenn ich es bin, so ist Ihre Sache bereits gewonnen, denn ich gebe Ihnen Vollmacht, bevor ich noch weiß, worum es sich handelt. Ich behalte mir nur einen einzigen Punkt vor.«

»Um so schlimmer; denn dieser Punkt könnte der einzige von Bedeutung sein, der Stein des Anstoßes. Nennen Sie ihn mir, bitte, bevor ich spreche.«

»Ich wollte nach Rom abreisen, da sagte Abbate Galiani mir, Donna Lucrezia sei hier bei Ihnen. Ich habe meine Maßregel getroffen, damit ein Umweg von sechzig Miglien nicht meine Geschäfte stört.«

»Kann denn eine kleine Verzögerung irgendwelchen Einfluß auf Ihr Glück üben? Sind Sie denn nicht Ihr eigener Herr? Von wem hängen Sie ab? Sie sehen, da bin ich schon mitten in meiner diplomatischen Verhandlung!«

»Rufen Sie, bitte, die Heiterkeit auf Ihr schönes Gesicht zurück. Ihre Wünsche sind Befehle, die das Glück meines Lebens nur vermehren können. Ich war bis jetzt mein eigener Herr, aber von diesem Augenblick ab bin ich es nicht mehr, denn ich stelle mich ganz und gar Ihnen zur Verfügung.«

»Vortrefflich. So befehle ich Ihnen denn, einige Tage mit uns auf einem Landgut zu verbringen, das nur anderthalb Stunden von hier liegt. Mein Mann wird sich hintragen lassen. Sie erlauben mir, in Ihren Gasthof zu schicken und Ihr Gepäck abholen zu lassen?«

»Hier ist mein Zimmerschlüssel, köstliche Marchesa. Glücklich der Sterbliche, dem Sie erlauben, Ihnen zu gehorchen.« Leonilda gab den Schlüssel dem Pagen, der ein sehr hübscher Junge war, und befahl ihm, dafür zu sorgen, daß alles nach dem Schloß gebracht würde.

Ihre Kammerjungfer oder Gesellschaftsdame war eine Blondine. Ich machte zu Leonilda über sie eine Bemerkung in französischer Sprache, ohne zu wissen, daß das Fräulein Französisch verstand; aber sie lächelte und sagte ihrer Herrin, ich hätte sie gekannt.

»Wann habe ich dieses Vergnügen gehabt, mein Fräulein?«

»Vor neun Jahren. Sie haben mehrere Male mit mir gesprochen und mich oft geärgert.«

»Aber wo denn, bitte?«

»Bei der Herzogin von Matalone, der jetzigen Prinzessin von Caramanica.«

»Das kann wohl sein, und ich glaube mich jetzt auf Sie zu besinnen; aber es tut mir leid, mein Fräulein, mich nicht erinnern zu können, daß ich Sie geärgert habe.«

Die Marchesa und ihre Mutter lachten und amüsierten sich über unser Gespräch. Sie drangen in uns, zu sagen, wie ich sie geärgert hätte; sie sagte aber nur, ich hätte sie gefoppt. Ich glaubte mich zu erinnern, daß ich ihr einige Küsse geraubt hatte, und überließ es den Damen, sich zu denken, was sie wollten.

Als Kenner des menschlichen Herzens fand ich, daß Anastasia – so hieß sie – mir sehr weit entgegen kam, indem sie mir diesen Vorwurf machte, daß sie aber zugleich sehr ungeschickt war; denn wenn sie mir wirklich noch böse war, so mußte sie schweigen und einen besseren Zeitpunkt wählen.

»Mir scheint,« sagte ich zu ihr, »Sie waren damals viel kleiner und sind seitdem auch runder geworden.«

»Ich war erst zwölf oder dreizehn Jahre alt. Sie haben sich ebenfalls sehr verändert.«

»Ja, ich bin älter geworden.«

Anastasia verließ uns, und wir sprachen von dem verstorbenen Herzog von Matalone.

Wir setzten uns in eine reizende Grotte, und da wir allein waren, so überließen wir uns dem Vergnügen, uns mit den zärtlichen Namen Papa und Tochter anzureden. Diese Namen erlaubten uns Freiheiten, die zwar unvollkommen, aber nichtsdestoweniger eigentlich verbrecherisch waren.

Die Marchesa glaubte meinen Überschwang besänftigen zu müssen, indem sie mit mir von ihrem guten Mann sprach.

Als Donna Lucrezia mich in höchster Bewegung ihre Tochter in den Armen halten und Leonilda lebhaft bewegt sah, bat sie uns, vernünftig zu sein und den Spaß nicht zu weit zu treiben; hierauf entfernte sie sich nach der anderen Seite des Gartens.

Ihre Worte im Verein mit ihrem uns so bequemen Fortgehen bewirkten das Gegenteil von dem, was sie gesagt hatte; denn obwohl wir entschlossen waren, das doppelte Verbrechen nicht zu begehen, waren wir einander so nahe, daß wir durch eine fast unwillkürliche Bewegung es vollzogen. Wenn wir mit Vorbedacht gehandelt hätten, hätten wir es nicht besser machen können.

Unbeweglich blieben wir liegen und sahen einander an, ohne die Stellung zu ändern. Ernst und stumm überließen wir uns unseren Gedanken und waren erstaunt, uns weder schuldig zu finden noch Reue zu verspüren.

Wir brachten unsere Kleider in Ordnung; die Marchesa saß wieder neben mir und nannte mich ihren lieben Gatten, während ich sie meine liebe Frau nannte.

Wir besiegelten durch die zärtlichsten Küsse das neue Band, das uns vereinte. Wir waren in unserer gegenseitigen Zärtlichkeit so versunken, daß Lucrezia hoch erfreut war, als sie uns so ruhig fand.

Leonilda und ich brauchten uns nicht zu verabreden, daß wir schweigen mußten. Donna Lucrezia war eine geistvolle Frau, aber die ganzen Umstände mußten uns verhindern, ihr etwas anzuvertrauen, was sie nicht zu wissen brauchte.

Wir waren überzeugt, daß sie uns nur darum allein gelassen hatte, um nicht Zeuge dessen zu sein, was wir nach ihrer bestimmten Annahme tun würden.

Nachdem wir uns noch eine Zeitlang unterhalten hatten, gingen wir mit Anastasia, die wir allein in der Allee wiedergefunden hatten, nach dem Schloß zurück.

Der Marchese empfing seine Frau mit großer Freude und wünschte ihr Glück zu dem Erfolge ihrer Unterhandlung. Mir schüttelte er die Hand, dankte mir und versicherte, auf dem Lande werde ich viel besser wohnen als in den Gemächern, in die man meine Koffer gebracht hätte.

»Sie werden doch nicht böse sein, liebe Schwiegermutter, daß Sie unseren Freund zum Nachbarn haben?«

»Nein, mein lieber Schwiegersohn, aber wir werden vernünftig sein, denn unsere schöne Zeit ist vorbei.«

»Ich glaube, was ich will, meine Liebe; jedenfalls würde ich dafür nicht die Hand ins Feuer legen, denn ich könnte mich verbrennen.«

Der gute alte Herr war geistreich, frohsinnig und machte gern einen Witz.

Man deckte für fünf Personen an einem großen Tisch, und als aufgetragen war, sah ich einen alten Priester eintreten, der sich mit zu Tisch setzte, ohne einen von uns anzusehen. Niemand sprach ein Wort mit ihm.

Der hübsche Page trat hinter den Stuhl der Marchesa, und zehn bis elf Lakaien liefen hin und her, um uns zu bedienen.

Da ich mittags nur meine Suppe gegessen hatte, so aß ich wie ein Menschenfresser, denn abgesehen davon, daß ich Hunger und einen ausgezeichneten Appetit hatte, besaß der Marchese einen ausgezeichneten französischen Koch.

Der Marchese kreischte vor Vergnügen, als er mich unter den leckeren Gerichten aufräumen sah, mit denen die Tafel besetzt war. Er sagte mir: das einzige, was seiner schönen Lebensgefährtin fehle, um eine ganz vollendete Frau zu sein, sei ein guter Appetit, denn sie esse ebensowenig wie ihre Mutter. Von köstlichen Weinen in fröhliche Stimmung versetzt, vergnügten wir uns nach Tisch in heiteren Gesprächen, und da wir Französisch sprachen, das der Priester nicht verstand, so entfernte er sich, nachdem er das gratias agimus gesagt hatte.

Der Marchese sagte mir, dieser Geistliche bekleide in seinem Hause seit zwanzig Jahren die Stelle des Beichtvaters, aber er habe noch niemals einem von der Familie die Beichte abgenommen. Er sagte mir, ich müßte mich in Gegenwart dieses Ignoranten in acht nehmen, aber nur, wenn ich Italienisch spräche; auf Französisch könnte ich sagen, was ich wollte.

Ich war in so lustiger Stimmung, daß ich die Gesellschaft bis ein Uhr nach Mitternacht bei Tische hielt.

Bevor wir auseinandergingen, sagte der Marchese uns, wir würden nach dem Mittagessen abfahren, und er würde eine Stunde nach uns ankommen. Er versicherte seiner Frau, er befinde sich sehr wohl und hoffe, sie zu überzeugen, daß ich ihn um zehn Jahre verjüngt habe. Leonilda umarmte ihn zärtlich und bat ihn, sich doch ja mit seiner Gesundheit in acht zu nehmen.

»Ja, ja!« antwortete der Marchese; »aber erwarte meinen Besuch!«

»Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht und in neun Monaten einen kleinen Marchese!«

»Stellen Sie den Wechsel aus!« rief er; »morgen früh werde ich ihn akzeptieren.«

»Ich verspreche dir,« sagte Leonilda, »mein möglichstes zu tun, damit du nicht Bankerott machst.«

Donna Lucrezia führte mich in mein Zimmer, übergab mich dort einem großen Lakaien und wünschte mir gute Nacht.

Ich schlief acht Stunden in einem ausgezeichneten Bett; als ich mich angekleidet hatte, führte meine Lucrezia mich zum Frühstück zu der Marchesa, die bereits bei der Toilette war.

»Kann ich ruhig den Neunmonats-Wechsel ziehen?« fragte ich.

»Es wäre wohl möglich, daß er bezahlt würde, mein lieber Freund!«

»Im Ernst?«

»Ja, allen Ernstes. Und dir wird mein guter Gatte das Glück verdanken, wonach er sich am meisten sehnt. Er hat es mir gesagt, als er vor einer Stunde mich verließ.«

»Ich werde glücklich sein, zu Ihrem beiderseitigen Glück beigetragen zu haben.«

Leonilda war frisch wie eine Rose und strahlte vor Glück. Ich hätte sie mit Küssen bedecken mögen, aber ich mußte mich zurückhalten, denn sie war von ihren Zofen umgeben, lauter jungen und hübschen Mädchen.

Um etwaigen Verdacht leichter abzulenken, machte ich Anastasia den Hof, und Leonilda tat, wie wenn sie mich ermutigte.

Ich spielte den leidenschaftlich Verliebten und konnte leicht sehen, daß es mir wenig Mühe kosten würde, erhört zu werden. Infolgedessen hielt ich mich in engen Grenzen, um nicht beim Wort genommen zu werden, denn ich fürchtete die Verlegenheit des Überflusses.

Zum Frühstück begaben wir uns zum Marchese, der bereits auf uns wartete und mich mit Beteuerungen seiner aufrichtigen Freude empfing. Seine Gesundheit wäre ausgezeichnet gewesen, wenn er nicht die Gicht gehabt hätte. Diese verhinderte ihn, sich zu bewegen, denn die leiseste Berührung machte ihm große Schmerzen.

Nach dem Frühstück hörten wir die Messe, und ich sah bei dieser Gelegenheit mehr als zwanzig männliche und weibliche Dienstboten; hierauf leistete ich dem Marchese bis zum Mittagessen Gesellschaft. Er sagte mir, er wisse meine Herzensgüte zu schätzen, die mich veranlaßt habe, ihm zuliebe die Gesellschaft seiner Frau und Schwiegermutter aufgeopfert zu haben. Er war überzeugt, daß ich immer noch in Donna Lucrezia verliebt war.

Nach dem Mittagessen fuhren wir nach seinem Landgute, ich mit den beiden Damen in einem guten Wagen, er in einer bequemen Sänfte, die von zwei Maultieren getragen wurde.

In anderthalb Stunden kamen wir nach seinem schönen und großen Schloß, das in herrlicher Gegend zwischen Vicenza und Battipaglia lag.

Da ihre Zofen noch nicht angekommen waren, führte die Marchesa mich in den Park, wo sie sich von neuem meiner neuerwachten Zärtlichkeit überließ. Wir verabredeten, daß ich in ihre Gemächer nur kommen sollte, um Anastasia den Hof zu machen; denn wir mußten es vermeiden, auch nur den geringsten Verdacht zu erregen. Diese vorgebliche Neigung mußte sogar den Marchese belustigen, dem sie natürlich davon erzählen würde. Donna Lucrezia fand diesen Plan sehr gut, denn sie wünschte nicht, daß der Marchese sich einbilden sollte, ich wäre nur ihretwegen in Salerno geblieben. Meine Zimmer stießen an die der Marchesa an, aber ich konnte nur durch das Zimmer Anastasiens zu ihr gelangen, und in diesem befand sich außer ihrer Gesellschafterin noch eine andere Kammerzofe, die noch hübscher war als sie.

Eine Stunde darauf kam der Marchese mit allen Bedienten an. In einem bequemen Tragstuhl sitzend, war er so freundlich, mir die schönsten Stellen seines Parkes zu zeigen, während seine Frau und Schwiegermutter die Einrichtung im Schloß überwachten. Nach dem Abendessen fühlte er sich sehr ermüdet und ging zu Bett, indem er mich mit den Damen allein ließ.

Nachdem wir noch einige Augenblicke geplaudert hatten, begleitete ich die Marchesa auf ihr Zimmer. Als ich sie verlassen wollte, sagte sie mir, ich könnte durch das Zimmer ihrer Zofe nach meinen Gemächern gehen. Zugleich befahl sie Anastasien, mich zu führen.

Die Höflichkeit verpflichtete mich, mich wegen eines solchen Glückes erfreut zu zeigen, und ich sagte der Schönen: »Ich hoffe, Sie werden nicht so mißtrauisch gegen mich sein, daß Sie sich einschließen, obgleich ich neben Ihnen schlafe.«

»Ich habe gegen keinen Menschen Mißtrauen, aber ich werde meine Türe schließen, weil dies meine Pflicht ist. Dieses Zimmer ist das Kabinett meiner Herrin, und ich schlafe nicht allein darin; meine Kameradin aber könnte es eigentümlich finden, wenn ich gegen meine Gewohnheit die Türe offen ließe.«

»Diese Gründe sind sehr verständig, und ich muß Ihnen beipflichten; aber, schöne Anastasia, wollen Sie sich nicht einen Augenblick zu mir setzen, damit ich mich erinnere, wie ich Sie einstmals habe ärgern können.«

»Nein, ich will mich dessen nicht mehr erinnern, und ich bitte Sie, mir zu gestatten, daß ich gehe.«

»Daran kann ich Sie nicht verhindern«, sagte ich, indem ich sie an mich zog, und nachdem ich sie geküßt hatte, was sie mir erlauben zu sollen glaubte, wünschte ich ihr gute Nacht.

Sobald sie fort war, trat mein Bedienter ein; ich sagte ihm, in Zukunft würde ich mich allein auskleiden. Am anderen Morgen erzählte die Marchesa mir lachend die ganze Unterhaltung, die ich mit Anastasia gehabt hatte. Diese hatte ihr nichts verschwiegen. Leonilda sagte: »Ich habe sie wegen ihres Widerstandes gelobt, ihr aber gesagt, sie könne Ihnen abends alle Dienste anbieten, deren Sie vielleicht bedürften.«

Leonilda verfehlte nicht, ihren Gemahl mit dieser kleinen Geschichte zu ergötzen; der gute Marchese glaubte allen Ernstes, ich sei in das Zöfchen verliebt, und neckte mich damit nach dem Essen. Am Abend ließ er sie mit uns soupieren, und so mußte ich denn mit größtmöglichem Anstande dem Mädchen gegenüber die Rolle des Verliebten spielen. Anastasia fühlte sich sehr geschmeichelt, daß ich ihr den Vorzug vor ihrer reizenden Herrin gab, und daß diese die Güte hatte, unsere gegenseitige Neigung nicht zu mißbilligen.

Dem Marchese machte diese kleine Intrige viel Spaß, denn indem er mir Gelegenheit gab, diese Komödie zu spielen, glaubte er zugleich mich zu veranlassen, meinen Aufenthalt in seinem Hause zu verlängern.

Am Abend begleitete Anastasia mich mit einer Kerze in mein Zimmer, und da sie sah, daß ich keinen Bedienten hatte, bestand sie darauf, mein Haar für die Nacht zurecht zu machen. Sie fühlte sich geschmeichelt, daß ich es nicht wagte, mich in ihrer Gegenwart zu Bett zu legen, und saß länger als eine Stunde bei mir. Da ich nicht in sie verliebt war, kostete es mir keine Mühe, den schüchternen Liebhaber zu spielen. Als sie mir gute Nacht wünschte, bemerkte sie mit Vergnügen, daß meine Küsse zärtlich, aber nicht so glühend waren wie am Tage vorher.

Am anderen Morgen sagte die Marchesa zu mir: »Wenn das, was Anastasia mir gesagt hat, wahr ist, so muß ihre Gegenwart Ihnen wohl lästig sein; denn ich weiß, wenn Sie sie liebten, so würden Sie nicht schüchtern sein.«

»Sie ist mir in keiner Weise unbequem; denn die Szenen mit ihr sind hübsch und sogar unterhaltend; aber ich wundere mich, wie du dir einbilden kannst, daß ich sie lieben kann; wir haben doch abgemacht, es sollte nur ein Spiel sein, um Späherblicke zu täuschen und Neugierige auf einen falschen Weg zu führen.«

»Anastasia glaubt, daß du sie anbetest, und es ist mir nicht unangenehm, wenn du ihr etwas Geschmack an der Galanterie beibringst.«

»Wenn ich sie dahin bringen kann, daß sie die Tür offen läßt, werde ich mich leicht zu dir begeben können, ohne daß sie davon das geringste merkt; denn wenn ich sie verlasse, nachdem ich sie amüsiert habe, wird sie nicht auf den Gedanken kommen können, daß ich in dein Zimmer gehe, anstatt in das meinige zurückzukehren.«

»Sei nur vorsichtig in allen deinen Maßregeln!«

»Sei unbesorgt; ich werde den Plan schon heute Abend einfädeln.«

Der Marchese und Lucrezia glaubten, daß ich mich wie ein verschwiegener Mann benehme; aber sie zweifelten nicht einen Augenblick daran, daß Anastasia jede Nacht bei mir schliefe, und sie freuten sich darüber.

Den ganzen Tag verbrachte ich mit dem guten Marchese, den ich dadurch glücklich machte, wie er sagte. Ich brachte ihm durchaus kein Opfer, denn ich liebte seine Ansichten und seinen Geist. Bei diesem dritten Abendessen war ich gegen Anastasia noch zärtlicher und zuvorkommender als für gewöhnlich, und sie war sehr erstaunt, als sie mich auf meinem Zimmer kühl fand; aber sie ließ sich nichts merken, sondern sagte: »Es freut mich, daß Sie ein bißchen ruhiger sind, denn beim Abendessen machten Sie mir Angst.«

»Ich denke mir, Sie glauben in Gefahr zu sein, wenn Sie mit mir allein sind.«

»Durchaus nicht; ich glaube nur, Sie sind jetzt viel vernünftiger, als Sie vor neun Jahren waren.«

»Was für Torheiten habe ich denn damals gemacht?«

»Keine Torheiten; aber Sie haben meine kindliche Unschuld nicht respektiert.«

»Ich habe Ihnen unbedeutende kleine Liebkosungen erwiesen, und das tut mir leid; denn diese sind schuld, daß Sie heute auf Ihrer Hut sein und sich in Ihrem Zimmer einschließen zu müssen glauben.«

»Ich tue das nicht aus Mißtrauen gegen Sie, sondern aus den Gründen, die Sie bereits anerkannt haben, übrigens könnte ich ja auch sagen, daß Sie aus einem gewissen Mißtrauen sich nicht zu Bett legen, solange ich bei Ihnen bin.«

»Da halten Sie mich doch für sehr eingebildet! Ich werde zu Bett gehen, aber Sie dürfen sich erst entfernen, nachdem Sie mir einen Kuß gegeben haben.«

»Das verspreche ich Ihnen.«

Ich legte mich zu Bett, und Anastasia verbrachte eine halbe Stunde an meiner Seite. Es kostete mir große Mühe, sie unberührt zu lassen; aber ich hielt mich zurück, weil ich befürchtete, sie würde der Marchesa alles erzählen.

Als sie mich verließ, gab Anastasia mir einen so heißen Kuß, daß ich mich nicht länger halten konnte; ihre Hand, von der meinigen gefühlt, zeigte ihr, welche Macht sie über meine Sinne ausüben konnte. Sie ging hinaus, und ich will die Frage nicht entscheiden, ob meine Zurückhaltung sie mehr erfreute oder ärgerte.

Ich war sehr neugierig, in welcher Weise sie das Vorkommnis der Marchesa erzählen würde, und es war mir nicht unlieb, als ich am anderen Morgen erfuhr, daß sie die Hauptsache verschwiegen hatte; denn nun wußte ich, daß sie die Türe offen lassen würde, und so versprach ich denn meiner lieben Marchesa, zwei Stunden mit ihr zuzubringen.

Als ich mich am Abend wieder mit Anastasia unterhielt, forderte ich sie auf, mir dasselbe Vertrauen zu bezeigen, das ich am Abend vorher ihr gegenüber gehabt hätte. Sie antwortete mir, das würde sie ohne Bedenken tun, unter der Bedingung, daß ich meine Kerze ausbliese und niemals meine Hand nach ihr ausstreckte. Ich versprach ihr dies und war gewiß, daß ich mein Wort halten würde, denn ich durfte mich nicht der Gefahr aussetzen, bei Leonilda eine klägliche Figur zu spielen.

Ich zog mich in aller Eile aus, ging barfuß in Anastasias Zimmer und legte mich neben sie.

In ihr langes Hemd eingehüllt, hielt sie meine Hände fest. Ich machte gar keine Anstrengungen, diese zu befreien, und sie hielt das für einen Rest von verliebter Ehrfurcht. Um ihre Kameradin nicht zu wecken, sprachen wir kein Wort. Nur unsere Lippen waren an der Arbeit und einige Bewegungen, die in dieser Lage sehr natürlich waren, mußten in ihr den Glauben erwecken, daß ich Folterqualen litte. Die halbe Stunde, die ich bei ihr verbrachte, erschien mir über alle Maßen lang, während ich annehmen durfte, daß sie für sie köstlich gewesen war; denn sie konnte sich einbilden, daß sie mit mir anstellen könnte, was sie wollte.

Als ich sie verließ, umarmte ich sie mit einer Art von Verzückung; hierauf ging ich in mein Zimmer, indem ich die Tür offen ließ. Als ich annehmen konnte, daß sie eingeschlafen wäre, ging ich auf den Fußspitzen durch ihr Zimmer und gelangte ohne Hindernis zu meiner Leonilda, die mich erwartete, mein Kommen jedoch erst bemerkte, als sie meinen Mund auf ihren Lippen fühlte.

Nachdem ich ihr einen kräftigen Beweis meiner Zärtlichkeit gegeben hatte, erzählte ich ihr alles, was zwischen mir und Anastasia vorgefallen war; hierauf erneuerte ich meine Liebestaten, die sie mit unbeschreiblicher Glut erwiderte. Ich verließ sie, nachdem wir zwei so köstliche Stunden verbracht hatten, wie die Wollust sie nur je ersinnen konnte, und wir versprachen uns, daß es nicht die letzten sein sollten. Ich kam in mein Zimmer zurück, ohne daß jemand aufwachte.

Ich stand erst mittags auf, und der Marchese und seine Frau neckten mich damit beim Mittagessen. Beim Abendessen scherzten sie darüber mit Anastasia, die sich sehr gut zu benehmen wußte. Sie sagte mir am Abend, sie würde ihre Tür nicht schließen, aber es wäre nicht gut, daß ich sie aufsuchte, denn dies wäre gefährlich; es wäre besser, wenn wir in meinem Zimmer plauderten, wo wir die Kerze nicht auszulöschen brauchten. Damit sie sicher wäre, daß sie mich nicht störte, bäte sie mich, zu Bett zu gehen.

Ich konnte nicht nein sagen, aber ich hoffte bestimmt, daß nichts vorfallen würde, was mich verhindern könnte, Leonilda aufzusuchen, nachdem Anastasia eine Stunde mit mir verbracht hätte.

Ich hatte, wie man zu sagen pflegt, die Rechnung ohne den Wirt gemacht.

Ich lag im Bett und hielt Anastasia in meinen Armen. Während sie mich küßte, sagte ich ihr so nebenbei, sie würde doch wohl nicht genug Vertrauen zu mir haben, um sich zu entkleiden und sich an meine Seite zu legen.

Auf diese Herausforderung antwortete sie mir mit der Frage, ob ich auch recht vernünftig sein würde.

Hätte ich mit nein geantwortet, so wäre ich ein Dummkopf gewesen. Ich sagte ihr also notgedrungen ja und beschloß augenblicklich, das hübsche Mädchen glücklich zu machen, denn es hatte in der vorhergehenden Nacht genug gegen sich selber gekämpft.

In einem Augenblick lag sie liebeglühend in meinen Armen; sie dachte nicht daran, mich aufzufordern, ihr mein Wort zu halten.

Der Appetit kommt beim Essen. Ihre Glut machte mich verliebt, und da sie all ihre Reize mir zur Schau stellte, huldigte ich ihr ununterbrochen, bis ich vor Ermattung einschlief. Anastasia verließ mich, ohne daß ich etwas davon merkte; als ich erwachte, fand ich es sehr lächerlich, der Marchesa sagen zu müssen, welches Hindernis ohne mein Zutun mich vom nächtlichen Besuch abgehalten hatte. Ich sah, daß ich Anastasias Beute geworden war; denn ich konnte sie doch nicht gut wegschicken, nachdem ich eine Stunde mit ihr getändelt hatte; außerdem hätte sie dann ihre Türe geschlossen, und ich hätte keinen Vorwand gehabt, von ihr zu verlangen, daß sie sie offen ließe. Und dann: was wäre für die Marchesa übrig geblieben, nachdem Anastasia ihren Teil erhalten hätte?

Als ich meiner Leonilda das Abenteuer erzählte, lachte sie laut auf. Sie sah, wie ich, daß ich nichts mehr für sie tun konnte. Wir fanden uns damit ab, und während der fünf oder sechs Tage, die wir noch beisammen blieben, sah ich sie nur drei- oder viermal verstohlen in den Gartenhäusern.

Ich mußte Anastasia jede Nacht in meinem Bett empfangen, und sie sah gewiß in mir einen Verräter, als ich mich weigerte, sie mit mir nach Rom zu nehmen.

Der gute Marchese bereitete mir am Tage vor meiner Reise eine eigentümliche Überraschung. Als ich mit ihm allein war, sagte er mir ohne lange Vorrede, er habe vom Herzog von Matalone erfahren, warum ich seine Frau nicht geheiratet habe, und er habe es stets bewundert, daß ich ihr die fünftausend Dukaten geschenkt habe, obwohl ich nicht reich gewesen sei.

»Diese fünftausend Dukaten,« fuhr er fort, »nebst sechs- oder siebentausend, die sie der Freigebigkeit des Herzogs verdankt, bildeten Leonildas Mitgift; ich habe ein Witwengeld von hunderttausend Dukaten hinzugefügt, so daß eine schöne Existenz ihr gesichert ist, selbst wenn ich ohne Leibeserben sterben sollte. Nachdem Sie mich nun durch Ihren Aufenthalt bei mir glücklich gemacht haben, habe ich eine Bitte an Ihre Freundschaft, nämlich, daß Sie mir gestatten, Ihnen die fünftausend Dukaten zurückzugeben, die Sie meiner Leonilda geschenkt haben. Sie selber wünscht Ihnen diesen Beweis aufrichtiger Freundschaft zu liefern. Ich habe ihren edlen Wunsch bewundert, aber die Summe muß aus meinem Geldschrank fließen. Sie hat es nicht gewagt, Ihnen dieses selber zu sagen, und Sie dürfen Ihr dieses Zartgefühl nicht übel nehmen!«

»Ich würde allerdings, mein würdiger Marchese, von Leonilda diese Summe nicht angenommen haben, aber von Ihnen nehme ich sie als ein Zeichen Ihrer Freundschaft. Diese Handlungsweise enthüllt Ihre schöne Seele, und wenn ich mich weigern wollte, so wäre dies übel angebrachter Stolz; denn ich bin nicht reich. Ich wünsche nur, daß Leonilda und ihre Mutter zugegen sind, wenn Sie mir dieses Geschenk machen.«

»Umarmen Sie mich, lieber Freund! Die Sache soll nach dem Essen abgemacht werden.«

Neapel war für mich stets der Tempel des Glücks. Wenn ich jetzt hinginge, würde ich dort verhungern. Das Glück verachtet das Alter.

Leonilda und Lucrezia weinten Freudentränen, als der gute Marchese mir die fünftausend Dukaten in Banknoten übergab und eine gleiche Summe seiner Schwiegermutter schenkte, um ihr dafür zu danken, daß sie ihm die Bekanntschaft mit mir verschafft hätte.

Der Marchese war so diskret, mir den Hauptgrund zu verschweigen. Donna Lucrezia wußte nicht, daß der Herzog von Matalone ihm enthüllt hatte, wessen Tochter Leonilda war.

Dankbarkeit stimmte meine Heiterkeit für den Rest des Tages herab, und Anastasia verbrachte an meiner Seite eine ziemlich traurige Nacht.

Am anderen Morgen um acht Uhr reiste ich ab. Ich war sehr traurig, und wir weinten alle.

Ich versprach dem guten Marchese, ihm von Rom aus zu schreiben, und kam um elf Uhr in Neapel an.

Agata, die ich sofort aufsuchte, war sehr erstaunt über mein Erscheinen und sagte mir, sie hätte geglaubt, daß ich in Rom wäre. Ihr Gatte nahm mich mit der freimütigsten Freundschaft auf, obgleich er an jenem Tage sehr leidend war.

Ich sagte ihm, ich würde mit ihm speisen, aber sofort nach Tisch abreisen, und bat ihn, mir für die Banknoten, die ich ihm übergab, einen Wechsel von fünftausend Dukaten aus Rom zu besorgen.

Da Agata sah, daß ich zur Abreise entschlossen war, so versuchte sie nicht mehr, mich zurückzuhalten, und beeilte sich, Callimene kommen zu lassen.

Das gute Mädchen war außer sich vor Freude, als sie mich wiedersah; denn sie hatte geglaubt, ich wäre seit vierzehn Tagen in Rom, und hatte nicht mehr erwartet, mich noch einmal wiederzusehen.

Mein plötzliches Verschwinden und meine unerwartete Rückkehr bildeten das Geheimnis, das die Unterhaltung bei Tisch belebte; ich ließ jedoch die allgemeine Neugier unbefriedigt.

Um drei Uhr verließ ich diese liebenswürdigen Menschen, nachdem wir uns aufs zärtlichste umarmt hatten. Ich hielt erst in Montecasino an, das ich noch niemals gesehen hatte. Es war eine glückliche Idee von mir gewesen, denn ich fand dort den Prinzen Xaver von Sachsen, der unter dem Namen eines Grafen von der Lausitz mit der Signora Spinucci reiste. Diese Dame stammte aus der Stadt Fermo, und der Prinz hatte sie halb im geheimen geheiratet. Er befand sich seit drei Tagen in Montecasino, um die Erlaubnis des Papstes für Signora Spinucci abzuwarten; denn in der Ordensregel des heiligen Benedikt war es den Frauen ausdrücklich verboten, das Kloster zu betreten, und da die Dame dies Verbot für sich nicht anerkennen wollte, so blieb dem Gatten nichts anderes übrig, als den Heiligen Vater um einen Dispens zu bitten.

Ich übernachtete in Montecasino, nachdem ich alle Merkwürdigkeiten des Ordens besehen hatte. Dann fuhr ich ohne Aufenthalt bis Rom, wo ich bei Rolands Tochter am Spanischen Platz abstieg.

Siebzehntes Kapitel


Margherita. – Die Buonaccorsi. – Die Herzogin von Fiano. – Kardinal Bernis. – Die Prinzessin von Santa-Croce. – Menicuccio und seine Schwester.

Ich hatte mich entschlossen, sechs Monate in der größten Ruhe in Rom zu verbringen und mich nur mit dem Studium der Stadt zu beschäftigen, andere Bekanntschaften aber zu vermeiden. Am Morgen nach meiner Ankunft nahm ich eine hübsche Wohnung gegenüber dem Palast des spanischen Gesandten, damals Monsignore d’Aspura. Zufällig war es dieselbe Wohnung, die vor siebenundzwanzig Jahren der Sprachlehrer inne hatte, bei dem ich Stunden nahm, als ich beim Kardinal Acquaviva war. Die Wirtin war die Frau eines Kochs, der wöchentlich nur einmal bei seiner Frau schlief. Sie hatte eine Tochter von sechzehn oder siebzehn Jahren, die trotz ihrer etwas dunklen Hautfarbe sehr hübsch gewesen wäre, wenn nicht die Pocken sie eines Auges beraubt hätten. Man hatte ihr ein falsches Auge eingesetzt, dessen Farbe und Größe nicht zu dem natürlichen Auge paßten, und dies verlieh ihr ein geradezu unangenehmes Aussehen. Margherita, so hieß meine junge Wirtstochter, machte durchaus keinen Eindruck auf mich; trotzdem machte ich ihr ein Geschenk, das ihr unendlich wertvoll war. Ein englischer Augenarzt, Ritter Taylor genannt befand sich damals in Rom; durch ihn ließ ich ihr ein Emailleauge machen, das ihrem echten Auge täuschend ähnlich war. Dieses Geschenk brachte Margherita auf den Gedanken, daß ich mich binnen vierundzwanzig Stunden in sie verliebt hätte, und ihre Mutter, die sehr fromm war, schwebte in großer Angst, ihr Gewissen zu belasten, indem sie ein voreiliges Urteil über meine Absichten fällte. Dies alles entdeckte ich sehr bald, da ich mit Margherita sehr gut bekannt wurde.

Ich vereinbarte mit der Mutter den Preis für gutes, aber nicht übertriebenes Mittag- und Abendessen. Da ich dreitausend Zechinen besaß, so nahm ich mir vor, so zu leben, daß ich in Rom nicht nur keines Menschen bedürfte, sondern sogar eine anständige Rolle spielen könnte.

Am nächsten Tage fand ich Briefe auf mehreren Postämtern vor, und der Bankvorsteher Belloni, der mich seit langer Zeit kannte, war von den Wechseln, die ich überbrachte, bereits in Kenntnis gesetzt. Herr Dandolo, stets mein getreuer Freund, schickte mir zwei Empfehlungsbriefe, von denen der eine an den venetianischen Gesandten Erizzo adressiert war. Es war der Bruder des früheren Gesandten in Paris. Dieser Brief machte mir das größte Vergnügen. Der andere war an die Herzogin von Fiano von ihrem Bruder, Herrn von Zuliani, gerichtet.

Ich sah mich also in der Lage, zu allen großen Häusern Roms Zutritt zu erhalten, und machte mir ein wahres Vergnügen daraus, mich dem Kardinal Bernis erst vorzustellen, wenn ich bereits in der ganzen Stadt bekannt wäre.

Ich nahm weder Wagen noch Bedienten; denn dies ist in Rom durchaus nicht notwendig, da man dort beides sofort findet, wenn das Bedürfnis sich geltend macht.

Mein erster Besuch galt der Herzogin von Fiano. Sie war sehr häßlich und nicht eben reich, aber sie hatte einen ausgezeichneten Charakter, obgleich sie, um ihren Mangel an Geist zu verdecken, den Entschluß gefaßt hatte, recht boshaft zu sein, damit man sie für geistreich hielte.

Ihr Gemahl, der Herzog, der auch den Namen Ottoboni trug, hatte sie nur geheiratet, um sich einen Erben zu verschaffen. Aber der arme Teufel war babilano, wie man in Rom sagt, mit anderen Worten impotent. Dies vertraute die gute Herzogin mir schon bei meinem dritten Besuch an. Sie sagte es mir jedoch nicht in einem Ton, wie wenn sie ihn nicht liebte, oder wie wenn sie bedauert oder getröstet werden wollte, sondern nur um sich über ihren Beichtvater lustig zu machen, dem sie diesen Umstand anvertraut hatte, und der ihr gedroht hatte, ihr die Absolution zu verweigern, wenn sie fortführe, sich über den Zustand ihres Gemahls zu beklagen, und wenn sie irgendein Mittel anwendete, um ihn von seiner Ohnmacht zu heilen.

Die Herzogin gab jeden Abend ihrem aus sieben oder acht Personen bestehenden Kreise ein kleines Souper; zu diesen Mahlzeiten wurde ich erst nach zehn Tagen zugelassen, als alle mich kannten und meine Gesellschaft zu lieben schienen. Der Herzog war eine Art Uhu und liebte keine Gesellschaft; er speiste auf seinem Zimmer.

Der Fürst von Santa-Croce war der Cavaliere servente der Herzogin, und die Fürstin wurde vom Kardinal Bernis bedient. Die Fürstin war eine Tochter des Marchese Falconieri; sie war jung, hübsch, lebhaft und ganz dazu angetan, den Männern zu gefallen; aber sie war eifersüchtig auf den Besitz des Kardinals und ließ keiner anderen Dame die Hoffnung, ihren Platz einzunehmen.

Der Fürst war ein schöner Mann von edlen Manieren und mit einem recht scharfsinnigen Geist begabt, dessen er sich jedoch nur bediente, um geschäftliche Spekulationen zu machen; er war mit Recht überzeugt, daß er seiner vornehmen Geburt nichts vergab, indem er sein Vermögen durch Operationen vermehrte, zu denen vor allen Dingen Intelligenz nötig sei. Da er nicht gern Geld ausgab, so war er der Kavalier der Herzogin von Fiano geworden, weil diese ihm nichts kostete, und weil er außerdem nicht der Gefahr ausgesetzt war, sich in sie zu verlieben. Der Fürst war nicht fromm, aber er war Jesuit von der kurzen Robe in der vollsten Bedeutung des Wortes.

Als ich einige Wochen nach meiner Ankunft mich beklagte, daß einem Gelehrten so viele lästige Schwierigkeiten gemacht würden, wenn er in der römischen Bibliothek arbeiten wollte, erbot er sich, mich dem Superior des Hauses der Gesellschaft Jesu vorzustellen. Ich nahm sein Anerbieten an und wurde von einem der Bibliothekare empfangen, der mich allen Unterbeamten vorstellte; seitdem konnte ich nicht nur auf die Bibliothek gehen, so oft ich wollte, sondern auch die Bücher, die ich brauchte, in meine Wohnung schaffen lassen; ich hatte zu diesem Zweck nur meinen Namen und die Titel der gewünschten Bücher aufzuschreiben. Man brachte mir Kerzen, wenn man annahm, daß ich nicht mehr genügend Licht zum Lesen hätte, und trieb die Höflichkeit so weit, daß man mir die Schlüssel zu einer kleinen Seitentür gab, durch die ich zu allen Stunden eintreten konnte, oft sogar ohne gesehen zu werden.

Die Jesuiten sind stets die höflichsten von den Orden unserer Religion gewesen, ich muß sogar sagen: die einzigen höflichen; aber in der Krisis, in der sie sich damals befanden, waren sie von einer geradezu kriechenden Zuvorkommenheit.

Der König von Spanien verlangte die Unterdrückung des Ordens, und die Jesuiten wußten, daß der Papst sie ihm versprochen hatte; sie glaubten jedoch, der große Schlag könnte niemals geführt werden, und fühlten sich daher beinahe ganz sicher. Sie konnten sich nicht denken, daß der Papst eine übermenschliche Kraft hätte. Sie ließen sogar von dritter Seite darauf aufmerksam machen, daß seine Macht- Vollkommenheit nicht so weit ginge, ihren Orden ohne die Einwilligung eines Konzils aufzuheben; aber sie täuschten sich. Wenn der Pontifex maximus sich nur mit großer Mühe entschließen konnte, die Aufhebungsbulle zu unterzeichnen, so kam dies daher, daß er überzeugt war, mit der Bulle zugleich auch sein Todesurteil zu unterzeichnen; er entschloß sich daher erst dann dazu, als er sich in seiner Ehre bedroht sah. Der König von Spanien, der starrköpfigste aller Despoten, schrieb ihm mit eigener Hand: wenn er den Orden nicht aufhöbe, so würde er in allen europäischen Sprachen die Briefe drucken lassen, die er als Kardinal an ihn geschrieben hätte, und die ihn, den König, veranlaßt hätten, ihm die Tiara des heiligen Petrus auf das Haupt zu setzen.

Ein Papst mit einem anderen Kopf als Ganganelli würde dem König geantwortet haben, der Papst habe die Versprechungen eines Kardinals nicht zu halten, und die Jesuiten würden diese Doktrin unterstützt haben, die durchaus noch nicht die spitzfindigste unter den von den Anhängern des Probabilismus aufgestellten ist; aber Ganganelli liebte im Grunde die Kinder Loyolas nicht: er war Franziskanermönch und kein Edelmann von Geburt; seine Höflichkeit war bäuerisch, und sein Geist war nicht stark genug, um der Scham zu trotzen, die er gefühlt hätte, wenn er als ein Ehrgeiziger bloßgestellt worden wäre, der sein Wort brechen könnte, das er einem großen Herrscher gegeben hätte, um sich auf den Stuhl des vornehmsten Apostels setzen zu können.

Ich muß lachen, wenn ich sagen höre, Ganganelli hat sich durch das Einnehmen von Gegengiften vergiftet. Allerdings gebrauchte er Gegengifte und schützende Arzneien, weil er mit Recht befürchtete, daß man ihn vergiften würde. Er verstand nichts von Medizinen und hätte daher wohl einen solchen Fehler machen können; aber ich habe die moralische Gewißheit – wenn es überhaupt eine moralische Gewißheit gibt, daß der Papst wirklich an Gift starb, aber nicht an seinen Gegengiften.

Meine Gewißheit gründet sich auf folgendes:

In dem Jahre meines Aufenthaltes in Rom, dem dritten Regierungsjahr Klemens‘ des Vierzehnten, verhaftete man eine Frau aus Viterbo, die in einem rätselhaften Stil ganz überraschende Prophezeiungen aussprach. Sie weissagte in dunklen Ausdrücken die Zerstörung der Gesellschaft Jesu, ohne den Zeitpunkt anzugeben, wann dieses große Ereignis eintreten sollte; aber sie sagte sehr klar und deutlich: dieser religiöse Orden werde von einem Papst vernichtet werden, der nur fünf Jahre drei Monate und drei Tage regieren würde, genau so lange wie Sixtus der Fünfte, keinen Tag länger und keinen weniger.

Fast alle lachten über diese Weissagung, als eine Äußerung eines kranken Gehirns, und man sprach bald nicht mehr von der Sibylle von Viterbo, die man jedoch einsperrte.

Ich bitte meine Leser, mir zu sagen, ob ein urteilsfähiger, denkender Mensch an der Vergiftung Ganganellis noch zweifeln kann, da sein Tod die Prophezeiung wahr machte?

Hier gewinnt die moralische Gewißheit die ganze Kraft einer tatsächlichen Gewißheit. Derselbe Geist, der die Pythia von Viterbo abzurichten wußte, verstand es auch, seine Maßregeln so zu treffen, daß die Welt erfuhr, die Jesuiten hätten, wenn sie auch nicht ihre Unterdrückung verhindern konnten, jedenfalls nicht die Macht verloren, sich zu rächen, und wußten von dieser Macht Gebrauch zu machen. Der mächtige Jesuit, der dem Leben Ganganellis zur vorausbestimmten Stunde ein Ende machte, hätte ihn sicherlich vergiften können, bevor er das Breve der Aufhebung des Ordens unterzeichnet hatte; aber alles scheint dafür zu sprechen, daß die Nachfolger Loyolas die Sache erst dann für möglich hielten, als sie bereits vollbracht war. Hätte der Papst nicht den Jesuitenorden aufgehoben, so wäre er auch nicht vergiftet worden, und dann hätte die Weissagung auch nicht gelogen. Es ist zu bemerken, daß Klemens der Vierzehnte genau so wie Sixtus der Fünfte Franziskanermönch war, und daß beide von geringer Herkunft waren. Auffallenderweise wurde nach dem Tode des Papstes die Prophetin in Freiheit gesetzt, indem man sie für wahnsinnig erklärte. Man hörte niemals mehr von ihr sprechen, und obwohl die Prophezeiung durch das Ereignis bestätigt wurde, sagte man in allen gelehrten und adeligen Kreisen hartnäckig, der Papst sei an den Gegenmitteln gestorben, die er zum Schutz gegen Gift eingenommen habe.

Wer vorurteilslos und nicht voreingenommen ist, möge mir sagen, welches Interesse der Papst daran haben konnte, die Weissagung der Frau von Viterbo buchstäblich zu bestätigen? Wenn man mir sagt, das Ereignis könne nur ein Wert des Zufalles gewesen sein, so stopft man mir natürlich den Mund, denn diese Möglichkeit kann ich nicht leugnen; trotzdem werde ich bei meiner Überzeugung bleiben, weil sie auf Wahrscheinlichkeit und Vernunft gegründet ist.

Diese Vergiftung war die letzte Machtäußerung der Jesuiten. Es war ein Verbrechen, weil es nach dem Ereignis stattfand; wäre der Papst vor ihrem Sturz vergiftet worden, so hätte die Politik diese Tat gerechtfertigt; denn wirkliche Politik besteht in Voraussicht und Vorsicht und zögert niemals, die Mittel anzuwenden, die am meisten geeignet sind, den beabsichtigten Zweck möglichst schnell zu erreichen; der elendeste von allen Politikern ist derjenige, der nicht weiß, daß es nichts auf der Welt gibt, was nicht in zweifelhaften Fällen vorsichtshalber geopfert werden müßte.

Als der Fürst von Santa-Croce mich zum zweitenmal bei der Herzogin von Fiano sah, fragte er mich ohne jede Vorrede, warum ich den Kardinal Bernis nicht besuchte.

»Ich gedenke ihm morgen meine Aufwartung zu machen.«

»Gehen Sie ja hin; denn ich habe niemals Seine Eminenz mit so großer Achtung von einem Menschen sprechen hören, wie von Ihnen.«

»Ich habe seit achtzehn Jahren große Verpflichtungen gegen ihn und bewahre ihm eine unerschütterliche Dankbarkeit.«

»Besuchen Sie ihn also; wir alle werden uns freuen.«

Der Kardinal empfing mich am nächsten Tage mit offenbar großer Freude. Er lobte die Zurückhaltung, womit ich zum Fürsten über ihn gesprochen hätte, und sagte mir, er halte es nicht für notwendig, mir Verschwiegenheit in bezug auf unsere Bekanntschaft von Venedig her anzuempfehlen.

»Eure Eminenz sind ein wenig stärker geworden,« sagte ich zu ihm, »im übrigen aber finde ich Sie frisch und durchaus nicht verändert wieder.«

»Sie irren sich, lieber Freund, ich bin in allem anders geworden. Vor allen Dingen bin ich jetzt fünfundfünfzig Jahre alt, während ich damals nur sechsunddreißig zählte; außerdem darf ich nur noch Gemüse essen.«

»Geschieht dies, um die Neigung zu den Freuden der Venus zu töten?«

»Ich möchte gern, daß man es glaubte; aber ich denke, kein Mensch läßt sich dadurch täuschen.«

Er freute sich sehr, als er hörte, daß ich einen Brief für den venetianischen Gesandten besäße, aber ihn noch nicht abgegeben hätte. Er versicherte mir, er werde den Gesandten zu meinen Gunsten stimmen und dieser werde mich gut aufnehmen. »Schon morgen werde ich damit anfangen, das Eis zu brechen,« sagte der liebenswürdige Kardinal; »Sie werden bei mir speisen, und Seine Exzellenz wird es erfahren.«

Er hörte mit Vergnügen, daß ich gut mit Mitteln versehen und daß ich allein war, sowie, daß ich beschlossen hatte, verständig und ohne jeden Luxus zu leben.

»Ich werde diese Nachricht unserer M. M. mitteilen; denn ich stehe immer noch im Briefwechsel mit der schönen Nonne, und ich glaube, sie wird sich darüber freuen.«

Ich machte ihm viel Spaß, indem ich ihm mein Abenteuer mit der Nonne von Chambery erzählte.

»Sie können«, sagte der Kardinal, »den Fürsten von Santa-Croce ruhig bitten, Sie der Fürstin vorzustellen; wir können dann angenehme Stunden miteinander verbringen, aber nicht in der Art jener einstigen Stunden in Venedig; denn die Fürstin hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit M. M.«

»Sie ist aber doch das Entzücken Eurer Eminenz.«

»Ja,in Ermanglung eines Besseren. Sie werden sehen.«

Am nächsten Tage sagte der Kardinal nach Tisch zu mir, Herr Zuliani habe den Botschafter Erizzo von meiner Anwesenheit in Rom benachrichtigt, und dieser habe die größte Lust, mich kennen zu lernen.

Ich war sehr zufrieden mit dem Empfang, den er mir bereitete. Chevalier Erizzo, der Bruder des noch lebenden Prokurators, war ein geistvoller Mann, ein guter Bürger, ein ausgezeichneter Redner und ein großer Politiker. Er machte mir ein Kompliment wegen meiner Reisen und beglückwünschte mich, daß ich mich der Protektion der Staatsinquisitoren erfreute, anstatt von ihnen verfolgt zu werden; denn Herr Zuliani hatte mich ihm mit ihrer Einwilligung empfohlen. Er behielt mich zum Essen bei sich und bat mich, ihm den Vorzug zu geben, so oft ich nichts Besseres zu tun hätte.

Am selben Abend war ich bei meiner Herzogin und bat den Fürsten Santa-Croce, mich seiner Frau vorzustellen.

Er antwortete mir: »Sie selber wünscht dies, seitdem der Kardinal länger als eine Stunde mit ihr über Sie gesprochen hat. Sie können sich jeden Tag um elf Uhr oder um zwei Uhr nachmittags melden lassen.«

Gleich am nächsten Tage ging ich um zwei Uhr hin. Sie lag im Bett und hielt ihre Mittagsruhe; da ich aber den Vorzug hatte, ein Mensch ohne Bedeutung zu sein, so ließ sie mich sofort eintreten. In einer Viertelstunde wußte ich ganz genau, was an ihr war: sie war jung, hübsch, fröhlich, lebhaft, neugierig, lachlustig, sprach und fragte fortwährend und hatte nicht die Geduld, die Antwort abzuwarten oder zu Ende zu hören. Sie kam mir vor wie ein Spielzeug, um Geist und Herz eines genußfreudigen und weisen Mannes zu erheitern, der wichtige Geschäfte hatte und das Bedürfnis fühlte, sich zu zerstreuen. Der Kardinal sah sie regelmäßig dreimal taglich: am Morgen, wenn sie sich anzog, erkundigte er sich, ob sie eine gute Nacht gehabt hätte; am Nachmittag um drei Uhr trank er mit ihr Kaffee, und am Abend sah er sie noch einmal in der Gesellschaft. Dort machte er mit ihr seine Partie Pikett und spielte so geschickt, daß er jeden Abend sechs römische Zechinen verlor, niemals mehr und niemals weniger. Hierdurch wurde die Fürstin die reichste junge Frau in ganz Rom. Ihr Gemahl besaß zwar den Fehler der Eifersucht, aber er war zu vernünftig, um es übel zu nehmen, daß seine Frau eine Pension von achtzehnhundert Franken im Monat hatte, ohne sich etwas vorzuwerfen zu brauchen und ohne der üblen Nachrede den geringsten Stoff zu liefern; denn alles ging in voller Öffentlichkeit vor sich; übrigens war das Geld ehrlich im Spiel gewonnen, und dieses sehr unschuldige Spiel konnte schließlich ja auch wohl eine schöne Frau beständig begünstigen. Warum sollte das Glück nicht verliebt sein?

Der Fürst Sante-Croce mußte einen unendlichen Wert auf die Freundschaft des Kardinals für seine junge Gemahlin legen; sie war sehr fruchtbar und schenkte ihm jedes Jahr ein Kind; manchmal sogar alle neun Monate, obgleich Doktor Salicetti dringend geraten hatte, an ihre Gesundheit zu denken; er hatte ihr gesagt, sie setze sich den größten Gefahren aus, wenn sie wieder schwanger würde, bevor sechs Wochen seit ihrer letzten Niederkunft vergangen wären. Man behauptete, der Fürst, der sich während der letzten Tage der Schwangerschaft seiner Frau hätte enthalten müssen, ginge sofort wieder ans Werk, wenn man das Neugeborene zur Taufe trüge.

Die Freundschaft des Kardinals mit seiner Frau bot dem Fürsten Santa-Croce ferner noch den Vorteil, daß er alle gewünschten Stoffe aus Lyon kommen lassen konnte, ohne daß der Schatzmeister des Papstes sich hineinmischen durfte, denn die Waren wurden an den französischen Botschafter, Kardinal Vernis, adressiert. Die Gönnerschaft des Kardinals schützte ferner das Haus des Prinzen gegen alle diejenigen, die sonst seiner Frau gerne den Hof gemacht hätten, und ohne Zweifel waren die Freier sehr zahlreich. Der Connetabel Colonna war sehr in sie verliebt. Der Fürst hatte eines Tages den vornehmen Herrn unter vier Augen mit seiner Frau in einem Zimmer seines Palastes überrascht, und zwar in einem Augenblick, wo sie sicher war, daß das Glockenzeichen an der Tür nicht die Eminenz anmeldete. Kaum war der Fürst-Connetabel fortgegangen, so befahl der Fürst seiner Gattin, sich bereit zu halten, um mit ihm am nächsten Tage aufs Land zu gehen. Die Frau verwahre sich dagegen und sagte, diese plötzliche Abreise sei nur eine törichte Laune von ihm, und ihre Ehre erlaube ihr nicht, darin einzuwilligen. Der Fürst war jedoch fest entschlossen, und sie hätte nachgeben müssen, wenn nicht der Kardinal während des Streites eingetroffen wäre. Nachdem er die Geschichte aus dem Munde der naiven und unschuldigen Fürstin vernommen hatte, machte er dem Fürsten begreiflich, er müsse um seines Glückes willen allein aufs Land gehen, wenn er dort Geschäfte hätte, und seine Frau ruhig in Rom lassen; in Zukunft werde sie ihre Maßregeln besser treffen, um solche Zusammentreffen zu vermeiden, die stets listig seien, und aus denen Mißverständnisse hervorgehen könnten, die den häuslichen Frieden stören würden.

In weniger als einem Monat war ich den drei Hauptspielern dieser Komödie völlig unentbehrlich geworden. Niemals mischte ich mich in ihre Dispute ein, sondern hörte und bewunderte immer nur, gab stets dem Sieger recht und wurde ihnen dadurch ebenso notwendig, wie ein Marqueur Billardspielern ist. Durch Erzählung oder scherzhafte Erläuterungen füllte ich die verdrießlichen Augenblicke aus, die derartigen Debatten zu folgen pflegen; man kam wieder in gute Stimmung, man fühlte, daß man dies mir verdankte, und belohnte mich dadurch, daß man mich niemals für überflüssig hielt. Ich sah im Kardinal, im Fürsten und in seiner schönen Frau drei liebenswürdige Wesen, die vernünftig und vorurteilsfrei genug waren, um durch unschuldige Mittel ihr Leben glücklich zu machen, ohne dem Frieden und den guten Sitten der Gesellschaft zu nahe zu treten.

Die Herzogin von Fiano war eitel auf ihren Ruf, den sie in Rom hatte, und da sie den Gatten der Frau besaß, die dieser dem Kardinal überließ, so bildete sie sich nicht wenig darauf ein; aber außer ihr selber ließ sich kein Mensch dadurch täuschen. Die gute Dame wunderte sich, warum ich nicht begreifen konnte, daß die Fürstin nur aus unwiderstehlicher Eifersucht niemals zu ihr käme. Eines Tages suchte sie mich mit solchem Feuer hiervon zu überzeugen, daß ich wohl sah, ich würde mich dem Verlust ihrer Huld aussetzen, wenn ich ihr nicht beistimmte.

Ich hatte ihr von Anfang an zugeben müssen, daß es unbegreiflich wäre, wie die Reize der Fürstin den Kardinal hätten blenden können; denn nach ihrer Meinung gab es keine so magere, leichtfertige und flatterhafte Person wie die Fürstin. Ich war durchaus nicht dieser Meinung, denn in meinen Augen war die Fürstin Santa-Croce ein wahres Kleinod für einen genußliebenden und philosophischen Liebhaber wie den Kardinal Bernis.

Manchmal ertappte ich mich darauf, den Prälaten wegen des Besitzes dieses Schatzes glücklicher zu finden als wegen der hohen Würde, zu der ihn Glück und persönliches Verdienst erhoben hatten.

Ich liebte die Fürstin; da ich aber nicht so kühn war, Hoffnungen auf Erfolg zu hegen, so hielt ich mich innerhalb der Grenzen, die mir eine friedliche Fortdauer unseres Verhältnisses sicherten.

Ich hätte es wagen können, und es wäre mir vielleicht geglückt; aber ich hätte mich vielleicht auch getäuscht und den Stolz der Frau beleidigt, die offenbar mehr stolz als verliebt war; ich würde das Zartgefühl des Kardinals beleidigt haben, der trotz seiner Philosophie durch die Jahre und den Kardinalspurpur anders geworden war als zu der Zeit, da wir die schöne M. M. gemeinsam besaßen. Ich erinnerte mich, daß der Kardinal mir gesagt hatte, er empfinde für sie nur die Zärtlichkeit eines Vaters; hierdurch hatte er mir zur Genüge zu verstehen gegeben, daß er es übel nehmen würde, wenn ich mehr zu werden versuchte als der meistbegünstigte ihrer sehr ergebenen Diener.

Übrigens mußte ich mich sehr glücklich schätzen, daß sie sich mir gegenüber nicht mehr Zwang antat als vor ihrer Kammerzofe. Um ihr nach Möglichkeit gefällig zu sein, tat ich, wie wenn ich nichts sähe, während sie überzeugt war, daß ich alles sähe.

Es ist nicht leicht, den Weg zu finden, um die Gunst einer gegen alles so gleichgültigen Frau zu erringen, besonders wenn sie in ihrem Dienst einen König hat – oder einen Kardinal.

Ich war nun seit einem Monat in Rom. Das Leben, das ich führte, war so, wie ich es mir nur wünschen mochte, um glücklich und ruhig zu sein. Margherita hatte schließlich durch ihre Aufmerksamkeiten meine Teilnahme erregt. Da ich keinen Bedienten hatte, so war sie morgens und abends in meinem Zimmer, und ihr falsches Auge war so vorzüglich gemacht, daß ich an ihre Einäugigkeit gar nicht dachte. Sie hatte viel natürlichen Geist, aber nicht die geringste Bildung; sie war eitel, und obwohl ich anfangs gar keine Absicht dabei hatte, schmeichelte ich ihrer Eitelkeit, indem ich abends und morgens mit ihr schäkerte und ihr kleine Geschenke machte, um sich für den Kirchgang am Sonntag putzen zu können. Es dauerte denn auch nicht lange, so bemerkte ich zweierlei: erstens, daß sie sich wunderte, warum ich niemals zu einer Erklärung in Worten oder Taten käme, obwohl ich sie doch offenbar liebte, denn davon war sie überzeugt; zweitens, daß ihre Eroberung nicht schwierig sein würde, wenn ich sie liebte.

Diesen letzten Umstand erriet ich, als ich sie eines Tages bat, mir die kleinen Abenteuer zu erzählen, die sie gewiß von ihrem elften oder zwölften Jahre bis zu ihrem gegenwärtigen Alter von siebzehn oder achtzehn Jahren gehabt hätte; sie erzählte mir Einzelheiten, die sie nur enthüllen konnte, indem sie jede Zurückhaltung beiseite setzte.

Da diese kleinen Skandalgeschichten mir das größte Vergnügen machten, so hatte ich sie daran gewöhnt, mir niemals etwas zu verschweigen; denn ich gab ihr jedesmal, wenn ich an ihrer Erzählung den Charakter der Wahrheit fand, einige Geldstücke; ich gab ihr aber nichts, wenn ich zu bemerken glaubte, daß sie mir Umstände verschwieg, durch deren Einfügung die Geschichte interessanter geworden wäre.

Sie gestand mir, daß sie das nicht mehr hatte, was ein Mädchen nur einmal verlieren kann, und daß eine Freundin von ihr, namens Buonaccorsi, die sie jeden Feiertag besuchte, sich in derselben Lage befand; schließlich nannte sie mir auch den Namen des jungen Mannes, der sie beide entjungfert hatte.

Mein Nachbar war ein junger piemontesischer Abbate, namens Ceruti; wenn ihre Mutter keine Zeit hatte, mußte Margherita ihn bedienen. Als ich sie mit ihm neckte, schwor sie mir, sie hätte kein Liebesverhältnis mit ihm. Das machte mir Spaß, denn mir lag durchaus nichts daran.

Der Abbate war schön, gelehrt und geistvoll; aber er war arm, verschuldet und wegen einer sehr unangenehmen Geschichte in ganz Rom berüchtigt.

Man erzählte sich, er habe einem Engländer, der die Fürstin Lanti liebte, im Vertrauen gesagt, die Fürstin habe zweihundert Zechinen nötig; der Engländer habe ihm das Geld für sie gegeben und der Abbate habe es für sich behalten. Diese Gemeinheit war entdeckt worden, als es zwischen der Dame und dem Insulaner zu einer Aussprache kam. Dieser sagte der Fürstin, er sei bereit, alles für sie zu tun, und rechne dabei die zweihundert Zechinen nicht, die er ihr bereits habe geben lassen.

Überrascht und entrüstet leugnete die Fürstin. Alles klärte sich auf. Der vorsichtige Engländer entschuldigte sich, und dem Abbaten wurde der Zutritt zum Hause der Fürstin versagt, während der Engländer sich weigerte, ihn zu sehen.

Dieser Abbate Ceruti war der Schriftsteller, von dem Bianconi die allwöchentlich erscheinenden römischen Ephemeriden schreiben ließ; er war, wie man zu sagen pflegt, mein Freund geworden, als wir in Margheritas Haus nebeneinander wohnten. Ich hatte bemerkt, daß er sie liebte, und war durchaus nicht eifersüchtig auf ihn, denn ich war nicht in sie verliebt; da er jedoch jung und schön war, so konnte ich mir nicht vorstellen, daß Margherita ihn hart behandelte. Sie versicherte mir jedoch, sie verabscheute ihn und es wäre ihr sehr unangenehm, daß ihre Mutter ihn nicht immer bedienen könnte.

Ceruti hatte einige Verpflichtungen gegen mich; er hatte von mir zwanzig Scudi auf acht Tage geliehen; und es waren bereits drei Wochen vergangen, ohne daß er Wort gehalten hatte. Ich mahnte ihn jedoch nicht und würde ihm sogar noch zwanzig Scudi geliehen haben, wenn er mich darum gebeten hätte.

Wenn ich bei der Herzogin von Fiano zu Abend speiste, kam ich spät nach Hause, und Margherita wartete dann auf mich. Ihre Mutter lag schon zu Bett. Ich behielt das Mädchen eine Stunde oder manchmal auch zwei bei mir und dachte nicht daran, daß unsere geräuschvollen Späße vielleicht dem Abbate mißfallen könnten, der alles hören mußte; denn unsere Zimmer waren nur durch eine dünne Scheidewand getrennt.

Als ich eines Abends gegen Mitternacht nach Hause kam, fand ich zu meiner Überraschung die Mutter auf mich warten.

»Wo ist Ihre Tochter?« fragte ich sie.

»Sie schläft, und ich kann es mit gutem Gewissen nicht mehr erlauben, daß sie die ganze Nacht bei Ihnen bleibt.«

»Aber sie bleibt ja nur so lange bei mir, bis ich zu Bett gehe. Ihre Mitteilung beleidigt mich, denn es liegt darin ein Verdacht, der für mich verletzend ist. Was kann denn Margherita Ihnen gesagt haben? Wenn sie sich über mich beschwert hat, so hat sie gelogen. Morgen werde ich ausziehen.«

»Da würden Sie unrecht tun. Margherita hat mir nichts gesagt; sie behauptete im Gegenteil, Sie scherzten nur.«

»Ganz recht. Haben Sie etwas gegen solches Scherzen einzuwenden?«

»Nein, aber Sie können sonst noch was machen.«

»Und auf diese Möglichkeit hin erheben Sie einen unwürdigen Verdacht, der Ihr Gewissen beunruhigen muß, wenn Sie eine gute Christin sind?«

»Gott soll mich behüten, daß ich Argwohn gegen meinen Nächsten habe! Aber mir ist gesagt worden, Ihr Gelächter und Ihre Scherze seien so laut, daß ohne jeden Zweifel Ihre Unterhaltungen gegen die guten Sitten verstoßen müßten.«

»So hat also mein Nachbar, der Abbate, Sie mit dieser Sache behelligt?«

»Ich kann Ihnen nicht sagen, wer mich darauf aufmerksam gemacht hat, aber ich weiß Bescheid.«

»Um so besser für Sie! Morgen werde ich ausziehen, damit Ihr Gewissen sich beruhigt.«

»Aber kann ich Sie nicht ebensogut bedienen wie meine Tochter?«

»Nein. Ihre Tochter macht mich lachen, und das tut mir gut. Mit Ihnen wäre es anders. Sie haben mich beleidigt, und ich werde morgen Ihre Wohnung verlassen, denn so etwas darf nicht mehr vorkommen.«

»Es würde mir außerordentlich leid tun wegen meines Mannes; er würde von mir verlangen, daß ich ihm den Grund sage, und dies würde mich in Verlegenheit bringen.«

»Machen Sie das, wie Sie wollen; es ist mir völlig gleichgültig, was Ihr Mann davon denkt, und ich werde morgen ausziehen. Bitte, entfernen Sie sich; ich will zu Bett gehen.«

»Erlauben Sie mir, Sie zu bedienen.«

»Nein. Wenn Sie wünschen, daß ich bedient werde, so schicken Sie mir Margherita.«

»Sie schläft.«

»Wecken Sie sie!«

Die gute Mutter ging hinaus, und zwei Minuten darauf trat die Tochter ein. Sie hatte beinahe nur ein Hemd an, und da sie keine Zeit gehabt hatte, sich ihr falsches Auge einzusetzen, so fand ich sie so komisch, daß ich laut auflachte.

»Ich schlief«, sagte Margherita, »und meine Mutter hat mich plötzlich aufgeweckt und mir befohlen, Sie zu bedienen und Sie zu bitten, daß Sie nicht ausziehen; denn dann würde mein Vater denken, wir hätten irgend etwas Böses miteinander gemacht.«

»Ich werde bleiben; aber Sie werden nach wie vor allein zu mir kommen.«

»Oh, ich komme gern; aber wir dürfen nicht mehr lachen, denn der Abbate hat sich beschwert.«

»Ah, so hat also der Abbate diesen ganzen Lärm gemacht?«

»Das können Sie sich doch denken. Unsere Freude hat ihn geärgert und hat seine Leidenschaft angestachelt.«

»Er ist ein jämmerlicher Kerl, der bestraft werden muß; haben wir gestern gelacht, so werden wir diese Nacht noch mehr lachen.«

Nachdem wir uns hierüber geeinigt hatten, begingen wir tausend Kindereien und lachten dazu absichtlich doppelt laut, um den Bäffchenträger zu ärgern. Als wir seit einer Stunde im schönsten Tollen waren, ging die Türe auf, und die Mutter trat ein.

Sie fand mich mit Margheritas Haube auf dem Kopf und das Mädchen mit einem großen Schnurrbart verziert, den ich ihr mit Tinte angemalt hatte. Bei diesem Anblick mußte die Mutter, die uns vielleicht auf frischer Tat zu ertappen geglaubt hatte, in unser Gelächter einstimmen.

»Nun?« fragte ich sie; »ist dies wirklich ein Verbrechen?«

»Nein; ich sehe, Sie haben recht; aber bedenken Sie, daß Ihre unschuldigen Orgien Ihren Nachbarn am Schlafen verhindern.«

»Mag er anderswo schlafen! Ich werde mir seinetwegen keinen Zwang antun. Ja, ich muß Ihnen sogar sagen, daß Sie zwischen ihm und mir zu wählen haben; denn wenn ich bei Ihnen bleibe, so geschieht dies nur unter der Bedingung, daß Sie ihn fortschicken; sein Zimmer nehme ich.«

»Ich kann ihm erst zum Ende des Monats kündigen, aber ich sehe voraus, daß er meinem Mann Dinge erzählen wird, die den Frieden des Hauses stören werden.«

»Ich verspreche Ihnen, daß er morgen ausziehen und daß er sich hüten wird, etwas zu sagen, überlassen Sie alles mir! Der Abbate wird sofort aus freiem Willen Ihr Haus verlassen, ohne daß Sie die geringste Unruhe zu befürchten haben. In Zukunft aber fürchten Sie für Ihre Tochter, wenn sie mit einem Mann allein ist, ohne zu lachen und zu sprechen. Wenn man nicht lacht, begeht man etwas Ernstes.«

Nach diesem Gespräch entfernte die Mutter sich zufrieden und legte sich zu Bett. Margherita bewunderte die schöne Tat, die ich am nächsten Tage ausführen sollte, und wurde so lustig, daß ich mich nicht enthalten konnte, ihren Reizen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Nachdem ich mit ihr eine Stunde verbracht hatte, ohne zu lachen, verließ sie mich sehr glücklich über ihren Sieg.

Am anderen Morgen trat ich in aller Frühe beim Abbaten ein, warf ihm seine Indiskretion vor und forderte ihn auf, sich entweder sofort eine andere Wohnung zu besorgen oder mir unverzüglich die zwanzig Taler zu bezahlen, die er mir schuldig wäre. Er machte allerlei Ausflüchte; als er mich aber unerbittlich sah, sagte er mir, er könne nicht ausziehen, ohne einige kleine Summen zu bezahlen, die er dem Hauswirt schuldig sei, und ohne das Geld zu haben, ein anderes Zimmer auf einen Monat zu bezahlen.

»Gut. Hier sind zwanzig Taler; ich schenke sie Ihnen und ebenso die zwanzig Taler, die Sie mir bereits schuldig sind; aber ziehen Sie noch heute aus und hüten Sie sich, auch nur ein Wörtchen über die ganze Geschichte zu sagen, wenn Sie nicht wollen, daß ich mich für Ihren unversöhnlichen Feind erkläre.«

Nachdem ich mich auf diese Weise des Abbaten entledigt hatte, sah ich mich im Besitz der beiden Zimmer und hatte auf diese Weise eine bequemere Wohnung; ich hatte Margherita zu meiner freien Verfügung, und durch sie wenige Tage später die hübsche Buonaccorsi, die ihr weit überlegen war.

Die beiden Mädchen machten mich mit dem jungen Helden bekannt, der sie verführt hatte.

Er war ein Jüngling von fünfzehn bis sechzehn Jahren mit einem reizenden Gesicht, aber klein von Wuchs. Die Natur hatte ihm ein ungeheures männliches Glied gegeben, und auf Lampsakus würde man ihm ohne Zweifel im Tempel des Priapus Altäre errichtet haben, denn er konnte es mit diesem Gott aufnehmen.

Dieser Jüngling, der sehr freundliche und liebenswürdige Manieren hatte, war von Gefühlen beseelt, die sich weit über die Anschauungsweise eines gewöhnlichen Arbeiters erhoben. Er liebte weder Margharita noch die Buonaccorsi; aber als sie eines Tages ungestört beisammen gewesen waren, hatte er erraten, daß sie neugierig waren, das zu sehen, was sie nicht glaubten, und hatte ihnen die Wahrheit gezeigt. Der Anblick erregte das Bedürfnis einer vollständigeren Befriedigung; er bemerkte es und bot ihnen seine Dienste an. Die beiden jungen Mädchen berieten sich miteinander, und indem sie so taten, als wenn sie ihm nur eine Gefälligkeit erwiesen, gaben sie sich ihm hin, und das doppelte Werk wurde vollzogen. Der junge Mann gefiel mir. Ich versah ihn mit guter Wäsche und Kleidung, und bald hatte er zu mir vollstes Vertrauen. Er war in ein junges Mädchen verliebt, dessen Besitz ihm das höchste Glück dünkte. Aber er war unglücklich, denn sie war in ein Kloster eingesperrt, und da er sie nicht zur Frau erhalten konnte, so war er der Verzweiflung nahe. Er verdiente nämlich täglich nur einen Paolo (elf Soldi) und hatte also nicht einmal genug für seinen eigenen Lebensunterhalt.

Da er mir oft von seiner angebeteten Schönen erzählte, so bekam ich Lust, sie zu sehen. Bevor ich jedoch diese Geschichte erzähle, muß ich erst sagen, in welchen Verhältnissen ich mich in Rom befand.

Eines Tages ging ich aufs Kapitol, um der Verteilung der Preise an die jungen Zöglinge der Mal- und Zeichenschule beizuwohnen. Der erste, den ich dort sah, war Raphael Mengs. Er war mit Pompeo Battoni und zwei oder drei anderen Malern da, um zu bestimmen, welche Arbeiten einen Preis erhalten sollten.

Da ich nicht vergessen hatte, wie der Künstler sich in Madrid gegen mich benommen hatte, so tat ich, wie wenn ich ihn nicht gesehen hätte, aber sobald er mich bemerkte, kam er auf mich zu, begrüßte mich freundlich und sagte: »Mein lieber Casanova, trotz dem, was in Madrid zwischen uns vorgefallen ist, können wir hier in Rom, dem Lande wahrer Freiheit, alles vergessen und miteinander sprechen, ohne dadurch unserer Ehre etwas zu vergeben.«

»Ich sage nicht nein; vorausgesetzt, daß der Gegenstand unseres Zwistes niemals erwähnt wird; denn ich für meinen Teil fühle, daß ich dabei nicht kaltblütig bleiben könnte.«

»Das leugne ich nicht, aber hätten Sie Madrid gekannt wie ich und gewußt, wie notwendig es für mich war, Rücksicht auf die bösen Zungen zu nehmen, so hätten Sie mich nicht in die Lage gebracht, tun zu müssen, was ich nur mit großem Bedauern tat.«

»Es sah nicht danach aus.«

»Ich glaube es, aber um so besser! Ich stand nämlich in dem dringenden Verdacht, Protestant zu sein, und wenn ich mich gegen Ihr Verhalten gleichgültig gezeigt hätte, so hätte ich dadurch die Verdachtgründe bestärkt und mich vielleicht zugrunde gerichtet. Kommen Sie morgen zu mir zum Mittagessen; Bacchus wird unseren Groll ertränken. Wir speisen im Kreise meiner Familie und meiner Freunde. Da Sie, wie ich weiß, mit Ihrem Bruder nicht verkehren, so wird er nicht bei mir sein, übrigens empfange ich ihn auch sonst nicht. Denn wenn ich das täte, würden alle anständigen Leute sich von meinem Hause fernhalten.«

Ich nahm die Einladung an, die den Stempel freimütigster Freundschaft trug, und fand mich pünktlich ein.

Mein Bruder verließ Rom einige Zeit nachher mit dem russischen Gesandten in Dresden, Fürsten Beloselski, mit dem er gekommen war; er hatte die Wiederherstellung seiner Ehre nicht erlangen können, denn der Senator Rezzonico war unerbittlich. Wir sahen uns m Rom nur drei- oder viermal.

Fünf oder sechs Tage vor seiner Abreise hatte ich die angenehme Überraschung, meinen anderen Bruder, den Abbate, bei mir eintreten zu sehen. Er war wie gewöhnlich in Lumpen und verlangte ganz frech Hilfe von mir.

»Woher kommst du?«

»Von Venedig. Dort konnte ich nicht bleiben, weil ich meinen Lebensunterhalt nicht fand.«

»Und wovon gedenkst du in Rom zu leben?«

»Ich werde Messen lesen und französischen Unterricht geben.«

»Du willst Sprachlehrer sein? Du kannst ja nicht einmal deine eigene Sprache.«

»Ich kenne die meinige und auch die französische und habe bereits zwei Schüler.«

»Ich wünsche ihnen Glück zu den Grundsätzen, die du ihnen beibringen wirst. Wer sind sie denn?«

»Der Sohn und die Tochter des Gastwirts, bei dem ich wohne. Aber das genügt nicht, und im Anfang mußt du mich unterstützen.«

»Darauf hast du nicht zu rechnen. Hinaus mit dir!«

Ohne länger auf ihn zu hören, zog ich mich in aller Eile fertig an und ging aus, indem ich Margherita beauftragte, mein Zimmer zu schließen.

Der elende Mensch stellte mich bei allen meinen Bekannten bloß, auch bei der Herzogin von Fiano und sogar beim Abbate Gama. Alle Welt lag mir in den Ohren, ich müßte ihn unterstützen oder ihn von Rom fortschaffen. Das wurde mir sehr lästig. Endlich kam der Abbate Ceruti zu mir und sagte: »Wenn es nicht dahin kommen soll, daß der Taugenichts auf der Straße bettelt, so müssen Sie etwas für ihn tun. Sie können ihn außerhalb Roms unterhalten, wenn Sie täglich drei Paoli opfern. Er ist bereit, die Stadt zu verlassen.« ^

Ich erklärte mich einverstanden, und Ceruti ordnete die Angelegenheit auf eine mir sehr erwünschte Weise. Er sprach mit einem Pfarrer, der sich damals in Rom aufhielt und der den Gottesdienst einer Franziskanerinnen-Kirche besorgte. Dieser Pfarrer nahm meinen Bruder mit, indem er ihm täglich drei Paoli zusicherte, um die Messe zu lesen, außerdem hatte er noch Aussicht, Geschenke zu erhalten, wenn es ihm glückte, als Prediger zu gefallen, denn auf das Predigen legten die Nonnen seines Klosters großen Wert.

Der Abbate Casanova entfernte sich also, und ich kümmerte mich wenig darum, ob er wußte oder nicht wußte, von wem er die drei Paoli erhielt. Solange ich in Rom blieb, fehlten die neun Piaster im Monat, ungefähr fünfzig Franken, ihm niemals. Nach meiner Abreise kehrte er nach Rom zurück; später kam er in ein anderes Kloster, wo er vor dreizehn oder vierzehn Jahren eines plötzlichen Todes starb.

Medini befand sich seit meiner Ankunft in Rom ebenfalls dort, aber wir hatten uns niemals gesehen. Er wohnte in der Ursulinerinnenstraße bei einem päpstlichen Dragoner; er lebte nur vom Spiel und suchte die Fremden zu betrügen, deren er habhaft werden konnte.

Der Taugenichts hatte ein bißchen Glück und ließ von Mantua seine Geliebte mit ihrer Mutter und einem anderen sehr hübschen Mädchen von zwölf bis dreizehn Jahren kommen. Er glaubte größere Vorteile zu haben, wenn er eine größere möblierte Wohnung nähme, und zog daher nach dem Spanischen Platz, wo ich fünf oder sechs Häuser von ihm entfernt wohnte. Dieser Umstand war mir jedoch völlig unbekannt.

Als ich eines Tages beim venetianischen Botschafter speiste, sagte Seine Exzellenz mir: »Sie werden mit einem Grafen Manucci speisen, der von Paris kommt, und sich sehr gefreut hat, als er vernahm, daß Sie in Rom sind. Ich nehme an, daß Sie ihn genau kennen; würden Sie wohl die Güte haben, mir zu sagen, wer dieser Graf ist, den ich morgen dem Heiligen Vater vorstellen soll?«

»Ich habe ihn in Madrid beim Gesandten Mocenigo gekannt; er macht einen guten Eindruck, ist bescheiden und höflich und ein hübscher junger Mensch. Das ist alles, was ich weiß.«

»Wurde er vom spanischen Hof empfangen?«

»Ich glaube es; aber ich kann es nicht bestimmt behaupten.«

»Ich glaube, nein; aber ich sehe. Sie wollen mir nicht alles sagen, was Sie von ihm wissen. Nun, es macht nichts; ich laufe keine Gefahr, wenn ich ihn dem Papst vorstelle. Er behauptet, von dem berühmten Reisenden Manucci aus dem dreizehnten Jahrhundert abzustammen und ein Nachkomme der berühmten Buchdruckerfamille Manucci zu sein, die der Literatur so viel Ehre gemacht hat. Er zeigte mir den Anker in seinem Wappen mit sechzehn Feldern.«

Ich war sehr erstaunt, daß dieser Mensch, der die Rache so weit getrieben hatte, mich sogar ermorden lassen zu wollen, von mir wie von einem vertrauten Freunde sprach. Ich entschloß mich jedoch, meine Gefühle zu verbergen, um zu sehen, wie es weiter kommen würde. Ich sah ihn also erscheinen, ohne ihn meinen gerechten Groll fühlen zu lassen. Als er den Gesandten nach der üblichen Etikette begrüßt hatte, kam er mit ausgebreiteten Armen auf mich zu, um mich zu umarmen und ich wich ihm nicht aus, sondern erkundigte mich nach seinem Gesandten.

Manucci sprach bei Tisch sehr viel; er erzählte, um mich herauszustreichen, zwanzig Lügen, was ich alles in Madrid getan hätte; wahrscheinlich dachte er dabei, wenn er selber lüge, zwinge er mich, ebenfalls zu lügen und meinerseits ihn herauszustreichen.

Ich schluckte alle diese sehr bitteren Pillen hinunter, da es nun einmal nicht anders ging; aber ich war fest entschlossen, gleich am nächsten Tage eine ernsthafte Erklärung herbeizuführen.

Ein Franzose, der mit Manucci gekommen war, ein gewisser Chevalier de Reuville, interessierte mich sehr. Er war nach Rom gekommen, um die Ehe einer Dame, die sich zu Mantua in einem Kloster befand, für ungültig erklären zu lassen. Er war dem Kardinal Galli ganz besonders empfohlen.

Er erzählte uns eine Menge hübscher Geschichten und erheiterte die ganze Gesellschaft. Als wir den Gesandten verließen, nahm ich Manuccis Einladung an, mit ihm in seinen Wagen zu steigen und bis zum Abend spazieren zu fahren.

Als wir mit Einbruch der Dunkelheit zurückkehrten, sagte der Franzose uns, er werde uns einer hübschen Dame vorstellen, bei der wir zu Abend speisen würden und auch eine Pharaobank legen könnten.

Der Wagen hielt am Spanischen Platz dicht bei meiner Wohnung vor einem Hause, und wir gingen nach dem zweiten Stock hinauf. Als ich eintrat, sah ich zu meiner großen Überraschung den Grafen Medini und dessen Geliebte, die der Chevalier sehr gerühmt hatte, die ich jedoch durchaus nicht nach meinem Geschmack fand. Medini begrüßte mich herzlich und dankte dem liebenswürdigen Franzosen, daß er mich veranlaßt hätte, das Vergangene zu vergessen und ihn zu besuchen.

Herr von Reuville machte ein erstauntes Gesicht; um eine Auseinandersetzung zu vermeiden, die vielleicht unangenehm geworden wäre, brachte ich die Unterhaltung auf einen anderen Gegenstand.

Als die Gesellschaft beisammen war, schienen dem Graf Medini genügend viel Spieler vorhanden zu sein. Er setzte sich an einen großen Tisch, legte fünf- oder sechshundert Scudi in Gold und Banknoten vor sich hin und begann abzuziehen. Manucci verlor alles Gold, das er bei sich hatte; Reuville gewann die Hälfte von dem Golde der Bank, und ich begnügte mich mit der Rolle des Zuschauers.

Nach dem Abendessen verlangte Medini von dem Franzosen Revanche, und Manucci bat mich um hundert Zechinen. Ich gab sie ihm und in weniger als einer Stunde hatte er keinen Heller mehr; Reuville dagegen gewann Medini alles Gold ab, bis auf etwa zwanzig oder dreißig Zechinen. Hierauf gingen wir alle nach Hause. Manucci wohnte bei Rolands Tochter, meiner Schwägerin. Ich gedachte ihn dort gleich am nächsten Morgen aufzusuchen; er ließ mir jedoch keine Zeit dazu, denn ich sah ihn in aller Frühe schon bei mir erscheinen.

Nachdem er mir meine hundert Zechinen wiedergegeben hatte, ließ er mir keine Zeit, mich zu besinnen, sondern umarmte mich herzlich, zeigte mir einen starken Kreditbrief auf Belloni und bot mir an, mir soviel Geld zu leihen, wie ich nötig hätte. Ohne von dem Vergangenen ein Wort zu sagen, benahm der eigentümliche junge Mann sich so, daß ich einsah, wir müßten unser beiderseitiges Unrecht vergessen und uns als gute Freunde betrachten.

Bei dieser Gelegenheit trug wieder einmal mein Herz den Sieg über meine Vernunft davon, wie es mir oft geschehen ist. Ich nahm den Frieden an, den er mir anbot.

übrigens war ich nicht mehr in dem Alter, wo der unüberlegte Mut nur durch einen Degenstoß befriedigt werden kann. Manucci war zwar im Unrecht, aber ich sah auch klar und deutlich, daß es ihm leid tat und daß er es gerne wieder gutmachen wollte. Ich erinnerte mich, daß ich vor ihm im Unrecht gewesen war, wenn auch nicht so sehr wie er, und ich fühlte mein Herz beruhigt und meine Ehre befriedigt.

Am dritten Tage speiste ich mit ihm unter vier Augen in seiner Wohnung. Gegen das Ende der Mahlzeit kam der Chevalier de Reuville und kurz darauf Medini. Reuville forderte uns auf, jeder einmal die Bank zu halten. Wir nahmen seinen Vorschlag an, und das war zu seinem Unglück. Manucci gewann das Doppelte von dem, was er das vorige Mal verloren hatte; Reuville verlor vierhundert Zechinen, und ich verlor eine Kleinigkeit. Medini, der nur etwa fünfzig Zechinen verloren hatte, war in Verzweiflung und wollte sich aus dem Fenster stürzen.

Einige Tage darauf reiste Manucci nach Neapel, nachdem er der Geliebten Medinis, die mit ihm soupiert hatte, hundert Louis geschenkt hatte. Trotz dieser unverhofften Einnahme wurde Medini verhaftet, weil er seit seiner Ankunft in Rom mehr als tausend Scudi Schulden gemacht hatte.

Der Unglückliche schrieb mir vom Gefängnis aus jämmerliche Bittgesuche um Hilfe; diese Schreibebriefe übten jedoch auf mich weiter keine Wirkung aus, als daß ich mich seiner sogenannten Familie annahm. Ich hielt mich für meine Auslagen an der jungen Schwester seiner Geliebten schadlos, da ich nicht verpflichtet zu sein glaubte, ohne jeden Vorteil den Großmütigen zu spielen.

Um diese Zeit kam der deutsche Kaiser mit seinem Bruder, dem Großherzog von Toskana, nach Rom. Einer von den Herren seines Gefolges machte die Bekanntschaft der jungen Schönheit und setzte Medini instand, seine Gläubiger zu befriedigen. Er verließ Rom wenige Tage, nachdem er seine Freiheit wiedererlangt hatte; in einigen Monaten werden wir ihn wiederfinden.

Ich lebte glücklich auf meine selbstgewählte Art. Abends ging ich zur Herzogin von Fiano, jeden Nachmittag zur Fürstin Santa-Croce, und die übrige Zeit war ich zu Hause, wo ich Margherita, die hübsche Buonaccorsi und den jungen Menicuccio hatte, der mir so viel von seiner Liebe erzählte, daß ich schließlich Lust bekam, sein Mädchen kennen zu lernen.

Das junge Mädchen, das er liebte, befand sich seit dem zehnten Jahre in einer Art von klösterlicher Wohltätigkeitsanstalt, die sie nur verlassen konnte, um sich mit der Erlaubnis des Kardinals, dem die Verwaltung und Beaufsichtigung des Hauses unterstand, zu verheiraten. Die in dieses Kloster eingesperrten Mädchen erhielten bei ihrem Austritte zweihundert römische Scudi, die sie ihrem Gatten als Mitgift zubrachten.

Menicuccios Schwester befand sich in derselben Anstalt, und er konnte sie jeden Sonntag besuchen; sie kam mit ihrer Erzieherin an das Sprechgitter. Obgleich Menicuccio ihr Bruder war, erlaubte die Klosterordnung nicht, daß sie allein an das Gitter kam.

Vor fünf oder sechs Monaten hatte der junge Mann bei einem seiner gewöhnlichen Besuche seine Schwester mit einem anderen jungen Mädchen kommen sehen, das er vorher noch niemals bemerkt hatte. Er hatte sich sofort sterblich in dieses verliebt.

Da er die ganze Woche arbeiten mußte, so konnte er nur an Feiertagen das Sprechgitter aufsuchen; aber selbst an diesen Festtagen hatte der arme Junge nur selten das Glück, die Geliebte zu sehen, um die er so viele Seufzer ausstieß; in fünf oder sechs Monaten hatte er sich nur etwa achtmal ihrer Gegenwart erfreut.

Seine Schwester kannte seine Liebe und erwies ihm gerne jede Gefälligkeit; aber es stand nicht in ihrer Macht, die Freundin nach ihrem Belieben mit an das Gitter zu führen, und die Oberin um Erlaubnis zu fragen wagte sie nicht, weil sie Verdacht zu erregen fürchtete.

Ich hatte mich also entschlossen, der armen Eingesperrten einen Besuch zu machen. Unterwegs erzählte Menicuccio mir, daß die Frauen, die dieses Haus leiteten, eigentlich keine Nonnen wären; denn sie hätten kein Gelübde abgelegt und trügen keine geistliche Tracht; trotzdem aber kämen sie kaum in Versuchung, ihr Gefängnis zu verlassen, denn draußen in der Welt würden sie ihr Brot erbetteln oder eine dienende Stellung annehmen müssen. Die mannbaren jungen Mädchen verließen das Haus, indem sie die Flucht ergriffen, was sehr schwierig wäre, oder indem sie sich verheirateten, was sehr selten vorkäme.

Wir kamen an ein schlecht gebautes großes Haus, das an einem der Stadttore in öder Gegend lag; denn das Tor führte auf keinen Weg. Als wir das Sprechzimmer betraten, sah ich zu meiner Überraschung ein doppeltes Gitter von gekreuzten Stäben, die so dicht waren, daß ein zehnjähriges Mädchen seine Hand nicht hätte hindurchstecken können, ohne sich zu verletzen. Zwischen dem inneren und äußeren Gitter befand sich ein ziemlich großer Zwischenraum, wodurch die öffnungen scheinbar noch um die Hälfte kleiner wurden; hierdurch wurde es außerordentlich schwierig, die Gesichtszüge der Personen zu erkennen, die sich dicht an das zweite stellten, um so mehr, da der Teil des Sprechzimmers, wo die unglücklichen Gefangenen sich aufhielten, nur von dem unsicheren Licht des für die Besucher bestimmten Teiles notdürftig erhellt wurde.

Der Anblick erfüllte mich mit Entsetzen, und ich fragte Menicuccio: »Wie und wo hast du denn deine Geliebte gesehen? Ich sehe hier nur Finsternisse.«

»Das erste Mal hatte die Erzieherin zufällig eine Lampe bei sich; aber eine solche anzuzünden, ist bei Strafe der Exkommunikation nur gestattet, wenn Verwandte kommen.«

»Wird sie denn heute mit Licht kommen?«

»Das bezweifle ich; denn die Pförtnerin wird ihr gesagt haben, daß ich nicht allein bin.«

»Aber wie ist es dir dann gelungen, deine Freundin zu sehen, die doch nicht deine Verwandte ist?«

»Durch Zufall. Das erste Mal war sie heimlich gekommen, und die Aufseherin meiner Schwester, eine sehr gute Person, sagte nichts. Die anderen Male kam sie auf Bitten meiner Schwester, jedoch ohne Kerze.«

Wirklich erschien bald darauf die Frauengestalt, aber ohne Licht; es war mir unmöglich, die Aufseherin zu überreden, uns welches zu verschaffen. Sie fürchtete, entdeckt und exkommuniziert zu werden.

Da ich sah, daß ich die unschuldige Ursache war, daß mein junger Freund den Anblick der Geliebten entbehren mußte, so wollte ich mich entfernen; aber dies wollte er nicht zugeben. So verbrachte ich an diesem barbarischen Gitter eine peinliche Stunde, die jedoch nicht uninteressant war. Die Stimme von Menicuccios Schwester erregte in mir ein köstliches Gefühl und brachte mich auf den Gedanken, daß die Blinden sich durch das Gehör verlieben müssen. Die Aufseherin war noch nicht dreißig Jahre alt. Sie sagte mir, die Insassen des Hauses würden nach ihrem fünfundzwanzigsten Jahre Aufseherinnen über die jüngeren, und mit fünfunddreißig Jahren stände es ihnen frei, das Haus zu verlassen. Hierzu entschlössen sich jedoch aus Furcht vor der Armut nur sehr wenige.

»Dann haben Sie wohl viele Alte hier?«

»Wir sind hundert, und die Zahl vermindert sich nur durch den Tod oder durch einen Austritt, der selten vorkommt.«

»Aber es treten doch auch einige aus, um sich zu verheiraten; wie fangen denn diese es an, ihren Freiern Liebe einzuflößen?«

»In den zwanzig Jahren, seitdem ich hier bin, habe ich nur vier austreten sehen, um sich zu verheiraten, und diese haben ihren Gatten erst vor dem Altar kennen gelernt. Wer bei dem Kardinal-Protektor eine von uns zur Ehe verlangt, ist ein Narr oder ein Verzweifelter, der zweihundert Piaster braucht. Übrigens erteilt der Kardinal die Erlaubnis nur, nachdem er sich überzeugt hat, daß der Bewerber in seinem Berufe so viel verdient, um seine Frau ordentlich unterhalten zu können.«

»Und wie wird die Auswahl vollzogen?«

»Der Bewerber muß sagen, wie alt seine Frau sein und was sie können muß, und der Kardinal verläßt sich dann auf die Oberin.«

»Ich nehme an, daß Sie gutes Essen und gute Wohnung haben?«

»Keines von beiden. Dreitausend Scudi jährlich können nicht genügen, um die Bedürfnisse von hundert Personen zu bestreiten. Die glücklichsten sind diejenigen, die sich mit ihrer Arbeit etwas verdienen.«

»Und was sind das für Leute, die sich darum bewerben, ihre Töchter in ein solches Gefängnis zu bringen?«

»Arme Leute oder Fromme, welche Furcht haben, daß ihre Töchter dem Laster zur Beute fallen. Aus diesem Grunde werden nur hübsche Madchen bei uns aufgenommen.«

»Und wer urteilt über diese Schönheit?«

»Die Älteren, der Priester, ein Mönch oder der Pfarrer und als letzte Instanz der Kardinal-Protektor; wenn dieser das Mädchen nicht hübsch findet, so verwirft er sie ohne Mitleid, denn er sagt, die häßlichen haben von der Verführung der Welt nichts zu befürchten. Sie können sich also wohl denken, daß wir Unglücklichen, die wir hier sind, diejenigen verfluchen, die uns hübsch gefunden haben.«

»Ich beklage Sie, aber ich wundere mich, daß man nicht die Erlaubnis erhalten kann, Sie in allen Ehren zu sehen; dies würde vielleicht doch manchen veranlassen, eine von Ihnen zur Frau zu begehren.«

»Der Kardinal sagt, er dürfe diese Erlaubnis nicht geben, denn die Übertretung der Gründungsgesetze sei mit Exkommunikation bedroht.«

»Der Begründer dieses Hauses muß in der Hölle sein.«

»Das glauben wir alle, und wir beten nicht dafür, daß er herauskommt. Der Papst sollte diesem Unfug ein Ende machen.«

Ich gab dem Mädchen zehn Scudi und sagte ihr, da ich sie nicht sehen könne, so wolle ich ihr nicht versprechen, ein zweites Mal wiederzukommen. Ich ging mit Menicuccio hinaus, der sich Vorwürfe machte, mir diese langweilige Stunde verschafft zu haben.

Ich antwortete ihm: »Ich sehe voraus, daß ich niemals deine Geliebte und deine Schwester erblicken werde, deren Stimme mir ins Herz gedrungen ist.«

»Es scheint mir unmöglich zu sein, daß Ihre zehn Piaster nicht Wunder wirken.«

»Es muß doch noch ein anderes Sprechzimmer da sein?«

»Ja, aber dieses dürfen bei Strafe der Exkommunikation ohne Erlaubnis des Heiligen Vaters nur Priester betreten.«

Ich begriff nicht, wie eine so abscheuliche Anstalt geduldet werden konnte; denn es war offenbar, daß die armen Eingesperrten nur mit größter Mühe einen Gatten finden konnten. Da jedem Mädchen eine Mitgift von zweihundert Piastern zugesichert war, so hatte der Gründer der Anstalt doch wohl auf zwei Heiraten jährlich rechnen müssen; ich vermutete, daß diese Summen von irgendeinem Gauner zu seinem Nutzen verwendet würden.

Ich teilte meine Gedanken dem Kardinal Bernis in Gegenwart der Fürstin mit. Sie wurde von lebhafter Teilnahme für die Unglücklichen ergriffen und sagte, man müsse dem Papst eine von allen Insassen der Anstalt unterzeichnete Eingabe überreichen, worin sie den Heiligen Vater um Erlaubnis bäten, im Sprechzimmer in allen Ehren und unter denselben Förmlichkeiten wie in anderen Frauenklöstern Besuche zu empfangen.

Der Kardinal bat mich, die Bittschrift aufzusetzen, sie unterzeichnen zu lassen und der Fürstin zu übergeben. Unterdessen werde er einen günstigen Augenblick benützen, den Heiligen Vater von der Sache in Kenntnis zu setzen, und werde die geeignete Person ausfindig machen, um die Eingabe in aller Form zu überreichen.

An der Einwilligung der allergrößten Zahl der Eingesperrten zweifelte ich nicht. Ich setzte die Bittschrift auf, und als ich zum zweiten Male an das Gitter ging, übergab ich sie derselben Aufseherin, mit der ich bereits gesprochen hatte. Sie war von meiner Idee begeistert und versprach mir, bei meinem nächsten Besuch mir die Eingabe mit den Unterschriften aller ihrer Leidensgefährtinnen zurückzugeben.

Sobald die Fürstin Santa-Croce die Eingabe mit den Unterschriften hatte, wandte sie sich an den Kardinal-Protektor Orsini; dieser versprach ihr, mit dem vom Kardinal Bernis schon vorbereiteten Papst darüber zu sprechen. Der Heilige Vater ließ unverzüglich ein Breve ausfertigen, wodurch die Exkommunikation aufgehoben wurde.

Der Kaplan des Hauses erhielt den Auftrag, der Oberin zu sagen, daß sie in Zukunft Besuche im großen Sprechzimmer zu erlauben hätte; die jungen Mädchen, die gerufen würden, wären von einer Aufseherin zu begleiten.

Menicuccio kam freudestrahlend zu mir und erzählte mir diese Neuigkeit, die die Fürstin selber noch nicht kannte. Sie freute sich außerordentlich, als ich sie ihr erzählte.

Papst Ganganelli war ein Ehrenmann und ließ es dabei nicht bewenden. Er befahl, der Verwaltung den Prozeß zu machen und sie über alles in den hundert Jahren seit der Gründung Unterschlagene genau Rechenschaft ablegen zu lassen. Er setzte die Zahl der Zöglinge von hundert auf fünfzig herunter und verdoppelte die Mitgift. Er befahl außerdem, daß jedes Mädchen, das fünfundzwanzig Jahre alt geworden wäre, ohne einen Mann zu finden, mit der Mitgift von vierhundert Talern entlassen werden sollte. Zwölf Matronen von anerkannt gutem Lebenswandel wurden mit festem Gehalt als Aufseherinnen über die jungen Mädchen angestellt, so daß je vier unter der unmittelbaren Leitung einer dieser Frauen standen; zwölf Mägde sollten bezahlt werden, um die groben Arbeiten und die Bedienung im Hause zu verrichten.

Erstes Kapitel


Ich sehe die Zarin. – Meine Unterhaltungen mit der großen Herrscherin. – Die Valville. – Ich trenne mich von Zaïra. – Meine Abreise von Petersburg und Ankunft in Warschau. – Die Fürsten Adam Czartoryski und Sulkowski. – Der König von Polen Stanislaus Poniatowski, genannt Stanislaus August der Erste. – Theaterintrigen. – Branicki.

Ich gedachte zu Anfang des Herbstes abzureisen, aber die Herren Panin und Alsuwieff sagten mir fortwährend, ich dürfte nicht gehen, wenn ich nicht sagen könnte, daß ich mit der Kaiserin gesprochen hätte.

»Auch mir würde es leid tun«, antwortete ich ihnen; »da ich aber niemanden gefunden habe, um mich vorzustellen, so bleibt mir nichts anderes übrig, als mich in mein Schicksal zu ergeben.«

Endlich sagte Panin mir eines Tages, ich möchte doch in der Morgenfrühe im Sommergarten spazieren gehen, wo Ihre Kaiserliche Majestät häufig lustwandelte; wenn sie mir scheinbar zufällig begegnete, wäre es sehr wahrscheinlich, daß sie mich anreden würde. Ich sagte ihm, es wäre mir sehr angenehm, wenn ich Ihrer Majestät an einem Tage begegnen könnte, wo er bei ihr wäre. Er bezeichnete mir den Tag, und ich ging hin.

Während ich ganz allein spazieren ging, besah ich mir die Statuen, die am Rande der Allee aufgestellt waren – Statuen aus schlechtem Sandstein und von noch schlechterem Geschmack, die aber durch die auf ihrem Sockel eingemeißelten Namen eine komische Wirkung erzielten. Ein Kopf mit strömenden Tränen sollte Demokrit vorstellen, ein anderer, der den Mund von einem Ohr zum anderen aufriß, trug den Namen Heraklit, ein Greis mit langem Bart hieß Sappho und ein altes Weib mit schlotterndem Busen wurde Avicenna genannt. In demselben Geschmack war alles übrige.

Während ich über die Geschmacksverirrung lächelte, die diesen Unsinn eingegeben hatte, sah ich die Zarin erscheinen. Graf Gregor Orloff ging vor ihr her, und zwei Hofdamen folgten ihr. Graf Panin ging zu ihrer Linken. Ich trat beiseite, um sie vorüber zu lassen, aber sobald sie in Sprechweite war, fragte sie mich lachenden Mundes, ob die Schönheit der Statuen mich nicht sehr interessiert hätte. Ich schloß mich ihr an und antwortete: »Ich denke mir, man hat die Bilder hier aufgestellt, um die Dummköpfe zu foppen, oder um solche, die ein bißchen von Weltgeschichte wissen, zu erheitern.«

Die Kaiserin antwortete mir: »Ich weiß nur soviel, daß man meine gute Tante angeführt hat, die freilich wenig Wert darauf legte, solchen kleinen Scherzen auf den Grund zu gehen, übrigens hoffe ich, daß das, was Sie sonst bei uns gesehen haben. Ihnen nicht ebenso lächerlich vorgekommen ist wie diese Statuen.«

Ich würde einen Verstoß gegen Wahrhaftigkeit und Höflichkeit begangen haben, wenn ich diese Anregung nicht verstanden hätte. Ich antwortete daher: das Lächerliche, das man in Rußland sehe, sei nur der Schatten in dem großartigen Gemälde, das es hier zu bewundern gebe. Hierauf unterhielt ich die große Herrscherin länger als eine Stunde von allem, was ich in Petersburg bemerkenswert gefunden hatte.

Eine Abschweifung führte mich auf den König von Preußen, und ich pries den großen Mann, tadelte jedoch seine unerträgliche Gewohnheit, den Leuten, mit denen er sprach, niemals Zeit zu einer vollständigen Antwort zu lassen. Hierauf fragte Katharina mich mit dem anmutigsten Lächeln nach den Gesprächen, die ich mit dem Herrscher gehabt hätte, und ich schilderte ihr alles in einer Weise, die sie offenbar interessierte. Sodann hatte sie die Güte, mir zu sagen, sie habe mich niemals auf dem »Courtag« gesehen. Der Courtag war ein Instrumental- und Vokalkonzert, das sie jeden Sonntag nach dem Essen in ihrem Palais gab und wozu jedermann Zutritt hatte. Sie ging unter den Anwesenden auf und ab und sprach hier und da ein Wort mit solchen, die sie auszeichnen wollte. Ich sagte ihr, ich sei nur ein einziges Mal dagewesen, da ich das Unglück habe, die Musik nicht zu lieben. Sie wandte sich zu ihrem lieben Panin und sagte lächelnd, sie kenne jemanden, der dasselbe Unglück habe. Wenn der Leser sich der Worte erinnert, die ich die Kaiserin beim Verlassen der Oper hatte sagen hören, so wird er finden, daß ich als verschlagener Höfling sprach. Ich gebe es zu; aber ach, es ist zu schwer, es regierenden Herrschaften gegenüber nicht zu sein, besonders wenn es Herrschaften im Unterrock sind.

Die Zarin unterbrach unsere Unterhaltung, um etwas mit Herrn Betzkoy zu sprechen, der an sie herangetreten war. Da Herr von Panin sich von ihr verabschiedete, so verließ auch ich den Park, ganz bezaubert von der Ehre, die mir zuteil geworden war.

Die Kaiserin war von mittlerer Größe, gut gewachsen und von majestätischer Haltung. Sie besaß die Kunst, allen Liebe einzuflößen, von denen sie glaubte, daß sie neugierig seien, sie kennen zu lernen. Ohne schön zu sein, war sie doch sicher, durch ihre Sanftmut und Liebenswürdigkeit zu gefallen, besonders aber durch ihren Geist, dessen sie sich mit feinstem Takt bediente, um den geringsten Anschein von Anmaßlichkeit zu vermeiden, und dies war um so bewunderungswürdiger, da sie mit bestem Recht eine sehr gute Meinung von sich selber haben durfte.

Einige Tage darauf sagte Graf Panin mir, die Kaiserin habe sich zweimal nach mir erkundigt, und das sei ein sicheres Zeichen, daß ich ihr gefallen habe. Er riet mir, Gelegenheiten auszuspähen, um ihr zu begegnen, und versicherte mir, da sie bereits Geschmack an mir gefunden habe, so werde sie mich jedesmal zu sich heranrufen, wenn sie mich sehe, und wenn ich Lust hätte, eine Anstellung zu erhalten, so wäre es wohl möglich, daß sie an mich dachte.

Obwohl ich selber nicht wußte, zu welchem Amt ich in einem Lande, das ich zudem nicht liebte, wohl tauglich sein könnte, so war es mir doch angenehm, zu erfahren, daß ich mir mit leichter Mühe Zutritt bei Hof verschaffen könnte. Infolgedessen ging ich jeden Tag im Parke spazieren, und bald hatte ich ein zweites Gespräch mit der hohen Frau, das ich ganz genau mitteilen will.

Die Kaiserin bemerkte mich von ferne und schickte mir einen Offizier zu, der mich einlud, näher zu kommen. Das Tagesgespräch war damals das große Reiterfest, dessen Abhaltung durch das schlechte Wetter verhindert worden war. Sie fragte mich, ob man auch in Venedig Schauspiele dieser Art geben könnte. In meiner Antwort machte ich eine Menge Bemerkungen über die Schauspiele, die man an keinem anderen Ort als Venedig geben könnte. Meine Ausführungen machten ihr viel Vergnügen. Bei dieser Gelegenheit sagte ich auch, das Klima meiner Heimat sei glücklicher als das russische, insofern, als die schönen Tage dort die Regel seien, während sie in Petersburg eine seltene Ausnahme seien, obwohl die Fremden das Jahr hier jünger fänden als sonstwo auf der Welt.

»Sie haben recht,« sagte sie, »bei Ihnen ist das Jahr elf Tage älter.«

»Wäre es nicht eine Eurer Majestät würdige Handlung, das russische Jahr ebenso alt zu machen, wie das unsrige, indem Sie den Gregorianischen Kalender annähmen? Alle Protestanten haben das mit Vorteil getan, und England, das ihn vor vierzehn Jahren annahm, hat bereits mehrere Millionen gewonnen. Europa ist erstaunt, Madame, daß der alte Stil sich noch in einem Staate erhält, dessen Herrscherin das sichtbare Oberhaupt der Kirche ist, und dessen Hauptstadt eine Akademie der Wissenschaften besitzt. Man glaubt, Madame, Peter der Große, der den Befehl gab, das Jahr mit dem ersten Januar zu beginnen, würde ebenfalls den alten Stil abgeschafft haben, wenn er es nicht für notwendig und vorteilhaft gehalten hätte, sich nach England zu richten, das damals für den Handel Ihres ungeheuren Reiches die größte Bedeutung hatte.«

»Sie wissen doch,« sagte sie mit liebenswürdiger Miene und einem sehr feinen Lächeln, »daß Peter der Große kein Gelehrter war.«

»Madame, er war mehr als ein Gelehrter: der unsterbliche Peter war ein Genius ersten Ranges. Wenn er keine wissenschaftliche Bildung besaß, so hatte er statt dessen ein sehr feines Gefühl, und das ließ ihn ein sehr richtiges Urteil fällen über alles, was er sah oder was nach seiner Meinung geeignet war, die Wohlfahrt seiner Untertanen zu erhöhen. Sein großes Genie, verbunden mit einem festen und entschlossenen Charakter, bewahrte ihn vor Irrtümern und setzte ihn instand, die Mißbräuche abzustellen, die die Erreichung seiner großen Absichten hätten hindern können.«

Ihre Majestät, die mir mit Vergnügen zugehört zu haben schien, wollte mir antworten, als sie im selben Augenblick zwei Damen bemerkte, die sie heranrufen ließ. Sie sagte mir: »Ich werde Ihnen mit Vergnügen ein anderes Mal antworten.« Hierauf wandte sie sich zu den Damen.

Dieses andere Mal trat acht oder zehn Tage später ein, als ich bereits zu glauben begann, sie wolle nicht mehr mit mir sprechen. Denn sie hatte mich gesehen, aber nicht rufen lassen.

Sie redete mich mit den Worten an: »Was Sie zum Ruhme Rußlands gerne geschehen sähen, ist bereits gemacht. Alle Briefe, die wir nach fremden Ländern schreiben, alle öffentlichen Urkunden, die von irgendeiner geschichtlichen Bedeutung sein können, sind von jetzt an mit zwei Daten versehen, von denen das eine oben, das andere unten steht. Daß das Datum, das dem anderen um elf Tage voraus ist, das neuere ist, weiß jedermann.«

»Darf ich es jedoch wagen, Eure Majestät darauf aufmerksam zu machen, daß am Ende dieses Jahrhunderts der Unterschied der Tage zwölf betragen wird?«

»Durchaus nicht, auch dafür ist bereits gesorgt. Das letzte Jahr des Jahrhunderts, das bei Ihnen kein Schaltjahr ist, wird es auch bei uns nicht sein. Es bleibt also kein wirklicher Unterschied zwischen uns. Nicht wahr, diese Einschränkung genügt doch, da sie ein weiteres Umsichgreifen des Irrtums verhindert. Es ist sogar ein Glück, daß der Fehler elf Tage beträgt, denn da dies die Zahl ist, um welche jedes Jahr die Epakten vermehrt werden, so können wir sagen, daß Ihre Epakten auch die unsrigen sind, nur mit dem Unterschied eines Jahres. Wir haben sogar die gleiche Zahl in den elf letzten Tagen des tropischen Jahres. Was die Feier des Osterfestes anbetrifft, so muß man die Leute reden lassen. Ihre Tag- und Nachtgleiche ist auf den einundzwanzigsten März festgesetzt, die unsrige auf den zehnten, und die Vorwürfe, die die Astronomen gegen uns erheben, gelten auch Ihnen; bald haben wir unrecht, bald Sie. Denn die Tag- und Nachtgleiche tritt oftmals einen, zwei und sogar drei Tage früher oder später ein, und sobald wir der Tag- und Nachtgleiche gewiß sind, hat das Gesetz des Märzmondes recht geringe Bedeutung. Sie wissen doch, daß Sie oft nicht einmal mit den Juden übereinstimmen, deren Embolismus, wie man behauptet, ganz vollkommen sein soll. Kurz und gut, der Unterschied der Osterfeier stört nicht im geringsten die öffentliche Ordnung.«

»Was Eure Majestät mir soeben gesagt haben, ist voller Weisheit und Gelehrsamkeit. Sie haben mich mit höchster Bewunderung erfüllt; indessen, das Weihnachtsfest –«

»Nur in diesem Punkt hat Rom allerdings recht; denn Sie wollten mir vermutlich sagen, daß wir Weihnacht nicht in den Tagen der Wintersonnenwende feiern, wie es eigentlich sein sollte. Wir wissen es, aber ich glaube, man darf es auch nicht so genau nehmen. Ich ziehe es vor, lieber diesen geringen Fehler zu dulden, als allen meinen Untertanen eine große Betrübnis zu verursachen, indem ich elf Tage aus dem Kalender ausmerze und dadurch zwei oder drei Millionen wackere Russen um ihren Geburts- oder Namenstag bringe – ja sogar allen Russen: denn man würde sagen, ich hätte durch einen unerhört despotischen Befehl das Leben aller Menschen um elf Tage abgekürzt. Freilich würde man sich nicht laut beklagen, denn das ist hier nicht der Brauch; aber man würde sich ins Ohr flüstern, ich sei eine Atheistin und greife offenbar die Unfehlbarkeit des Konzils von Nicäa an. Diese einfältige Kritik wäre zwar im Grunde lächerlich, aber ich würde durchaus nicht darüber lachen: denn um mich zu erheitern, habe ich andere und viel angenehmere Gegenstände.«

Die Zarin hatte das Vergnügen, mich überrascht zu sehen, und entfernte sich sehr befriedigt. Ich habe nicht einen Augenblick daran gezweifelt, daß sie das Thema eigens studiert hatte, um mich zu verblüffen. Einige Tage darauf sagte Herr Alsuwieff mir, es sei sehr wohl möglich, daß die Kaiserin eine kleine Abhandlung über diesen Gegenstand gelesen habe, ein Werkchen, das er kenne, und worin alles, was sie mir gesagt habe, ganz genau enthalten sei. Übrigens sei es sehr wohl möglich, daß Ihre Majestät tiefe Kenntnisse auf diesem Gebiete besitze. Das war natürlich eine bloße Redensart, wie man sie eben im Munde eines jeden Höflings findet, besonders in Rußland.

Die Zarin sagte in sehr bescheidenem Ton und in einer sehr einfachen Redeweise ihre Meinung klar und deutlich, und ihr Geist schien ebenso unerschütterlich zu sein wie ihre gute Laune, deren immer gleiche Beständigkeit ihr lachendes Antlitz verkündete. Da diese lachende Miene ihr zur Gewohnheit geworden war, so kostete sie ihr wahrscheinlich keine Mühe; trotzdem ist sie dieserhalb zu bewundern, denn es gehört dazu eine Selbstbeherrschung, die die gewöhnlichen Regungen der menschlichen Natur im Zaume zu halten weiß. Die äußere Haltung der großen Katharina war das gerade Gegenteil der des Königs von Preußen, aber sie war Zeugnis, daß ihr Genie größer war als das dieses Herrschers. Sie ermutigte durch einen äußeren Anschein von Güte und hatte dadurch stets einen Vorteil, während die ausgeklügelte Schroffheit des Potsdamer Soldaten nicht selten dazu benutzt wurde, ihn zu täuschen. Prüft man Friedrichs Leben, so bewundert man seinen Mut, aber man sieht zugleich, daß er unterlegen wäre, wenn er nicht viel Glück gehabt hätte. Untersucht man dagegen das Leben Katharinas, so findet man, daß sie offenbar auf den Beistand der blinden Göttin sehr wenig gerechnet hat. Sie führte Unternehmungen durch, die vor ihrer Thronbesteigung in ganz Europa für groß gegolten hatten, die sie aber absichtlich als klein ansah.

Ich las kürzlich einen jener modernen Zeitschriftenaufsätze, deren Schreiber sich absichtlich von ihrem Thema zu entfernen scheinen, um die Aufmerksamkeit der Leser auf ihre eigene Person zu lenken. Der Verfasser behauptet, Katharina die Zweite sei glücklich gestorben wie sie gelebt habe. Alle Welt weiß, daß die große Herrscherin, auf ihrem Nachtstuhl sitzend, von einem plötzlichen Tod ereilt wurde. Wenn nun der Artikelschreiber diesen Tod einen glücklichen nennt, so liegt darin, daß dies die Todesart ist, die er für sich selber wünscht. Natürlich hat jeder seinen eigenen Geschmack, und wir können einem jeden wünschen, daß er einen solchen Tod findet, wie er ihm gefällt. Wenn aber für die Behauptung, daß dieser Tod ein glücklicher sei, die Voraussetzung gilt, daß der von ihm Betroffene ihn so gewünscht haben müsse – wer hat denn dem sonderbaren Schwärmer gesagt, daß Katharina sich gerade diesen Tod gewünscht habe? Wenn er etwa glaubt, daß dieser Wunsch dem tiefen Geist entspreche, den alle Welt der Kaiserin zuschrieb, so kann man ihn fragen, mit welchem Recht er die Behauptung aufstellt, daß ein tiefer Geist einen plötzlichen Tod als den glücklichsten ansehen müsse. Etwa, weil er selber ihn dafür hält? Aber, wenn er kein Dummkopf ist, so muß er doch befürchten, daß er sich irren kann, und wenn er sich irrt, so ist er ja ein Dummkopf. Der Artikelschreiber hat also auf alle Fälle eine Dummheit gesagt, einerlei, ob er sich irrt oder nicht. Um die Wahrheit zu erfahren, müßten wir die verstorbene Zarin selber befragen können. Wir würden etwa zu ihr sagen: »Sind Sie wirklich froh, Madame, daß Sie eines plötzlichen Todes gestorben sind?« Es wäre nicht unmöglich, daß sie uns antwortete:

»Welche Dummheit! Eine solche Frage dürfte nur an einen verzweifelten Menschen gerichtet werden, oder an eine Frau, deren schlechte Gesundheit sie befürchten ließe, daß sie nach langer und grausamer Krankheit einen schmerzhaften Tod erleiden würde. Ich befand mich weder in dem einen noch in dem anderen Fall; denn ich war glücklich und befand mich körperlich wohl. Ein größeres Unglück konnte mir gar nicht zustoßen, und gerade dieses Unglück kam mir völlig unerwartet. Dieses Unglück hat mich verhindert, eine Menge Sachen durchzuführen, die ich leicht hätte zu Ende bringen können, wenn Gott mir eine kleine Krankheit vergönnt hätte, deren Symptome mich auf die Möglichkeit meines Todes aufmerksam gemacht hätten. Es wäre nicht nötig gewesen, daß mein Äskulap mich darauf vorbereitete. Aber so ist es nicht gewesen. Ein unwiderruflicher Befehl hat mich gezwungen, die längste aller Reisen anzutreten, ohne mir Zeit zu lassen, mein Bündel zu schnüren, und in einem Augenblick, wo ich nicht bereit war. Soll man mich etwa wegen dieses Todes glücklich nennen, weil ich nicht die Qual gehabt habe, ihn kommen zu sehen? Wenn man annimmt, ich würde nicht den Mut gehabt haben, mich willig einem Naturgesetz zu fügen, das für mich wie für alle Sterblichen gilt, so traut man mir offenbar eine Feigheit zu, die ich bei Lebzeiten niemals gezeigt zu haben glaube. Heute, da Sie mich als Geist vor sich sehen, kann ich Ihnen versichern, daß ich mich glücklich schätzen würde, wenn der gar zu strenge Befehl, der mich plötzlich wie ein Blitz traf, mir vor meinem Ende einen Aufschub von zwanzig Stunden ruhiger Überlegung gelassen hätte. Dann würde ich mich nicht über die göttliche Ungerechtigkeit beklagen.«

»Wie, Madame, Sie klagen Gott der Ungerechtigkeit an?«

»Das ist ganz natürlich; denn ich bin ja verdammt. Glauben Sie, ein Verdammter, so schwer er auch bei Lebzeiten gefehlt haben möge, könne das Urteil gerecht finden, das ihn dazu verdammt, für die Ewigkeit unglücklich zu sein?«

»Das halte ich allerdings für schwierig, aber ich denke, es hätte Ihnen ein gewisser Trost sein können, wenn Sie die Verurteilung als gerecht anerkennen müßten.«

»Der Gedankengang ist richtig, aber ein Verdammter muß stets untröstlich sein.«

»Trotzdem gibt es Philosophen, die gerade wegen dieses Trostes, der Sie empört, Sie glücklich schätzen.«

»Das sind keine Philosophen, sondern Dummköpfe; denn was ich Ihnen gesagt habe, beweist, daß mein plötzlicher Tod mich offenbar unglücklich macht, selbst wenn ich mich heute glücklich fühlen sollte.«

»Ein starker Gedanke! Aber dürfte ich mir die Frage erlauben, ob Sie zugeben, daß auf einen unglücklichen Tod ein ewiges Glück folgen kann, oder umgekehrt: ein ewiges Unglück auf einen glücklichen Tod?«

»Das sind zwei Dinge, die außerhalb des Bereiches der Möglichkeit liegen. Das ewige Glück ergibt sich aus dem seligen Zustande, worin die Seele sich in dem Augenblick befindet, da sie ihre Stoffhülle abwirft; gerade so wird die ewige Verdammnis einer Seele zuteil, die den Leib in einem Augenblick verläßt, wo sie von Gewissensbissen gepeinigt und von brennender Reue verzehrt wird. Doch genug davon: die Strafe, zu der ich verdammt bin, erlaubt mir nicht, noch länger mit Ihnen zu sprechen.«

»Aber sagen Sie mir wenigstens: was ist das für eine Strafe?«

»Mich zu langweilen. Leben Sie wohl!«

Nach dieser langen poetischen Abschweifung, woran vielleicht nichts Wahres ist als meine augenblicklichen Ideen, wird der Leser mir Dank wissen, wenn ich wieder zu meiner Erzählung zurückkehre.

Graf Panin sagte mir, die Zarin werde in zwei oder drei Tagen nach ihrem Sommerpalast abreisen. Ich fand mich daher wieder im Park ein, in der Voraussicht, daß es zum letzten Male sein werde.

Ich befand mich seit einigen Augenblicken im Garten, als ein ziemlich starker Regen zu fallen begann. Ich wollte mich daher entfernen, aber in diesem Augenblick ließ die Kaiserin mich rufen und in einen zu ebener Erde gelegenen Saal eintreten, worin sie mit Gregorewitsch und einer Hofdame auf und ab ging.

»Ich vergaß«, sagte sie mit einem Gemisch von Würde und liebenswürdigstem Wohlwollen, »ich vergaß, Sie zu fragen, ob Sie die Verbesserung des Kalenders für völlig fehlerfrei halten.«

»Gewiß nicht, Madame; der verbesserte Kalender gibt ja diesen Fehler selber zu; aber der Fehler ist so klein, daß er sich erst nach Ablauf von neun- oder zehntausend Jahren bemerkbar machen kann.«

»Das habe ich ebenfalls gefunden, und mir scheint daher, daß unter diesen Umstünden Papst Gregor den Irrtum nicht hätte zugeben dürfen. Ein Gesetzgeber darf sich niemals so schwach und so übertrieben genau zeigen. Ich mußte lachen, als ich vor einigen Tagen sah, daß, ohne die Ausmerzung des Grundirrtums durch Unterdrückung des Schaltjahres am Ende jeden Jahrhunderts, die Welt nach Ablauf von fünfzigtausend Jahren ein ganzes Jahr zuviel gehabt hätte, und daß während dieses Zeitraums die Tag- und Nachtgleiche einhundertunddreißig Mal auf alle Tage des Jahres gefallen sein würde. Man hätte infolgedessen Weihnachten zehn- bis zwölftausendmal im Sommer gefeiert. Der Hohe Priester der lateinischen Kirche fand bei der Durchführung seiner weisen Maßregel einen willigen Gehorsam, den er in meiner Kirche nicht gefunden haben würde; denn diese hält überaus peinlich an ihren alten Gebräuchen fest.«

»Ich habe mir stets eingebildet, Eure Majestät würde sie gehorsam gefunden haben.«

»Daran zweifle ich nicht; aber wie tief würde es meine Geistlichkeit betrübt haben, wenn sie mehr als hundert männliche und weibliche Heilige ihres Festtages hatte berauben müssen! Sie haben für jeden Tag nur einen Heiligen, wir aber haben ein Dutzend. Ich möchte außerdem noch bemerken, daß alle alten Staaten an ihren alten Gesetzen hängen. Man hat mir gesagt, Ihre Republik beginne ihr Jahr mit dem ersten März, und ich finde diesen Brauch nicht etwa barbarisch, sondern im Gegenteil groß: er ist ein ehrenvolles Denkmal, das für das Alter des Staates zeugt. Übrigens ist es richtiger, das Jahr am ersten März, als am ersten Januar zu beginnen. Aber verursacht dieser Brauch nicht mancherlei Verwirrung?«

»Durchaus nicht, Madame. Die beiden Buchstaben M. V., die wir in den Monaten Januar und Februar dem Datum hinzufügen, machen ein Mißverständnis unmöglich.«

»Venedig zeichnet sich auch durch sein Wappen aus, das von allen Regeln der Heraldik abweicht; denn man kann es eigentlich kein Wappenschild nennen. Eigentümlich ist auch die scherzhafte Art, wie Ihr Schutzpatron dargestellt ist, und seltsam sind die fünf lateinischen Worte, die sich an den Heiligen Markus richten, und worin, wie man mir gesagt hat, ein grammatikalischer Fehler vorkommt – ein Fehler, der durch sein Alter ehrwürdig geworden ist. Aber ist es wahr, daß Sie die vierundzwanzig Stunden des Tages nicht in zweimal zwölf Stunden einteilen?«

»Ganz recht, Madame, und wir beginnen die Stundenzählung mit dem Einbruch der Nacht.«

»Da sehen Sie die Macht der Gewohnheit! Ihnen erscheint dies bequemer, und Sie kümmern sich nicht darum, daß es der ganzen übrigen Welt lächerlich vorkommt. Ich wenigstens würde es, glaube ich, sehr unbequem finden.«

»Eure Majestät würde durch einen Blick auf die Uhr sofort erfahren, wie viele Stunden der Tag noch dauern wird, und brauchte nicht auf den Kanonenschuß der Zitadelle zu hören, die die Einwohner benachrichtigt, daß die Sonne unter den Horizont verschwunden ist.«

»Das ist richtig, aber wenn Sie den Vorteil haben, zu wissen, wieviel Uhr es am Ende des Tages ist, so haben wir dafür zwei Vorteile: wir wissen, daß es um zwölf Uhr stets entweder Mittag oder Mitternacht ist.«

Hierauf sprach die Zarin mit mir über die Sitten der Venetianer, besonders über ihre Neigung zum Glücksspiel. Sie fragte mich bei dieser Gelegenheit, ob die Genueser Lotterie bereits in Venedig eingerichtet sei, und bemerkte: »Man hat mich überreden wollen, sie in meinem Staate zu erlauben. Ich wäre einverstanden gewesen, aber nur unter der Bedingung, daß der Einsatz nicht weniger als einen Rubel betragen dürfte, damit die Armen nicht zum Spiel verlockt würden.«

Ich antwortete auf diese weise Bemerkung durch eine tiefe Verbeugung, und dies war das Ende der letzten Unterhaltung, die ich mit der berühmten Frau hatte. Sie hat es verstanden, fünfunddreißig Jahre lang zu regieren, ohne auch nur einen einzigen bedeutungsvollen Fehler zu begehen. Der Geschichtschreiber wird ihr stets einen der schönsten Plätze unter den großen Herrschern zuerkennen, wenngleich strenge Moralisten sie zu den übermüßig sinnlichen Frauen rechnen werden, und mit Recht.

Wenige Tage vor meiner Abreise gab ich allen meinen Freunden ein Festmahl in Katharinenhof mit einem schönen Feuerwerk, das mir nichts kostete, denn es war ein Geschenk meines Freundes Melissino. Mein Abendessen zu dreißig Gedecken war auserlesen und mein Ball glänzend. Trotz der Schmalheit meiner Börse hielt ich mich für verpflichtet, meinen Freunden für die viele Aufmerksamkeit, die sie mir erwiesen hatten, dieses Zeichen meiner Dankbarkeit zu geben.

Da ich mit der Schauspielerin Valville abreiste, so muß ich jetzt dem Leser mitteilen, auf welche Weise ich ihre Bekanntschaft machte.

Eines Abends ging ich allein in die Französische Komödie und setzte mich in einer Loge neben eine sehr hübsche Dame, die ohne Begleitung dort war und die ich nicht kannte. Ich kam mit ihr in ein Gespräch, indem ich bald lobende, bald tadelnde Bemerkungen über das Spiel der Künstler und Künstlerinnen machte. Ich fand ihre Antworten stets richtig und geistreich und ihren Ton ebenso verführerisch wie ihre Reize. Ganz entzückt von ihr, nahm ich mir gegen Ende der Vorstellung die Freiheit, sie zu fragen, ob sie Russin sei.

»Um Gottes willen, nein!« sagte sie lächelnd; ich bin Pariserin, und zwar Schauspielerin von Beruf. Ich heiße Valville und bin durchaus nicht überrascht, daß Sie mich nicht kennen, denn ich bin erst seit einem Monat hier und habe nur ein einziges Mal die Zofenrolle in den Folies amoureuses gespielt.«

»Warum haben Sie nur ein einziges Mal gespielt?«

»Weil ich nicht das Glück hatte, der Kaiserin zu gefallen. Da ich jedoch für ein Jahr engagiert bin, hat sie gnädigst befohlen, mir bis zum Ablauf des Jahres jeden Monat hundert Rubel auszuzahlen. Alsdann wird man mir einen Paß geben, mir die Reisekosten bezahlen, und ich werde abreisen.«

»Ich bin überzeugt, die Zarin glaubt, Ihnen eine Gnade zu erweisen, indem sie Ihnen Ihr Gehalt auszahlen läßt, ohne daß Sie zu spielen brauchen.«

»Wahrscheinlich glaubt sie das, aber sie ist keine Schauspielerin und weiß nicht, daß ich mehr, als sie mir gibt, verliere, indem ich nicht spiele; denn ich verlerne meinen Beruf, worin ich noch nicht einmal ausgelernt hatte.«

»Sie müssen Sie darauf aufmerksam machen.«

»Es wäre mein Wunsch, daß sie mir eine Audienz bewilligte.«

»Das ist nicht nötig. Sie haben doch ganz gewiß einen Liebhaber?«

»Nein.«

»Das ist unglaublich.«

»Das Wahre ist zuweilen nicht wahrscheinlich, aber es ist die Wahrheit.«

»Ich will es Ihnen gern glauben.«

Ich ließ mir ihre Adresse geben und schrieb ihr gleich am nächsten Tage folgendes Briefchen:

»Ich möchte, Madame, eine Intrige mit Ihnen anknüpfen. Sie haben mir Gefühle eingeflößt, die mich unglücklich machen würden, wenn Sie sie nicht erwidern würden. Ich nehme mir die Freiheit, mich bei Ihnen zum Abendessen einzuladen, aber ich wünsche vorher zu wissen, was es mir kosten wird; ich muß in einem Monat nach Warschau reisen und biete Ihnen einen Platz in meinem Schlafwagen an. Ich kenne die Mittel, Ihnen einen Paß zu verschaffen. Der Bote hat Befehl, auf Antwort zu warten, und ich hoffe, Sie werden diese eben so klar und deutlich abfassen, wie mein Brief es ist.«

Zwei Stunden später erhielt ich folgende Antwort:

»Mein Herr! Da ich das Talent besitze, eine Intrige, deren Fäden mir nicht gefallen, mit Leichtigkeit wieder zu lösen, so nehme ich durchaus keinen Anstand, Ihrem Vorschlage zuzustimmen. Ich verlange nichts Besseres, als die Gefühle zu teilen, die Sie mir eingeflößt haben, und ich werde mein Möglichstes tun, Sie glücklich zu machen. Sie werden das Abendessen bereit finden; über den Preis dessen, was darauf folgen soll, werden wir uns später einigen. Es wird mir eine große Freude sein, den Platz in Ihrem Schlafwagen anzunehmen, wenn Sie soviel Einfluß besitzen, um mir außer meinem Paß auch die Reisekosten bis Paris zu verschaffen. Ich hoffe, Sie werden meine Ausdrücke nicht weniger deutlich finden als die Ihrigen. Leben Sie wohl bis heute Abend!«

Ich fand meine neue Bekannte allein in einer sehr gut eingerichteten Wohnung, und wir begrüßten uns wie zwei alte vertraute Freunde.

»Ich würde glücklich sein,« sagte sie, »mit Ihnen abreisen zu können, aber ich bezweifle, daß Sie mir die Erlaubnis verschaffen können.«

»Ich zweifle gar nicht daran, wenn Sie der Kaiserin eine Eingabe überreichen wollen, wie ich sie Ihnen machen werde.«

»Ich werde sie genau so einreichen wie sie ist; darauf können Sie sich verlassen!«

Sie reichte mir sofort Schreibzeug, und ich schrieb die Eingabe nieder. Sie lautete ungefähr folgendermaßen:

»Madame, ich bitte Eure Majestät allergnädigst bedenken zu wollen, daß ich meinen Beruf, den ich noch nicht einmal völlig erlernt habe, ganz sicherlich verlernen werde, wenn ich ein volles Jahr hier bleibe, ohne etwas zu tun. Ihre Großmut gereicht mir daher nicht zum Nutzen, sondern im Gegenteil zu großem Schaden, und ich würde Eurer Majestät zu tiefster Dankbarkeit verpflichtet sein, wenn Sie mir gütigst gestatten würden, abzureisen.«

»Wie? Weiter nichts?«

»Kein Wort mehr.«

»Du sagst nichts vom Paß, nichts vom Reisegeld. Ich bin nicht reich.«

»Überreiche diese Eingabe, und ich müßte der allerdümmste Mensch sein, wenn du nicht nur das Reisegeld, sondern auch dein Gehalt für das ganze Jahr erhieltest.«

»Das wäre zuviel.«

»Nein, und du wirst es bekommen. Du kennst Katharina nicht, ich aber kenne sie. Laß diese Eingabe abschreiben und überreiche sie persönlich.«

»Ich werde sie selber abschreiben, denn ich habe eine ziemlich schöne Schrift. Übrigens kommt es mir vor, wie wenn ich selber diese Eingabe verfaßt hätte, denn es ist ganz und gar mein Stil. Ich glaube, mein lieber Freund, du bist ein besserer Schauspieler als ich, und ich will von heute Abend an deine Schülerin werden. Laß uns zu Tisch gehen, damit du mir meine erste Unterrichtsstunde um so früher geben kannst!«

Nach einem recht delikaten Abendessen, das die schöne Valville mit hundert angenehmen Bemerkungen würzte, bewilligte sie mir alles, was ich wünschte. Ich ging einen Augenblick hinunter, um meinen Kutscher fortzuschicken und ihm zu sagen, was er meiner Zaira mitteilen sollte. Ich hatte dieser vorher gesagt, ich würde vielleicht nach Kronstadt fahren und dann erst am nächsten Tage zurückkehren. Mein Kutscher war ein Ukrainer, dessen Treue ich oft erprobt hatte. Aber ich begriff sofort, daß ich mich von meiner schönen Russin trennen mußte, wenn ich der Freund meiner neuen Eroberung wurde.

Ich fand an der Valville den Charakter und die Eigenschaften aller jungen Französinnen ihrer Art, die ihre Reize auszunützen gedenken, eine gewisse Erziehung genossen haben, die sie über den großen Haufen hinaushebt, und daraus das Recht ableiten, nur einem einzigen anzugehören: sie wollen unterhalten werden, und es schmeichelt ihnen mehr, eine Geliebte zu sein als eine Gattin.

In unserem Zwischenakte erzählte sie mir einige von ihren Abenteuern, und ich erriet daraus ihre ganze Geschichte, die nicht lang war. Der Schauspieler Clerval war nach Paris gegangen, um für den Petersburger Hof eine Schauspielertruppe zu werben. Er hatte sie zufällig kennen gelernt, und da er in ihr ein geistreiches Mädchen fand, so hatte er ihr eingeredet, sie sei zur Schauspielerin geboren, obwohl sie nie in ihrem Leben daran gedacht hatte. Der Gedanke hatte sie geblendet, und sie hatte den Vertrag unterzeichnet. Sie war mit ihrem Werber und sechs anderen Schauspielern und Schauspielerinnen von Paris abgereist; unter diesen war sie die einzige, die noch niemals gespielt hatte.

»Ich glaubte,« so erzählte sie mir, »man könnte in eine Schauspielertruppe eintreten, wie in Paris ein junges Mädchen in den Opernchor oder ins Ballett eintritt, ohne jemals singen oder tanzen gelernt zu haben. Konnte ich anders denken, wenn ein Künstler wie Clerval mir sagte, ich sei dazu geschaffen, auf der Bühne zu glänzen, und wenn er es mir dadurch bewies, daß er mit mir einen vorteilhaften Vertrag abschloß und daß er mich mit sich nahm? Er verlangte von mir weiter nichts, als daß ich ihm etwas vorlas und daß ich einige Szenen auswendig lernte, die er mich in meinem Zimmer mit ihm spielen ließ. Er fand, ich sei eine ausgezeichnete Soubrette, und er hat mich ganz gewiß nicht täuschen wollen; aber er hat sich selber getäuscht. Vierzehn Tage nach unserer Ankunft in Petersburg trat ich zum ersten Mal auf und erlitt einen sogenannten Durchfall, aus dem ich mir in Wahrheit recht wenig machte, da ich die angebliche Schande nicht fühlte.«

»Vielleicht hast du Angst gehabt.«

»Angst! Im Gegenteil. Clerval hat mir geschworen: wenn ich nur ein wenig Angst hätte heucheln können, so würde die Kaiserin, die die Güte selber ist, es als ihre Pflicht angesehen haben, mich zu ermutigen.«

Ich verließ sie am Morgen, nachdem sie noch in meiner Gegenwart die Eingabe abgeschrieben hatte. Sie hatte eine sehr schöne Handschrift.

»Ich werde«, sagte sie mir, »die Bittschrift morgen überreichen.«

Ich bestärkte sie in diesem Beschluß und nahm ihre Einladung zu einem zweiten Abendessen an, das an dem Abend stattfinden sollte, wo ich mich von Zaïra getrennt haben würde.

Die jungen Pariserinnen, die sich dem Dienst der Venus gewidmet haben und dabei Geist besitzen, gleichen alle der Valville: sie haben weder Leidenschaft noch Temperament und kennen infolgedessen die Liebe nicht; aber sie sind gefällig, einschmeichelnd und liebenswürdig. Sie kennen nur ein einziges Ziel, dem sie unaufhörlich zustreben: angenehmes Leben und pekuniären Vorteil. Lachend und stets mit der größten Leichtigkeit lösen und knüpfen sie eine Intrige. Das ist keine Leichtfertigkeit, sondern System, und wenn es nicht das beste ist, so ist es sicherlich das bequemste.

Als ich nach Hause kam, fand ich Zaïra ruhig, traurig, und dies gefiel mir noch weniger, als wenn sie zornig gewesen wäre, denn ich liebte sie. Aber ich mußte ein Ende mit ihr machen und mich auf alle Pein unserer bevorstehenden Trennung vorbereiten.

Der Baumeister Rinaldi, ein alter Herr von siebzig Jahren, aber noch frisch und sinnlich, war in sie verliebt. Er hatte mir mehrere Male gesagt, ich würde ihm ein großes Vergnügen machen, wenn ich bei meiner Abreise sie ihm überließe, und hatte sich erboten, mir das Doppelte von dem zu geben, was sie mir gekostet hätte. Ich hatte ihm bisher immer geantwortet, ich würde sie niemals einem anderen überlassen, dem sie nicht freiwillig folgte, denn ich hatte die Absicht, ihr die Summe zu überlassen, die ich für sie erhalten würde. Diese Erklärung gefiel Herrn Rinaldi nicht, denn er schmeichelte sich nicht mit der Einbildung, ihr zu gefallen. Trotzdem hoffte er.

Der Zufall führte ihn gerade an diesem Morgen zu mir, als ich beschlossen hatte, der Sache ein Ende zu machen. Da er sehr gut russisch sprach, so erklärte er der Kleinen, wie innig und zärtlich er sie liebe. Sie antwortete ihm italienisch, sie könne nur demjenigen gehören, dem ich ihren Paß überlassen werde, und er müsse sich daher an mich wenden; denn sie könne keinen anderen Willen haben als den meinigen; sie hege jedoch für keinen Menschen Gefühle des Abscheus oder der Zuneigung.

Der ehrenwerte Greis konnte eine bestimmtere Antwort nicht von ihr erlangen und verließ uns daher, nachdem er mit uns gespeist hatte. Seine Hoffnung war gering, trotzdem empfahl er sich angelegentlich meiner Fürsprache.

Als Rinaldi fortgegangen war, bat ich Zaïra, mir aufrichtig zu sagen, ob sie es mir übelnehmen würde, wenn ich sie diesem trefflichen Manne überließe, der sie wie seine eigene Tochter behandeln würde.

In dem Augenblick, wo sie mir antworten wollte, übergab man mir ein Briefchen von der Valville. Sie bat mich, einen Augenblick bei ihr vorzusprechen, um eine gute Nachricht zu hören. Ich befahl sofort meinen Wagen, indem ich Zaiïra sagte, ich würde sehr bald zurückkommen.

»Schön,« antwortete sie mir; »besorge deine Geschäfte. Wenn du wiederkommst, werde ich dir eine bestimmte Antwort geben.«

Ich fand die Valville in einem Freudentaumel.

»Hurra die Bittschrift!« rief sie mir sofort bei meinem Anblick entgegen. »Ich erwartete die Kaiserin vor ihren Gemächern, als sie aus der Kapelle kam. Sobald sie mich bemerkte, fragte sie mich huldvoll, was ich da machte. Ich überreichte ihr mit ehrfurchtsvoller Miene meine Bittschrift; sie las dieselbe im Gehen und sagte mir mit einem wohlwollenden Lächeln, ich möchte einen Augenblick warten. Zwei Minuten darauf schickte Ihre Majestät mir die Eingabe mit einer eigenhändigen Randbemerkung zurück und ließ mir sagen, ich möchte damit zu Herrn Ghelagin gehen. Der Herr empfing mich sehr freundlich und sagte mir, die Fürstin befehle ihm, mir einen Paß auszuhändigen und dazu mein Gehalt für ein Jahr und hundert Dukaten für die Reisekosten. Paß und Geld werde ich in vierzehn Tagen erhalten, weil soviel Zeit erforderlich ist, um die polizeilichen Veröffentlichungen zu erlassen.

Die Valville war voll von Dankbarkeit und versicherte mich ihrer innigsten Freundschaft. Wir verabredeten den Zeitpunkt unserer Abfahrt, und drei oder vier Tage darauf ließ ich bekannt machen, daß ich reisen würde.

Da ich Zaiïra versprochen hatte, gleich wieder nach Hause zu kommen, außerdem auch neugierig war, welchen Entschluß sie gefaßt hätte, so verabschiedete ich mich von meiner neuen Freundin, indem ich ihr die Versicherung gab, daß ich mit ihr zusammenleben würde, sobald ich die junge Russin, die ich in Petersburg lassen müßte, guten Händen übergeben hätte.

Zaiïra aß in sehr guter Laune mit mir zu Abend und fragte mich dann, ob Herr Rinaldi, wenn er sie erhielt, mir die hundert Rubel zurückzahlen würde, die ich ihrem Vater gegeben hätte. Als ich diese Frage bejahte, fuhr sie fort: »Aber mir scheint, jetzt bin ich doch viel mehr wert; denn du lässest mir alle Sachen, die du mir geschenkt hast, und außerdem spreche ich italienisch.«

»Du hast vollkommen recht, mein Kind, aber ich will nicht, daß man mir soll nachsagen können, ich hätte Geld an dir verdient, zumal da ich die Absicht habe, dir die hundert Rubel zu schenken, die er mir auszahlen wird, wenn ich ihm deinen Paß gebe.«

»Da du mir dieses schöne Geschenk machen willst, warum gibst du mich nicht mit meinem Paß meinem Vater zurück? Wenn Herr Rinaldi mich liebt, brauchst du ihm nur zu sagen, er solle mich bei meinem Vater aufsuchen. Er spricht ebensogut russisch wie dieser, sie werden sich über den Preis einigen, und ich werde mich nicht widersetzen. Wird es dir unangenehm sein, wenn er für mich bezahlt, was ich wert bin?«

»Nein, gewiß nicht; es wird mir im Gegenteil sehr angenehm sein, wenn ich deiner Familie nützlich sein kann, um so mehr, da Rinaldi reich ist.«

»Das genügt. Du wirst meinem Gedächtnis stets teuer sein. Bringe mich morgen nach Katharinenhof und jetzt laß uns zu Bett gehen!«

So trennte ich mich also von diesem reizenden Mädchen, dem ich es verdankte, daß ich in Petersburg recht vernünftig lebte. Zinowieff sagte mir, ich hätte mit ihr abreisen können, wenn ich eine bescheidene Summe als Bürgschaft hinterlegte. Er würde mir die Erlaubnis leicht verschaffen. Ich dachte jedoch an die Folgen und war so vernünftig, das Anerbieten abzulehnen; denn ich liebte Zaiïra. Sie entwickelte sich immer herrlicher,und bei ihrer Schönheit und ihrem Geist wäre ich ihr Sklave geworden. Immerhin ist es möglich, daß ich es nicht so genau genommen hätte, wenn ich nicht bereits die Valville besessen hätte.

Zaiïra verbrachte den Vormittag damit, unter Lachen und Weinen ihre Sachen zu packen. Sie sah meine Tränen fließen, so oft sie ihren Koffer verließ, um mir einen Kuß zu geben. Als ich sie bei ihrem Vater ließ und diesem ihren Paß gab, sah ich um mich herum ihre ganze Familie auf den Knien liegen. Ich schämte mich der menschlichen Natur, die durch die Sklaverei so tief erniedrigt wird.

Zaiïra paßte nicht gut in die armselige elterliche Hütte hinein, wo ein riesiger Strohsack das gemeinsame Bett der ganzen Familie war.

Rinaldi war mit den getroffenen Anordnungen nicht unzufrieden; er sagte mir, die Einwilligung des Vaters werde er bald haben, da er auf die Zustimmung der Tochter rechnen dürfte. Er besuchte sie gleich am nächsten Tage, doch erhielt er sie erst nach meiner Abreise. Er hat sie bis zu seinem Tode bei sich behalten und ihr viel Gutes getan.

Nach dieser traurigen Trennung wurde die Valville meine einzige Freundin. Einige Wochen darauf reisten wir ab. Ich nahm als Diener einen armenischen Kaufmann, der mir hundert Dukaten lieh und recht gut auf orientalische Art kochte. Er hatte einen Empfehlungsbrief des polnischen Gesandten für den Fürsten August Sulkowski und einen anderen von einem anglikanischen Geistlichen für den Fürsten Adam Czartoryski.

Am Tage nach unserer Abfahrt von Petersburg machten wir in Koporie Halt, um dort zu Mittag zu essen; wir hatten in unserem Schlafwagen gute Eßwaren und ausgezeichnete Weine. Zwei Tage darauf begegneten wir dem berühmten Kapellmeister Galuppi, genannt Buranelli, der sich mit zwei Freunden und einer Virtuosa nach Petersburg begab. Er kannte mich nicht und war sehr überrascht, in dem Gasthof, wo er Halt machte, ein gutes Mittagessen nach venetianischer Art zu finden und von einem Kavalier mit einem Kompliment in seiner Muttersprache empfangen zu werden. Sobald ich ihm meinen Namen genannt hatte, umarmte er mich mit Ausrufen der Überraschung und Befriedigung.

Da der Regen die Straßen verdorben hatte, brauchten wir acht Tage, um nach Riga zu gelangen, wo ich zu meinem großen Schmerz meinen liebenswürdigen Prinzen Karl nicht mehr fand. Von Riga brauchten wir noch vier Tage bis Königsberg, wo die Valville, die in Berlin erwartet wurde, mich verlassen mußte. Ich überließ ihr meinen Armenier, dem sie gerne die hundert Dukaten bezahlte, die ich ihm schuldete. Zwei Jahre später traf ich sie in Paris wieder, wie ich am geeigneten Orte erzählen werde. Wir trennten uns als gute Freunde und ohne jene traurigen Gedanken, die uns stets einige Augenblicke des Glücks rauben. Wir waren nur deshalb ein Liebespaar gewesen, weil wir uns aus der Liebe selbst nichts gemacht hatten, aber unsere Genüsse hatten zwischen uns eine aufrichtige und opferwillige Freundschaft begründet. In Klein-Roop, einem Örtchen nicht weit von Riga, wo wir die Nacht verbrachten, bot sie mir ihre Diamanten und all ihr Geld an. Wir wohnten bei der Gräfin von Löwenwald, der ich einen Brief von der Fürstin Dolgorucki überbracht hatte. Die Dame hatte bei ihren Kindern als Erzieherin Campionis Frau, die hübsche Engländerin, die ich bei meiner ersten Durchreise in Riga kennen gelernt hatte. Sie sagte mir, ihr Mann sei in Warschau und wohne bei Villiers. Sie gab mir einen Brief für ihn, und ich versprach ihr, ihn zu veranlassen, daß er ihr Geld schickte; ich habe Wort gehalten. Ich sah auch die kleine Betty wieder; sie war immer noch reizend und wurde immer noch von ihrer Mutter, die auf sie eifersüchtig zu sein schien, schlecht behandelt.

Da ich nun in Königsberg allein war, so verkaufte ich meinen ausgezeichneten Schlafwagen und nahm einen Platz in einem Mietswagen, um die Reise nach Warschau zu machen. Wir waren zu vieren, und meine Begleiter waren Polen, die nur polnisch und deutsch sprachen; so lernte ich denn in den sechs Tagen, die diese unangenehme Reise dauerte, die Langeweile in ihrer ganzen Häßlichkeit kennen. In Warschau stieg ich bei Villiers ab, in dessen Gasthof ich sicher war, meinen Freund Campioni zu treffen.

Bald hatte ich das Vergnügen, ihn zu sehen. Ich fand ihn in guten Verhältnissen und in einer schönen Wohnung. Er hielt eine Tanzschule, die sich guten Zuspruchs erfreute. Er war hocherfreut, Nachrichten von Fanny und seinen Kindern zu erhalten, und schickte ihnen Geld, dachte aber nicht daran, sie nach Warschau kommen zu lassen, wie sie es wünschte. Er versicherte mir, Fanny sei nicht seine Frau.

Er erzählte mir, Tomatis, der Direktor der Komischen Oper, habe in Warschau sein Glück gemacht; er habe eine Mailänder Tänzerin, eine gewisse Catai, die mehr durch ihre Reize als durch ihr Talent Stadt und Hof entzücke. Das Glücksspiel war erlaubt; er nannte mir die Spieler, die offenes Haus hielten, machte mich aber zugleich darauf aufmerksam, daß Warschau voll von Griechen sei, oder mit einem anderen Wort: von Betrügern. Eine Veroneserin, namens Giropoldi, die mit einem lothringischen Offizier, Bachelier, zusammenlebte, hielt eine Pharaobank; eine Tänzerin, die früher die Geliebte des berüchtigten Afflisio in Wien gewesen war, lockte die Kunden an.

Ein anderer Grieche, der mit einer hübschen Sächsin zusammenlebte, war der Major Salvi, von dem ich gelegentlich meines zweiten Aufenthaltes in Amsterdam zur Genüge gesprochen habe. Der Baron von Ste.-Héleine war ebenfalls in Warschau, aber sein Haupttalent bestand nur darin, Schulden zu machen und nicht zu bezahlen. Er wohnte ebenfalls bei Villiers mit seiner hübschen und anständigen Frau, die von seinen Geschäften nichts wissen wollte. Campioni erzählte mir außerdem von verschiedenen anderen Abenteurern, die ich in meinem eigenen Interesse sorgfältig vermeiden müßte. Es war mir sehr lieb, von ihm diese Warnung zu erhalten.

Am nächsten Tage nahm ich einen Lohndiener und einen Mietswagen; ein solcher ist in Warschau unentbehrlich, denn es war dort, zu meiner Zeit wenigstens, völlig unmöglich, zu Fuß zu gehen. Es war Ende Oktober 1765.

Mein erster Ausgang galt dem Fürsten Adam Czartoryski, General von Podolien, für den ich einen Brief hatte. Ich fand den Fürsten vor einem großen, mit Aktenheften bedeckten Tisch, von etwa fünfzig Menschen umringt, in einer sehr großen Bibliothek, die er sich als Schlafzimmer eingerichtet hatte. Er war indessen mit einer sehr hübschen Gräfin von Flemming verheiratet, hatte ihr aber noch kein Kind machen können, weil er sie zu mager fand.

Nachdem er den langen Brief gelesen hatte, den ich ihm überbrachte, sagte er mir in parfümiertem Französisch, er halte große Stücke auf die Person, die mich empfehle; da er aber für den Augenblick sehr beschäftigt sei, so bitte er mich, mit ihm zu Abend zu speisen, ›wenn ich nichts Besseres zu tun habe‹.

Ich stieg wieder in meinen Wagen und ließ mich zum Fürsten Sulkowski fahren, der soeben zum Gesandten am Hofe Ludwigs des Fünfzehnten ernannt worden war. Der Fürst war der älteste von vier Brüdern; er hatte einen tiefen Geist und war voll von Plänen; aber diese waren alle im Geschmack des Abbé von St.- Pierre.

Er las meinen Brief und sagte mir, er habe viel mit mir zu sprechen; da er aber ausgehen müsse, so werde ich ihm ein großes Vergnügen machen, wenn ich um vier Uhr allein mit ihm zu Mittag speisen werde. Ich versprach es ihm. Von dort fuhr ich zu einem Kaufmann, namens Szempinski, der mir im Auftrage Papanelopulos jeden Monat fünfzig Dukaten auszahlen sollte. Mein Lakai sagte mir, im Theater finde die Generalprobe einer neuen Oper statt, wozu jedermann Zutritt habe. Ich ließ mich hinfahren und verbrachte dort drei Stunden; ich kannte unter den Anwesenden keinen Menschen, und niemand kannte mich. Ich fand die Künstlerinnen hübsch, besonders aber die Catai, obwohl diese keinen Schritt tanzen konnte. Trotzdem fand sie allgemeinen Beifall, besonders auch vonseiten des russischen Gesandten, Fürsten Repnin, der in einem Ton sprach, wie wenn er der Herrscher von Polen wäre.

Fürst Sulkowski behielt mich vier lange Stunden bei Tisch und prüfte mich auf allen Gebieten, nur nicht auf denen, wo ich etwas wissen konnte. Seine Stärke waren Politik und Handelswissenschaft, und da er fand, daß ich davon gar nichts verstand, so glänzte er und faßte eine große Zuneigung zu mir; wie ich glaube, gerade darum, weil er in mir nur einen Bewunderer sah.

‚Da ich nichts Besseres zu tun hatte‘ – eine Redensart, die alle polnischen großen Herren unaufhörlich im Munde führten, – so ging ich gegen neun Uhr zum Fürsten Adam, der der Gesellschaft meinen Namen nannte und mir hierauf alle anwesenden Personen vorstellte. Es waren Seine Gnaden der Fürstbischof von Ermland, Krasinski; der Großnotar der Krone, Rzewuski, den ich in Petersburg gesehen hatte, der Freund der kurz vorher an den Pocken gestorbenen Langlade; der Wojwode von Wilna, Oginski, und der General Roniker nebst zwei anderen Herren, deren allzu schwierige Namen ich nicht habe behalten können. Die letzte, die er mir nannte, war seine Frau, die ich sehr hübsch fand. Einige Augenblicke darauf sah ich einen schönen Kavalier eintreten, bei dessen Anblick alle Anwesenden sich erhoben. Fürst Adam nannte meinen Namen, wandte sich hierauf zu mir und sagte in kaltem Tone: »Es ist der König.«

Diese Art, einen bedeutungslosen Fremden mit einem Herrscher zusammenzubringen, hatte sicherlich nichts Entmutigendes, denn die souveräne Majestät trat nicht in einer blendenden Form auf; nichtsdestoweniger war es für mich eine Überraschung, und ich sah, daß allzu große Einfachheit einen Menschen ebensowohl aus dem Gleichgewicht bringen kann wie allzugroße Pomphaftigkeit. Den Gedanken, daß der Fürst sich über mich lustig machen könnte, wies ich sofort von mir. Ich trat zwei Schritt vor, und in dem Augenblick, wo ich das Knie beugen wollte, gab Seine Majestät mir mit der größten Anmut die Hand zum Kuß. Als er mich anreden wollte, gab Fürst Adam ihm den Brief des anglikanischen Geistlichen, der ihm ebenfalls sehr gut bekannt war. Der König begann diesen Brief zu lesen, ohne sich zu setzen; hierauf stellte er mir allerlei Fragen über die Zarin und über die hervorragendsten Persönlichkeiten der Hofgesellschaft; er schien sich sehr für die Einzelheiten zu interessieren, die ich ihm erzählen konnte und mit denen ich nicht geizig war.

Als zu Tisch gerufen wurde, ging der König in fortwährendem Gespräch mit mir in den Speisesaal und ließ mich zu seiner Rechten Platz nehmen. Alle aßen, außer dem König, der wahrscheinlich keinen Appetit hatte, und mir, der sich wahrscheinlich nicht hätte einfallen lassen, Appetit zu haben, selbst wenn ich nicht vier Stunden am Tische des Fürsten Sulkowski verbracht hätte – so sehr schmeichelte mir die Ehre, daß die ganze Gesellschaft aufmerksam meinen Bemerkungen lauschte. Nach Tisch machte der König Anmerkungen zu allem von mir Gesagten, und zwar legte er in alle seine Worte eine ganz besondere Anmut. Seine Majestät sprach übrigens im elegantesten Stil, aber ganz ungesucht. Als er sich entfernte, sagte er mir, er werde mich stets mit großem Vergnügen an seinem Hofe sehen, und Fürst Adam sagte mir seinerseits, wenn ich von ihm seinem Vater vorgestellt zu werden wünschte, möchte ich ihn nur am nächsten Morgen um elf Uhr aufsuchen.

Der König von Polen war von mittlerer Größe, aber sehr gut gewachsen. Sein Gesicht war nicht schön, aber anmutig,geistreich und ausdrucksvoll. Er war ein wenig kurzsichtig, und wenn er nicht sprach, lag auf seinen Zügen ein Anflug von Melancholie; wenn er dagegen sprach, belebte er sich und glänzte durch seine Beredsamkeit. Er besaß auch das Talent, alle Bemerkungen, die es erlaubten, mit feinem Witz zu würzen.

Mit diesem ersten Anfang recht zufrieden, kehrte ich nach meinem Gasthof zurück, wo ich Campioni mit mehreren Gästen beiderlei Geschlechts bei Tisch fand. Nachdem ich mich eine halbe Stunde lang aus Neugier bei ihnen aufgehalten hatte, ging ich zu Bett.

Am nächsten Tage um elf Uhr machte ich die Bekanntschaft des seltenen Mannes, des prachtliebenden Wojwoden von Rußland, Fürsten August Czartoryski. Der hohe Herr stand im Schlafrock in einem Kreise von Edelleuten, die die polnische Nationalkleidung mit den hohen Stiefeln trugen; sie hatten lange Schnurrbärte, und ihre Köpfe waren unbedeckt und glattrasiert. Der Fürst sprach mit einem jeden von ihnen in freundlichem, aber ernstem Ton. Sobald sein Sohn Adam meinen Namen genannt hatte, erheiterte sich sein Gesicht, und er empfing mich voller Würde und Wohlwollen. Er schüchterte nicht ein, aber er flößte auch keine Vertraulichkeit ein; dies setzte ihn in den Stand, einen Menschen, den er kennen lernen wollte, genau zu beobachten. Als er erfuhr, daß ich in Rußland mich nur unterhalten und mit der Hofgesellschaft verkehrt hatte, zog er den Schluß, daß ich in Polen mich in derselben Absicht aufhielte, und sagte mir, er werde mir Gelegenheit verschaffen, die ganze vornehme Gesellschaft kennen zu lernen. Er fügte hinzu: da er wie ein Junggeselle für sich allein lebte, so würde ich ihm ein Vergnügen machen, wenn ich morgens und abends an seinem Tisch äße, falls ich nicht anderweitig eingeladen wäre. Nachdem er sich hinter einen Wandschirm zurückgezogen hatte, ließ er sich ankleiden; hierauf erschien er in der Uniform seines Regiments nach französischem Schnitt in einer langen blonden Zopfperrücke mit großen Seitenlocken, im Kostüm des verstorbenen Königs August des Dritten. Er machte allen Anwesenden eine Verbeugung und begab sich dann in das Innere seiner Gemächer, wo seine Gemahlin, die Wojwodin, wohnte.

Sie litt noch an den Nachwehen einer Krankheit, der sie ohne die Geschicklichkeit des Doktor Reimann, eines Schülers des großen Boerhave, erlegen sein würde. Die Dame entstammte der inzwischen erloschenen Familie d’Enoff, als deren letzte Erbin sie dem Wojwoden ein unermeßliches Vermögen zugebracht hatte. Er trat aus dem Malteserorden aus, als er sie heiratete, und hatte sie durch einen Zweikampf zu Pferde mit Pistolen gewonnen. Die Dame hatte ihr Wort gegeben, den Sieger zu heiraten, und der Fürst hatte das Glück, seinen Nebenbuhler zu töten. Die Kinder aus dieser Ehe waren Fürst Adam und eine Prinzessin, die jetzt verwitwet und unter dein Namen Lubomirska bekannt ist; während ihrer Ehe nannte man sie Stražnikowa nach dem Range, den ihr Gatte im königlichen Heere einnahm.

Dieser Fürst-Wojwode von Rußland und sein Bruder, der Großkanzler von Littauen, führten die ersten polnischen Unruhen herbei. Die beiden Brüder waren unzufrieden mit der geringen Beachtung, die ihnen bei Hofe zuteil wurde; denn der König tat nur, was sein Günstling und Premierminister Graf Brühl wollte. Sie stellten sich daher an die Spitze der Verschwörung, die den regierenden König beseitigen wollte, um unter dem Schutze Rußlands ihren Neffen auf den Thron zu setzen – einen jungen Mann, der in Petersburg bei der polnischen Gesandtschaft gewesen war und die Huld der Großfürstin Katharina, die bald darauf Kaiserin wurde, zu gewinnen verstanden hatte.

Dieser junge Mann war Stanislaus Poniatowski, der Sohn von Constanze Czartoryska und dem berühmten Poniatowski, dem Freund Karls des Zwölften. Das Glück wollte, daß es nicht einer Verschwörung bedurfte, um einen Thron zu besteigen, dessen er dignus fuisset, si non regnasset: denn König August der Dritte, der Sohn Augusts des Starken, Kurfürst von Sachsen und König von Polen, starb am fünften Oktober 1763 und räumte den Platz dem Fürsten Poniatowski, der am sechsten September 1764 als Stanislaus August der Erste zum König erwählt wurde. Als ich in Warschau ankam, regierte er seit zwei Jahren. Ich fand seine Hauptstadt glänzend, denn man traf eben die Vorbereitungen, den Reichstag dort abzuhalten, und jeder war ungeduldig zu sehen, welche Ansprüche Katharina dafür erheben würde, daß sie den Polen einen König aus dem Geschlechte der Piasten gegeben hatte.

Als ich zum Mittagessen kam, fand ich beim Paladin von Rußland drei Tafeln zu je dreißig Gedecken, und man sagte mir, für eine solche Anzahl von Gästen werde jeden Tag gedeckt. Der Glanz des Hofes erblich vor dem Luxus des Paladins. Fürst Adam sagte zu mir: »Herr Chevalier, an der Tafel meines Vaters wird stets ein Gedeck für Sie aufgelegt sein.«

Ich fühlte mich von dieser Auszeichnung geschmeichelt. Der Fürst stellte mich an demselben Tag seiner Schwester, der schönen Prinzessin, vor, sowie auch mehreren Wojwoden und Starosten. Da ich nicht verfehlte, allen diesen hohen Herrschaften meinen Besuch zu machen, so war ich in weniger als vierzehn Tagen in allen großen Häusern bekannt und wurde überall sehr gut aufgenommen.

Da meine Börse nicht gut genug versehen war, um mich mit den polnischen Spielern einzulassen oder mir eine zärtliche Bekanntschaft mit einer der Theaterschönen zu verschaffen, so nahm ich meine Zuflucht zu der Bücherei des Bischofs von Kiew, Zaluski, der mir eine ganz besondere Zuneigung zu seiner Person eingeflößt hatte. Ich verbrachte bei ihm fast alle meine Vormittage, und von diesem Prälaten erhielt ich die authentischen Dokumente über alle Ränke, die zum Umsturz der alten polnischen Verfassung angesponnen wurden. Zaluski war eine der stärksten Stützen dieser Verfassung; leider war seine Standhaftigkeit erfolglos. Er war einer von den Polen, die die russische Tyrannei unter den Augen des Königs aufheben ließ, der zum Widerstande zu schwach war. Die Zarin ließ sie nach Sibirien schaffen. Dieses schmachvolle Ereignis fand wenige Monate nach meiner Abreise statt.

Das Leben, das ich führte, war also sehr eintönig, aber es war das Leben eines Ehrenmannes, und ich erinnere mich dieser Zeit stets mit Vergnügen. Die Nachmittage verbrachte ich beim Wojwoden von Rußland, um mit ihm tre sette zu spielen, ein italienisches Kartenspiel, das er sehr liebte und das ich ziemlich gut spielte, so daß er immer sehr zufrieden war, wenn er seine Partie mit mir machen konnte.

Trotz meiner vernünftigen Lebensweise und Sparsamkeit befand ich mich drei Monate nach meiner Ankunft in Schulden, und leider hatte ich keine Hilfsmittel. Ich erhielt aus Venedig monatlich fünfzig Dukaten; aber diese genügten mir nicht, denn die Ausgaben für Wagen, Wohnung, Bediente und die unerläßliche gute Kleidung waren zu hoch. So befand ich mich denn in Not, aber ich wollte mich niemandem offenbaren. Ich hatte recht; denn ein Mensch, der sich in Not befindet und einen Reichen um Hilfe bittet, verliert dessen Achtung, wenn er Unterstützung erlangt, und erwirbt sich dessen Verachtung, wenn sie ihm versagt wird. Aber das Glück sorgte für mich, es hatte mich noch niemals verlassen.

Madame Schmidt, die der König aus gewissen Gründen in seinem Palaste wohnen ließ, lud mich zum Abendessen ein, indem sie mir sagen ließ, daß der König anwesend sein werde. Ich ging hin und sah mit Vergnügen den liebenswürdigen Bischof Krasinski, den Abbate Guigiotti und zwei oder drei andere Herren, die sich für die italienische Literatur interessierten. Der König, den ich in Gesellschaft niemals bei schlechter Laune sah, und der große Kenntnisse in allen Literaturen besaß, brachte das Gespräch auf Anekdoten über alte römische Schriftsteller und zitierte dabei Handschriften von Scholiasten, die Seine Majestät vielleicht nur erfand, und mit denen er mir jedenfalls den Mund verschloß. Alle beteiligten sich an der Unterhaltung. Ich war der einzige, der schlechter Laune war. Da ich nicht zu Mittag gespeist hatte, so aß ich wie ein Tiger und gab nur einsilbige Antworten, wenn die Höflichkeit es durchaus verlangte. Die Rede kam auf Horaz; ein jeder zitierte einen oder zwei Aussprüche und sagte seine Meinung über die tiefe Philosophie des großen Dichters der Vernunft. Schließlich zwang Abbate Guigiotti mich zum Sprechen, indem er sagte, ich dürfte nicht schweigen, wenn ich nicht etwa seiner Meinung wäre.

»Wenn Sie mein Schweigen«, antwortete ich ihm, »als eine Bestätigung ansehen, daß Sie mit Recht die von Ihnen zitierte Stelle des Horaz mehreren anderen vorziehen, so gestatte ich mir, Ihnen zu sagen, daß ich inbezug auf Hofpolitik bedeutendere von ihm kenne, denn das nec cum venari volet poemata panges, das Ihnen so sehr gefällt, ist im Grunde nur eine keineswegs zartfühlende Satire.«

»Es ist schwierig, Zartgefühl und Satire zu vereinigen.«

»Nicht für Horaz, der hauptsächlich deshalb Augustus gefiel. Das spricht zum Lobe dieses Herrschers, der als Beschützer von Dichtern und Gelehrten seinen Namen unsterblich machte und dadurch manche gekrönten Häupter dazu veranlaßte, sich als seine Nacheiferer zu erklären, indem sie seinen Namen, zuweilen sogar in einer Verkleidung, annahmen.«

Der König, der bei seiner Thronbesteigung den Namen August angenommen hatte, wurde ernst und konnte sich nicht enthalten, mich zu unterbrechen.

»Wer sind denn«, fragte er, »die Herrscher, die den Namen August in einer Verkleidung angenommen haben?«

»Der erste König von Schweden; er nannte sich Gustav und das ist ein Anagramm von August.«

»Das ist amüsant. Diese Anekdote wiegt alle unsrigen auf. Woher haben Sie sie?«

»Ich fand sie in Wolfenbüttel in dem Manuskript eines Professors von Upsala.«

Der König lachte herzlich; er erinnerte sich, daß er beim Beginn des Essens ebenfalls ein Manuskript zitiert hatte. Er wurde jedoch bald wieder ernst und fragte mich: »In welcher Stelle des Horaz, und zwar einer nicht etwa nur im Manuskripte vorhandenen, sondern allgemein bekannten, finden Sie ein bemerkenswertes Zartgefühl, das geeignet ist, seine Satire besonders angenehm zu machen?«

»Sire, ich könnte mehrere anführen, begnüge mich aber mit einem einzigen, das ich sehr schön und vor allen Dingen sehr bescheiden finde. Horaz sagt:

Coram rege sua de paupertate tacentes
plus quam poscentes ferent. «

»Das ist wahr,« sagte der König lächelnd.

Madame Schmidt, die kein Latein verstand und von ihrer Mutter her die von der Urmutter Eva ererbte Neugier besaß, bat den Bischof, die Stelle zu übersetzen. Er sagte:

»Wer vor dem König nicht von seinen Bedürfnissen spricht, wird mehr erlangen, als andere, die davon sprechen.«

Die Dame sagte, die Bemerkung scheine ihr nicht satirisch zu sein.

Nachdem ich so viel gesagt hatte, mußte ich schweigen; der König aber brachte die Rede auf Ariost und sagte zu mir, er wünschte, daß wir ihn zusammen läsen. Ich neigte das Haupt und antwortete mit Horaz: »tempora quaeram.«

Als am nächsten Tage der edle und unglückliche Stanislaus August zur Messe kam, reichte er mir seine Hand zum Kuß und gab mir eine Rolle mit den Worten: »Danken Sie nur Horaz und sagen Sie keinem Menschen etwas davon.«

Die Rolle enthielt zweihundert polnische Dukaten, und ich beeilte mich, meine Schulden zu bezahlen. Seit diesem Tage ging ich fast jeden Morgen in das Ankleidezimmer des Königs, wo er sich das Haar machen ließ und gerne mit den Herren sprach, die sich dort nur einfanden, um ihn zu unterhalten. Es war jedoch niemals die Rede davon, den Ariost zu lesen. Er verstand Italienisch, aber zu wenig, um es zu sprechen oder gar an dem großen Dichter Geschmack finden zu können.

Wenn ich an diesen guten Fürsten denke, an die großen Eigenschaften, womit er begabt war, so erscheint es mir unmöglich, daß er als König so viele Fehler begangen hat. Daß er das Ende seines Vaterlandes überlebt hat, war vielleicht der geringste von diesen Fehlern. Wenn er keinen Freund fand, um ihn zu töten, so meine ich, er hätte sich selber töten sollen. Aber er hatte nicht nötig, einen Freund zu suchen, um ihm diesen verhängnisvollen Dienst zu erweisen; denn er brauchte nur den unsterblichen Koscinszko nachzuahmen, und ein Russe würde genügt haben, um ihn in die Unsterblichkeit zu befördern.

Der Karneval war sehr glänzend. Die Fremden schienen sich von allen Ecken und Enden Europas hier zusammengefunden zu haben, nur um den glücklichen Sterblichen zu sehen, der so ganz wider Erwarten durch eine Laune des Glücks König geworden war. Aber wer ihn gesehen und mit ihm gesprochen hatte, der gab ohne weiteres zu, daß er die Behauptung Lügen strafte, das Glück sei stets blind und taub. Vielleicht ging er jedoch zu weit in seinem Eifer, sich vor Fremden sehen zu lassen. Ich habe bemerkt, daß er unruhig wurde, wenn er wußte, daß in Warschau irgendein Fremder war, den er noch nicht gesehen hatte, übrigens hatte niemand nötig, sich ihm vorstellen zu lassen; denn sein Hof war, wie alle Höfe es sein sollten, für alle Welt geöffnet, und wenn er Gäste mit fremden Gesichtern sah, so war er der erste, das Wort an sie zu richten.

Gegen Ende Januar hatte ich ein Erlebnis, das ich hier berichte, mag man über meine Denkweise urteilen, wie man will. Es handelte sich um einen Traum, und ich habe bereits an anderer Stelle das Bekenntnis abgelegt, daß ich eines gewissen Aberglaubens mich niemals habe erwehren können.

Mir träumte, ich speiste in guter Gesellschaft; einer der Gäste warf mir eine Flasche an den Kopf; das Blut strömte reichlich hervor; ich stieß dem Angreifer meinen Degen durch den Leib und stieg in meinen Wagen, um zu fliehen.

Prinz Karl von Kurland kam nach Warschau und veranlaßte mich, ein Diner bei dem Grafen Poninski, dem damaligen Haushofmeister der Krone, mitzumachen. Es ist derselbe Poninski, der später so viel von sich reden machte, der zum Fürsten erhoben, später aber geächtet und mit Schimpf und Schande bedeckt wurde. Er machte ein stattliches Haus und hatte eine liebenswürdige Familie. Ich hatte ihm niemals meine Aufwartung gemacht, weil er beim König und dessen Verwandten nicht beliebt war.

Während des Essens zersprang eine Flasche Champagner, ein Splitter traf mich über dem Auge und zerschnitt eine Ader. Das Blut rieselte über mein Gesicht und über meine Kleider, sogar bis auf das Tischtuch. Alle Gäste sprangen auf; schnell wird mir die Stirn verbunden, man wechselt das Tischtuch, und das Essen geht weiter. Ich war der erste, der über den Unfall lachte. Freilich war ich erstaunt über das Eintreffen meines Traumes, doch wünschte ich mir Glück, daß die Wirklichkeit in den hauptsächlichsten Umständen davon abwich. Der Leser wird sehen, daß einige Monate später diese Umstände doch noch wirklich eintrafen.

Die Binetti, die ich zuletzt in London gesehen hatte, traf mit ihrem Gatten und dem Tänzer Pic in Warschau ein. Sie kamen von Wien und gingen nach Petersburg. Sie hatten einen Empfehlungsbrief an den Bruder des Königs, den Prinzen Poniatowski, der als General im österreichischen Dienst stand, damals aber sich in Warschau aufhielt. Ich erfuhr dies alles am Tage ihrer Ankunft, als ich mit dem König beim Fürsten Wojwoden speiste. Der König sagte, er wolle sie tanzen sehen und werde sie veranlassen, für ein Honorar von tausend Dukaten acht Tage in Warschau zu bleiben.

Ich war ungeduldig, die Binetti zu sehen und ihr als erster diese gute Nachricht zu überbringen; daher ging ich am anderen Morgen schon in aller Frühe zu ihr. Sie war sehr überrascht, mich in Warschau zu sehen, und noch mehr über meine Nachricht von den tausend Dukaten, die das Glück ihr in den Schoß warf. Sie rief Pic, der an der Wahrheit zu zweifeln schien; während wir uns aber darüber unterhielten, kam Prinz Poniatowski in eigener Person, um ihnen den Wunsch Seiner Majestät mitzuteilen, und das Anerbieten wurde angenommen. In drei Tagen arrangierte Pic ein Ballett; Kostüme, Dekorationen, Orchester und Ballettpersonal – alles war zur rechten Zeit in Ordnung, weil Tomatis die Sache in großem Stil betrieb, um seinem freigebigen Herrn gefällig zu sein. Die Binetti und ihr Freund gefielen so sehr, daß unter glänzenden Bedingungen mit ihnen ein Vertrag auf ein Jahr geschlossen wurde. Dies war aber der Catai sehr ärgerlich; denn die Binetti verdunkelte sie nicht nur durch ihre Talente, sondern beging noch das viel größere Unrecht, daß sie ihr ihre Anbeter wegnahm. Von ihr beeinflußt, bereitete Tomatis der Binetti solche Unannehmlichkeiten, daß die beiden Tänzerinnen unversöhnliche Feindinnen wurden.

Kaum waren zehn oder zwölf Tage vergangen, so hatte die Binetti ein elegant eingerichtetes Haus, einfaches, aber gutes Silbergeschirr, einen Keller mit auserlesenen Weinen, einen ausgezeichneten Koch und zahlreiche Anbeter, darunter den Stolnik Moszcynski und den Freund des Königs, den Kronpodstoli Branicki, der im Schloß seine Gemächer unmittelbar neben denen des Monarchen hatte.

Das Parkett war in zwei Parteien geteilt, denn die Catai dachte nicht daran, der Binetti das Feld zu räumen, obgleich ihr Talent sich nicht annähernd mit dem ihrer Feindin vergleichen ließ. Sie tanzte im ersten Ballett, und die Binetti im zweiten. Diejenigen, die der ersten Beifall gezollt hatten, schwiegen, sobald die zweite erschien, und umgekehrt. Die Verpflichtungen, die ich gegen die Binetti hatte, sind bekannt; aber ich hatte Verpflichtungen auch gegen die Catai, auf deren Seite die ganze Familie Czartoryski mit ihrem Anhang stand; unter anderen der Kronstražnik, Fürst Lubomirski, der mich bei jeder Gelegenheit mit seinem Vertrauen beehrte; dieser war ihr vornehmster Anbeter. Es ist klar, daß ich nicht um der Binetti willen die Partei meiner Freunde verlassen konnte, ohne mir deren Verachtung zuzuziehen. Die Binetti machte mir bittere Vorwürfe deswegen; ich sagte ihr offen meine Gründe und sie gab mir recht. Zugleich aber verlangte sie von mir, ich solle nicht mehr ins Theater gehen. Eine nähere Erklärung verweigerte sie mir und sagte nur soviel, daß sie gegen Tomatis eine Rache vorbereite, um ihn für seine Unverschämtheit zu bestrafen. Sie nannte mich den Doyen aller ihrer Bekannten; übrigens liebte ich sie noch und machte mir gar nichts aus der Catai, die zwar hübscher als die Binetti war, aber an Fallsucht litt.

Die erste Rache, die die Binetti an Tomatis nahm, bestand in folgendem:

Der Vorstand der Anbeter der Binetti war Xaver Branicki, Kronpodstoli, Ritter des weißen Adlers, Ulanenoberst. Er hatte sechs Jahre in Frankreich gedient, war noch jung, hatte ein hübsches Gesicht und war der Freund des Königs. Ohne Zweifel vertraute die Tänzerin ihm ihren Kummer an und wahrscheinlich verlangte sie von ihm, sie an einem Manne zu rächen, der als Theaterdirektor keine Gelegenheit versäumte, um sie zu kränken und zu ärgern. Graf Branicki muß ihr versprochen haben, diese Rache zu vollziehen und eine Gelegenheit dazu zu schaffen, falls eine solche sich nicht binnen kurzer Zeit von selber zeigen sollte. Dies ist der Verlauf, den alle Händel dieser Art nehmen, und ich glaube daher, daß meine Vermutung richtig ist. Eigentümlich aber und wirklich ganz außerordentlich war die Art und Weise, wie der Pole es anfing. Am zwanzigsten Februar war Branicki in der Oper. Gegen seine Gewohnheit ging er nach dem zweiten Akt in das Zimmer, worin die Catai sich auskleidete, und begann der Tänzerin den Hof zu machen. Tomatis war dabei; er war bisher mit der Catai allein gewesen und hielt es nicht für nötig, hinauszugehen. Die Catai und Tomatis glaubten, der Oberst habe sich mit ihrer Nebenbuhlerin überworfen und sei nur gekommen, ihren Triumph vollständig zu machen. Obwohl sie sich sehr wenig daraus machte, ihn unter ihren Anbetern zu sehen, behandelte sie ihn doch mit Auszeichnung, denn sie wußte, daß sie seine Huldigungen nicht verschmähen durfte, ohne sich großen Gefahren auszusetzen.

Als die Catai mit dem Umkleiden fertig war, war auch die Vorstellung zu Ende. Der galante Podstoli bot ihr seinen Arm, um sie zu ihrem Wagen zu führen, der vor der Türe hielt, und Tomatis folgte ihnen. Ich befand mich ebenfalls an der Türe, da ich auf meinen Wagen wartete. Die Catai kam, der Wagenschlag ihres Vis-à-Vis wurde geöffnet, sie stieg ein, Branicki folgte ihr und sagte zu dem sehr erstaunten Tomatis, er solle sich in seine Berline setzen und ihnen nachfahren. Aufgebracht erwiderte Tomatis ihm, er wolle nur in seinem eigenen Wagen fahren und bitte den Herrn Oberst, gefälligst auszusteigen. Branicki kümmerte sich nicht um ihn und rief dem Kutscher zu, er solle abfahren. Tomatis dagegen verbot diesem, sich von der Stelle zu rühren, und da der Kutscher natürlich seinem Herrn gehorchte, so sah der schöne Podstoli sich gezwungen, auszusteigen; aber er befahl seinem Husaren, dem Direktor eine Ohrfeige zu geben, und dieser Befehl wurde mit solcher Schnelligkeit und Kraft ausgeführt, daß der arme Tomatis keine Zeit hatte, sich zu erinnern, daß er einen Degen trug, den er seinem Beleidiger für die schnöde Beschimpfung hätte durch den Leib rennen können. Er stieg in seinen Wagen und fuhr ab. Aber er konnte nicht zu Abend essen, wahrscheinlich, weil er erst seine Ohrfeige verdauen mußte. Ich hätte eigentlich bei ihm speisen sollen; nachdem ich jedoch Zeuge dieses schrecklichen Auftritts gewesen war, besaß ich nicht den Mut, hinzugehen. Traurig und gedankenvoll fuhr ich nach Hause; mir war beinahe zu Mute, wie wenn ich die Hälfte dieser schimpflichen Ohrfeige empfangen hätte. Ich zerbrach mir den Kopf, ob der Streich wohl mit der Binetti vereinbart gewesen wäre; dies schien mir jedoch nicht möglich zu sein, denn weder sie noch Branicki hatten ahnen können, daß Tomatis so unhöflich und so feige sein würde. Im nächsten Kapitel wird der Leser sehen, was für ein tragisches Erlebnis die Folge dieses Auftritts war.

Zehntes Kapitel


Ich begehe eine Indiskretion, die Manucci zu meinem grausamsten Feind macht. – Seine Rache. – Meine Abreise von Madrid. – Saragossa. – Valencia. – Nina. – Meine Ankunft in Barcelona.

Wenn diese Erinnerungen, die ich nur niederschreibe, um die Langeweile zu unterbrechen, diese dumpflastende Krankheit, die mich hier in Böhmen tötet und mich vielleicht auch an jedem anderen Ort töten würde, da sie möglicherweise ein unvermeidliches Ergebnis meines Charakters und meines Alters ist – zweier Dinge, die sich beständig im Gegensatz befinden, denn an Jahren bin ich alt, mein Charakter aber ist jung geblieben wie meine Begierden; – wenn, sage ich, diese Erinnerungen jemals das Licht der Welt erblicken, so wird dies erst der Fall sein, wenn ich es nicht mehr sehe. Und wie der scheußliche Mörder Karls des Ersten sagte: »Was macht es mir aus, ob man mich für einen Schelm hält« – so werde ich das Urteil der Welt verlachen können, wie ich es schon im voraus verlache. Da jedoch die Menschheit aus zwei Teilen besteht, der sehr zahlreichen Menge von Unwissenden und Oberflächlichen und der sehr geringen Menge von Gelehrten und Denkern, so wende ich mich an diesen kleinen Teil der Menschheit und nur an ihn; denn nur aus seinem Beifall mache ich mir etwas, und nur sein künftiges Urteil schätze ich – ein Urteil, das ich niemals vernehmen werde, das aber – ich weiß es – meine Wahrhaftigkeit anerkennen wird. Denn warum sollte ich nicht wahr sein? Sich selber täuscht man niemals; und jetzt schreibe ich nur für mich selber.

Ich habe bis jetzt die Wahrheit gesprochen, ohne darauf zu sehen, ob die Wahrheit mir günstig oder schädlich wäre. Meine Lebenserzählung verfolgt keine dogmatischen Zwecke. Wenn man mich jemals liest, werde ich keinen Menschen verderben. Wenigstens ist das nicht mein Wille. Aber meine Erfahrung, meine Laster, wenn man sie so nennen will, und die Tugend, die man wohl in meinem Charakter und in meinen Grundsätzen finden kann – sie werden solchen, die wie die Bienen aus allen Blüten Honig zu saugen wissen, von Nutzen sein können.

Nach dieser Abschweifung, die vielleicht zu lang ist, für die ich aber nur mir selber Rechenschaft schuldig bin, will ich mit der Aufrichtigkeit, deren ich mir bewußt bin, erklären, daß es mir niemals so schwer geworden ist, die Wahrheit zu sagen, wie bei dem, was ich jetzt dem Papier anvertrauen werde: eine verhängnisvolle Indiskretion, eine begreifliche Leichtfertigkeit, die ich mir niemals habe verzeihen können; denn nach so vielen Jahren, nach so vielen Wechselfällen des Lebens zerreißt sie mir noch heute das Herz.

Am nächsten Tage speiste ich beim venetianischen Gesandten und hatte das Vergnügen, von ihm zu vernehmen, daß bei Hof alle Minister und alle Granden, deren Bekanntschaft ich gemacht hatte, von mir die allerbeste Meinung hätten. Drei oder vier Tage darauf kehrte der König mit den Ministern und der königlichen Familie nach Madrid zurück. Wegen der Kolonie in der Sierra Morena verhandelte ich täglich mit den Ministern, und ich stand im Begriff, eine Reise nach jener Gegend zu machen. Manucci, der mir fortwährend eine aufrichtige Freundschaft bezeigte, wollte mich zu seinem Vergnügen begleiten und gedachte, eine Abenteuerin mitzunehmen, die sich Porto-Carrero nannte; sie behauptete, eine Nichte oder Tochter des verstorbenen Kardinals dieses Namens zu sein, und machte daraufhin große Ansprüche, obwohl sie in Wirklichkeit nur die geheime Konkubine des französischen Konsuls in Madrid, Abbé Bigliardi, war.

In dieser günstigen Lage befanden sich meine Verhältnisse, als ein böser Geist einen Lütticher Baron de Fraiture nach Madrid führte. Er war Oberhofjägermeister seines heimatlichen Fürstentums, ein Wüstling, Spieler und Gauner – ein Gauner, wie alle diejenigen, die noch heute behaupten, er sei ehrlich verfahren.

Ich hatte das Unglück gehabt, ihn in Spaa kennen zu lernen, wo ich ihm gesagt hatte, ich würde nach Portugal gehen. Dorthin reiste er mir nach, da er auf meine Bekanntschaft rechnete, um Zutritt zur guten Gesellschaft zu erlangen und seine Börse mit dem Gelde der Dummen zu füllen, die er zu finden hoffte.

Niemals haben die Spieler den geringsten Grund zu der Annahme gehabt, daß ich zu ihrer höllischen Bande gehörte, trotzdem haben sie mich aufs hartnäckigste für einen Falschspieler gehalten.

Sobald der Baron erfuhr, daß ich in Madrid sei, besuchte er mich; und da er anständig aussah und höflich zu reden wußte, so nötigte er mich, ihn gut aufzunehmen. Ich glaubte, er würde mich nicht bloßstellen, wenn ich ihm einige Höflichkeiten erwiese, und vielleicht einige Bekanntschaften vermittelte. Er hatte einen Reisegefährten, mit dem er mich bekannt machte. Dies war ein dicker Franzose, ein Faulenzer, ein unwissender Mensch, aber eben ein Franzose, also liebenswürdig. Solche Leute gehen unbeachtet durch die Welt, wenn man nicht gerade forschende Blicke auf sie wirft, und man denkt selten daran, den Charakter eines Franzosen auszuforschen, der gut auftritt, sich sauber kleidet und, mit einem Wort, das ganze Äußere eines Mannes von gutem Ton hat. Er war von Beruf Rittmeister von jener Sorte von Militärs, die das Glück haben, beständig ein halbes Jahr auf Urlaub zu sein. Vier oder fünf Tage nach seinem ersten Besuch sagte der Baron Fraiture ohne alle Umstände zu mir, er habe kein Geld und bitte mich, ihm doch zwanzig Louis zu geben, die er mir zurückerstatten werde. Ich dankte ihm für sein Vertrauen und sagte ihm, ebenfalls ohne alle Umstände, ich könne ihm bei dieser Gelegenheit nicht gefällig sein, denn ich brauche selbst das bißchen Geld, das ich zur Verfügung habe.

»Aber wir werden irgendein gutes Geschäft machen, und an Geld wird es Ihnen nicht fehlen können.«

»Ich weiß nicht, ob das gute Geschäft zustande kommt, aber ich weiß, daß ich das Notwendige nicht hergeben darf.«

»Wir wissen nicht, was wir anfangen sollen, um unseren Wirt zu beruhigen: sprechen Sie doch mal mit ihm!«

»Wenn ich mit ihm spreche, werde ich Ihnen mehr Schaden als Nutzen bringen, denn er wird mich fragen, ob ich für sie bürgen wolle, und ich werde antworten, Sie seien Kavaliere, die keines Bürgen bedürften. Trotzdem wird der Wirt natürlich denken, daß ich für Sie nicht bürge, weil ich Zweifel hege.«

Da ich ihn auf der Promenade mit dem Grafen Manucci bekannt gemacht hatte, so überredete Fraiture mich, ihn zu diesem zu führen, und ich war so schwach, dies zu tun.

Ihm eröffnete sich einige Tage darauf der Lütticher Baron.

Manucci war dienstwillig, aber selber Falschspieler und schlau; er lieh ihm kein Geld, aber verschaffte ihm jemanden, der ihm ohne Wucherzinsen gegen Pfand lieh.

Fraiture und sein Freund machten einige Spielpartien und gewannen auch etwas; ich mischte mich in keiner Weise in diese Angelegenheiten ein.

Mit meiner Kolonie und mit Dona Ignazia beschäftigt, wollte ich in Frieden leben; hätte ich eine einzige Nacht außer dem Hause verbracht, so hätte ich dadurch die Seele des ausgezeichneten Mädchens beunruhigt, das alles der Liebe opferte.

In jenen Tagen kam der neue venetianische Gesandte Herr Querini in Madrid an, um Herrn von Mocenigo abzulösen, der als Botschafter an den Französischen Hof ging. Dieser Querini besaß wissenschaftliche Bildung, eine Eigenschaft, die Herrn von Mocenigo abging; denn der liebte nur die Musik und die Liebe auf seine besondere Art.

Der neue Gesandte wurde mir wohl geneigt und binnen wenigen Tagen konnte ich mich überzeugen, daß ich auf ihn viel mehr hätte rechnen können als auf Mocenigo.

Baron Fraiture und sein Freund mußten daran denken, Spanien zu verlassen; weder beim Gesandten noch anderswo brachten sie eine Spielpartie zusammen, und sie hatten keine Hoffnung, im Escorial spielen zu können. Sie mußten nach Frankreich zurückkehren, aber sie hatten Schulden in ihrem Gasthof, und für die Reise brauchten sie Geld. Ich konnte ihnen nichts geben, und Manucci glaubte ihnen ebenfalls nichts geben zu können. Wir bedauerten ihr Unglück, aber wir mußten in erster Linie an uns selber denken und daher gegen alle Welt grausam sein.

Eines Morgens kam Manucci verstört und aufgeregt zu mir, ohne mir jedoch zu sagen, was ihn bekümmerte.

»Was hast du, lieber Freund?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe dem Baron Fraiture seit acht Tagen den Zutritt verboten; denn er wurde mir lästig, da ich ihm kein Geld geben konnte. Nun hat er mir einen Brief geschrieben, worin er mir droht, er werde sich heute noch erschießen, wenn ich ihm nicht hundert Pistolen leihe, und ich bin überzeugt, er wird es tun, wenn ich ihm das Geld verweigere.«

»Vor drei Tagen hat er mir dasselbe gesagt. Ich habe ihm geantwortet, ich wolle zweihundert Pistolen wetten, daß er sich nicht töten werde. Aufgebracht über meine Antwort, forderte er mich auf, mich mit ihm zu schlagen. Ich antwortete ihm: da er in einem verzweifelten Zustande wäre, so hätte er entweder einen Vorteil vor mir, oder ich vor ihm. Antworte ihm wie ich, oder antworte ihm überhaupt nicht.«

»Ich kann deinen Rat nicht befolgen. Da hast du hundert Pistolen. Bringe sie ihm und sieh zu, daß du eine Quittung von ihm bekommst.«

Ich bewunderte die schöne Handlung und übernahm den Auftrag. Ich ging zum Baron, den ich sehr verwirrt und verlegen fand; ich wunderte mich jedoch nicht darüber, da ich es mir durch seine Lage erklärte.

Ich dachte mir, seine gute Laune würde wohl zurückkehren, wenn ich ihm sagte, daß ich ihm tausend Franken überbrächte, die der Graf Manucci ihm schickte, um seine Angelegenheiten ordnen und abreisen zu können. Er nahm das Geld, aber ohne irgendwelche Freude oder Dankbarkeit zu bezeigen, und schrieb den Schuldschein nach meinem Diktat. Hierauf versicherte er mir, er werde am nächsten Tage mit seinem Freunde nach Barcelona abreisen und sich von dort nach Frankreich begeben.

Ich brachte Manucci, der immer noch nachdenklich und zerstreut war, die Quittung des Barons und blieb beim Gesandten zum Mittagessen.

Es war das letzte Mal.

Drei Tage darauf wollte ich bei dem Gesandten speisen, als zu meiner großen Überraschung der Türhüter mir sagte, er habe Befehl, mich nicht mehr eintreten zu lassen.

Dies war für mich ein Blitzschlag, dessen Herkunft ich nicht erraten konnte. Ganz vernichtet ging ich nach Hause. Ich schrieb sofort an Manucci, um eine Erklärung für die erlittene Beschimpfung zu erhalten. Filippo brachte mir den Brief uneröffnet zurück. Neue Überraschung. Ich fiel aus den Wolken.

»Was ist geschehen? Ich will eine Erklärung haben, und sollte ich darüber zugrunde gehen!« sagte ich zu mir selbst.

Ich speiste sehr traurig mit Doña Ignazia, ohne ihr etwas von der Ursache meines Kummers zu sagen. Als ich mich eben zur Mittagsruhe hinlegen wollte, brachte Manuccis Bedienter mir einen Brief von seinen Herrn und lief hinaus, obwohl ich ihm sagte, er möchte warten, bis ich den Brief gelesen hätte.

Dieser Brief enthielt einen anderen, offenen, den ich augenblicklich las. Er war vom Baron Fraiture. Der verzweifelte Mensch erbat von Manucci hundert Pistolen als Darlehen und versprach ihm, wenn er ihm das Geld gebe, wolle er ihm einen Feind gerade in dem Manne enthüllen, den er für den treuesten Freund halte.

Manucci nannte mich einen Verräter und Undankbaren und schrieb mir, er sei neugierig gewesen, diesen Feind kennen zu lernen, und habe den Baron Fraiture nach dem Padro San Jeronimo bestellt. Nachdem der Baron sein Ehrenwort erhalten habe, daß er ihm das Geld leihen werde, habe er ihm bewiesen, daß ich dieser Feind sei; denn von mir habe er erfahren, daß zwar der Name, den Manucci trage, echt sei, daß er aber nicht den Rang besitze, den er sich beilege usw.

Manucci führte viele Einzelheiten an, die Fraiture ihm gegeben hatte, und die er nur von mir haben konnte. Er schloß seinen Brief mit dem Rat, ich möchte Madrid so schnell wie möglich und spätestens binnen acht Tagen verlassen.

Vergeblich würde ich versuchen, den Zustand der Niedergeschlagenheit zu schildern, in den mich dieser Brief versetzte. Zum ersten Male in meinem Leben mußte ich mich einer ungeheuerlichen, ohne jeden Grund begangenen Indiskretion schuldig bekennen, einer abscheulichen Undankbarkeit, die sonst nicht in meinem Charakter lag, mit einem Wort, eines Verbrechens, dessen ich mich nicht für fähig gehalten hätte.

Ich schämte mich meiner selber, erkannte das Unrecht in vollem Umfang an und fühlte, daß ich nicht einmal um Verzeihung bitten durfte, da ich keine verdiente. Darum versank ich traurig in eine Art von Verzweiflung.

Obwohl jedoch Manucci mit Recht erzürnt war, mußte ich sagen, daß er einen großen Fehler begangen hatte, indem er seinen Brief mit dem beleidigenden Rat schloß, Madrid binnen acht Tagen zu verlassen. Da er mich genau kannte, so mußte der junge Mann wissen, daß mein Selbstgefühl mir verbot, einen solchen Rat zu befolgen. Er war nicht mächtig genug, fordern zu können, daß ich einen Rat annähme, der einem Befehl von höchster Stelle glich. Nachdem ich das Unglück gehabt hatte, eine unwürdige Handlung zu begehen, durfte ich mich nicht einer zweiten schuldig machen, durch die ich mich zum erbärmlichsten Menschen gemacht und mich für unfähig erklärt hätte, ihm eine andere Genugtuung zu geben.

Kummervoll verbrachte ich den Tag, ohne einen Entschluß fassen zu können. Ich aß nicht zu Abend und ging zu Bett, ohne mich an der Gesellschaft meiner Ignazia erfreut zu haben.

Nachdem ich ziemlich gut geschlafen hatte, so daß ich imstande war, einen vernünftigen Entschluß zu fassen, wie er mir als dem schuldigen Teil zukam, stand ich auf und schrieb dem beleidigten Freunde in einem demütigen Brief das aufrichtigste Schuldbekenntnis. Ich endete mit den Worten: »Wenn Ihre Seele so großmütig ist, wie ich gerne glauben will, so wird mein Brief, der Ihnen meine ebenso tiefe wie aufrichtige Reue zeigt. Ihnen die weitestgehende Genugtuung gewähren müssen. Sollte aber, entgegen meiner Hoffnung, dies Ihnen nicht genügen, so brauchen Sie mir nur zu sagen, was Sie beanspruchen. Ich bin zu allem bereit, wenn es nur nicht ein Schritt ist, der nach Furcht von meiner Seite aussehen würde. Es steht in Ihrem Belieben, mich ermorden zu lassen, aber ich werde von Madrid nur nach meiner Bequemlichkeit abreisen, und wenn ich hier nichts mehr zu tun habe.«

Nachdem ich meinen Brief mit einem nichtssagenden Siegel verschlossen hatte, ließ ich von Filippo, dessen Handschrift Manucci nicht kannte, die Adresse drauf schreiben und schickte ihn mit der Königlichen Post nach Pardo, wohin der König sich begeben hatte.

Ich verbrachte den ganzen Tag auf meinem Zimmer mit Dona Ignazia, die nicht mehr in mich drang, um die Ursache meiner Niedergeschlagenheit zu erfahren, da sie sah, daß meine Stimmung sich gehoben hatte. Auch am nächsten Tag ging ich nicht aus, da ich auf eine Antwort hoffte; aber meine Hoffnung war vergebens.

Am dritten Tage, einem Sonntag, ging ich aus, um dem Fürsten della Cattolica einen Besuch zu machen. Während ich vor der Türe wartete, kam der Türsteher höflich an meinen Wagen und sagte mir ins Ohr, Seine Exzellenz habe Gründe, um mich zu bitten, sie nicht mehr zu besuchen.

Das hatte ich nicht erwartet; aber nach diesem Schlage war ich auf alles gefaßt.

Ich begab mich zum Abbé Bigliardi; ein Lakai meldete mich an und brachte mir den Bescheid, der Herr sei ausgegangen.

Ich stieg wieder in meinen Wagen und fuhr zu Varnier, der mir sagte, er habe mit mir zu sprechen.

»Wollen Sie sich zu mir in den Wagen setzen? Wir werden zusammen die Messe hören.«

Sobald er eingestiegen war, teilte er mir mit, der venetianische Gesandte Mocenigo habe dem Herzog von Medina-Sidonia gesagt, er fühle sich verpflichtet, ihm mitzuteilen, daß ich ein gefährlicher Mensch sei. Der Herzog habe ihm geantwortet: sobald er dies bemerke, werde er Ihnen keinen Zutritt mehr zu seiner Person gestatten.

Diese drei Dolchstöße, die mich in Zeit von einer halben Stunde trafen, ließen mich die ganze Stufenfolge aller schmerzlichen Gefühle durchmachen. Mir war zumute, als wenn ich ersticken solle; – aber ich sagte nichts und hörte mit diesem würdigen Manne zusammen die Messe. Als aber diese zu Ende war, da hätte mich ein Schlagfluß getroffen, wenn ich nicht mein Herz erleichtert hätte, indem ich ihm mit allen Einzelheiten erzählte, warum der Gesandte so zornig war.

Varnier sprach mir sein Bedauern aus und schloß mit den Worten: »So sind die großen Herren, wenn sie sich einmal über Tugend und gute Sitte hinweggesetzt haben. Ich rate Ihnen jedoch, mit keinem Menschen darüber zu sprechen, denn dies könnte Manucci, dem gegenüber Sie leider unrecht haben, nur erbittern.«

Ich fuhr nach Hause zurück und schrieb Manucci, er möchte eine zu unanständige Rache aufgeben, die mich in die Notwendigkeit versetzen würde, indiskret zu werden und alle, die um dem Haß des Gesandten einen Gefallen zu tun, mich beschimpfen zu müssen glaubten, über den wahren Sachverhalt aufzuklären. Ich schickte meinen Brief offen an den Gesandtschaftssekretär Soderini, da ich sicher war, daß dieser ihn weiterbefördern würde.

Hierauf aß ich mit meiner Geliebten zu Mittag und ging dann mit ihr zum Stiergefecht, wo ich zufällig neben der Loge saß, worin Manucci und die beiden Gesandten sich befanden. Ich machte ihnen eine Verbeugung, die sie nicht umhin konnten mir zu erwidern, und sah sie hierauf gar nicht mehr an.

Als am nächsten Tage der Minister Grimaldi mir eine Audienz verweigerte, sah ich, daß ich nichts mehr zu hoffen hatte. Der Herzog von Lossada empfing mich, denn er liebte den Gesandten nicht wegen dessen unnatürlicher sexuellen Neigungen; aber er sagte mir, er sei bereits ersucht worden, mich nicht mehr zu empfangen, und fügte hinzu, bei einer derartigen erbitterten Verfolgung sei leicht vorauszusehen, daß ich vom spanischen Hofe nichts erlangen würde.

Eine derartige Wut war unglaublich. Manucci brüstete sich mit der Macht, die er über den Menschen ausübte, dem er als Gatte diente. Um sich zu rächen, hatte er sich über alle Grenzen der Scham hinweggesetzt.

Ich wollte wissen, ob er Don Emanuel de Roda und den Marques Mora vergessen hätte; ich fand sie bereits benachrichtigt. So blieb nur noch Graf Aranda übrig. Im Augenblick, wo ich mich anschickte, ihn aufzusuchen, kam ein diensttuender Adjutant zu mir und teilte mir mit, Seine Exzellenz wolle mit mir sprechen.

Bei dieser Mitteilung wurde ich vor Schreck ganz kalt; denn in meiner damaligen Stimmung stellte ich mir sofort die übelsten Dinge vor.

Zu der mir bezeichneten Stunde ging ich hin. Ich fand den klugen Denker allein, und er empfing mich mit heiterer Miene. Dies machte mir Mut. Er ließ mich Platz nehmen, und da er mir solche Gnade bisher niemals hatte widerfahren lassen, so fühlte ich mich in angenehmer Stimmung.

»Was haben Sie Ihrem Gesandten getan?« fragte er mich.

»Ihm selber nichts, gnädiger Herr; aber ich habe mit einer unentschuldbaren Leichtfertigkeit seinen süßen Freund Manucci an seiner empfindlichsten Stelle verletzt. Ohne die geringste Absicht, ihm schaden zu wollen, beging ich eine Indiskretion und machte einem elenden Menschen eine vertrauliche Mitteilung, die dieser gemeiner Weise dem Herrn Manucci für hundert Pistolen verkaufte. In seiner Wut hat Manucci den anderen gegen mich vorgeschickt – den anderen, der ihn anbetet und der alles tun muß, was er will.«

»Sie haben unrecht getan, aber was einmal geschehen ist, ist geschehen. Es tut mir leid, daß Sie sich durch diese Unbesonnenheit geschadet haben: Sie begreifen wohl, daß Sie von Ihrem Plan nichts mehr erhoffen können; denn sobald es sich darum handeln würde, Sie anzustellen, würde der König sich bei Ihrem Gesandten nach Ihnen erkundigen.«

»Ich fühle es zu meinem großen Bedauern, gnädiger Herr; aber muß ich denn gehen?«

»Nein. Der Gesandte hat an mich die dringende Bitte gerichtet, Sie ausweisen zu lassen; aber ich habe ihm geantwortet, dies stehe nicht in meiner Macht, solange Sie die Gesetze des Landes nicht übertreten. – Er sagte zu mir: ›Er hat durch Verleumdungen die Ehre eines venetianischen Untertanen verletzt, den zu schützen ich verpflichtet bin.‹ – ›Wenn er ein Verleumder ist,‹ habe ich ihm geantwortet, ›müssen Sie ihn auf dem gewöhnlichen Wege belangen, und wenn er sich nicht rechtfertigen kann, wird man nach der ganzen Strenge des Gesetzes gegen ihn vorgehen.‹ – Zum Schluß hat der Gesandte mich gebeten, Ihnen zu befehlen, daß Sie nicht mit den Venetianern, die gegenwärtig in Madrid sind, über ihn sprechen, und mir scheint, dies könnten Sie mir versprechen, um ihn zu beruhigen.«

»Gnädiger Herr, darauf gebe ich Ihnen mein Ehrenwort, das ich niemals gebrochen habe.«

»Schön; im übrigen können Sie in Madrid bleiben und so wie jetzt weiterleben, solange es Ihnen paßt und ohne irgend etwas zu befürchten. Außerdem wird Mocenigo ja im Laufe der Woche abreisen.«

Dies war mein ganzes Gespräch mit dem hochverdienten Manne. Ich faßte augenblicklich den Entschluß, mich nur noch zu unterhalten und mich nicht mehr damit zu bemühen, irgendwelchen großen Herren den Hof zu machen. Freundschaft allein führte mich oft zu Varnier, zu dem von mir hochgeachteten Herzog von Medina-Sidonia und zum Baumeister Sabattini, der mich ebenso wie seine Frau stets sehr gut aufnahm.

Doña Ignazia besaß mich ganz und gar und wünschte mir oft Glück, mich von alledem befreit zu sehen, was mir früher Sorgen machte.

Nach der Abreise des Herrn von Mocenigo, der sich, nachdem sein Gesuch, Venedig besuchen zu dürfen, abschlägig beschieden worden war, auf dem Wege durch Navarra nach Paris auf seinen Botschafterposten begab, wollte ich sehen, ob sein Neffe Querini für den Groll seines Oheims eintrete; ich lachte dem Türsteher ins Gesicht, der mir den Bescheid überbrachte, er habe Befehl, mir den Eintritt in den Palast zu versagen.

Sechs oder sieben Wochen nach Manuccis Abreise verließ ich ebenfalls Madrid. Ich mußte mich dazu entschließen, trotz meiner Liebe zu Ignazia, die mich völlig glücklich machte und mein Glück teilte; denn abgesehen davon, daß ich nicht nach Portugal gehen konnte, von wo ich keine Briefe mehr erhielt, hatte ich meine Börse erschöpft, ohne daß meine Geliebte etwas davon ahnte. Ich gedachte eine schöne Repetieruhr und eine Tabaksdose, deren Goldwert 25 Louis betrug, zu verkaufen, um nach Marseille zu reisen. Von dort beabsichtigte ich nach Konstantinopel zu gehen, wo ich mein Glück machen zu können glaubte, ohne mich zu Mohammed bekennen zu müssen. Ohne Zweifel würde ich mich geirrt haben, denn ich trat in ein Alter ein, von dem die Glücksgöttin, die flatterhafte Kokette, nichts mehr wissen will. Damit will ich jedoch nicht sagen, daß ich mich über sie zu beklagen habe, denn sie hat mir oft ihre Gunst zugewandt, und ich habe diese stets mißbraucht – das will ich gerne zugeben.

In meiner Verlegenheit verschaffte der gelehrte Abbate Pinzi, Auditor des päpstlichen Nuntius, mir die Bekanntschaft eines Genueser Buchhändlers Corrado, eines reichen, ehrenwerten und tugendhaften Mannes, den der liebe Gott auf die Welt geschickt zu haben schien, damit man die Genueser Spitzbüberei verzeihe. An diesen braven Mann wandte ich mich, um meine Uhr und Tabaksdose zu verkaufen; aber der gute Corrado weigerte sich, diese Gegenstände zu kaufen, und wollte sie nicht einmal als Pfand nehmen, sondern gab mir zwanzig goldene Unzen oder siebzehnhundert Franken, ohne etwas anderes zu verlangen als mein Wort, daß ich ihm diese Summe wiedergeben würde, wenn ich jemals in der Lage wäre, es zu tun. Unglücklicherweise bin ich niemals mehr imstande gewesen, diese heilige Schuld anders heimzuzahlen, als durch ewige Dankbarkeit, die ich dem Geber zolle.

Nichts ist für einen Mann süßer, als mit einer Frau zusammen zu leben, die er anbetet und von der er geliebt wird; aber es gibt auch nichts, das bitterer wäre, als die Trennung, wenn die Liebe noch in voller Kraft steht: der Schmerz scheint viel größer zu sein als die Wonne, die nicht mehr vorhanden ist und deren Eindruck sich verwischt hat oder die zum mindesten durch das auf sie folgende Leid sehr beeinträchtigt wird.

Ich verbrachte meine letzten Tage in Madrid in Genüssen, die von Traurigkeit vergiftet wurden. Der gute Diego weinte nicht, obgleich er sehr traurig war.

Filippo, ein tüchtiger Junge, der hoch über seiner Herkunft stand, gab mir bis in die Mitte des nächsten Jahres Nachrichten von Doña Ignazia. Sie wurde die Gattin eines reichen Schuhmachers; die Rücksicht auf den Nutzen besiegte den Widerwillen, den ihr Vater gegen eine nicht standesgemäße Heirat hatte.

Ich hatte dem Marques Mora und dem Obersten Royas versprochen, sie in der aragonischen Hauptstadt Saragossa oder Caesarea Augusta zu besuchen. Ich kam anfangs September an und verbrachte dort vierzehn Tage, die mir Gelegenheit gaben, die Sitten der Aragonesen zu beobachten. Arandas Gesetze hatten bei diesem Volke keine Kraft; denn bei Tage wie bei Nacht sah man auf den Straßen Männer mit langen Mänteln und Schlapphüten. Sie sahen aus wie wirkliche Masken oder wie schwarze Gespenster; denn der Mantel, der die Absätze bedeckte, verbarg auch die Hälfte des Gesichts. Aber unter dem Mantel trug die Maske el spadino, einen Degen von riesiger Länge. Diese Gespenster werden mit großer Ehrfurcht behandelt, obwohl es meistens nur Spitzbuben waren; es konnten aber auch große Herren sein.

Man muß in Saragossa die ungeheure Frömmigkeit sehen, womit Unsere liebe Frau del Pilar verehrt wird. Ich habe Prozessionen gesehen, bei denen hölzerne Statuen von ungeheurer Größe herumgetragen wurden. Man führte mich in die besten Gesellschaften ein, wo es von Mönchen wimmelte. Man stellte mich einer erstaunlich dicken Dame vor, die man mir als eine Cousine des seligen Palafox bezeichnete; ich war jedoch keineswegs von Ehrfurcht hingerissen, wie man ohne Zweifel erwartet hatte. Ferner hatte ich Gelegenheit, den Domherrn Pignatelli, einen gebürtigen Italiener, kennen zu lernen, den ehrwürdigen Präsidenten der Inquisition. Dieser Herr ließ jeden Morgen die Kupplerin einkerkern, die ihm das Mädchen besorgt hatte, das mit ihm zu Abend gegessen und die Nacht bei ihm geschlafen hatte. Die Strafe erhielt sie, um dafür Buße zu tun, daß sie ihm ermöglicht hatte, eine Sünde zu begehen. Von Wollust erschöpft, erwachte der Domherr und gab Befehl, das Mädchen aus dem Hause zu jagen und die Kupplerin ins Gefängnis zu setzen. Hierauf kleidete er sich an, beichtete, las die Messe und setzte sich sofort zu Tisch. Von Wein und gutem Essen erhitzt, verlangte er ein neues Mädchen, und so ging es jeden Tag. Trotzdem wurde dieser Mensch in Saragossa hoch verehrt, denn er war Mönch, Domherr und Inquisitor.

Die Stierkämpfe waren in der Hauptstadt Aragoniens schöner als in Madrid; denn sie waren mörderischer, und solche barbarischen Schauspiele sind um so schöner, je mehr Blut dabei fließt.

Die Herren Mora und Royas gaben mir sehr schöne Diners. Der Marques war der liebenswürdigste aller Spanier; er ist zwei Jahre darauf in sehr jugendlichem Alter gestorben.

Die große Kirche Nuestra Señora del Pilar liegt auf den Wällen der Stadt, und die Aragonesen betrachten diesen Teil als uneinnehmbar; sie behaupten, im Falle einer Belagerung würde der Feind, wenn Gott es wollte, von allen anderen Seiten eindringen, aber nicht von dieser.

Ich hatte der Doña Pelliccia versprochen, sie in Valencia zu besuchen. Unterwegs sah ich auf einer Anhöhe das alte Sagunt liegen. »Ich will da hinauf!« sagte ich zu einem Priester, der mit mir fuhr, und zu dem Fuhrmann, der am Abend in Valencia ankommen wollte und dem seine Maultiere lieber waren als alle Antiquitäten der Welt. Wie der Priester und der Maultiertreiber sich sträubten und wie sie redeten!

»Sie werden nur Ruinen sehen, Señor.«

»Gut; ich will eben Ruinen sehen, und wenn sie recht alt sind, ziehe ich sie den schönsten Gebäuden der Neuzeit vor.«

»Aber wir werden nicht mehr heute Abend in Valencia ankommen können!«

»Da hast du einen Duro; wir werden morgen ankommen.«

Dieser Taler brachte alles in Ordnung; denn der Fuhrmann rief: »Helf mir Gott! Das ist ein Ehrenmann!«

Das ist der schönste Lobspruch aus dem Munde eines Untertanen Seiner Katholischen Majestät!

Oben auf der Anhöhe sah ich Mauern, die zum großen Teil noch im guten Stande waren, und deutlich erkennbare Zinnen, und doch stammt dieses Denkmal aus der Zeit des zweiten Punischen Krieges. An zwei Toren, die noch aufrecht standen, bemerkte ich Inschriften, die für mich und für viele andere stumm sind, die aber La Condamine oder Séguier, der frühere Freund des Marchese Maffei, sicherlich entziffert hätten.

Dieses Denkmal eines ganzen Volkes, das lieber in den Flammen untergehen, als den Römern die Treue brechen und sich einem Hannibal ergeben wollte, erregte meine volle Bewunderung und die Heiterkeit des unwissenden Priesters, der nicht einmal eine Messe gratis gelesen hätte, um Besitzer dieses von Erinnerungen so reichen Ortes zu werden, dessen Namen sogar untergegangen ist. Diesen hätte man doch wenigstens achten können, zumal da er schöner und leichter auszusprechen ist als der an seine Stelle getretene Name Murviedro, wenngleich dieser ebenfalls auch dem Lateinischen entstammt und von muri veteres hergeleitet ist. Aber die Zeit ist ein unbändiges, wildes Ungeheuer, das nicht nur Marmelstein und Erz zerstört, sondern auch die Erinnerung vertilgt.

»Dieser Ort,« sagte der Priester zu mir, »hat stets Murviedro geheißen.«

»Das ist nicht möglich; denn der gesunde Menschenverstand sträubt sich dagegen, etwas alt zu nennen, was bei seiner Entstehung neu war. Das ist gerade, wie wenn Sie behaupten wollten, Neu-Kastilien sei nicht alt, weil man es ›Neu‹ nenne.«

»Aber es ist doch sicher, daß Alt-Kastilien älter sein muß als Neu-Kastilien.«

»Nein, das ist nicht der Fall: Neu-Kastilien ist so genannt worden, weil es die letzte Rückeroberung von den Mauren war, in Wirklichkeit aber ist Neu-Kastilien älter als Alt-Kastilien.«

Der arme Abbate schwieg; er schüttelte den Kopf und hielt mich für verrückt.

Vergeblich bemühte ich mich, Hannibals Kopf und die Inschrift zu Ehren des Cäsar und Claudius, des Nachfolgers des Kaisers Gallienus, aufzufinden; dagegen sah ich die Spuren des Amphitheaters.

Am anderen Morgen besah ich den Mosaikboden, den man zwanzig Jahre vor jener Zeit bloßgelegt hatte.

Um neun Uhr morgens kam ich in Valencia an. Ich fand sehr schlechte Unterkunft, weil der Operndirektor Marescalchi aus Bologna alle guten Zimmer für die Sänger und Sängerinnen belegt hatte, die von Madrid eintreffen sollten. Bei ihm befand sich sein Bruder, ein Abbate, den ich für sein Alter gelehrt fand. Wir machten einen Spaziergang, und er lachte, als ich ihm vorschlug, ins Kaffeehaus zu gehen; denn es gab in der ganzen Stadt keinen einzigen Ort, wo ein anständiger Mensch eintreten konnte, um sich gegen eine Geldvergütung in anständiger Weise auszuruhen. Es gab nur Schenken niedrigster Ordnung, in denen der Wein untrinkbar war. Ich fand das unbegreiflich; aber Spanien ist ein ganz besonderes Land. In Valencia, das so nahe bei Malaga und Alicante liegt, konnte man zu meiner Zeit eine gute Flasche Wein sich nur mit großen Schwierigkeiten beschaffen.

In den ersten drei Tagen meines Aufenthaltes in Valencia, der Vaterstadt des Papstes Alexanders des Sechsten, sah ich alles Sehenswerte, was in dieser Stadt vorhanden ist, und fand wieder einmal meine Wahrnehmung bestätigt, daß alles, was wir nach Beschreibungen von Dichtern und Abbildungen von Künstlern bewundern, unendlich viel verliert, wenn wir es in der Nähe und in der Wirklichkeit betrachten.

Valencia liegt in herrlichem Klima ganz dicht am Mittelmeer in einer lachenden Landschaft, die die köstlichsten und leckersten Erzeugnisse der Natur in reicher Fruchtbarkeit hervorbringt; die Luft ist gesund und von köstlicher Milde; die Stadt liegt nur eine Stunde von dem berühmten Amoenum stagnum, worin es so delikate Fische gibt; in Valencia wohnt ein zahlreicher vornehmer und begüterter Adel; in Valencia sind die Frauen, wenn nicht die geistreichsten, so doch zum mindesten die schönsten von ganz Spanien; Valencia hat einen Erzbischof und einen Klerus mit einem Jahreseinkommen von einer Million Duros – und trotzalledem ist Valencia eine sehr unangenehme Stadt für einen Fremden; denn er kann dort keine der Bequemlichkeiten genießen, die er sonst überall für sein Geld findet. Unterkunft und Essen ist schlecht; trinken kann man nicht, weil es keinen guten Wein gibt; unterhalten kann man sich nicht, weil man keine gute Gesellschaft hat; man kann nicht einmal disputieren; denn obgleich Valencia eine Universität hat, findet man dort keinen Menschen, den man vernünftigerweise einen Gelehrten nennen könnte.

Die fünf Brücken über den Guadalajara, die Kirchen, die öffentlichen Gebäude, das Zeughaus, die Börse, das Stadthaus, die zwölf Tore konnten mich nicht dazu hinreißen, eine Stadt zu bewundern, deren Straßen nicht gepflastert sind, und wo man nur außerhalb der Mauern spazieren gehen kann. Dort draußen findet man dann allerdings alle seine Sinne befriedigt; denn die Umgebung von Valencia ist ein wahres Paradies, besonders nach dem Meere zu. Aber die Umgegend ist nicht die Stadt.

Was ich dort bewunderte und was man wahrscheinlich noch dort findet, waren eine beträchtliche Anzahl einspänniger Wagen, die immer bereit stehen und die einen für einen sehr bescheidenen Betrag sehr schnell überall hinfahren, sei es auf die Promenade, sei es auf Entfernungen von zwei und drei Tagereisen.

Wäre ich bei guter Laune gewesen, so hätte ich eine Fahrt durch die Königreiche Murcia und Granada gemacht, die an materieller Schönheit alles überbieten, was man in Italien findet.

Arme Spanier! Die Schönheit, die Fruchtbarkeit und der Reichtum eures Landes sind die Ursachen eurer Unwissenheit, wie die Minen von Peru und Potosi schuld sind an eurem dummen Stolz und an allen Vorurteilen, die euch erniedrigen.

O Spanier! Wann werdet ihr einen edlen, aber starken Anstoß erhalten, der euch aus eurer dumpfen Betäubung weckt und eure eingeschlafene Tatkraft mit neuem Leben beseelt, dessen sie recht wohl fähig ist! Heute seid ihr ein elendes, bemitleidenswertes Volk, für die ganze Welt so unnütz wie für euch selber. Was braucht ihr? Ihr braucht eine starke Revolution, eine völlige Umwälzung, einen furchtbaren Anstoß, eine Eroberung, die neues Leben weckt. Eure Fäulnis kann nicht durch einfache zivilisatorische Maßnahmen beseitigt werden; der Krebsschaden, der euer Fleisch verzehrt, muß mit Feuer ausgebrannt werden.

Ich reiste der edlen und bescheidenen Pelliccia entgegen. Die erste Vorstellung sollte am zweiten Tage darauf stattfinden. Das war nicht schwierig; denn man spielte dieselben Opern, die man vor der Hofgesellschaft im Sitios aufgeführt hatte, das will sagen: in Aranjuez, im Escorial, in der Granja; denn Graf Aranda hat niemals gewagt, seine freisinnige Kühnheit so weit zu treiben, um dem Theater in Madrid die Aufführung einer italienischen Opera buffa zu erlauben. Solche Neuerung wäre zu groß gewesen, und die Inquisition hätte ihre satanischen Augen zu weit aufgerissen.

Die Bälle der Scaños del Peral hatten die Inquisition erstaunt, und man war genötigt, sie zwei Jahre später wieder zu unterdrücken. Solange Spanien eine Inquisition hat, wird dieses Ungeheuer der Stein des Anstoßes für Fortschritt und Glück sein.

Señora Pelliccia schickte sofort nach ihrer Ankunft dem Don Diego Valencia den Empfehlungsbrief, den der Herzog von Arcos ihr drei Monate vorher gegeben hatte. Sie hatte den hohen Herrn seit jenen Tagen in Aranjuez nicht wieder gesehen.

Wir saßen beim Essen, nämlich sie, ihr Mann, ihre Schwester, ein berühmter erster Geiger, den sie einige Zeit darauf heiratete, und ich, und waren eben beim Nachtisch angelangt, als man ihr den Señor Diego Valencia meldete; dies war der Bankier, an den der Herzog sie empfohlen hatte.

»Gnädige Frau,« sagte Don Diego zu ihr, »ich bin entzückt von der Gnade, die der Herzog von Arcos mir zuteil werden läßt, indem er Sie an mich weist, und möchte Ihnen meine Dienste anbieten und Ihnen die Befehle mitteilen, die Seine Exzellenz mir gibt und die ihnen vielleicht noch unbekannt sind.«

»Mein Herr, ich hoffe, es wird nicht der Fall eintreten, daß ich genötigt wäre, Sie zu belästigen, aber ich weiß vollkommen die Gnade zu schätzen, die der Herzog mir erwiesen hat, und bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie sich zu mir bemüht haben; ich werde die Ehre haben, Ihnen meinen Besuch zu machen, um Ihnen meinen Dank abzustatten.«

»Das ist nicht notwendig, Señora, aber ich muß Ihnen sagen, daß ich Befehl habe, Ihnen jede gewünschte Summe bis zur Höhe von fünfundzwanzigtausend Dublonen auszuzahlen.«

»Fünfundzwanziqtausend Dublonen?«

»Zweihundertfünfzigtausend Franken, Señora, und nicht mehr. Haben Sie die Güte, den Brief Seiner Exzellenz zu lesen; denn es kommt mir vor, wie wenn Sie den Inhalt nicht kennen.«

Der Brief war vier Zeilen lang:

Don Diego, Sie werden der Dona Pelliccia auf ihr Ersuchen jede Summe bis zur Höhe von fünfundzwanzigtausend Dublonen für meine Rechnung auszahlen.

Der Herzog von Arcos.

Wir waren vor Erstaunen sprachlos.

Doña Pelliccia gab den Brief dem Bankier zurück, der seine Verbeugung machte und sich entfernte.

Die Geschichte ist beinahe unglaublich, und nur in Spanien kann man so etwas erleben; dort aber sind solche Züge nicht selten. Ich habe bereits erzählt, wie der Herzog von Medina-Celi sich gegen die Pichona benahm.

Wer weder den spanischen Charakter noch die ungeheuren Reichtümer einiger großer Herren kennt, mag vielleicht solche Handlungen unvernünftig und lächerlich finden und sie für Verschwendung erklären; dies ist begreiflich, denn der Mensch urteilt stets nur durch Vergleichung. In diesem Falle aber würde er sich täuschen. Der Verschwender gibt ohne Unterschied und ohne Aufhören, wie der Geizhals unablässig Schätze aufhäuft; weder der eine noch der andere handelt mit Überlegung und aus edlem Antrieb. Es mag wohl vorkommen, daß der Verschwender innehält; aber das geschieht nur, wenn er sich mit Schrecken am Rande des Abgrundes sieht. Die heldenmütigen Handlungen aber, von denen ich spreche, tragen nicht diesen Charakter. Der Spanier ist in hervorragendem Maße gierig nach Bewunderung; alles, was er tut, geschieht in der Absicht, bewundert zu werden; dieser selbe Stolz hält ihn aber zurück, wenn die Leidenschaften ihn dazu treiben möchten, irgendeine Handlung zu begehen, die ihm Schande bringen könnte. Man soll von ihm glauben, er stehe über seinesgleichen, geradeso wie seine Nation über allen anderen erhaben zu sein glaubt. Diejenigen, die ihn prüfen, sollen ihn eines Thrones würdig erachten und von ihm voraussetzen, daß ihm alle Tugenden eigen sind; Tugenden aber kann der Mensch nicht in eigennütziger Absicht ausüben.

Man kann noch hinzufügen, daß gewisse spanische Granden ebenso reich sind wie gewisse englische Lords, daß sie aber nicht wie diese die Mittel haben, ihre Reichtümer auszugeben; infolgedessen wird es ihnen eben möglich, sie zu verschenken.

Als Don Diego fortgegangen war, drehte unsere ganze Unterhaltung sich um die Freigebigkeit des Herzogs.

Señora Pelliccia sagte, der Herzog habe ihr zeigen wollen, was für einen Mann sie um eine Empfehlung gebeten habe, und er habe ihr dabei die Ehre erwiesen, sie für unfähig zu halten, sein Vertrauen zu mißbrauchen. »Jedenfalls ist so viel sicher, daß ich lieber vor Hunger sterben als von Don Diego eine einzige Dublone annehmen würde.«

»Der Herzog wird sich beleidigt fühlen«, sagte der Geiger; »ich wäre der Meinung, Sie sollten etwas annehmen.«

»Du mußt die ganze Summe annehmen«, sagte der Gatte.

»Ich bin der Meinung der gnädigen Frau: sie muß sich so verhalten, daß man ihr nicht den Vorwurf machen kann, seine Großmut mißbraucht zu haben.« Und mich an die Pelliccia wendend, fuhr ich fort: »Ich bin überzeugt, der Herzog von Arcos wird sich für verpflichtet halten, Ihr Glück zu machen, gerade weil Sie durch Ihr Zartgefühl seine Achtung erworben haben werden.«

Sie folgte meinem Rat und ihrem eigenen Antrieb, zur nicht geringen Unzufriedenheit des Bankiers.

Aber so groß ist die Verderbtheit der Menschen, daß niemand an das Zartgefühl der Pelliccia glaubte. Der König erhielt Kenntnis von dem Vorfall; er wollte den Herzog von Arcos verhindern, sich zugrunde zu richten, und ließ der ehrenwerten Sängerin den Befehl zustellen, sofort Madrid zu verlassen.

So wird zuweilen die Tugend hienieden verkannt; aber die boshaften Menschen, die den König vielleicht zu dieser ungerechten Handlung angestachelt hatten, um der Pelliccia zu schaden, wurden die Ursache ihres Glückes.

Der Herzog glaubte sich durch den willkürlichen Befehl seines Herrschers beleidigt; er kannte die Römerin gar nicht weiter, als daß er zuweilen an öffentlichen Orten mit ihr gesprochen hatte, und er hatte niemals etwas für sie ausgegeben. Als er nun sah, daß er wider Willen die brave Frau unglücklich machte, wollte er dies nicht dulden. Zu stolz, um die Rücknahme eines Befehls zu erbitten, dem er sich nicht widersetzen konnte, faßte er den einzigen Entschluß, der seiner edlen Seele würdig war. Zum ersten Mal in seinem Leben begab er sich in die Wohnung der Señora Pelliccia und bat sie, ihm zu verzeihen, daß er die unfreiwillige Ursache ihres Mißgeschickes sei, und eine Rolle und einen Brief anzunehmen, die er auf einen Tisch legte, indem er ihr glückliche Reise wünschte.

Die Rolle enthielt hundert goldene Unzen mit den Worten: »Für die Reisekosten.« Der Brief war an die Bank des Heiligen Geistes in Rom gerichtet und enthielt eine Anweisung auf achtzigtausend römische Taler oder vierhundertachtzigtausend Franken, die Herr Belloni ihr auszahlte.

Durch die uneigennützige Freigebigkeit eines Ehrenmannes reich geworden, legte die Dame ihr Vermögen in guten Werten an. Seit neunundzwanzig Jahren führt sie in Rom ein Haus auf eine Weise, die klar und deutlich zeigt, daß sie dieses Glückes würdig war.

Am Tage nach der Abreise der Pelliccia sagte der König im Pardo zum Herzog von Arcos, er solle nicht traurig sein, sondern die Dame vergessen, die er nur zu seinem Besten habe ausweisen lassen.

»Indem Eure Majestät ihr den Ausweisungsbefehl übersandt haben, haben Sie mich gezwungen, das wahr zu machen, was bis dahin nur eine Fabel war; denn ich kannte die Frau nur insofern, daß ich einige Male mit ihr an öffentlichen Orten gesprochen hatte, und ich hatte ihr niemals auch nur das kleinste Geschenk gemacht.«

»Du hast ihr also nicht fünfundzwanzigtausend Dublonen gegeben?«

»Sire, ich habe diese Summe verdoppelt, aber erst vorgestern. Eure Majestät sind der Herr und können tun, was Ihnen beliebt; aber soviel ist gewiß: wäre sie nicht ausgewiesen worden, so wäre ich niemals zu ihr gegangen, und sie hätte mir niemals etwas gekostet.«

Der König war so erstaunt, daß er kein Wort sagen konnte. Nun begriff er, daß ein König sich um das müßige Geschwätz des Publikums nicht kümmern darf.

Ich erfuhr von diesem Gespräch durch Herrn Monino, der später unter dem Namen Floridablanca bekannt wurde und in diesem Augenblick in seiner Vaterstadt Murcia als Verbannter lebt.

Nach Marecalchis Abreise traf ich meine Vorbereitungen, um nach Barcelona zu fahren. Kurz vor meiner Abreise sah ich in der Stierkampf- Arena ein Weib, das etwas unbeschreiblich Imposantes an sich hatte.

Ich fragte einen Alcantara-Ritter, der neben mir saß, wer die Dame sei.

»Wieso berühmt?«

»Wenn Sie sie nicht dem Ruf nach kennen, ist Ihre Geschichte zu lang, um sich hier erzählen zu lassen.«

Ohne mir irgend etwas dabei zu denken, sah ich die Dame scharf an; zwei Minuten später trennte ein ziemlich übel aussehender, aber gut gekleideter Mann sich von der imposanten Schönheit, trat an den Ritter heran und sagte ihm etwas ins Ohr.

Der Ritter wandte sich mit höflicher Miene zu mir und sagte mir, die Dame, nach deren Namen ich ihn gefragt habe, wünsche den meinigen zu wissen.

Dummerweise von dieser Neugier geschmeichelt, antwortete ich dem Boten, wenn die Dame es erlaube, werde ich nach dem Schauspiel ihr persönlich meinen Namen sagen.

»Nach Ihrem Akzent scheinen Sie Italiener zu sein.«

»Ich bin aus Venedig.«

»Sie auch.«

Als der Bote fort war, wurde der Ritter weniger wortkarg und sagte mir, Nina sei eine Tänzerin, die der Generalkapitän des Fürstentums Barcelona, Graf Ricla, seit einigen Wochen in Valencia unterhält, bis er sie wieder nach Barcelona zurückkehren lassen könne, wo der Bischof sie wegen des von ihr erregten Ärgernisses nicht länger habe dulden wollen.

»Der Graf ist wahnsinnig in sie verliebt und gibt ihr täglich fünfzig Dublonen.«

»Aber sie gibt sie doch hoffentlich nicht aus?«

»Das kann sie nicht; aber sie macht jeden Tag tolle Streiche, die ihm viel Geld kosten.«

Ich war sehr neugierig, eine Frau von solchem Charakter kennen zu lernen, und fürchtete durchaus nicht, daß diese Bekanntschaft mir irgendwelche Unannehmlichkeiten zuziehen könnte. Ich konnte daher kaum das Ende des Schauspiels abwarten, um mit ihr zu sprechen.

Als ich sie anredete, empfing sie mich mit großer Ungezwungenheit. Sie wollte eben in eine schöne, mit sechs Maultieren bespannte Kutsche einsteigen und sagte mir, sie würde entzückt sein, wenn ich ihr das Vergnügen machte, am nächsten Tag um neun Uhr mit ihr zu frühstücken.

Ich versprach es ihr und ging pünktlich hin. Ich fand sie in einem sehr großen Hause ganz dicht vor der Stadt. Es war mit ziemlich viel Geschmack reich möbliert, und ein großer Garten umgab es.

Was mir besonders auffiel, waren eine Menge von Bedienten in glänzenden Livreen und mehrere elegant gekleidete Kammerfrauen, die überall hin und her liefen.

Als ich näher trat, hörte ich eine gebieterische Stimme laut schelten.

Die Schimpferin war die Nina, die einen Mann herunterputzte, der ganz erstaunt vor einem großen Tisch stand, worauf eine Menge Waren ausgebreitet lagen.

»Sie werden meinen Zorn entschuldigen«, sagte sie zu mir; »dieser spanische Dummkopf will behaupten, die Spitzen seien schön. Sagen Sie mir Ihre Meinung darüber.«

Ich fand die Spitzen wirklich schön; weil ich sie aber nicht bei meinem ersten Besuch ärgern wollte, so sagte ich ihr, ich verstände nichts davon.

»Señora,« sagte der Händler schließlich unwillig zu ihr, »wenn Sie die Spitzen nicht wollen, so lassen Sie sie liegen; aber wollen Sie die Stoffe?«

»Ja, ich behalte sie. Außerdem will ich Sie überzeugen, daß ich Ihre Spitzen nicht deshalb zurückweise, um Geld zu sparen!«

Mit diesen Worten nahm sie eine Schere und zerschnitt die Spitzen.

»Das ist sehr schade«, sagte der Mann, der am Tage vorher mit mir gesprochen hatte. »Man wird sagen, Sie seien wahnsinnig!«

»Halt den Mund, elender Kuppler!« rief sie, indem sie ihm eine kräftige Ohrfeige versetzte.

Der Kerl ging hinaus, indem er sie ›Hure‹ nannte, worüber sie nur laut auflachte; hierauf wendete sie sich zum Spanier und befahl ihm, augenblicklich seine Rechnung zu machen. Der Kaufmann ließ sich das nicht zweimal sagen; er hielt sich an den Preisen für die Beleidigungen schadlos, mit denen sie ihn überhäuft hatte. Sie nahm die Rechnung, unterschrieb, ohne sie zu lesen, und sagte: »Gehen Sie zu Don Diego Valencia; er wird Sie sofort bezahlen.«

Als wir allein waren, wurde die Schokolade gebracht, und sie ließ dem Ohrfeigenkerl befehlen, augenblicklich zu kommen und mit uns zu frühstücken.

»Wundern Sie sich nicht«, sagte sie zu mir, »über die Art und Weise, wie ich mit diesem Subjekt umgehe. Er ist ein jämmerlicher Lump, den Ricla mir beigegeben hat, um zu spionieren. Ich behandle ihn, wie Sie gesehen haben, damit er ihm alles schreibt.«

Ich glaubte zu träumen, so sonderbar kam mir alles vor, was ich sah und hörte; ich hatte niemals gedacht, es könnte eine Frau von solchem Charakter auf der Welt geben.

Der unglückselige Geohrfeigte, ein Sänger aus Bologna, kam und trank seine Schokolade, ohne ein Wort zu sagen. Er hieß Molinali.

Sobald er fertig war, ging er wieder hinaus. Hierauf erzählte Nina mir eine Stunde lang Geschichten aus Spanien, Italien und Portugal, wo sie einen Tänzer, namens Bergonzi, geheiratet hatte.

»Ich bin eine Tochter des berühmten Scharlatans Pelandi, den Sie vielleicht in Venedig gekannt haben.«

Nach dieser vertraulichen Mitteilung, aus der sie kein Geheimnis machte, bat sie mich, mit ihr zu soupieren. Das Souper sei ihre Lieblingsmahlzeit. Ich versprach es ihr und machte dann einen Spaziergang, um ungestört über den Charakter dieser Frau nachzudenken, die ein so großes Glück schnöde mit Füßen trat.

Nina war eine überraschende Schönheit; aber da ich niemals geglaubt habe, daß Schönheit allein genügen könne, um einen Mann glücklich zu machen, so begriff ich nicht, wie ein Vizekönig von Katalonien bis zu einem solchen Grade verliebt sein konnte. Molinari konnte ich nach allem, was ich gesehen hatte, nur für einen niederträchtigen Schuft halten.

Ich ging zu ihrem Souper, wie zu einem Schauspiel; denn so schön sie auch war, so hatte sie mir doch keine Gefühle eingeflößt.

Wir standen im Anfang des Oktobermonats, aber in Valencia waren zwanzig Grad Réaumur im Schatten.

Nina ging mit ihrem Jocrisse im Garten spazieren. Beide waren sehr leicht gekleidet; Nina hatte nur ein Hemd und ihr dünnes Röckchen an.

Sobald sie mich sah, kam sie auf mich zu und forderte mich auf, es mir ebenso bequem zu machen; ich unterließ dies jedoch, indem ich einige Gründe anführte, mit denen sie sich zufrieden geben mußte. Die Gegenwart des gemeinen Menschen war mir im höchsten Grade widerwärtig.

Bis zum Abendessen unterhielt Nina mich mit tausend schlüpfrigen Anekdoten, deren Heldin sie gewesen war, von Beginn ihres ausgelassenen Lebenswandels bis zum dreiundzwanzigsten Jahre, in welchem sie damals stand.

Ohne die Gegenwart des ekelhaften Argus hätten alle diese Geschichten ohne Zweifel ihre natürliche Wirkung auf mich geübt, wenn ich sie auch nicht liebte. So aber verspürte ich gar nichts.

Das Abendessen war lecker zubereitet, und wir hatten alle großen Appetit; als wir fertig waren, wäre ich gerne nach Hause gegangen, aber das lag nicht in ihrer Absicht. Der Wein hatte sie erhitzt, der Hanswurst war betrunken; sie wollte ihren Spaß haben.

Nachdem sie alle Leute hinausgeschickt hatte, verlangte die Messalina von Molinari, er solle sich ganz nackt ausziehen; hierauf begann sie mit ihm Experimente zu machen, die ich nur mit dem größten Ekel beschreiben könnte.

Der Bursche war jung und kräftig, und obgleich er betrunken war, versetzten Ninas Manipulationen ihn bald in einen recht respektablen Zustand. Offenbar war ihre Absicht, daß ich sie bei dieser Gelegenheit in Gegenwart des Halunken bedienen sollte; sein Anblick nahm mir jedoch sogar die Fähigkeit, Begierden zu haben.

Nina hatte sich, ohne mich anzusehen, in Naturzustand versetzt; als sie mich bei dieser Orgie kalt bleiben sah, bediente sie sich dieses Menschen, um ihre Glut zu löschen.

Ich sah mit Schmerz ein so schönes Weib sich mit einem Vieh begatten, das kein anderes Verdienst hatte, als eine ungeheuerliche Mißbildung, die für sie ohne Zweifel eine Vollkommenheit war.

Als sie ihn durch alle möglichen Buhlkünste, die nur eine Bacchantin aufbieten konnte, völlig erschöpft hatte, warf sie sich einen Augenblick in eine Badewanne, die in Gestalt einer Kommode im Zimmer stand und von mir bis dahin nicht bemerkt worden war. Hierauf kam sie wieder, nahm eine Flasche Malvasier von Madeira und zwang den Kerl zu trinken, bis er niedersank.

Ich flüchtete mich in ein Nebenzimmer, denn ich konnte es vor Ekel nicht mehr aushalten; sie folgte mir, immer noch nackt. Durch das Bad erfrischt, setzte sie sich neben mich auf eine Ottomane und fragte mich, wie ich dieses Fest gefunden hätte.

Da meine Ehre und mein Stolz eine Genugtuung verlangten, so sagte ich ihr, der Abscheu, den der Elende mir einflößte, sei so groß, daß er alle Wirkungen zerstöre, die ihre Reize auf mich, wie auf jeden Mann, der Augen im Kopfe hätte, ausüben könnten.

»Ich halte das wohl für möglich; aber jetzt ist er doch nicht da, und trotzdem sagen Sie nichts. Man würde das nicht glauben, wenn man Sie sieht.«

»Man würde recht haben, Nina, denn ich bin nicht minderwertiger als ein anderer; aber er hat mich zu sehr angeekelt. Lassen Sie mich heute! Morgen, wenn ich dieses Ungeheuer nicht mehr sehe, das nicht würdig ist, Ihrer zu genießen…«

»Er genießt nicht; ich töte ihn. Wenn ich glauben könnte, er genösse, so würde ich lieber sterben, als etwas mit ihm machen; denn ich verabscheue ihn.«

»Wie? Sie lieben ihn nicht und bedienen sich seiner zu solchen Zwecken?«

Wie ich mich eines künstlichen Werkzeuges bedienen würde.«

Ich sah in diesem Weibe die Natur in ihrer tiefsten Verderbnis.

Sie lud mich für den nächsten Tag zum Abendessen ein, indem sie mir sagte: »Ich will sehen, ob Sie die Wahrheit gesagt haben. Wir werden unter vier Augen sein, denn Molinari wird krank sein.«

»Er wird seinen Wein verdaut haben und sich sehr wohl befinden.«

»Ich sage Ihnen nochmals, er wird krank sein. Kommen Sie, und kommen Sie jeden Abend.«

»Ich reise übermorgen.«

»Sie werden erst in acht Tagen reisen, und zwar werden wir zusammen fahren.«

»Sie werden nicht reisen, sage ich Ihnen; denn Sie würden mir einen Schimpf antun, den ich nicht dulden würde.«

Ich ging nach Hause, fest entschlossen, sofort abzureisen, ohne mich um sie zu bekümmern.

Obwohl es für mich in meinem Alter auf diesem Gebiete nichts Neues mehr gab, war ich doch erstaunt über die Schrankenlosigkeit dieser Megäre, über ihre freie Sprech- und Handlungsweise und vor allen Dingen über ihre Offenheit; denn sie hatte mir eingestanden, was ich zuvor wußte, was aber niemals ein Weib einem Manne gesteht: »Ich bediene mich seiner, um mich zu befriedigen, weil ich sicher bin, daß er mich nicht liebt; wenn ich wüßte, daß er mich liebte, würde ich lieber sterben, als ihm etwas erlauben; denn ich verabscheue ihn.«

Am nächsten Tage ging ich um sieben Uhr abends zu ihr. Sie empfing mich mit einer erheuchelten traurigen Miene, indem sie zu mir sagte: »Leider werden wir beim Abendessen allein sein, denn Molinari hat Kolik.«

»Sie haben mir gesagt, er werde krank sein; haben Sie ihn vergiftet?«

»Ich wäre dazu imstande; aber Gott soll mich davor behüten.«

»Aber Sie haben ihm irgend etwas eingegeben?«

»Nur was er gern hat; aber darüber werden wir noch sprechen. Jetzt wollen wir spielen. Hierauf werden wir zu Abend speisen und bis morgen früh lustig sein, und morgen Abend fangen wir wieder an.«

»Nein, denn ich werde um sieben Uhr abfahren.«

»Oh, Sie werden nicht abreisen, und Ihr Kutscher wird deshalb keine Händel mit Ihnen anfangen, denn er ist bezahlt. Hier ist die Quittung.«

Dies alles sagte sie in einem heiteren Tone verliebter Tyrannei, die mir nicht mißfallen konnte.

Da ich es im Grunde nicht eilig hatte, nahm ich die Sache von der heiteren Seite und sagte ihr nur: »Sie sind wahnsinnig; ich bin des Geschenks nicht würdig, das Sie mir damit gemacht haben. Über eins wundere ich mich jedoch: daß ein Weib wie Sie, das ein so schön eingerichtetes Haus hat, sich nichts daraus macht, Gesellschaft zu empfangen.«

»Alle Welt zittert vor mir. Sie fürchten den verliebten und eifersüchtigen Ricla, dem der Kerl mit der Kolik alles schreibt, was ich mache. Er schwört, das sei nicht wahr; aber ich weiß, daß er lügt. Es ist mir sogar sehr lieb, daß er es tut, und ich bedauere außerordentlich, daß er ihm bis jetzt nichts Wichtiges hat melden können.«

»Er wird ihm schreiben, daß ich heute mit Ihnen allein soupiert habe.«

»Um so besser. Haben Sie Furcht?«

»Nein, aber mir scheint, Sie müßten mir sagen, ob ich etwas zu befürchten habe.«

»Nichts; denn er kann sich nur an mich halten.«

»Aber ich möchte nicht die Ursache einer Zwistigkeit sein, die Ihnen zum Schaden gereichen würde.«

»Im Gegenteil; je mehr ich ihn reize, desto mehr wird er mich lieben, und die Aussöhnung wird ihm teuer zu stehen kommen.«

»Sie lieben ihn also nicht?«

»Doch! Aber nur, um ihn zugrunde zu richten. Leider ist er so reich, daß es mir nicht gelingen wird.«

Ich sah vor mir ein Weib, schön wie Venus, verdorben wie der Engel der Finsternis, eine abscheuliche Prostituierte, die dazu geboren war, einen jeden zu strafen, der das Unglück haben würde, sich in sie zu verlieben. Ich hatte andere Weiber dieser Art gekannt, aber niemals ihresgleichen.

Um von dieser verruchten Sünderin einen Vorteil zu haben, beschloß ich, mir ihren Reichtum zunutze zu machen.

Sie ließ Karten bringen und lud mich ein, mit ihr ›Primiera‹ zu spielen. Dies ist ein Glücksspiel, aber es enthält solche Kombinationen, daß der beste und vorsichtigste Spieler stets gewinnen muß.

In weniger als einer Viertelstunde bemerkte ich, daß ich besser spielte als sie. Sie hatte jedoch so viel Glück, daß ich mit zwanzig Pistolen im Verlust war, als wir aufstanden, um uns zu Tisch zu setzen. Sie nahm das Geld und versprach mir Revanche.

Wir aßen gut zu Abend und begingen hierauf alle Tollheiten, die sie von mir verlangte und die ich noch leisten konnte; denn ich war nicht mehr in dem Alter, wo man Wunder vollbringt.

Am anderen Tage ging ich früher zu ihr. Wir spielten, und sie verlor; ebenso an den folgenden Tagen, so, daß ich zwei- bis dreihundert Dublonen von ihr gewann, was bei meinen damaligen Glücksumständen keine gleichgültige Sache war.

Der Spion war wieder gesund; am nächsten Tage und ebenfalls an den folgenden Tagen speiste er mit uns; aber seine Gegenwart belästigte mich nicht mehr, seitdem sie nicht mehr vor meinen Augen sich ihm preisgab. Sie hatte sich gerade das Gegenteil ausgedacht: sie gab sich mir hin und sagte ihm, er möchte nur dem Grafen Ricla alles schreiben, was er sähe.

Der Graf schrieb ihr einen Brief, den sie mir zu lesen gab und worin der arme Verliebte ihr mitteilte, sie könnte nach Barcelona ohne alle Furcht zurückkehren; denn der Bischof hätte vom Hofe Befehl empfangen, sie nur als eine Theaterdame anzusehen, die sich in seinem Sprengel nur auf der Durchreise aufhielte; sie könnte daher den ganzen Winter in Barcelona verbringen und sich darauf verlassen, daß man sie nicht belästigen würde, vorausgesetzt, daß sie kein Ärgernis erregte.

Sie sagte mir, während meines Aufenthaltes in Barcelona könnte ich sie nur nachts besuchen, nachdem der Graf sie verlassen hätte, was er stets um zehn Uhr täte. Sie versicherte mir außerdem, es wäre für mich durchaus keine Gefahr dabei.

Ich hätte mich vielleicht nicht in Barcelona aufgehalten, wenn Nina mir nicht gesagt hätte, falls ich etwa Geld nötig haben sollte, würde sie mir die Summe leihen, deren ich bedürfte.

Sie verlangte, daß ich einen Tag vor ihr aus Valencia abreiste und in Tarragona Halt machte, um auf sie zu warten. Ich tat, was sie wünschte, und verbrachte in dieser Stadt, die voll von Denkmälern des Altertums ist, einen der angenehmsten Tage.

Ich ließ ein leckeres Abendessen zurechtmachen, um Nina so zu empfangen, wie sie es gerne hatte, und sorgte dafür, daß ihr Schlafzimmer an das meinige anstieß, um kein Ärgernis zu erregen.

Am Morgen reiste sie ab und bat mich, erst am Abend abzufahren, die Nacht hindurch zu reisen und am Morgen in Barcelona anzukommen, wo ich im Gasthof Santa Maria absteigen sollte. Sie empfahl mir, sie nicht früher zu besuchen, als bis sie mir Nachricht gegeben hätte.

Ich befolgte die Vorschriften dieser eigentümlichen Frau und fand in Barcelona eine sehr schöne Wohnung bei einem Schweizer, der mir im geheimen sagte, er habe Befehl erhalten, mich gut zu bedienen, und ich brauchte nur zu verlangen, was ich haben wollte. Wir werden sehen, wohin das alles führte.

Elftes Kapitel


Mein unvorsichtiges Benehmen. – Passano. – Meine Haft im Gefängnisturm. – Abreise von Barcelona. – Die Castelbajac in Montpellier. – Nimes. – Meine Ankunft in Aix in der Provence.

Obgleich mein Wirt ein ehrlicher Schweizer zu sein schien, auf dessen Verschwiegenheit ich rechnen zu können glaubte, fand ich doch Ninas Empfehlung höchst unvorsichtig. Sie war die Geliebte des Generalkapitäns, der vielleicht ein geistreicher Mann war, aber in Spanien in Sachen der Galanterie jedenfalls unbequem sein mußte. Nach ihrer eigenen Schilderung war er von hitzigem, mißtrauischem und eifersüchtigem Charakter.

Aber es war nun einmal geschehen.

Als ich aufgestanden war, stellte mein Wirt mir einen Lohndiener vor, für den er bürgte; hierauf ließ er mir ein ausgezeichnetes Mittagessen auftragen. Es war ungefähr drei Uhr, und ich hatte seit dem Morgen geschlafen.

Nach dem Essen ließ ich den Schweizer heraufkommen und fragte ihn, ob er mir den Bedienten auf Ninas Befehl besorgt habe. Er bejahte dies und sagte, ein Mietswagen halte zu meiner Verfügung vor der Tür; er habe diesen wochenweise gemietet.

»Ich wundere mich, daß Nina sich diese Mühe macht. Denn meine Ausgaben kann nur ich allein bestimmen.«

»Mein Herr, alles ist bezahlt.«

»Alles ist bezahlt? – Das werde ich nicht leiden.«

»Sie können das mit ihr abmachen; inzwischen aber können Sie sich darauf verlassen, daß ich keinen Heller von Ihnen annehmen werde.«

Ich sah sofort alles mögliche Unheil voraus; da ich aber niemals unangenehmen Gedanken nachzuhängen liebte, so beschäftigte ich mich nicht genug mit diesen.

Ich hatte einen Empfehlungsbrief vom Marques de Mora für Don Miguel de Cevallos, und einen vom Obersten Royas für Don Diego de la Secada. Ich gab sie ab; und am nächsten Tage besuchte Don Diego mich und führte mich zum Grafen Peralada. Am übernächsten Tage stellte Don Miguel mich dem Grafen von Ricla vor; dies war der Generalkapitän, Statthalter des Königs im Fürstentum Katalonien und Liebhaber Ninas.

Der Graf von Peralada war ein sehr reicher junger Herr, hübsch von Gesicht, schlecht gewachsen, ein großer Wüstling, Freund schlechter Gesellschaft, Feind der Religion, der guten Sitten und der Polizei. Er war von heftigem Charakter und sehr stolz auf seine Geburt: er stammte in gerader Linie von jenem Grafen Peralada ab, der Philipp dem Zweiten so gut gedient hatte, daß der König ihn zum Grafen »von Gottes Gnaden« ernannte. Dies stand auf einem Pergament, das unter Glas und Rahmen in seinem Vorzimmer aufgehängt war. Es war absichtlich dort angebracht, damit die Besucher während der Viertelstunde, die er sie warten ließ, es lesen konnten.

Der Graf empfing mich mit jener freien und ungezwungenen Weise, die den großen Herrn ankündigt, der auf alle Zeichen von Ehrfurcht, die er wegen seiner hohen Geburt beanspruchen zu können glaubt, freiwillig verzichtet. Er dankte Don Diego dafür, daß er mich zu ihm geführt habe, und sprach mit mir viel vom Obersten Royas. Er fragte mich, ob ich die Engländerin kennen gelernt habe, die der Oberst in Saragossa unterhalte, und als ich diese Frage bejahte, flüsterte er mir ins Ohr, er habe bei ihr geschlafen.

Nachdem er mich in seinen Stall geführt hatte, wo er herrliche Pferde hatte, lud er mich für den nächsten Tag zum Mittagessen ein.

Ganz anders war der Empfang, den der Generalkapitän mir bereitete: er empfing mich stehend, damit er mir keinen Stuhl anzubieten brauchte. Als ich ihn in italienischer Sprache anredete, die ihm, wie ich wußte, vertraut war, antwortete er mir auf Spanisch und redete mich mit »Ussia« an – eine Zusammensetzung von vuestra Señioria: eure Herrlichkeit, eine gebräuchliche Anrede, mit der man in Spanien sehr verschwenderisch umgeht; denn die Packträger nennen sich untereinander so – im Austausch für den Titel Exzellenz, den ich ihm selbstverständlich gab.

Er sprach mit mir viel über Madrid und beklagte sich, daß Herr von Mocenigo über Bajonne nach Paris gereist sei, statt über Barcelona, wie er es ihm versprochen habe.

Um den Gesandten zu entschuldigen, sagte ich, Herr von Mocenigo habe auf der anderen Straße etwa fünfzig Wegstunden gespart; aber der Statthalter antwortete mir, es wäre besser gewesen, wenn er sein Wort gehalten hätte.

Er fragte mich, ob ich mich in Barcelona lange aufzuhalten gedächte, und schien überrascht zu sein, als ich ihm sagte, ich würde mit seiner Erlaubnis so lange bleiben, wie es mir gefiele.

»Ich wünschte,« versetzte er, »daß es Ihnen lange hier gefiele; aber ich mache Sie darauf aufmerksam, daß die Vergnügungen, die mein Neffe Peralada Ihnen verschaffen kann, Sie in Barcelona in keinen guten Ruf bringen werden.«

Da der Graf Ricla diese Bemerkung in Gegenwart anderer Leute gemacht hatte, so glaubte ich sie dem Grafen Peralada bei Tische an demselben Tage wiedererzählen zu können. Er war entzückt davon und erzählte mir in ruhmredigem Ton, er habe drei Reisen nach Madrid gemacht und jedesmal vom Hofe den Befehl erhalten, nach Katalonien zurückzukehren.

Ich glaubte den indirekten Rat des Generalkapitäns befolgen zu sollen und schlug alle Einladungen zu Vergnügungspartien, sei es auf dem Lande, sei es in Peraladas Hause, höflich aus.

Am fünften Tage überbrachte ein Offizier mir eine Einladung zum Mittagessen bei dem Generalkapitän. Diese Einladung freute mich sehr; denn ich befürchtete, er möchte von meinen Beziehungen zu Nina während meines Aufenthaltes in Valencia gehört haben und mir deswegen grollen. Bei Tisch war er liebenswürdig und richtete oft das Wort an mich, aber stets in ernstem Tone und mit Vermeidung jeder scherzhaften Wendung.

Ich befand mich seit acht Tagen in Barcelona und hatte zu meinem großen Erstaunen von Nina noch nichts gehört; endlich aber schrieb sie mir einen Brief, ich möchte, zu Fuß und ohne Bedienten, an demselben Abend um zehn Uhr bei ihr vorsprechen.

Da ich in dieses Weib nicht verliebt war, so hätte ich sicherlich nicht hingehen sollen. Damit würde ich anständig und weise gehandelt haben und hätte zugleich dem Grafen Ricla einen Beweis meiner Achtung gegeben. Aber ich war, der Leser weiß es, weder weise noch vorsichtig. In meinem an Unglück so reichen Leben hatte ich doch noch nicht genug Unglück gehabt, um vernünftig zu werden.

Ich begab mich also zur bestimmten Stunde, im Überrock und nur mit meinem Degen bewaffnet, zu ihr. Ich fand sie mit ihrer Schwester zusammen, einer Person von ungefähr sechsunddreißig Jahren, die an einen italienischen Tänzer verheiratet war. Dieser hatte den Beinamen Schizza, weil er plattnäsiger war als ein Kalmücke.

Nina hatte mit ihrem Liebhaber gespeist, der sie nach seiner unabänderlichen Gewohnheit kurz vor meiner Ankunft verlassen hatte.

Sie sagte mir, sie sei hocherfreut, daß ich bei ihm gespeist habe, um so mehr, daß sie mit ihm über mich gesprochen und mich gelobt habe, daß ich ihr acht oder zehn Tage lang in Valencia so gute Gesellschaft geleistet habe.

»Vortrefflich, meine Liebe; aber mir scheint. Sie sollten mich nicht zu unschicklicher Zeit zu sich kommen lassen.«

»Das tue ich, um der Klatschsucht der Nachbarn keinen Stoff zu liefern.«

»Dazu ist das nicht das rechte Mittel; im Gegenteil, du wirst dadurch die bösen Zungen noch mehr reizen und deinem Grafen einen Floh ins Ohr setzen.«

»Er kann nichts davon wissen.«

»Er wird es erfahren.«

Um Mitternacht zog ich mich nach einer höchst anständigen Unterhaltung zurück. Ihre Schwester, die übrigens durchaus nicht zimperlich war, verließ uns keinen Augenblick, und Nina tat nichts, wodurch jene unsere vertrauten Beziehungen hätte erraten können.

An den nächsten Tagen machte ich jeden Abend den gleichen Besuch, weil sie mich darum bat. Wir ließen die Rechte des Grafen unangetastet, und darum fürchtete ich nichts. Trotzdem hätte ich nicht mehr hingehen sollen, denn ich erhielt eine Warnung. Aber mein Schicksal und mein Eigensinn trieben mich vorwärts.

Ein Offizier von der Wallonischen Garde redete mich eines Mittags an, als ich vor der Stadt allein spazieren ging. Er sagte höflich: »Ich bitte Sie, zu entschuldigen, daß ich, obwohl Ihnen unbekannt, mir die Freiheit nehme, von etwas zu sprechen, was mich selber durchaus nichts angeht, für Sie jedoch von großem Interesse ist.«

»Sprechen Sie nur, mein Herr! Ich kann Ihnen nur dankbar sein für das, was Sie mir gütigst sagen wollen.«

»Schön. Sie sind ein Fremder, mein Herr; Sie kennen vielleicht weder den Boden, worauf Sie sich befinden, noch die spanischen Sitten, und wissen infolgedessen nicht, daß Sie sich einer großen Gefahr aussetzen, indem sie jeden Abend oder vielmehr jede Nacht zu Nina gehen, sobald der Graf sie verlassen hat.«

»Was kann ich dabei riskieren? Ich möchte darauf wetten, daß der Graf es weiß, und daß er nichts Böses dabei findet.«

»Ich glaube ebenfalls, daß er es weiß, und daß er vielleicht ihr gegenüber tut, wie wenn er nichts weiß, weil er sie ebensosehr fürchtet, wie er sie liebt; aber wenn sie Ihnen sagt, der Graf nehme es nicht übel, so täuscht sie sich oder Sie; denn es ist nicht möglich, daß er sie liebt, ohne eifersüchtig zu sein, und ein eifersüchtiger Spanier…! Folgen Sie meinem Rat, mein Herr, glauben Sie mir und verzeihen Sie mir!«

»Ich danke Ihnen aufrichtig, mein Herr; aber ich werde Ihren Rat nicht befolgen, denn das wäre ein Verstoß Nina gegenüber, die meine Gesellschaft liebt, mich sehr gut aufnimmt und weiß, daß ich sie gerne besuche. Ich werde so lange hingehen, bis sie mir es verbietet, oder bis der Graf mir kundgibt, daß meine Besuche bei seiner Geliebten ihm unangenehm sind.«

»Das würde der Graf niemals tun; er würde fürchten, sich dadurch zu erniedrigen.«

Der brave Offizier erzählte mir hierauf ausführlich alle Ungerechtigkeiten und Gewaltsamkeiten, die Graf Ricla begangen hatte, seitdem er sich in diese Frau verliebt hatte, die ihn alles tun ließ, was sie wollte. Leute wurden auf den einfachen Verdacht, sie zu lieben, aus dem Dienst gejagt, andere wurden in die Verbannung geschickt, noch andere unter nichtigen Vorwänden eingekerkert. Der Graf, der ein so hohes Amt bekleidete und der vor der Bekanntschaft mit Nina ein Muster von Weisheit, Gerechtigkeit und Tugend gewesen war – er war, seitdem er sich in sie verliebt hatte, ungerecht, gewalttätig, blind geworden und gab allen Leuten ein Ärgernis.

Die Auseinandersetzungen des ehrlichen Offiziers hätten mich zur Vernunft bringen sollen; aber es war nicht der Fall. Ich sagte ihm beim Abschied aus Höflichkeit, ich würde mich allmählich von ihr trennen; aber ich dachte nicht daran, zu tun, was ich sagte.

Als ich ihn fragte, wie er erfahren hätte, daß ich zu Nina ginge, antwortete er mir lachend, das sei das Tagesgespräch in allen Kaffeehäusern der Stadt.

An demselben Abend besuchte ich Nina, ohne ihr ein Wort von unserer Unterhaltung zu sagen. Ich wäre entschuldbar gewesen, wenn ich sie geliebt hätte; da ich aber nichts für sie fühlte, so war ich – wahnsinnig.

Am 14. November ging ich um die gewöhnliche Stunde zu ihr. Ich fand bei ihr einen Mann, der ihr Miniaturen zeigte. Ich sah ihn an und erkannte den niederträchtigen Schurken Passano oder Pogomas.

Das Blut stieg mir zu Kopf; ich nahm Nina bei der Hand, führte sie in ein Nebenzimmer und sagte ihr, sie möchte augenblicklich den Gauner fortschicken, den sie bei sich hätte; sonst würde ich gehen und niemals wiederkommen.

»Es ist ein Maler.«

»Ich weiß es, ich kenne ihn; ich werde Ihnen alles sagen; aber schicken Sie ihn fort oder ich gehe.«

Nina rief ihre Schwester und trug ihr auf, dem Genueser zu befehlen, sofort ihr Haus zu verlassen und es nicht wieder zu betreten.

Der Befehl wurde sofort ausgeführt, und die Schwester berichtete mir, er habe im Hinausgehen gesagt: Se ne pentira – »er wird es bereuen!«

Eine Stunde lang erzählte ich ihnen einen Teil der Beschwerden, die ich gegen das Ungeheuer hatte.

Am nächsten Tage, dem 15. November, begab ich mich zur gewohnten Stunde zu Nina, und nachdem ich in Gegenwart ihrer Schwester zwei Stunden in heiterer Unterhaltung verbracht hatte, ging ich mit dem Schlage zwölf Uhr hinaus.

Die Haustüre befand sich unter dem Bogengang, der bis an das Ende der Straße führte.

Es war dunkel. Kaum hatte ich fünfundzwanzig Schritte unter den Steinlauben gemacht, als ich mich von zwei Männern angegriffen sah.

Schnell sprang ich zurück, zog den Degen, rief »Mörder!« und stieß meine Klinge dem nächsten in den Leib. Dann sprang ich aus dem Bogengang über die niedrige Mauer mitten auf die Straße und lief davon. Ein Schuß, den der zweite Mörder mir nachsandte, traf mich glücklicherweise nicht. Unterwegs fiel ich hin, sprang aber sofort wieder auf und lief weiter, ohne meinen Hut zu suchen, den ich bei meinem Sturze verloren hatte. Ich wußte nicht, ob ich verwundet war, aber ich lief immer weiter, den blanken Degen in der Hand, bis ich ganz außer Atem in meinem Gasthof ankam, wo ich meinen Degen vor dem Wirt auf den Schenktisch legte. Die Klinge war ganz blutig.

Ich erzählte dem guten alten Mann, was vorgefallen war; hierauf zog ich meinen Überrock aus und fand unterhalb der Achsel zwei Kugellöcher.

»Ich werde zu Bett gehen,« sagte ich zu meinem Schweizer, »und lasse Ihnen meinen Degen und meinen Überrock zurück. Morgen früh werde ich Sie bitten, mit mir vor den Richter zu gehen, um diesen Mordanfall anzuzeigen; denn wenn ein Mensch getötet H0Z sein sollte, so wird man sehen, daß ich nur in Verteidigung meines Lebens gehandelt habe.«

»Ich glaube, Sie werden besser tun, sofort abzureisen.«

»Sie glauben also, daß die Sache sich nicht so verhält, wie ich sie ihnen erzählt habe?«

«Ich glaube alles. Aber reisen Sie ab! Denn ich sehe, von wo der Streich ausgeht, und Gott weiß, was Ihnen noch geschieht!«

»Mir wird nichts geschehen; wenn ich aber abreiste, würde man mich für schuldig halten! Nehmen Sie den Degen in Verwahrung! Man hat mich ermorden wollen. Die Mörder mögen sich in acht nehmen!«

Ziemlich aufgeregt legte ich mich zu Bett; indessen war ich doch weniger aufgeregt, wie ich es nach einem solchen Ereignis hätte sein können; denn wenn ich einen Menschen getötet hatte – wie ich noch jetzt ganz bestimmt glaube – so hatte ich es nur zu meiner Selbsterhaltung getan. Mein Gewissen war ruhig.

Um sieben Uhr morgens wurde an meine Tür geklopft. Ich öffnete und sah vor mir meinen Wirt und einen Beamten in Uniform, der mir befahl, ihm alle meine Papiere zu übergeben, mich anzukleiden und ihm zu folgen; wenn ich den geringsten Widerstand leistete, würde er bewaffnete Hilfe heraufkommen lassen.

Ich antwortete ihm: »Ich habe durchaus keine Lust, Widerstand zu leisten, auch bedarf ich dessen nicht. In wessen Auftrag verlangen Sie von mir meine Papiere?«

»Auf Befehl des Gouverneurs; sie werden Ihnen zurückgegeben werden, wenn nichts Verdächtiges dabei ist.«

»Und wohin werden Sie mich bringen?«

»Auf die Zitadelle. Sie werden dort in Haft gesetzt werden.«

Ich öffnete meinen Koffer und nahm meine Wäsche und meine Kleider heraus, die ich dem Schweizer übergab. Der Beamte machte ein ganz erstauntes Gesicht, als er sah, daß der Koffer halb voll von Papieren war.

»Dies sind meine Papiere, mein Herr; andere habe ich nicht.«

Ich schloß den Koffer wieder zu und übergab ihm den Schlüssel.

Er nahm ihn und sagte zu mir: »Ich rate Ihnen, in einen Mantelsack die Sachen zu legen, die Sie für die Nacht brauchen.«

Hierauf wandte er sich zum Wirt und befahl ihm, mir ein Bett zu schicken; dann sagte er, er wünschte zu wissen, ob ich Papiere in meinen Taschen hätte.

»Nur meine Pässe.«

»Gerade Ihre Pässe«, sagte er mit einem bitteren Lächeln, »wünsche ich zu erhalten.«

»Meine Pässe sind unantastbar, ich werde sie nur dem Generalgouverneur übergeben, und Sie können sie mir nur zugleich mit meinem Leben entreißen. Haben Sie Respekt vor Ihrem König, hier ist sein Paß, hier der des Grafen Aranda und hier der des venetianischen Gesandten. In diesen Pässen wird Ihnen befohlen, mich zu respektieren. Sie bekommen Sie nur, wenn Sie mir Arme und Beine binden lassen.«

»Mäßigen Sie sich, mein Herr! Wenn Sie sie mir geben, ist das so gut, als wenn Sie sie Seiner Exzellenz übergäben. Wenn Sie sich widersetzen, werde ich Ihnen nicht Hände oder Füße binden lassen, aber ich werde Sie vor den Generalkapitän führen, und dort werden Sie gezwungen sein, sie vor allen Leuten herauszugeben. Liefern Sie sie mir gutwillig aus, und ich werde Ihnen eine Quittung darüber ausstellen.«

Mein guter Schweizer sagte mir, es wäre besser, wenn ich nachgäbe, und meine Pässe könnten mir nur günstig sein. Der Beamte gab mir eine genaue Quittung darüber; ich legte diese in meine Brieftasche, die er mir aus Gefälligkeit ließ, und ging mit ihm hinaus. Sechs Häscher, die er unter seinem Befehl hatte, folgten uns nur von ferne. Indem ich mich an die Katastrophe in Madrid erinnerte, fühlte ich mich menschlich behandelt.

Bevor wir gingen, sagte der Beamte mir, ich könne bei meinem Wirt bestellen, was ich zu meinen Mahlzeiten zu erhalten wünsche, und ich bat diesen, mir Mittag- und Abendessen nach meiner Gewohnheit zu schicken.

Unterwegs erzählte ich dem Beamten, was mir in der letzten Nacht begegnet war; er hörte mich mit großer Aufmerksamkeit an, ohne jedoch auch nur ein einziges Wort zu äußern.

In der Zitadelle übergab mein Begleiter mich dem wachthabenden Offizier, der mich in ein Zimmer im ersten Stock brachte. Dieses Zimmer hatte völlig kahle Wände, aber die Fenster waren nicht vergittert und gingen auf einen kleinen Platz hinaus.

Kaum war ich zehn Minuten dort, so brachte man mir meinen Nachtsack und ein ausgezeichnetes Bett.

Als ich allein war, überließ ich mich meinen Betrachtungen. Ich hörte mit dem auf, womit ich hätte anfangen sollen:

Was bedeutet ein solches Gefängnis, und was kann es mit meinem Abenteuer von voriger Nacht zu tun haben? Ich sehe keine Beziehungen. Man will meine Papiere prüfen; ohne Zweifel glaubt man, ich habe mit irgendeiner Verschwörung gegen die Regierung oder die Religion zu tun; ich weiß, daß ich nichts zu befürchten habe, und darum bin ich ruhig. Man gibt mir eine sehr anständige Unterkunft, versichert sich aber meiner Person jedenfalls so lange, bis man meine Papiere untersucht hat. In alledem ist nichts, was nicht in der Ordnung wäre.

Die Erstechung meines Mörders hat gar nichts damit zu tun. Selbst wenn der Schurke tot sein sollte, habe ich doch, glaube ich, von dieser Seite nichts zu fürchten.

Anderseits zeigt mir der Rat, den mein Wirt mir gestern Abend gab, daß ich alles zu fürchten habe, wenn die Menschen, die mich töten wollten, auf Befehl eines Mannes handelten, der nichts zu fürchten hat, weil ihm eine unbeschränkte Macht zu Gebote steht.

Ricla kann sich rächen, er kann mich verderben wollen; aber ich darf dies nicht annehmen.

Würde ich gut daran getan haben, dem Rate des ehrlichen Schweizers zu folgen und auf der Stelle abzureisen?

Das kann wohl sein, aber ich glaube es nicht; denn abgesehen davon, daß es meine Ehre verletzt hätte, so hätte man mich verfolgen, mich fangen und in einen schrecklichen Kerker setzen können.

Hier bin ich zwar in einem Gefängnis, befinde mich aber ganz behaglich.

Zur Durchsicht meiner Papiere sind nur drei oder vier Tage nötig, und da in ihnen nichts enthalten ist, was die Regierung oder den spanischen Stolz beleidigen könnte, so wird man sie mir zurückgeben und zugleich mit ihnen meine Freiheit, die mir um so süßer erscheinen wird, da ich ihrer für einige Augenblicke beraubt gewesen bin.

Meine Pässe können mir nur Achtung verschaffen.

Es ist nicht wahrscheinlich, daß der heute Nacht gegen mich verübte Angriff von einem tyrannischen Befehl des einzigen Mannes ausgeht, der in Barcelona einen solchen erteilen kann; denn abgesehen davon, daß ein solcher Befehl ihn entehrt hätte, so würde er mich auch jetzt nicht so sanft behandeln. Ist der Befehl von ihm ausgegangen, so hat er auch auf der Stelle erfahren, daß seinen Mordknechten der Streich mißlungen ist, und ich glaube nicht, daß ein kluger Mann wie er dann den Befehl gegeben hätte, mich zu verhaften.

Wir werden sehen.

Täte ich gut daran, an Nina zu schreiben? Aber kann man hier überhaupt schreiben?

Mit tausend solchen Gedanken beschäftigt lag ich auf meinem Bett, denn einen Stuhl hatte ich nicht. Während ich so nachdachte, ohne zu einem Entschluß kommen zu können, hörte ich ein Geräusch. Ich öffnete mein Fenster und sah zu meiner größten Überraschung den Schurken Passano, den ein Korporal und zwei Soldaten in das Gefängnis führten, das sich fünfundzwanzig Schritte von meinem Fenster entfernt im Erdgeschoß befand. Als der Spitzbube in die Tür trat, blickte er auf, bemerkte mich und fing an zu lachen.

»Aha!« sagte ich bei mir selber, »da gibt es neue Nahrung für meine Mutmaßungen. Der Schurke hat zu Ninas Schwester gesagt, ich werde es bereuen. Er wird irgendeine gräßliche Verleumdung gegen mich ausgeheckt haben, und man nimmt ihn in Haft, damit er für sie eintritt. Gut! Besseres könnte ich mir gar nicht wünschen.«

Man brachte mir ein leckeres Mittagessen, aber ich hatte weder Tisch noch Stuhl. Der Soldat, der mich zu bewachen hatte, besorgte mir beides für einen Duro.

Es war verboten, ohne besondere Erlaubnis den Gefangenen Federn und Tinte zu liefern; da aber die Vorschrift von Bleistift und Papier nichts sagte, so besorgte mein Soldat mir für mein Geld davon soviel, wie ich wollte, ferner noch Kerzen und Leuchter, und ich machte, um die Zeit totzuschlagen, geometrische Berechnungen.

Ich ließ den freundlichen Soldaten mit mir zu Abend essen, und er versprach mir, am nächsten Tage mich einem seiner Kameraden zu empfehlen, der mich treu bedienen würde. Die Wache wurde um elf Uhr abgelöst.

Am Morgen des vierten Tages trat der wachhabende Offizier mit traurigem Gesicht bei mir ein und sagte mir höflich, es tue ihm sehr leid, mir eine recht unangeneme Nachricht ankündigen zu müssen.

Eine solche hatte ich an diesem Ort nicht erwartet. »Worum handelt es sich?«

»Ich habe Befehl, Sie in das unterirdische Gefängnis des Turms zu bringen.«

»Mich?«

«Sie.«

»Man hat also in mir einen großen Verbrecher entdeckt. Gehen wir, mein Herr!«

Wir kamen in ein rundes Gefängnis, eine Art von Keller, der mit großen Steinfliesen gepflastert war. Fünf oder sechs Spalten von zwei Fuß Breite ließen ein spärliches Licht ein. Der Offizier sagte mir, ich könne befehlen, was ich zu essen wünsche, aber nur einmal am Tage; denn sonst sei es verboten, das Gefängnis zu öffnen.

»Wer wird mir Licht bringen?«

»Sie können beständig eine Lampe brennen lassen, und diese muß Ihnen genügen, denn Bücher sind nicht erlaubt. Wenn man Ihnen Ihr Essen bringt, wird der wachhabende Offizier die Pasteten und das Geflügel öffnen, um sich zu überzeugen, daß sie nichts Geschriebenes enthalten; denn hier ist es nicht erlaubt, Briefe zu empfangen oder welche zu schreiben.«

»Ist dieser Befehl eigens für mich gegeben worden?«

»Nein, mein Herr, es ist allgemeine Vorschrift. Sie werden beständig eine Schildwache bei sich haben, mit der Sie sich nach Ihrem Belieben unterhalten können.«

»Die Tür wird also offen sein?«

»O nein!«

»Und die Reinlichkeit?«

»Der Offizier, der Ihnen das Essen bringen läßt, wird einen Soldaten mitkommen lassen, der Sie für eine Kleinigkeit bedienen wird.«

»Darf ich zu meiner Unterhaltung mit Bleistift architektonische Pläne zeichnen?

»Soviel Sie wollen!«

»Wollen Sie also, bitte, befehlen, daß man mir Papier kaufe.«

»Mit Vergnügen.«

Der Offizier verließ mich mit bekümmerter Miene, indem er mich zur Geduld ermahnte, wie wenn es von mir abgehangen hätte, keine Geduld zu haben, und verschloß doppelt eine dicke Tür, hinter der ich eine Schildwache mit aufgepflanztem Bajonett sah. In dieser Tür war ein kleines, vergittertes Fenster angebracht.

Der Offizier, der mittags kam, brachte mir Papier, zerlegte ein Huhn und stocherte mit der Gabel in den Schüsseln herum, worin sich Tunke befand, um sich zu vergewissern, daß nicht etwa ein Papier auf dem Grunde läge.

Mein Essen war so reichlich, daß es für sechs genügt haben würde. Ich sagte ihm, er würde mir eine Ehre erweisen, wenn er mit mir speisen wollte, aber er antwortete mir, das sei streng verboten. Dieselbe Antwort gab er mir, als ich ihn fragte, ob ich die Zeitungen lesen dürfte.

Meine Schildwachen führten ein Götterleben, denn ich gab ihnen zu essen und bewirtete sie mit ausgezeichnetem Wein. Die armen Teufel behandelten mich denn auch mit aller erdenklichen Rücksicht.

Ich war sehr neugierig, zu erfahren, ob ich das gute Essen auf meine eigenen Kosten erhielt, aber es war mir nicht möglich, meine Neugier zu befriedigen; denn der Kellner aus dem Gasthof konnte nicht bis zu mir dringen.

In diesem Loch, worin ich zweiundvierzig Tage verbrachte, schrieb ich mit Bleistift und ohne ein anderes Hilfsmittel als mein Gedächtnis die ganze Widerlegung der Geschichte der Regierung von Venedig von Amelot de la Houssaye; die Stellen für die Zitate ließ ich frei, um sie einzufügen, wenn ich wieder in Freiheit wäre und das Werk selber vor Augen hätte.

Der Zufall fügte es, daß ich in meinem Gefängnis einen Augenblick lachen durfte, und das Lachen ist ein Vorrecht des vernunftbegabten Wesens, das oft zu wenig mit Vernunft begabt ist.

Um diese Geschichte zu erzählen, muß ich etwas weiter ausholen:

Ein Italiener, namens Tadini, kam nach Warschau, während ich mich in der polnischen Hauptstadt aufhielt. Er war an Tomatis empfohlen, und dieser empfahl ihn an mich. Dieser Tadini nannte sich einen Okulisten. Tomatis lud ihn manchmal zum Essen ein; ich, der ich damals nicht reich war, konnte ihm weiter nichts geben als gute Worte und eine Tasse Kaffee, wenn er zum Frühstück zu mir kam.

Tadini sprach überall von seinen Operationen und schimpfte auf einen anderen, seit zwanzig Jahren in Warschau ansässigen Augenarzt, weil dieser, wie er behauptete, nicht den Star zu stechen wüßte.

Der andere dagegen nannte ihn einen Scharlatan, der nicht einmal wisse, wie das Auge gebaut sei.

Tadini bat mich, zu seinen Gunsten mit einer Dame zu sprechen, die von dem anderen erfolglos operiert worden war, denn der Star war wiedergekommen.

Diese Dame war auf dem operierten Auge blind, aber mit dem anderen sah sie, und da die Geschichte heikel war, so sagte ich Tadini, ich wolle nichts damit zu tun haben.

»Ich habe mit der Dame gesprochen,« sagte der Italiener zu mir, »und habe ihr gesagt, daß Sie für mich bürgen können.«

»Daran haben Sie sehr unrecht getan, denn in solchen Dingen würde ich nicht einmal für den allergelehrtesten Menschen bürgen. Ihr Wissen aber kenne ich ja gar nicht.«

»Aber Sie wissen doch, daß ich Okulist bin.«

»Ich weiß, daß Sie als solcher bezeichnet werden; das ist aber auch alles. In Ihrem Beruf dürfen Sie keine Empfehlung von irgendeinem Menschen nötig haben; Sie müssen laut rufen: Operibus credite – glaubet meinen Werken! Das muß Ihr Wahlspruch sein.«

Er machte keine Einwendungen, legte mir aber eine Menge Zeugnisse vor, die ich vielleicht gelesen haben würde, wenn nicht das allererste, das er mir zeigte, von einer Person hergerührt hätte, die urbi et orbi verkündete, Herr Tadini habe sie vom schwarzen Star geheilt. Ich lachte ihm ins Gesicht und bat ihn, mich ungeschoren zu lassen.

Einige Tage darauf war ich mit ihm zum Essen bei der Dame mit dem grauen Star. Ich behandelte ihn freundlich und ließ ihn reden, jedoch mit der Absicht, die Dame rechtzeitig zu warnen, daß sie sich ihm nicht anvertrauen solle. Ich fand sie beinahe entschlossen, sich der Operation zu unterwerfen; da aber der Bursche mich als Zeugen angerufen hatte, so wünschte sie, daß ich bei einer Disputation zwischen ihm und dem Warschauer Okulisten zugegen wäre. Dieser kam nach Tisch.

Ich war mit dem größten Vergnügen bereit, die Gründe der beiden feindlichen Professoren anzuhören. Der Alte war ein Deutscher, sprach aber gut französisch. Er griff jedoch Tadini in lateinischer Sprache an. Dieser fiel ihm sofort ins Wort, indem er sagte, die Dame müsse doch verstehen können, was sie sagten. Dieser Meinung schloß ich mich an.

Offenbar aber verstand Tadini kein Wort Latein.

Der deutsche Augenarzt führte zunächst Gründe der Vernunft an. Er sagte: es sei allerdings wahr, daß das Stechen des grauen Stares dem Operateur und dem Operierten die Gewißheit gebe, daß der Star nicht wiederkommen werde; die Operation aber sei weniger sicher und setze außerdem den Kranken der Gefahr aus, blind zu werden, indem er die unersetzbare Kristallinse verliere.

Tadini hätte dies leugnen sollen, denn der Deutsche hatte unrecht; statt dessen beging er die Albernheit, eine kleine Schachtel hervorzuziehen, worin er kleine Kugeln hatte, die sehr schönen Kristallinsen glichen.

»Was soll das bedeuten?« fragte der alte Professor.

»Ich besitze die Kunst, diese Kügelchen anstatt der Kristallinsen in die Hornhaut einzusetzen.«

Hierüber lachte der Deutsche so laut und so anhaltend, daß die Dame sich nicht enthalten konnte, ebenfalls zu lachen. Ich hätte gerne mitgelacht, aber ich schämte mich, für einen dummen Ignoranten zu gelten, und verhielt mich schweigend.

Tadini glaubte ohne Zweifel, ich wolle mit diesem Schweigen das Lachen des Deutschen mißbilligen, und hoffte das Gewitter beschwören zu können, indem er sich an mich wandte.

Ich antwortete ihm: »Da Sie meine Meinung kennen zu lernen wünschen, so will ich sie Ihnen sagen: der Unterschied zwischen einem Zahn und der Kristallinse des Auges ist sehr groß und Sie haben unrecht, wenn Sie glauben, man könne die Kristallinse in das Auge zwischen der Netzhaut und der Hornhaut einsetzen, wie Sie vielleicht an Stelle eines ausgerissenen hohlen Zahnes einen falschen Zahn in einen Kiefer einsetzen.«

»Mein Herr, ich habe keinem Menschen je einen Zahn eingesetzt!«

»Das kann wohl sein, aber sicherlich auch keine Kristallinse.«

Als ich diese Worte sagte, stand der freche Ignorant auf und ging hinaus. Daran tat er wohl, denn was hätte er anderes machen sollen?

Wir lachten noch lange über den Mann, und die Dame nahm sich fest vor, den unverschämten Menschen, der sehr gefährlich werden konnte, nicht mehr zu empfangen. Der Professor aber glaubte, ihn nicht stillschweigend verachten zu dürfen. Er ließ ihn vor das Kollegium der Fakultät zitieren, um in einer Prüfung seine Kenntnisse von der Einrichtung des menschlichen Auges zu zeigen. Außerdem brachte er einen komischen Artikel in die Zeitungen, worin er sich über die Einsetzung einer Kristallinse zwischen Netz- und Hornhaut lustig machte; dabei zitierte er den wunderbaren Künstler, der in Warschau wäre und diese Operation mit derselben Leichtigkeit vollzöge, wie ein Zahnarzt einen falschen Zahn einsetzte.

Wütend und verzweifelt lauerte Tadini dem alten Professor in einer Straße auf; er griff ihn mit gezücktem Degen an und zwang ihn, in ein Haus zu flüchten.

Nach dieser schönen Heldentat verließ er ohne Zweifel die Stadt zu Fuß; denn man sah ihn nicht wieder.

Man stelle sich also meine Überraschung und meine Lachlust vor, als ich eines Tages durch das vergitterte Türfenster meines Calabozo, worin ich vor Langeweile umkam, den Okulisten Tadini sah, der in weißer Uniform mit aufgepflanztem Bajonett als Schildwache dastand. Ich weiß nicht, wer von uns beiden am meisten erstaunt war. Jedenfalls fiel der arme Teufel aus den Wolken, als er trotz der Dunkelheit mich endlich erkannte. Aber ihm war nicht lächerlich zumute, während ich mich nicht enthalten konnte, während der ganzen zwei Stunden bis zu seiner Ablösung aus vollem Halse zu lachen.

Nachdem ich ihm tüchtig zu essen gegeben und ihn mehrere Gläser meines ausgezeichneten Weines hatte trinken lassen, schenkte ich ihm einen Taler und versprach ihm eine gleiche Bewirtung für jedes Mal, wo er auf Posten sein würde. Er kam jedoch nur viermal wieder, denn die Soldaten rissen sich darum, tagsüber vor meinem Gefängnis Wache zu stehen.

Tadini belustigte mich, indem er mir alles Unglück erzählte, das ihm seit seinem Fortgange von Warschau widerfahren war. Nachdem er viel gereist, aber nirgendswo das Glück getroffen hatte, war er nach Barcelona gekommen, wo die katalonischen Gesetze auf seine Würde als Okulist keine Rücksicht genommen hatten. Da er keine Empfehlungen hatte und kein Universitätsdiplom besaß, so wollte man mit ihm ein Examen in lateinischer Sprache anstellen. Er weigerte sich jedoch, sich diesem zu unterziehen, indem er erklärte, die lateinische Sprache habe mit den Augenkrankheiten nichts zu schaffen. Man begnügte sich nicht, ihn wie an anderen Orten einfach auszuweisen – worin er sich gefügt hätte, zumal da er daran gewöhnt war – sondern man hatte ihn zum Soldaten gemacht.

Nachdem ich ihm Verschwiegenheit versprochen hatte, vertraute er mir an, er würde bei der nächsten Gelegenheit desertieren, wollte jedoch sicher sein, daß er nicht auf die Galeren käme.

»Und was haben Sie mit Ihren Kristallinsen gemacht?«

»Auf diese habe ich seit Warschau verzichtet, obgleich ich sicher bin, daß sie Erfolg haben müssen.«

Er hatte niemals eine praktische Erfahrung damit gemacht.

Ich habe nicht wieder von ihm sprechen hören.

Am 28. Dezember, sechs Wochen nach dem Tage meiner Verhaftung, kam der wachthabende Offizier und forderte mich auf, mich anzukleiden und ihm zu folgen.

»Wohin gehen wir?«

»Es wartet auf Sie ein Beamter des General-Kapitäns; diesem werde ich Sie übergeben.«

Ich kleidete mich in aller Eile an, und nachdem ich alle Sachen, die ich dort hatte, in einen Mantelsack gepackt hatte, folgte ich ihm.

In der Wachtstube übergab er mich demselben höflichen Beamten, der mich verhaftet hatte. Dieser führte mich nach dem Palast des Statthalters, wo ein Regierungsbeamter mir meinen Koffer zeigte und mir sagte, alle meine Papiere seien darin. Hierauf übergab er mir meine drei Pässe mit den Worten, sie seien in Ordnung.

»Das weiß ich und wußte ich.«

»Ich zweifle nicht daran, aber man hat starke Gründe gehabt, das Gegenteil zu glauben.«

»Das müssen Gründe sein, die ich mir nicht denken kann; denn, wie Sie sehen, waren diese Gründe unbegründet.«

»Sie werden begreifen, Señor, daß ich auf eine solche Bemerkung nicht antworten kann.«

»Das verlange ich auch nicht.«

»Euer Gnaden sind vollkommen gerechtfertigt; indessen erteile ich Ihnen hierdurch den Befehl, Barcelona in drei Tagen zu verlassen und Katalonien in acht.«

»Selbstverständlich werde ich gehorchen; aber ich hoffe, alle ehrlichen Leute der ganzen Welt, und Sie zu allererst, werden zugeben, daß dieser Befehl kaum dazu angetan ist, die mir widerfahrene Ungerechtigkeit wieder gut zu machen.«

»Es steht in Ihrer Macht, nach Madrid zu gehen und sich bei Hofe zu beschweren, wenn Sie Anlaß zu Klagen zu haben glauben.«

»Ich habe sehr großen Anlaß zu Klagen, mein Herr, aber ich werde nach Frankreich gehen und nicht nach Madrid: ich habe von Spanien genug. Wollen Sie mir wohl den Befehl schriftlich geben, den Sie mir erteilt haben?«

»Das ist nicht nötig. Sie haben ihn ja verstanden. Ich heiße Emanuel Badillo und bin Sekretär der Regierung. Der Herr wird Sie nach Santa Maria in dasselbe Zimmer bringen, worin er Sie verhaftet hat. Sie werden dort alles finden, was Sie zurückgelassen haben. Sie sind frei. Morgen werde ich Ihnen den von Seiner Exzellenz, dem General-Kapitän, und von mir unterzeichneten Paß schicken. Leben Sie wohl, mein Herr.«

Begleitet von dem Zivilbeamten und einem Bedienten, der meinen Koffer trug, begab ich mich nach meinem Gasthof. Unterwegs las ich die Theateranzeige für denselben Abend und sagte: »Gut, ich werde die Oper sehen.«

Mein guter Schweizer strahlte vor Freude, als er mich wiedersah, und ließ mir schnell ein gutes Feuer anzünden; denn bei dem Nordwind war es außerordentlich kalt. Er versicherte mir, kein Mensch außer ihm habe mein Zimmer betreten, und übergab mir in Gegenwart des Beamten meinen Degen, meinen Überrock und außerdem, zu meinem großen Erstaunen, meinen Hut, den ich bei meinem Sturz auf der Flucht vor den Mördern verloren hatte. Der Beamte ließ hierauf ebenfalls alles, was ich in dem Turm der Zitadelle zurückgelassen hatte, auf mein Zimmer bringen und fragte mich, ob ich irgendwelche Ansprüche an ihn hätte.

»Nicht den geringsten, mein Herr.«

»Ich wäre glücklich, wenn Sie anerkennen wollten, daß ich nur meine Pflicht getan habe und daß Sie sich nicht über mich zu beklagen haben.«

Ich streckte ihm die Hand hin und versicherte ihn meiner Achtung.

»Leben Sie wohl, mein Herr, ich wünsche Ihnen glückliche Reise.«

Diese Erzählung ist in allen Einzelheiten wahr; sie könnte, wenn das der Mühe wert wäre, von mehreren Personen bezeugt werden. Aber sie ist noch nicht zu Ende:

Ich sagte meinem guten Schweizer, ich würde um zwölf Uhr zu Mittag essen, und er müßte daran denken, mir zur Feier meiner Befreiung ein Festmahl zu rüsten; hierauf ging ich mit meinem Bedienten nach der Post, um nachzufragen, ob Briefe für mich da seien. Ich fand fünf oder sechs, die völlig unversehrt waren, worüber ich mich ebenfalls in hohem Grade verwunderte. Denn wie kann man begreifen, daß eine Behörde einen Menschen aus irgendwelchen Verdachtsgründen seiner Freiheit beraubt und sich dann selbstverständlich auch seiner Papiere bemächtigt, zugleich aber das Geheimnis der Briefe achtet, die an ihn adressiert sind? Ich glaube, schon gesagt zu haben: Spanien ist ein Land, wo alles anders ist als sonst auf der Welt.

Diese Briefe kamen von Paris, Venedig, Warschau und Madrid, und ich hatte keinen Anlaß zum Verdacht, daß die Behörde einen anderen beseitigt hätte.

Nachdem ich in meinen Gasthof zurückgekehrt war, um in aller Bequemlichkeit meine Briefe zu lesen, ließ ich meinen Wirt kommen und fragte ihn nach meiner Rechnung.

»Mein Herr, Sie sind mir nichts schuldig. Hier ist die Rechnung über Ihre Ausgaben seit Ihrer Verhaftung; wie Sie sehen, ist sie beglichen. Außerdem habe ich von derselben Seite den Befehl erhalten, Ihnen im Gefängnis und solange Sie überhaupt in Barcelona bleiben, alles zu liefern, was Sie wünschen könnten.«

»Haben Sie gewußt, wie lange Zeit ich im Gefängnis bleiben sollte?«

»Nein, mein Herr; man hat mich am Ende jeder Woche bezahlt.«

»In wessen Auftrag?«

»Das wissen Sie.«

»Haben Sie irgendeinen Brief für mich empfangen?«

»Nichts.«

»Und was ist während meiner Haft aus dem Lohndiener geworden?«

»Nach Ihrer Verhaftung zahlte ich ihm seinen Lohn und entließ ihn; jetzt habe ich in bezug auf ihn keinerlei Befehl.«

»Ich wünsche, daß der Mann mich bis Perpignan begleitet.«

»Sie haben recht, und ich glaube, Sie tun gut daran, Spanien zu verlassen, denn Gerechtigkeit werden Sie hier nicht finden.«

»Was hat man zu dem Mordanfall gesagt?«

»O, das ist sehr komisch! Man sagt, den Büchsenschuß, den man hörte, hätten Sie selber abgefeuert; ebenso hätten Sie selber Ihren Degen blutig gemacht; denn man behauptet, man habe weder einen Toten noch einen Verwundeten gefunden.«

»Das ist scherzhaft; und mein Hut?«

»Man hat ihn mir drei Tage später gebracht.«

»Welches Chaos! Aber wußte man, daß ich im Turm saß?«

»Die ganze Stadt wußte es, und man führte zwei gute Gründe dafür an, den einen öffentlich, den anderen im Vertrauen.«

»Und was sind das für Gründe?«

»Der öffentlich bekannt gegebene Grund: daß Ihre Pässe falsch wären; der Grund, den man sich ins Ohr flüsterte: daß Sie alle Nächte mit der Nina verbrächten.«

»Sie hätten bezeugen können, daß ich keine Nacht außer dem Hause geschlafen habe.«

»Das habe ich auch zu jedermann laut gesagt; aber das war einerlei: Sie gingen zu Nina, und für einen gewissen hohen Herrn ist das ein Verbrechen. Ich glaube aber jetzt, Sie haben gut daran getan, daß Sie nicht die Flucht ergriffen, wie ich es Ihnen riet; denn jetzt stehen Sie vor aller Welt gerechtfertigt da.«

»Ich will heute Abend in die Oper gehen, aber nicht ins Parkett. Ich bitte Sie, mir eine Loge für mich allein zu besorgen.«

»Sie sollen sie erhalten. Aber, mein guter Herr, Sie werden nicht zur Nina gehen, nicht wahr?«

»Nein, mein braver Mann, ich bin entschlossen, nicht mehr hinzugehen.«

Im Augenblick, wo ich mich zum Essen niedersetzen wollte, brachte ein Bankkommis mir einen Brief, der mir eine angenehme Überraschung bereitete, denn er enthielt die Wechsel, die ich in Genua dem Marchese Augustino Grimaldi de la Pietra gegeben hatte, nebst folgenden Zeilen:

Passano ersucht mich vergebens, diese Wechsel nach Barcelona zu schicken, um Sie verhaften zu lassen. Ich schicke sie, aber um sie Ihnen zu schenken und Sie dadurch zu überzeugen, daß ich nicht der Mann bin, die Leiden von Menschen zu vermehren, die ohnehin schon vom Schicksal verfolgt werden.

Genua, den 30. November 1768.

Das war der vierte Genuese, der sich gegen mich wie ein wirklicher Held betrug. Mußte ich um dieser vier braven Männer willen ihrem scheusäligen Landsmann Passano verzeihen?

Ich fühlte mich solcher Tugend nicht fähig. Ich dachte, es wäre besser, wenn ich diesen Räuber beseitigte, der über alle Genuesen Schimpf und Schande brächte; aber ich habe vergeblich gewünscht, eine Gelegenheit dazu zu finden. Einige Jahre später erfuhr ich, daß der Elende in größter Armut in seiner Heimatstadt gestorben sei.

Die hochherzige Handlungsweise des Herrn Grimaldi machte mich neugierig zu erfahren, was aus Passano geworden sei. Ich wußte, daß er als Gefangener in der Kaserne geblieben war, als man mich in den Turm brachte, und es war für mich wichtig, seinen Aufenthaltsort zu wissen, um ihn entweder wenn möglich zu vernichten, wenn er etwa imstande sein sollte, mir zu schaden, oder um gegen einen solchen Mordgesellen auf der Hut zu sein.

Ich teilte meinen Wunsch dem Wirte mit, und dieser beauftragte den Lohndiener, sich zu erkundigen.

Ich konnte aber weiter nichts entdecken, als folgendes: Ascanio Pogomas, genannt Passano, war gegen Ende November aus dem Gefängnis entlassen worden, und man hatte ihn auf eine Feluke gebracht, die nach Toulon segelte.

Ich schrieb am selben Tage einen langen Brief an Herrn Grimaldi, um ihm meine lebhafte Dankbarkeit auszudrücken. Mit solchen Gefühlen der Dankbarkeit mußte ich die tausend Zechinen bezahlen, die ich ihm schuldig war, und ihm für seine wahrhaft großmütige Handlungsweise danken; denn wenn er auf die Ratschläge meines niederträchtigen Feindes gehört hätte, hätte er mich furchtbar unglücklich machen können.

Mein Wirt hatte eine Loge auf meinen Namen genommen. Zwei Stunden darauf wurden zum großen Erstaunen der ganzen Stadt die Theaterzettel mit einer Ankündigung überklebt, worin es hieß, zwei von den Sängern seien plötzlich unwohl geworden; die angekündigte Vorstellung finde daher nicht statt, und das Theater sei bis zum 2. Januar geschlossen.

Dieser Befehl konnte nur vom Grafen Ricla ausgehen, und alle Welt erriet die Ursache.

Es tat mir sehr leid, unschuldigerweise die große Stadt ihres einzigen leidlichen Vergnügens zu berauben, und ich beschloß, überhaupt nicht auszugehen. Dies schien mir das beste Mittel, den Eifersüchtigen über seine tyrannische Willkür erröten zu machen.

Petrarca sagt:

Amor che fa gentile un cor villano.

Wenn er den Liebhaber der verruchten Nina gekannt hätte, hätte er das Gegenteil von ihr sagen können:

Amor che fa villan un cor gentile.

In einem Monat werde ich etwas mehr über diese dunkle Geschichte sagen können.

Wäre ich nicht ein bißchen abergläubisch gewesen, so wäre ich am selben Tage abgereist; aber ich wollte am letzten Tage des unglückseligen Jahres abreisen, das ich in Spanien erlebt hatte. Ich brachte also meine drei Tage damit zu, an alle meine Bekannten eine Menge Briefe zu schreiben.

Don Miguel de Cevallos, Don Diego de la Secada und der Graf von Peralada besuchten mich, ohne jedoch einander zu treffen. Dieser Herr de la Secada war ein Oheim der Gräfin A. B., die ich in Mailand gekannt hatte. Diese drei Herren erzählten mir einen sehr eigentümlichen Umstand, der ebenso sonderbar ist wie die anderen, aus denen sich meine Erlebnisse in Barcelona zusammensetzen.

Am 26. desselben Monats, also zwei Tage vor meiner Befreiung, fragte der Abbate Marquisio, Gesandter des Herzogs von Modena, den Grafen Ricla in Gegenwart vieler Leute, ob er mir einen Besuch machen könne, um mir einen Brief zu übergeben, den er mir nur persönlich zustellen könne, und den er sonst zu seinem großen Bedauern mit sich nach Madrid nehmen müsse, wohin er am nächsten Tage abreise.

Zum großen Erstaunen aller Anwesenden antwortete der Graf nichts, und der Abbate reiste wirklich am nächsten Tage ab.

Ich schrieb diesem Abbate, den ich nicht kannte; aber ich habe niemals erfahren können, was aus diesem so sorgfältig behandelten Briefe, der meine Neugier im höchsten Maße erregte, geworden ist.

Es ist sonnenklar, daß ich nur durch Willkür des armen Grafen Ricla verhaftet worden war. Nina machte sich über den Eifersüchtigen lustig, und die schöne Verbrecherin hatte sich den Spaß gemacht, ihm einzubilden, sie mache mich mit ihrer Liebe glücklich. Meine Pässe konnten nur ein Vorwand sein; denn wenn man überhaupt an ihrer Echtheit zweifelte, so hätte man sie in acht oder zehn Tagen nach Madrid schicken und wieder zurückhaben können. Wenn Passano gewußt hätte, daß ich einen Paß vom König besaß, so hätte er allerdings darauf aufmerksam machen können, daß dieser falsch wäre; denn um eine solche Ehre zu erlangen, hätte ich einen Paß vom venetianischen Botschafter beibringen müssen, und dies konnte nicht möglich sein, weil ich bei den Staatsinquisitoren in Ungnade war. Er hätte sich allerdings getäuscht, aber dies wäre entschuldbar gewesen, und es wäre ihm gelungen, mir Unannehmlichkeiten zu verursachen.

Als ich mich gegen Ende August entschlossen hatte, mich von meiner reizenden Doña Ignazia zu trennen und Madrid für immer zu verlassen, bat ich den Grafen Aranda um einen Paß. Er antwortete mir, nach der herkömmlichen Regel könne er mir einen solchen nur ausstellen, wenn ich ihm einen Paß vom venetianischen Gesandten bringe, der mir, so sagte er, einen solchen nicht verweigern könne.

Sehr zufrieden mit diesem Bescheide, begab ich mich nach dem Gesandtschaftspalast. Da Herr Querini in San Jldefonso war, sagte ich dem Türsteher, ich hätte mit dem Gesandtschaftssekretär zu sprechen.

Der Türsteher meldete mich an, aber der Geck erlaubte sich, mich nicht empfangen zu wollen. Entrüstet schrieb ich ihm, ich sei nicht Hl l in den Palast Seiner Exzellenz des venetianischen Gesandten gekommen, um seinem Sekretär meine Aufwartung zu machen, sondern um einen Paß zu verlangen, den er mir nicht verweigern könne. Ich unterzeichnete mit meinem Namen und mit meinem Titel als Doktor der Rechte und hat ihn, den Paß beim Türsteher zu hinterlegen, bei dem ich ihn am nächsten Tage abholen würde.

Am nächsten Tage fand ich mich ein, und der Türhüter sagte mir, er habe Auftrag, mir mitzuteilen, daß der Gesandte mündlich Befehl hinterlassen habe, mir keinen Paß zu geben.

Wütend schrieb ich sofort an den Marques Grimaldi und an den Herzog von Lossaba und bat sie, dem venetianischen Gesandten zu sagen, er möchte mir einen regelrechten Paß schicken, sonst würde ich die schmachvolle Ursache veröffentlichen, durch die sein Oheim Mocenigo veranlaßt worden wäre, mich in Ungnade zu stürzen.

Ich weiß nicht, ob die Herren meinen Brief dem Gesandten Querini zeigten, aber ich weiß, daß der Sekretär Olivieri mir den Paß schickte.

Auf Grund dieses Passes schickte Graf Aranda mir einen anderen Paß, der vom König unterzeichnet war.

Am letzten Tage des Jahres verließ ich Barcelona mit meinem Bedienten, der auf meiner Kalesche hinten aufsaß. Mit dem Fuhrmann hatte ich einen Vertrag gemacht, wonach ich in kleinen Tagereisen am 3. Januar 1769 in Perpignan ankommen sollte.

Mein Fuhrmann war ein Piemontese, ein braver Mann. Als ich am zweiten Tage in einem Wirtshaus an der Straße beim Mittagessen saß, trat er mit meinem Bedienten in ein Zimmer und fragte mich, ob ich vielleicht annehmen könnte, daß ich verfolgt würde.

»Das wäre wohl möglich; warum fragen Sie danach?«

»Ich sah gestern bei unserer Abfahrt aus Barcelona drei bewaffnete und übel aussehende Männer zu Fuß. Die letzte Nacht haben sie bei meinen Maultieren im Stall geschlafen. Heute haben sie hier zu Mittag gegessen und vor dreiviertel Stunden sind sie vorausgegangen. Die Leute sprachen mit keinem Menschen; sie sind mir verdächtig.«

»Was können wir tun, um nicht ermordet zu werden oder um uns von einem lästigen Verdacht zu befreien?«

»Wir können später fahren und bei einem mir bekannten Wirtshaus anhalten, das eine Wegstunde diesseits der gewöhnlichen Station liegt, wohin die Leute gegangen sein werden, um uns zu erwarten. Sehen wir sie umkehren und in demselben Wirtshaus, wo wir sind, übernachten, so wird kein Zweifel mehr sein.«

Dies schien mir richtig gedacht zu sein. Wir fuhren später als gewöhnlich ab, und ich ging fast den ganzen Weg zu Fuß. Um fünf Uhr machten wir Halt. Es war eine schlechte Herberge, aber wir sahen wenigstens die drei verdächtigen Gestalten nicht.

Als ich um acht Uhr beim Abendessen saß, trat mein Bedienter ein und sagte mir, die drei Kerle wären zurückgekommen und säßen im Stall, wo sie mit dem Fuhrmann trinken.

Meine Haare sträubten sich mir auf dem Kopf. Es war kein Zweifel mehr.

Im Gasthof hatte ich nichts zu befürchten, um so mehr aber an der Grenze, wo wir in der Dämmerung des nächsten Tages ankommen mußten. Ich ermahnte meinen Bedienten, sich nichts merken zu lassen, und befahl ihm, dem Fuhrmann Bescheid zu sagen, daß er mit mir sprechen möchte, sobald die drei Mörder schliefen. Um zehn Uhr kam der brave Mann und sagte mir ohne alle Umschweife, die drei Kerle würden uns ermorden, sobald wir an der französischen Grenze wären. »Sie haben mit Ihnen getrunken?«

»Ja, nachdem wir einige Flaschen geleert hatten, die ich bezahlte, fragte einer von ihnen mich, warum ich nicht bis zur nächsten Station gefahren wäre, wo Sie doch bessere Unterkunft gefunden hätten. Ich antwortete ihm, es wäre Ihnen zu kalt gewesen und wir hätten uns verspätet gehabt. Ich hätte sie fragen können, warum sie nicht selber dort geblieben wären und wohin sie gingen. Ich habe mich aber wohl gehütet und sie nur gefragt, ob die Straße bis Perpignan gut sei. Sie haben mir geantwortet, sie sei ausgezeichnet.«

»Was tun sie jetzt?«

»Sie schlafen, in ihre Mäntel eingewickelt, neben meinen Maultieren.«

»Was sollen wir tun?«

»Wir werden vor Tagesanbruch abfahren, jedoch selbstverständlich erst nach ihnen, und werden auf der gewöhnlichen Haltestelle zu Mittag essen. Von diesem Augenblicke an verlassen Sie sich nur auf mich: wir fahren nach ihnen ab, ich werde in gutem Trabe einen anderen Weg einschlagen, und um Mitternacht sind wir heil und gesund in Frankreich. Sie können sich auf meine Worte verlassen.«

Hätte ich eine Bedeckung von vier bewaffneten Männern erhalten können, so würde ich den Rat des Piemontesen nicht befolgt haben. Aber in der Lage, in der ich mich befand, konnte ich nichts Besseres tun, als ihm folgen.

Wir fanden die drei Halunken an dem von meinem Fuhrmann mir bezeichneten Ort. Ich sah sie scharf an. Sie sahen wie richtige Halsabschneider aus, die für ein paar kleine Münzen den ersten besten töten würden.

Eine Viertelstunde darauf brachen sie auf. Eine halbe Stunde später kehrte mein braver Fuhrmann um und nahm einen Bauern als Führer an; mein Bedienter hatte sich in den Wagen neben mich gesetzt, der Bauer stieg hinten auf, um dem Kutscher Bescheid zu sagen, wenn er sich im Wege irren sollte. Er bog in einen Seitenweg ein und ließ seine Maultiere fortwährend traben, so daß wir in sieben Stunden elf französische Meilen machten. Um zehn Uhr kamen wir an ein gutes Wirtshaus in einem großen Dorf des lieben Frankreichs, wo wir nichts mehr zu befürchen hatten. Ich schenkte dem Führer eine Dublone, so daß er mit diesem guten Nebengeschaft sehr zufrieden war, und gab mich selber in einem ausgezeichneten französischen Bett einem köstlichen Schlummer hin. Hoch Frankreich für seine guten Betten und für seine köstlichen Weine!

Am nächsten Tage kam ich zur Essenszeit vor dem Gasthof zur Post in Perpignan an. Nun erst war ich ganz sicher, mein Leben gerettet zu haben; ich verdankte es meinem ehrlichen Fuhrmann.

Ich zerbrach mir den Kopf, um zu erraten, wer die Räuber bezahlt haben könnte. Bald wird der Leser sehen, wie ich zwanzig Tage später dies erfuhr.

In Perpignan entließ ich meinen Bedienten, den ich ebenso wie meinen braven Fuhrmann so reichlich belohnte, wie es mir in Anbetracht meiner damaligen Mittel möglich war. Hierauf schrieb ich meinem Bruder nach Paris und teilte ihm mit, daß ich den Nachstellungen von drei Mördern glücklich entronnen sei. Ich bat ihn, mir nach Aix in der Provence zu antworten, wo ich in der Hoffnung, den Marquis d’Argens zu treffen, vierzehn Tage zu verbringen gedachte.

Ich verließ Perpignan am Tage nach meiner Ankunft und übernachtete in Narbonne; den Tag daraus fuhr ich bis Béziers.

Von Narbonne bis Béziers sind nur fünf französische Meilen, und es war nicht meine Absicht gewesen, hier die Tagereise zu beschließen; aber, wie mein Leser weiß, hat gutes Essen immer einen verführerischen Reiz für mich gehabt. Diese Leidenschaft wird Gott sei Dank nicht mit dem Alter schwächer, wie die andere so süße Leidenschaft, die sich zu einer Qual verwandelt, wenn das Alter uns unsere körperlichen Kräfte genommen hat. Das gute Essen also, das ausgezeichnete Essen, das die liebenswürdigste aller Wirtinnen mir zu Mittag vorsetzte, veranlaßte mich, mit ihr und ihrer ganzen Familie zu Abend zu essen.

Béziers ist eine Stadt, deren herrliche Lage man auch in der schlechten Jahreszeit mit Vergnügen sieht. Keine Stadt eignet sich so sehr zur Alterszuflucht für einen Philosophen, der auf alle Eitelkeiten der Erde verzichtet hat, oder für einen wollüstigen Epikuräer, der alle Freuden der Sinne genießen möchte, ohne reich zu sein.

Der Geist ist ein einheimisches Produkt dieses Landes; alle Welt hat Geist; das weibliche Geschlecht ist schön, und man ißt ausgezeichnet für einen bescheidenen Preis. Wie man weiß, sind die Weine köstlich und billig. Was kann man mehr wünschen? Hoffentlich wird die Gegend nicht durch zu großen Fremdenzustrom verdorben, und vielleicht werde ich eines Tages … Aber verlieren wir uns nicht in eitle Pläne!

Nachdem ich in Pézénas übernachtet hatte, kam ich in Montpellier an und stieg im Gasthof zum weißen Roß ab, mit der Absicht, acht Tage in der Stadt zu verbringen. Am Abend speiste ich an der Wirtstafel; die Gesellschaft war zahlreich, und ich bemerkte mit Vergnügen, daß ebenso viele Schüsseln auf dem Tisch standen, wie Esser vorhanden waren. Nirgendwo in Frankreich, selbst in Béziers nicht, ißt man besser als in Montpellier. Es ist ein wahres Schlaraffenland.

Am nächsten Morgen ging ich zum Frühstück ins Kaffeehaus. Dies ist eine göttliche Einrichtung, die man nur in Frankreich gut antrifft, wo man überhaupt sich auf Lebenskunst besser versteht als in allen anderen Ländern. Ich knüpfte mit einem der Gäste ein Gespräch an, und als er erfuhr, daß ich ein Fremder sei und Professoren kennen zu lernen wünschte, erbot er sich, mich selber zu einem der berühmtesten zu führen.

Diese Dienstwilligkeit ist auch wieder eine von den herrlichen Eigenschaften des französischen Charakters. Die französische Nation ist überhaupt in mancher Hinsicht allen anderen überlegen, trotz ihren zahlreichen Fehlern, die man vielleicht zu sehr übertrieben hat. Für einen Franzosen in seinem Lande ist ein Fremder ein geheiligtes Wesen; überall empfängt ihn Gastfreundschaft im besten Sinne des Wortes – nicht jene Gastfreundschaft, die darin besteht, dem Gast die Füße zu waschen, ihm einen Platz am Tisch und am Kamin zu geben, sondern jene Herzlichkeit, jene feine Zuvorkommenheit, die es ihm behaglich macht und es ihm erleichtert, alles kennen zu lernen, was ihn interessieren kann.

Mein neuer Bekannter stellte mich dem Professor vor, der mich mit jener Freundlichkeit empfing, die nach der Meinung der französischen Gelehrten mit Recht für die schönste Blume in Apollos Kranz angesehen wird. Der wahre Gelehrte muß der Freund aller sein, die die Wissenschaft lieben, und er ist es in Frankreich noch mehr als in Italien. In Deutschland ist der Gelehrte geheimtuerisch und zurückhaltend. Er glaubt sich zu sehr verpflichtet, als ganz anspruchslos zu erscheinen, während für ein schwaches Auge der Dünkel überall hervorsieht; dieses Vorurteil verhindert ihn, sich die Freundschaft der Fremden zu erwerben, die ihn aufsuchen, um ihn in der Nähe zu bewundern und die Milch seiner Weisheit zu saugen.

In Montpellier war damals eine ausgezeichnete Schauspielertruppe. Ich ging noch an demselben Abend ins Theater, und meine Seele weitete sich vor Glück, weil ich mich wieder in der wohltuenden Luft Frankreichs befand, nachdem ich in Spanien so viele Leiden ausgestanden hatte. Mir war, als sei ich eben wiedergeboren; ich fühlte mich verjüngt, aber auch verwandelt, denn ich hatte auf der Bühne mehrere Schauspielerinnen von reizender Anmut, Jugend und Schönheit gesehen; und doch hatten sie keinerlei Wunsch in mir erregt, und das war mir angenehm.

Ich hatte den lebhaften Wunsch, die Castelbajac wiederzusehen, viel mehr, um mich zu freuen, wenn es ihr gut gehen sollte, oder mit ihr das Bißchen zu teilen, was ich besaß, als in der Hoffnung, unsere Beziehungen wieder anzuknüpfen; aber ich wußte nicht, wie ich es anfangen sollte, um sie zu entdecken.

Ich hatte an sie unter dem Namen Madame Blasin geschrieben; aber sie hatte meinen Brief nicht erhalten, weil sie sich diesen Namen willkürlich beigelegt hatte. Ihren richtigen Nnmen hatte sie mir nicht angegeben, überdies befürchtete ich, ihr vielleicht zu schaden, wenn ich mich nach ihr erkundigte.

Da ich wußte, daß ihr Mann Apotheker sein sollte, so beschloß ich, mich mit allen Apothekern von Montpellier bekannt zu machen.

Unter dem Vorwande, zu chemischen Experimenten einiger wenig bekannter Stoffe zu bedürfen, unterhielt ich mich über die Verschiedenheit des Apothekenwesens in Frankreich und in den fremden Landern, die ich besucht hatte. Wenn ich mit dem Herrn selber sprach, so hoffte ich, daß er mit seiner Frau über den Fremden sprechen würde, der dieselben Länder besucht hätte, wo sie gewesen wäre; ich dachte mir, dadurch würde sie neugierig werden, mich kennen zu lernen. Wenn ich dagegen mit einem Gehilfen spräche, so würde ich bald alles erfahren, was die Familie seines Herrn beträfe, und wenn das nicht zu meinen Nachforschungen passen würde, so würde ich gehen.

Am dritten Tage endlich gelang mir mein Plan. Ich erhielt von meiner früheren Freundin einen Brief, worin sie mir schrieb, sie habe mich mit ihrem Gatten in seinem Laboratorium sprechen sehen. Sie bitte mich, zu der und der Stunde wiederzukommen und ihrem Mann auf seine Fragen nichts weiter zu sagen, als daß ich sie als Spitzenhändlerin unter dem Namen eines Fräuleins Blasin in England, Spaa, Leipzig und Wien gekannt und daß ich mich in Wien ihrer angenommen habe, um ihr den Schutz des Botschafters zu verschaffen. Sie beendete ihren Brief mit den Worten: »Ich zweifle nicht daran, daß mein guter Mann zum Schluß mich triumphierend als seine liebe Frau vorstellen wird.«

Ich befolgte ihre Vorschrift. Der Biedermann freute sich, als er mich wiedersah, und fragte mich, ob ich irgendwo eine junge Spitzenhändlerin, namens Fräulein Blasin, aus Montpellier kennen gelernt hätte.

»Ja, ich erinnere mich sehr wohl dieser sehr liebenswürdigen und sehr anständigen jungen Dame, aber ich weiß nicht, ob sie aus Montpellier war. Sie war hübsch und anständig, und ich glaube, sie machte gute Geschäfte. Ich habe sie mehrere Male an verschiedenen Orten Europas gesehen, das letzte Mal in Wien, wo ich das Glück hatte, ihr nützlich zu sein. Ihre gute Aufführung verschaffte ihr die Achtung aller Damen, mit denen sie in Berührung kam. Die Dame, bei der ich sie in England kennen lernte, war sogar nichts geringeres als eine Herzogin.«

»Würden Sie sie wieder erkennen, wenn Sie sie sähen?«

»Das will ich meinen. Eine so hübsche Frau! Ist sie in Montpellier? Wenn sie hier ist, fragen Sie sie nach dem Chevalier de Seingalt.«

»Mein Herr, Sie können selber mit ihr sprechen, wenn Sie mir die Ehre erweisen wollen, mir zu folgen.«

Mir klopfte das Herz, aber es gelang mir, mich zu beherrschen.

Der biedere Apotheker ging voran, stieg eine Treppe hinauf, öffnete im ersten Stock eine Tür und sagte zu mir: »Da ist sie.«

»Wie, mein Fräulein, Sie hier? Ich bin entzückt. Sie zu sehen.«

»Mein Herr, es ist kein Fräulein, sondern meine liebe Frau, wenn Sie nichts dagegen haben, und ich bitte Sie, sich dadurch nicht abhalten zu lassen, sie zu umarmen.«

»Das ist eine Ehre, die ich niemals gehabt habe; aber ich tue es mit großem Vergnügen. Sie sind also nach Montpellier gekommen, um sich zu verheiraten? Ich wünsche Ihnen allen beiden Glück und danke für mich dem glücklichen Zufall. Sagen Sie mir, ob Sie von Wien nach Lyon eine gute Reise gehabt haben?«

Madame Blasin – ich muß sie wohl auch weiter hier unter diesem Namen bezeichnen – erzählte mir irgendwelche Geschichte und fand in mir einen ebenso guten Schauspieler, wie sie selber war.

Unser Vergnügen über dieses Wiedersehen war groß; aber die Freude, die der gute Apotheker empfand, als er sah, wie ehrfurchtsvoll ich seine keusche Gattin behandelte, war unzweifelhaft noch viel größer.

Eine volle Stunde lang erzählten wir uns Geschichten, die lediglich unserer Einbildungskraft entsprungen waren, aber den Eindruck unverfälschter Wahrheit machten.

Sie fragte mich, ob ich den Karneval in Montpellier zu verbringen gedächte, und nahm eine gekränkte Miene an, als ich ihr sagte, ich würde am nächsten Tage abreisen.

Ihr Mann erklärte sofort, das sei nicht möglich. Sie selber sagte ebenfalls: »Oh, das werden Sie doch hoffentlich nicht tun! Sie müssen unbedingt meinem Mann die Ehre erweisen, ihm zwei Tage zu schenken, um übermorgen in unserer Familie zu speisen.«

Nachdem ich mich durch den Gatten ziemlich lange hatte bitten lassen, gab ich endlich nach und nahm ihr Familienessen für den übernächsten Tag an.

Ich widmete ihnen nicht nur zwei Tage, sondern vier. Die Mutter des Apothekers war eine durch ihre Weisheit sowohl wie ihr Alter ehrwürdige Dame. Sie hatte wie ihr Sohn alles vergessen, was sie hätte verhindern können, ihre Schwiegertochter mit mütterlicher Zärtlichkeit zu lieben.

Bei unseren Unterhaltungen, die wir unter vier Augen hatten, versicherte Madame Blasin mir in einem Tone schlichter Einfachheit, sie sei glücklich, und ich hatte allen Anlaß, ihr dies zu glauben. Sie hatte es sich zum Gesetz gemacht, alle Pflichten einer ehrbaren Frau und guten Gattin gewissenhaft zu erfüllen, und ging nur selten ohne ihre Schwiegermutter oder ihren Mann aus.

Ich verbrachte diese vier Tage in der süßen Zufriedenheit einer, aufrichtigen und reinen Freundschaft, ohne daß die Erinnerung an unsere früheren Liebesfreuden in uns den Wunsch erregte, sie zu erneuern. Wir brauchten unsere Gedanken nicht auszusprechen, um sie gegenseitig zu kennen. Am Tage vor meiner Abreise speiste ich mit ihr und ihrem Gemahl zu Mittag; als wir nach Tisch einen Augenblick allein waren, sagte sie mir: wenn ich fünfzig Louis brauchen sollte, so wüßte sie, wo sie sich diese Summe verschaffen könnte. Ich bat sie, mir dieses Geld für ein anderes Mal aufzuheben, wenn ich das Glück hätte, sie wiederzusehen, und das Unglück, in Geldnot zu sein. ^

Ich verließ Montpellier mit der Gewißheit, daß mein Besuch die Achtung ihres Gatten und ihrer Schwiegermutter nur noch vermehrt hätte, und ich freute mich, zu sehen, daß ich mich wirklich glücklich fühlen konnte, ohne Verbrechen zu begehen.

Einen Tag nach meinem Abschied von dieser Frau, die mir ihr Glück verdankte, übernachtete ich in Nîmes, wo ich drei Tage in der Gesellschaft eines sehr gelehrten Naturforschers verbrachte, des Herrn de Séguier, eines vertrauten Freundes des Marchese Maffei in Verona.

Er zeigte mir in den Wundern seiner Sammlung die Unendlichkeit der Natur und die unbegreifliche Allmacht ihres Schöpfers.

Nîmes ist eine Stadt, die es verdient, die Aufmerksamkeit eines gebildeten oder Bildung suchenden Fremden zu fesseln. Man findet für den Geist reichliche Nahrung in ihren großen Denkmälern und in dem schönen Geschlecht, das hier wirklich schön ist, noch reichlichere fürs Herz.

Ich wurde zu einem Ball eingeladen, bei dem ich in meiner Eigenschaft als Fremder die erste Rolle spielte. Ein solches Vorrecht genießt der Fremde nur in Frankreich, während in England und besonders in Spanien das Wort Ausländer eine Beleidigung ist. Nachdem ich von Nîmes abgereist war, beschloß ich, den ganzen Karneval in Aix zu verbringen, das der Sitz eines Parlaments ist und dessen Adel sich eines großen Rufes erfreut. Ich wünschte diese Gesellschaft kennen zu lernen. Ich stieg, wenn ich mich nicht irre, in den Drei Delphinen ab, wo ich einen spanischen Kardinal fand, der sich zur Wahl eines Nachfolgers für den Papst Rezzonico nach dem Konklave begab.

Zwölftes Kapitel


Mein Aufenthalt in Aix in der Provence. – Schwere Krankheit. – Ich werde von einer Unbekannten gepflegt. – Der Marquis d’Argens. – Cagliostro. – Meine Abreise. – Brief von Henrietten. – Marseille. – Geschichte der Nina. – Nizza. – Turin. – Lugano. –Frau von ***.

Da mein Zimmer von der kastilianischen Eminenz nur durch eine leichte Scheidewand getrennt war, so hörte ich beim Abendessen den Kardinal seinem Haushofmeister einen derben Verweis erteilen, daß er auf der Reise an den Mahlzeiten und Wohnungen sparte, wie wenn er der armseligste aller Spanier wäre. »Eure Gnaden, ich spare durchaus nicht; aber es ist nicht möglich, mehr auszugeben, wenn ich nicht etwa die Wirte zwinge, für die Mahlzeiten, die sie mir geben, das Doppelte zu verlangen. Eure Eminenz finden ja selber, daß das Essen ausgezeichnet und reichlich ist.«

»Das mag sein, aber wenn Sie ein bißchen Geist hätten, könnten Sie zum Beispiel durch reitende Boten Mahlzeiten bestellen, die ich unterwegs nicht einnehmen würde und die Sie natürlich trotzdem zu bezahlen hätten; ferner könnten Sie für zwölf bestellen, während wir nur sechs sind; vor allen Dingen müssen stets drei Tafeln da sein: eine für mich, die zweite für die Beamten meines Haushaltes, die dritte für die Bedienten. Ich sehe aus dieser Rechnung, daß Sie den Postillonen immer nur einen Franken Trinkgeld geben; Sie müßten ihnen wenigstens einen Taler geben; denn über eine solche Knickerei muß ich ja erröten. Wenn man Ihnen auf einen Louis herausgibt, müssen Sie das Geld auf dem Tische liegen lassen, statt es in Ihre Tasche zu stecken. Von Schäbigkeiten will ich nichts wissen. Man wird in Versailles und Madrid, vielleicht sogar in Rom sagen: der Kardinal de la Cerda ist ein Geizhals. Ich bin es nicht und will nicht in solchem Rufe stehen. Ich verlange, daß Sie mich fernerhin nicht mehr entehren; sonst müssen Sie gehen.«

Dieses eigentümliche Gespräch würde mich ein Jahr früher sehr überrascht haben; jetzt aber hörte ich es ohne Erstaunen an, denn ich hatte inzwischen den spanischen Charakter einigermaßen kennen gelernt: alles für den Ruhm, oder vielmehr für das Großtun!

Wenn ich die freigebige Verschwendung des *Senor de la Cerda bewunderte, so konnte ich andererseits nicht umhin, es kläglich zu finden, wie dieser Kirchenfürst in einem Augenblick, wo er an der Wahl des Oberhauptes der Christenheit teilnehmen sollte, sich mit seinen Reichtümern brüstete.

Was ich aus dem Munde des Prälaten gehört hatte, machte mir Lust, ihn zu sehen, und ich paßte auf, als er abreiste. Was für ein Mann! Er war nicht nur klein, braun von Farbe, schlecht gewachsen, sondern es war auch ein Gesicht so häßlich, der Ausdruck seiner Züge so gemein, daß neben Seiner Eminenz Äsop wie ein Liebesgott hätte aussehen müssen. Nun begriff ich, warum er das Bedürfnis hatte, sich durch Verschwendung Achtung zu verschaffen und sich durch äußeren Prunk auszuzeichnen; denn sonst hätte man ihn für einen Stallknecht halten können. Sollte jemals das Konklave die sonderbare Laune haben, ihn zum Papst zu machen, so würde Gottes Sohn niemals einen häßlicheren Statthalter auf Erden gehabt haben.

Sogleich nach der Abfahrt Seiner Eminenz erkundigte ich mich nach dem Marquis d’Argens und erfuhr, er sei auf dem Lande bei seinem Bruder, dem Parlaments-Präsidenten, Marquis l’Eguille. Ich begab mich dorthin.

Der Marquis, der mehr durch die beständige Freundschaft Friedrichs des Zweiten als durch seine heutigentags von keinem Menschen mehr gelesenen Werke berühmt geworden ist, war damals schon alt. Ehrenhaft und sinnlich, liebenswürdig und witzig, ein überzeugter Epikuräer, lebte der Marquis d’Argens mit der Schauspielerin Cochois zusammen, die er geheiratet hatte und die es verstand, sich dieser Ehre würdig zu zeigen. Der Marquis selber besaß ein gründliches gelehrtes Wissen und eine große Kenntnis der lateinischen, griechischen und hebräischen Sprache; er war mit einem wunderbaren Gedächtnis begabt und infolgedessen vollgepfropft mit Kenntnissen.

Er empfing mich sehr gut, da er sich erinnerte, was sein Freund, Mylord Marishal, ihm über mich geschrieben hatte. Er stellte mich seiner Frau und seinem Bruder vor. Dieser war ein ausgezeichneter Beamter, ziemlich reich, ein Freund der Wissenschaften. Er führte einen streng sittlichen Lebenswandel, und dazu veranlaßte ihn noch mehr sein Charakter als sein religiöser Glaube. Das will viel sagen; denn er war aufrichtig fromm, obwohl er ein kluger Mann war. Übrigens können nach meiner Meinung diese beiden Eigenschaften sich sehr wohl miteinander vertragen.

Trotzdem überraschte es mich sehr, daß er ein sogenannter Jesuit von der kurzen Robe war; er liebte seinen Bruder zärtlich und seufzte fortwährend über dessen sogenannte Irreligiosität; doch hoffte er immer noch, daß die werktätige Gnade ihn früher oder später in den Schoß der Kirche zurückführen würde. Sein Bruder ermutigte ihn zu diesen Hoffnungen und lachte zugleich darüber. Da sie beide vernünftige Leute waren, so vermieden sie es, von Religion zu sprechen, um sich nicht zu ärgern.

Man stellte mich einer zahlreichen Gesellschaft vor, die aus Verwandten beiderlei Geschlechtes bestand. Alle waren liebenswürdig und höflich, wie eben der Adel der Provence durchweg ist.

Man spielte Komödie auf einem hübschen kleinen Theater, aß und trank gut und ging trotz der Jahreszeit spazieren. Aber in der Provence macht sich die Strenge des Winters nur fühlbar, wenn der Nordwind weht, was leider oft der Fall ist.

Eine Berlinerin, die Witwe eines Neffen des Marquis d’Argens, war nebst ihrem Bruder auf dem Schlosse anwesend. Der noch sehr junge Mann, ein lustiger Tollkopf, hatte seine Freude an allen Vergnügungen des Hauses, kümmerte sich aber gar nicht um den Gottesdienst, der jeden Tag abgehalten wurde. Als geborener Ketzer dachte er höchst selten einmal an die Kirche, während das ganze Haus der Messe beiwohnte, die der Jesuit, bei dem die ganze Familie beichtete, jeden Tag las, spielte er auf seiner Flöte lustige Walzer. Er lachte über alles. Mit seiner Schwester war es anders; sie war nicht nur katholisch geworden, sondern auch so fromm, daß das ganze Haus sie für eine Heilige ansah, obgleich sie erst zweiundzwanzig Jahre alt war. Das war das Werk des Jesuiten.

Ihr Bruder erzählte mir, ihr Mann, der an der Schwindsucht gestorben sei, habe im Augenblick seines Todes zu ihr gesagt: er könne nicht hoffen, sie im Jenseits wiederzusehen, wenn sie nicht katholisch werde.

Diese Worte hatten sich in ihre Seele eingegraben, und da sie ihren Gatten anbetete, hatte sie sich entschlossen, Berlin zu verlassen und bei den Verwandten ihres Mannes zu leben. Niemand hatte gewagt, sich ihrer Absicht zu widersetzen. Ihr Bruder erklärte sich bereit, sie zu begleiten, und sobald sie sich den Verwandten des Verstorbenen entdeckt hatte, herrschte die größte Freude in der ganzen Familie.

Diese angehende Heilige war häßlich.

Ihr junger Bruder wurde bald mein Freund, da er mich in meinen Ansichten weniger starr fand als seine Verwandten. Er kam alle Tage nach Aix, um mich in allen adligen Familien einzuführen.

Wir waren jeden Tag mindestens dreißig Personen bei Tisch; das Essen war gut und lecker, aber ohne Übertreibung. Es herrschte der Ton der guten Gesellschaft, die Scherze waren geschmackvoll und alle Bemerkungen anständig. Ausgeschlossen waren doppelsinnige Bemerkungen, die sich auf die Geschlechtsliebe bezogen oder darauf hätten bezogen werden können. Wenn dem Marquis d’Argens eine derartige Bemerkung auch nur in ganz verschleierter Form entschlüpfte, so schnitten die Damen jedesmal Gesichter, und der Herr Beichtvater beeilte sich, ein anderes Gespräch zu beginnen. Dieser Beichtvater hatte nichts von der jesuitischen Weltgewandtheit an sich, denn er ging auf dem Lande wie ein einfacher Abbé gekleidet, und ich hätte nicht erraten, daß er Jesuit wäre, obwohl man doch dieses Wild von weitem wittern muß. Der Marquis d’Argens hatte mich darauf aufmerksam gemacht; übrigens übte die Gegenwart des Pfaffen durchaus keine Wirkung auf meine natürliche Heiterkeit aus.

Ich erzählte in sorgfältig gewählten Ausdrücken die Geschichte von dem Bilde der Jungfrau, die ihren göttlichen Sprößling säugte und von den Spaniern nicht mehr angebetet wurde, als der unglückselige Pfarrer ihren schönen Busen mit einem häßlichen Tuch hatte bedecken lassen. Ich weiß nicht mehr auf welche besondere Art ich diese Geschichte erzählte, aber alle Damen lachten darüber. Dieses Lachen mißfiel dem Jünger Loyolas so sehr, daß er sich erlaubte, mir zu sagen, man dürfe Geschichten, die sich zweideutig auslegen ließen, nicht öffentlich erzählen. Ich dankte ihm mit einer Neigung des Kopfes, und um das Gespräch abzulenken, fragte der Marquis d’Argens mich, wie man auf italienisch eine große Fleischpastete nenne, die Madame d’Argens gerade eben verteilte und die von allen ausgezeichnet gefunden wurde.

»Wir nennen das eine Crostata, doch weiß ich nicht, wie man die Beatilien bezeichnet, mit denen sie gefüllt ist.«

Diese Beatilien waren kleine Schweserwürstchen, Champignons, Artischockenböden, Gänseleber usw.

Der Jesuit fand, ich machte mich über den ewigen Ruhm lustig, indem ich dieses Allerlei Beatilien nannte.

Über diese dumme Empfindlichkeit mußte ich unwillkürlich laut auflachen. Der Marquis d’Eguille nahm meine Partei und sagte, Beatilles sei in gutem Französisch die Bezeichnung für alle Leckereien.

Nachdem er sich in dieser Weise erlaubt hatte, gegen seinen Gewissensbeirat aufzutreten, hielt der verständige Mann es für besser, von etwas anderem zu sprechen. Unglücklicherweise trat er erst recht ins Töpfchen, indem er mich fragte, welchen Kardinal man nach meiner Meinung zum Papst machen würde.

»Ich möchte darauf wetten, daß man den Pater Ganganelli wählen wird, denn er ist der einzige Kardinal, der zugleich Mönch ist.«

»Warum muß man denn durchaus einen Mönch zum Papst wählen?«

»Weil nur ein Mönch imstande ist, das zu tun, was Spanien von dem neuen Pontifex verlangt.«

»Sie meinen die Unterdrückung des Jesuiten-Ordens?«

»Ganz recht.«

»Spanien verlangt sie vergebens.«

»Ich wünsche es; denn in den Jesuiten liebe ich meine Lehrer; aber ich hege große Befürchtungen, denn ich habe einen schrecklichen Brief gelesen. Abgesehen davon wird Kardinal Ganganelli noch aus einem anderen Grund gewählt werden, über den Sie lachen werden, der aber nichtsdestoweniger ausschlaggebend ist.«

»Was ist das für ein Grund? Nennen Sie ihn uns; wir werden lachen.«

»Er ist der einzige Kardinal, der keine Perücke trägt. Solange das Papsttum besteht, hat auf Sankt Peters Stuhl niemals ein Papst mit einer Perücke gesessen.«

Da ich allen diesen Bemerkungen den Anstrich eines leichten Scherzes gab, so wurde viel darüber gelacht; hierauf aber veranlaßte man mich, in Ernst über die Aufhebung des Ordens zu sprechen, und als ich alles sagte, was ich vom Abbate Pinzi erfahren hatte, sah ich meinen Jesuiten erbleichen.

»Der Papst«, sagte er, »kann diesen Orden nicht unterdrücken.«

»Augenscheinlich, Herr Abbé haben Sie nicht bei den Jesuiten studiert; denn Sie haben den Satz aufgestellt: Der Papst kann alles et aliquid pluris.«

Infolge dieser Worte glaubten alle, ich wüßte nicht, daß ich mit einem Jesuiten spräche, und da er nicht antwortete, so begannen wir von etwas anderem zu reden.

Nach dem Essen bat man mich, zur Aufführung des Polieucte dazubleiben; aber ich entschuldigte mich und fuhr mit dem jungen Berliner nach Aix zurück. Dieser erzählte mir die Geschichte seiner Schwester und schilderte den Charakter der verschiedenen Personen, aus denen die tägliche Gesellschaft des Marquis d’Eguille bestand. Ich sah, daß es mir unmöglich sein würde, mich ihren Gewohnheiten und Vorurteilen anzuschmiegen, und wenn ich nicht durch den jungen Berliner reizende Bekanntschaften gemacht hätte, so wäre ich nach Marseille gegangen.

Mit Gesellschaften, Bällen, Soupers und Liebeleien mit sehr hübschen Provencalinnen verbrachte ich den Karneval und einen Teil der Fastenzeit in Aix.

Ich hatte dem Marquis d’Argens, der ebenso gut griechisch sprach wie französisch, eine Ilias von Homer zum Geschenk gemacht. Ferner hatte ich seiner Adoptivtochter eine lateinische Tragödie geschenkt, denn sie verstand die lateinische Sprache sehr gut.

Meine Iliade hatte die Anmerkungen des Porphyrius. Es war ein seltenes Exemplar in reichem Einbande.

Der Marquis kam nach Aix, um mir zu danken, und ich mußte, seiner Einladung folgend, noch einmal auf das Land hinausgehen.

Am Abend fuhr ich ohne Mantel in einem offenen Wagen bei sehr kaltem Nordwind nach Aix zurück. Ich kam ganz erstarrt an. Anstatt sogleich zu Bett zu gehen, begleitete ich den jungen Berliner zu einer Frau, die eine junge Tochter von seltener Schönheit hatte, ein Mädchen von herrlichem Wuchs, mit allen Zeichen vollständiger Mannbarkeit, obgleich sie nur vierzehn Jahre alt war. Dieses kleine Wunder forderte alle Liebhaber heraus, es zu entjungfern. Mein Berliner hatte sich bereits mehrere Male bemüht, es war ihm jedoch nicht gelungen. Ich lachte ihn aus, denn ich wußte, daß es nur Spiegelfechterei war, und war entschlossen, die junge Spitzbübin aus dem Sattel zu heben, wie mir ähnliches bereits in England und in Metz gelungen war.

Da das Mädchen uns zur Verfügung stand, so gingen wir ans Werk. Die junge Spitzbübin dachte nicht an Widerstand, sondern sagte, sie wünsche gar nichts Besseres, als von ihrem unangenehmen Leiden befreit zu werden.

Ich bemerkte sofort, daß die Schwierigkeit nur von ihrer schlechten Haltung herrührte; ich hätte sie vor allen Dingen durchprügeln sollen, wie ich es fünfundzwanzig Jahre früher in Venedig getan hatte; aber törichterweise wollte ich durch Anwendung von Kraft siegen, denn ich glaubte, ich könnte sie vergewaltigen.

Die Zeit der Wundertaten war jedoch vorbei.

Nachdem ich zwei Stunden lang mich vergeblich bemüht hatte, ging ich allein in meinen Gasthof zurück, indem ich den jungen Preußen weiterarbeiten ließ.

Als ich mich zu Bett legte, verspürte ich sehr heftiges Seitenstechen, und nachdem ich sechs Stunden geschlafen hatte, fühlte ich mich sehr unwohl. Es war eine Lungenentzündung ausgebrochen. Ein alter Arzt, den der Wirt holen ließ, wollte mich zu Ader lassen. Ich hatte einen heftigen Husten, und am nächsten Tage begann ich Blut zu spucken. Nach sechs oder sieben Tagen war die Krankheit so ernst, daß ich beichtete und die letzte Wegzehrung erhielt.

Am zehnten Tage, nachdem ich drei Tage lang bewußtlos gewesen war, erklärte der alte Arzt, ein geschickter Mann, ich werde bestimmt mit dem Leben davonkommen; aber erst am achtzehnten Tage hörte ich auf, Blut zu spucken.

Hierauf begann eine Rekonvaleszenz, die drei Wochen dauerte und die ich schwerer zu ertragen fand als meine Krankheit; denn ein Kranker, der leidet, hat keine Zeit sich zu langweilen. Während der ganzen Krankheit wurde ich Tag und Nacht von einer Frau gepflegt, die ich nicht kannte. Ich wußte nicht einmal, woher sie kam. Da ich mich aber mit unendlicher Sorgfalt und Aufmerksamkeit bedient sah, so wartete ich nur meine vollständige Heilung ab, um sie zu belohnen und wieder fortzuschicken.

Diese Frau war nicht alt, sah aber auch nicht so aus, um mir den Wunsch einzuflößen, mich mit ihr zu belustigen. Sie hatte während meiner Krankheit beständig in meinem Zimmer geschlafen.

Gleich nach dem Osterfest fühlte ich mich bereits wohl genug, um wieder ausgehen zu können. Ich belohnte sie nach besten Kräften, dankte ihr, und fragte sie, wer sie zu mir gebracht habe. Sie antwortete mir, der Arzt habe sie zu meiner Pflege angenommen; hierauf dankte sie mir und entfernte sich.

Als ich ein paar Tage später meinem alten Doktor dafür dankte, daß er mir eine so gute Krankenpflegerin besorgt habe, war er sehr erstaunt und versicherte mir, er kenne sie gar nicht! Dies machte mich neugierig; ich fragte meine Wirtin, ob sie sie kenne, und sie verneinte ebenfalls. Kurz und gut, kein Mensch wollte die gute Frau kennen, und ich konnte trotz der größten Mühe nicht herausbringen, wie sie zu mir gekommen war.

Als ich wieder gesund war, holte ich von der Post alle Briefe, die für mich dort lagen. Eine eigentümliche Nachricht erhielt ich von meinem Bruder in Paris in seiner Antwort auf meinen von Perpignan an ihn gerichteten Brief. Er dankte mir für das Vergnügen, das ich ihm durch meinen Brief bereitete, indem ich durch diesen die ihm zugegangene schreckliche Nachricht widerlegt hätte, ich sei in den ersten Tagen des Januar an der Grenze von Katalonien ermordet worden. »Die Trauerbotschaft brachte mir einer deiner besten Freunde, der Graf Manucci von der venetianischen Gesandtschaft, und er versicherte mir, sie sei durchaus zuverlässig.«

Dies war für mich ein Lichtstrahl. Der beste meiner Freunde hatte seine Rachsucht so weit getrieben, Mörder zu bezahlen, um mir das Leben zu nehmen.

Bis dahin war Manucci entschuldbar, von diesem Augenblicke an aber hatte er unrecht.

Er mußte seiner Sache offenbar sehr sicher sein, da er meinen Tod als bereits eingetreten meldete. Indem er die Todesart bekannt gab, zu der seine fürchterliche Rachsucht mich verurteilt hatte, enthüllte er seinen verbrecherischen Anschlag.

Als ich diesen verächtlichen Menschen zwei Jahre später in Rom traf und ihn von der Schimpflichkeit seiner Handlungsweise überzeugen wollte, leugnete er alles und behauptete, er hätte die Nachricht ganz frisch von Barcelona erhalten; aber davon werden wir später sprechen.

Ich speiste täglich mittags und abends an der Gasttafel, wo die Gesellschaft ausgezeichnet und das Essen köstlich war. Eines Mittags sprach man von einem Pilger und einer Pilgerin, die soeben angekommen waren. Sie waren Italiener; sie kamen zu Fuß von Santiago de Compostella in Galizien und mußten Leute von hoher Geburt sein, denn sie hatten gleich nach ihrer Ankunft in der Stadt reichliche Almosen ausgeteilt.

Man sagte, die Pilgerin solle reizend sein; sie sei ungefähr achtzehn Jahre alt und habe sich, sehr ermüdet, gleich nach ihrer Ankunft zu Bett gelegt. Sie wohnten in demselben Gasthof. Wir wurden alle neugierig, und ich mußte mich als Italiener an die Spitze der Gesellschaft stellen, um den beiden Personen einen Besuch zu machen, die offenbar entweder fanatisch fromm oder Betrüger waren.

Wir fanden die Pilgerin, die allem Anschein nach sehr ermüdet war, in einem Lehnstuhl sitzend. Sie erregte unsere Teilnahme durch ihre große Jugend, durch ihre Schönheit, die durch einen Schimmer von Frömmigkeit noch besonders gehoben wurde, und durch einen sechs Zoll langen Kruzifixus von gelbem Metall, den sie in den Händen hielt. Als wir eintraten, legte sie den Kruzifixus fort und stand auf, um uns eine anmutige Verbeugung zu machen. Der Pilger, der auf seinem Mäntelchen von schwarzer Wachsleinwand Muschelschalen ordnete, rührte sich nicht; indem er seine Frau ansah, schien er uns zu sagen, wir müßten uns nur mit ihr beschäftigen. Er war anscheinend vierundzwanzig oder fünfundzwanzig Jahre alt, klein von Gestalt und ziemlich gut gewachsen. Auf seinem nicht unangenehmen Gesicht las man Kühnheit, Frechheit, Spottsucht und Betrügerei; er war gerade das Gegenteil von einer Frau, die offenbar edel, bescheiden und sanft war und jene schüchterne Schamhaftigkeit zeigte, die ein junges Weib so reizvoll macht. Da die beiden nur so viel Französisch sprachen, wie unumgänglich notwendig ist, um sich verständlich zu machen, so atmeten sie erleichtert auf, als ich sie auf italienisch anredete.

Die Pilgerin sagte mir, sie sei Römerin; sie hätte es mir nicht zu sagen gebraucht, denn ihre hübsche Aussprache verriet es mir. Den jungen Mann hielt ich für einen Neapolitaner oder Sizilianer. Sein in Rom ausgestellter Paß lautete auf den Namen Balsamo. Sie trug die Namen Serafina Feliciani, die sie seitdem immer beibehalten hat; ihn werden wir zehn Jahre später unter dem Namen Cagliostro wieder finden.

Sie erzählte mir: »Wir sind auf dem Rückwege nach Rom, nachdem wir Santiago von Compostella und Unsere liebe Frau del Pilar verehrt haben. Wir sind den ganzen Weg zu Fuß gegangen und haben nur von Almosen gelebt, damit Gott, den ich in meinem Leben so oft beleidigt habe, uns eher seine Barmherzigkeit schenke. Vergebens bat ich, mir aus Barmherzigkeit nur einen Sou zu geben; man hat mir stets Silbermünzen und sogar Goldstücke gegeben, so daß wir nach unserer Ankunft in jeder Stadt das uns verbliebene Geld unter die Armen verteilen mußten, damit wir nicht die Sünde begingen, kein Vertrauen zur ewigen Vorsehung zu haben. Mein Mann ist kräftig und hat nicht viel gelitten; ich aber habe große Leiden ausgestanden, um einen so langen Weg zu Fuß zu machen, auf Stroh oder in schlechten Betten zu schlafen, und zwar stets angekleidet, um nicht von Krankheiten angesteckt zu werden, die man nicht leicht wieder los wird.«

Ich fand es ziemlich wahrscheinlich, daß sie den letzten Umstand nur anführte, um uns Lust zu machen, die Sauberkeit ihrer Haut noch an anderen Stellen als an ihren Armen und Händen zu sehen, deren Weiße und tadellose Sauberkeit sie uns einstweilen gratis sehen ließ.

»Gedenken Sie sich hier einige Tage aufzuhalten, Madame?«

»Meine Ermüdung wird uns zwingen, drei Tage hier zu verbringen; von hier werden wir uns nach Rom begeben, und zwar über Turin, wo wir zum heiligen Schweißtuch beten werden.«

»Sie wissen ohne Zweifel, daß es in Europa mehrere Schweißtücher gibt?«

»Man hat es uns gesagt, aber zugleich uns versichert, das Turiner Schweißtuch sei das echte: es ist das Tuch, dessen die heilige Veronika sich bediente, um unserem Erlöser den Schweiß abzutrocknen, wodurch das göttliche Gesicht dem Tuche sein Bild eindrückte.«

Wir verabschiedeten uns sehr befriedigt von der schönen Pilgerin, an deren Frömmigkeit wir jedoch wenig glaubten. Ich war noch zu schwach von meiner Krankheit her und hatte daher keine Absichten auf sie; aber alle anderen Herren, die mit mir bei ihr gewesen waren, hätten gerne mit ihr zu Abend gespeist, um sie zu erobern. Am nächsten Tage kam der Gatte der schönen Römerin zu mir und fragte mich, ob ich hinaufkommen und mit ihnen frühstücken wolle oder ob es mir lieber wäre, wenn sie zu mir herunterkämen. Es wäre unhöflich gewesen, ihm zu antworten: keines von beiden; ich sagte ihm daher, sie würden mir ein Vergnügen bereiten, wenn sie herunterkämen.

Beim Frühstücken fragte ich den Pilger nach seinem Beruf; er antwortete mir, er mache Federzeichnungen in sogenannter helldunkler Art.

Seine Kunst bestand darin, einen Kupferstich zu kopieren, nicht aber einen neuen Stich zu entwerfen. Er versicherte mir jedoch, er verstehe seine Kunst ganz ausgezeichnet und könne einen Stich so getreu abzeichnen, daß die Kopie vom Urbilde nicht zu unterscheiden sei.

»Ich mache Ihnen mein Kompliment dazu. Wenn Sie nicht reich sind, so sind Sie sicher, mit solchem Talent Ihr Brot zu verdienen, einerlei, wo Sie sich niederlassen.«

»Von allen Seiten wird mir dasselbe gesagt, aber es ist ein Irrtum, denn mit meinem Talent kann man Hungers sterben. Wenn ich in Rom oder Neapel diese Beschäftigung ausübe, verdiene ich höchstens einen halben Franken täglich, und das ist nicht genug, um zu leben.«

Hierauf zeigte er mir Fächer, die er gemacht hatte, und man konnte nichts Schöneres sehen; sie waren mit Federzeichnungen geschmückt, die nicht von den besten Kupferstichen übertroffen wurden.

Um mich vollends zu überzeugen, zeigte er mir eine von ihm kopierte Rembrandt-Zeichnung, die beinahe noch schöner war als das Original. Trotzdem schwor er mir, sein Talent verschaffe ihm nicht den Lebensunterhalt; ich glaubte ihm nicht; nach meiner Meinung war er einer von jenen Faulenzern, die lieber in der Welt herumziehen, als ein arbeitsames Leben führen.

Ich bot ihm für einen seiner Fächer einen Louis; er wies jedoch das Geld zurück, bat mich, den Fächer umsonst anzunehmen und für ihn bei Tisch eine Sammlung zu veranstalten, denn er wünsche am dritten Tage weiterzureisen.

Ich nahm sein Geschenk an und versprach ihm, die Sammlung zu veranstalten.

Ich brachte ein paar hundert Franken zusammen, die die Pilgerin sich holte, als wir noch bei Tisch saßen.

Die junge Frau sah in höchstem Grade tugendhaft aus. Als sie gebeten wurde, ihren Namen auf ein Lotteriebillett zu schreiben, entschuldigte sie sich mit der Bemerkung: Kinder, die man zu ehrbaren und tugendhaften Mädchen erziehen wolle, lasse man in Rom nicht schreiben lernen.

Alle lachten über diese Entschuldigung, außer mir; sie tat mir leid, und ich wollte sie nicht gerne erniedrigt sehen. Aber es schien mir nunmehr offenbar zu sein, daß sie den allerniedrigsten Klassen des Volkes angehörte.

Am nächsten Tage kam die Pilgerin in mein Zimmer und bat mich, ihr einen Empfehlungsbrief für Avignon zu geben. Ich schrieb sofort zwei, den einen an den Bankier Audifret, den andern an den Wirt des Gasthofes zum heiligen Homer. Am Abend brachte sie mir den für Herrn Audifret zurück, indem sie mir sagte, ihr Mann habe diesen für überflüssig erklärt. Zugleich bat sie mich, genau nachzusehen, ob es auch wirklich der Brief sei, den ich ihr gegeben habe. Ich sah die Schrift genau an und sagte, es sei ganz gewiß mein Brief.

Hierauf antwortete sie mir lachend: »Sie irren sich, das ist nur eine Abschrift.«

»Das ist nicht möglich!«

Sie rief ihrem Mann, und dieser kam mit meinem echten Brief in der Hand. Da ich nicht mehr zweifeln konnte, so sagte ich zu ihm: »Ihr Talent ist wunderbar; denn ein Brief ist viel schwerer nachzumachen, als eine Zeichnung zu kopieren ist. Sie können es bei Ihrer Begabung weit bringen und aus Ihrer Geschicklichkeit großen Vorteil ziehen; aber wenn Sie nicht vernünftig sind, kann es Ihnen das Leben kosten.«

Am nächsten Tage reiste das Paar ab. Ich werde später erzählen, wann und wie ich zehn Jahre später diesen Menschen unter dem Namen eines Grafen Pellegrini wiedersah; seine Frau und unzertrennliche Begleiterin, die gute Serafina, war immer noch bei ihm.

Im Augenblick, da ich dieses schreibe, befindet er sich im Gefängnis, das er wahrscheinlich nicht mehr verlassen wird; seine Frau befindet sich in einem Kloster und ist, vielleicht, glücklich.

Als ich meine Kräfte völlig wiedererlangt hatte, begab ich mich zum Marquis d’Argens und seinem Bruder, um mich zu verabschieden. Nachdem ich am Familientische mit dem Jesuiten gespeist hatte, den ich gar nicht beachtete, verbrachte ich drei Stunden mit dem guten und gelehrten alten Herrn, und es waren drei köstliche Stunden, denn sie waren mit Geist, Gelehrsamkeit, Philosophie und Heiterkeit gewürzt. Er erzählte mir eine Menge Züge aus dem Privatleben Friedrichs des Zweiten. Der Leser würde mir gewiß dankbar sein, wenn ich ihm diese charakteristischen Anekdoten mitteilte, um so mehr, da sie zum größten Teil für die Geschichte verloren sein werden. Aber eine unerklärliche Faulheit quält mich in diesem Augenblick, ich werde alt, oder ich bin alt geworden, das fühle ich. In einem anderen Augenblick vielleicht, wenn das Schloß zu Dux nicht von so dichten Nebeln umgeben ist, wenn mein Geist von einigen Strahlen einer belebenden Sonne aufgeweckt wird – ein anderes Mal vielleicht, sage ich, werde ich dies alles zu Papier bringen; heute fühle ich nicht den Mut dazu.

Friedrich hatte große Eigenschaften und große Schwächen, wie fast alle großen Menschen; aber sicherlich war die Gesamtheit seiner Schwächen geringer als die seiner hohen Eigenschaften, und die Weltgeschichte wird in diesem Herrscher stets einen großen Mann sehen und in ihm ein Merkzeichen des achtzehnten Jahrhunderts verehren.

Der ermordete König von Schweden fand ein Vergnügen darin, Haß zu erregen, weil es in seinen Augen ein Ruhm war, solchem Hasse zu trotzen. Er hatte eine Despotenseele, und er mußte ein Despot sein, um seine herrschende Leidenschaft zu befriedigen: nämlich von sich reden zu machen und für einen großen Mann zu gelten. Darum haben seine Feinde sich dem Tode geweiht, um ihm das Leben zu entreißen. Der König hätte sein Ende voraussehen müssen, denn seine Gewalttaten hatten schon lange die von ihm Unterdrückten zur Verzweiflung getrieben. Zwischen ihm und Friedrich ist kein Vergleich möglich.

Der Marquis d’Argens schenkte mir alle seine Werke. Ich fragte ihn, ob ich mich wirklich rühmen könnte, alle zu besitzen, und er antwortete mir: »Ja, mit Ausnahme eines Teils meiner Lebensgeschichte, die ich in meiner Jugend geschrieben und später vernichtet habe, weil ich es bereute, sie veröffentlicht zu haben.«

»Warum?«

»Weil ich die Manie hatte, nur die Wahrheit sagen zu wollen, und mich damit unsterblich lächerlich gemacht habe. Sollten Sie jemals eine solche Lust verspüren, so weisen Sie sie als eine unvernünftige Versuchung von sich ab. Ich kann Ihnen versichern, Sie würden es bereuen; denn als Ehrenmann könnten Sie nur die Wahrheit schreiben und als wahrhaftliebender Geschichtschreiber wären Sie nicht nur verpflichtet, nichts zu verschweigen, sondern Sie dürften nicht einmal mit den von Ihnen begangenen Fehlern eine feige Nachsicht üben und müßten sie als guter Moralist geißeln, wie Sie als echter Philosoph das von Ihnen bewirkte Gute hervorheben müßten. Sie wären genötigt, auf jeder Seite sich selber zu loben oder zu tadeln. Nun würde man alles Böse, das Sie von sich selber sagen, für bare Münze nehmen, alle Ihre kleinen Sünden für Verbrechen erklären, und wenn Sie etwas Gutes von sich sagen, würde man es Ihnen nicht nur nicht glauben, sondern Ihnen obendrein Stolz, Eitelkeit usw. vorwerfen. Außerdem würden Sie durch die Abfassung von Lebenserinnerungen sich alle jene zu Feinden machen, von denen Sie Unvorteilhaftes berichten müßten. Glauben Sie mir, lieber Freund, wenn es einem Ehrenmann nicht erlaubt ist, von sich selber zu sprechen, so ist es ihm noch weniger erlaubt, über sich selber zu schreiben, es sei denn, daß Verleumdung uns zwingt, uns zu verteidigen. Ich hoffe, Sie werden niemals Rousseaus Fehler begehen – einen Fehler, den ich von einem so hervorragenden Mann niemals habe begreifen können.«

Durch seine weisen Reden überzeugt, versprach ich ihm, niemals eine solche Torheit zu begehen; trotzdem tue ich seit sieben Jahren nichts anderes, und es ist für mich allmählich eine Notwendigkeit geworden, die Sache zu Ende zu bringen, obwohl ich sehr bereue, sie angefangen zu haben. Aber ich schreibe in der Hoffnung, daß meine Geschichte niemals das Tageslicht der Öffentlichkeit erblicken wird; denn abgesehen davon, daß die niederträchtige Zensur, dieses Löschhorn des Geistes, niemals den Druck erlauben würde, so hoffe ich, daß ich in meiner letzten Krankheit vernünftig werde, da ich nicht mehr verrückter werden kann, und alle meine Hefte vor meinen Augen verbrennen lasse. Sollte dies nicht der Fall sein können, so rechne ich auf die Nachsicht meiner Leser, und diese werden sie mir nicht vorenthalten, wenn sie erfahren, daß die Niederschrift meiner Erinnerungen für mich das einzige Heilmittel war, um nicht wahnsinnig zu werden oder vor Ärger zu sterben – vor Ärger über die Unannehmlichkeiten und täglichen Scherereien von seiten der neidischen Halunken, die sich mit mir zusammen auf dem Schloß des Grafen von Waldstein oder Wallenstein in Dux befinden.

Indem ich täglich zehn oder zwölf Stunden schrieb, habe ich verhindert, daß der düstere Kummer mein Leben verzehrte oder mir die Vernunft raubte. Wir werden später darüber sprechen, wenn ich nicht etwa früher sterbe.

Am Tage nach dem Fronleichnamsfest reiste ich von Aix ab und begab mich nach Marseille. Ich habe jedoch eine wichtige Sache zu erwähnen vergessen, die ich noch nachtragen will. Ich spreche von der Fronleichnamsprozession.

Wie ein jeder weiß, wird das Fest des heiligen Sakraments in der ganzen Christenheit mit Pomp gefeiert; aber in Aix in der Provence sind mit dieser Feier so anstoßende Gebräuche verbunden, daß jeder vernünftige Mensch eine derartige Verirrung beklagen muß.

Dem Wesen aller Wesen, das unter dem Bilde der Eucharistie in Leib und Seele verkörpert wird, folgen bekanntlich überall sämtliche religiöse Körperschaften. Hierüber will ich also nichts sagen, denn dasselbe findet auch in Aix statt. Was aber unangenehm überraschen und anstößig wirken muß, das sind die Maskeraden und unpassenden Späße, die man sich bei einer so heiligen Handlung erlaubt, bei welcher man alles darauf berechnen müßte, die der Religion unentbehrliche Ehrfurcht noch zu vermehren, indem man Liebe und Dankbarkeit und fromme Verehrung für den Schöpfer aller Dinge und Spender alles Guten erregte.

Statt dessen sieht man den Teufel, den Tod und die sieben Todsünden, auf die lächerlichste Art gekleidet, tausend komische Gliederverrenkungen machen, sich schlagen und stoßen, heulen und schreien, wie wenn sie außer sich darüber wären, dem Herrn der Welt dienen zu müssen. Das Volk lacht und schreit und pfeift die greulichen Gestalten aus, singt Spottlieder auf sie, foppt sie auf alle möglichen Arten. Dies alles zusammen bildet ein Schauspiel, das mehr an Karnevalssaturnalien erinnert als an eine Prozession christlicher Völker, und das an schmutziger Unsittlichkeit alles überbietet, was wir über die Bacchanalien des Heidentums lesen. Die ganze Landbevölkerung von fünf bis sechs Wegstunden in der Runde kommt an diesem Tage nach Aix, um Gott zu ehren. Es ist sein Fest. Gott kommt im ganzen Jahre nur an diesem einen Tage auf die Straße. Ohne Zweifel hat eine Geistlichkeit, die entweder aus Verrückten oder aus Betrügern bestand, es für notwendig gehalten, den lieben Gott zum Lachen zu bringen. Die niedrigen Klassen des Volkes glauben dies allen Ernstes, und wenn einer sich erlauben sollte, etwas dagegen zu sagen, so würde es ihm übel ergehen, denn der Bischof marschiert an der Spitze des ganzen Mummenschanzes; folglich muß alles fromm und heilig sein.

Als ich gegen das tolle Treiben sprach, das die Religion nur in Verruf bringen könnte, sagte ein gewisser Herr der St. Marc, ein Mann von Bedeutung und Mitglied des Parlaments, in ernstem Tone zu mir, dieses Fest wäre eine ausgezeichnete Sache, denn dadurch kämen an einem einzigen Tage mehr als hunderttausend Franken in die Stadt.

Diese Anschauungsweise war so gewichtig, daß ich mir keine Antwort erlaubte.

Während meines Aufenthaltes in Aix verging kein Tag, daß ich nicht an Henriette dachte. Da ich ihren richtigen Namen kannte, so hatte ich nicht vergessen, was sie mir durch Marcolina hatte sagen lassen; ich erwartete, sie in Aix in irgendeiner Gesellschaft zu finden, und ich würde mich alsdann gegen sie so benommen haben, wie sie es gewünscht hätte. Oft hatte ich ihren Namen nennen gehört, aber ich hatte mir niemals eine Frage erlaubt, da ich sorgfältig vermeiden wollte, daß man vermuten konnte, sie sei mir bekannt. Ich hatte stets geglaubt, sie sei auf dem Lande, und da ich beschlossen hatte, ihr einen Besuch zu machen, war ich nur deswegen so lange in Aix geblieben, um vollständig gesund bei ihr anzukommen. Als ich nun von Aix abreiste, hatte ich in meiner Tasche einen Brief, wodurch ich mich bei ihr anmeldete. Ich beabsichtigte vor dem Tor des Schlosses zu halten, ihr den Brief hineinzuschicken und den Wagen nicht zu verlassen, wenn sie mich nicht dazu auffordern würde.

Ich hatte dem Postillon Bescheid gesagt; ihr Schloß lag anderthalb französische Meilen diesseits von Croix d’Or. Es war elf Uhr, als wir ankamen.

Ein Mann kam heraus. Ich gab ihm meinen Brief, und er sagte mir, er werde nicht verfehlen, ihn der gnädigen Frau zu schicken.

»Ist sie denn nicht hier?«

»Nein, mein Herr; sie ist in Aix.«

»Seit wann?«

»Seit sechs Monaten.«

»Wo wohnt sie?«

»In ihrem Hause; sie wird erst in drei Wochen hier hinauskommen, um nach ihrer Gewohnheit den Sommer hier zu verbringen.«

»Würden Sie so freundlich sein, mich einen Brief schreiben zu lassen?«

»Bitte, steigen Sie nur aus! Ich werde Ihnen das Zimmer der gnädigen Frau öffnen lassen; dort werden Sie alles finden, was Sie brauchen.«

Ich stieg aus, trat ins Haus und sah zu meiner größten Überraschung meine Krankenwärterin vor mir.

»Sie wohnen hier?« »Jawohl, mein Herr.« »Seit wann?« »Seit zehn Jahren.« »Wie kam es denn, daß Sie mich während meiner Krankheit pflegten?« »Das werde ich Ihnen oben sagen.«

Ihre Erzählung lautete folgendermaßen:

»Die gnädige Frau ließ mich in aller Eile holen und befahl mir, zu Ihnen zu gehen und Sie so zu pflegen, wie wenn sie selber krank gewesen wäre, und Ihnen zu sagen, ich sei auf Anordnung des Arztes bei Ihnen, falls Sie etwa irgendeine Frage an mich stellen sollten.«

»Der Arzt hat mir gesagt, er kenne Sie nicht.«

»Vielleicht hat er Ihnen die Wahrheit gesagt; wahrscheinlicher aber ist es, daß er von der gnädigen Frau Befehl erhalten hatte, Ihnen so zu antworten. Mehr weiß ich übrigens nicht; aber ich bin überrascht, daß Sie die gnädige Frau nicht in Aix gesehen haben.«

»Sie muß wohl nicht in Gesellschaft verkehren, denn ich bin überall gewesen.«

»Allerdings empfängt Madame keine Besuche, aber sie geht überall hin.«

»Das ist sehr wunderbar! Ich muß sie gesehen haben, und kann nicht begreifen, daß ich sie nicht erkannt habe. Sie sind seit zehn Jahren bei ihr?«

»Jawohl, mein Herr, wie ich bereits die Ehre hatte. Ihnen zu sagen.«

»Ist sie verändert? Hat sie irgendeine Krankheit gehabt, durch die ihr Gesicht sich geändert hat? Ist sie gealtert?«

»Durchaus nicht. Sie ist stärker geworden, aber ich versichere Ihnen, man würde sie für eine Frau von dreißig Jahren halten.«

»Ich muß blind sein, oder ich habe sie nicht ein einziges Mal zu sehen bekommen. Ich werde ihr schreiben.«

Die Frau ging hinaus.

Ich fühlte mich ratlos in dieser seltsamen Lage und fragte mich: soll ich augenblicklich nach Aix umkehren? Sie wohnt in ihrem Hause, sie empfängt niemanden. Wer kann sie verhindert haben, mit mir zu sprechen, und wer könnte sie verhindern, mich zu empfangen? Wenn sie mich nicht vorläßt, werde ich sofort wieder abfahren, und dann hätte ich eben einfach den Weg vergebens gemacht. Damit wäre dies erledigt. Aber Henriette liebt mich noch. Sie hat mich während meiner Krankheit pflegen lassen, und das würde sie nicht getan haben, wenn ich ihr gleichgültig geworden wäre. Sie wird empfindlich darüber sein, daß ich sie nicht wiedererkannt habe. Sie weiß, daß ich von Aix abgereist bin, und kann nicht daran zweifeln, daß ich in diesem Augenblick hier bin. Soll ich zu ihr fahren? Oder soll ich ihr schreiben?

Zu dem letzteren entschloß ich mich endlich. Ich schrieb ihr, ich würde in Marseille auf ihre Antwort warten. Ich gab meiner Pflegerin den Brief und das nötige Geld, um ihn sofort durch einen besonderen Boten zu befördern, und stieg wieder in meinen Wagen. Zum Mittagessen war ich in Marseille, wo ich in einem geringen Gasthof abstieg, da ich nicht erkannt werden wollte. Kaum war ich ausgestiegen, so sah ich die Donna Schizza, Ninas Schwester. Sie kam mit ihrem Mann von Barcelona; sie reisten nach Livorno und befanden sich seit drei oder vier Tagen in Marseille.

Signora Schizza war in diesem Augenblick allein, denn ihr Mann war ausgegangen. Ich hatte eine brennende Lust, hundert Dinge zu erfahren, und bat sie daher, in mein Zimmer zu kommen, bis man mir mein Essen brächte.

»Was macht Ihre Schwester? Ist sie immer noch in Barcelona?«

»Ja; aber sie wird nicht lange mehr dort bleiben, denn der Bischof will sie weder in der Stadt noch in seinem Sprengel dulden, und der Bischof ist mächtiger als Graf Ricla. Sie ist von Valencia zurückgekehrt, weil Graf Ricla geltend machte, man könne es ihr nicht verwehren, durch Katalonien nach ihrer Heimat zurückzureisen. Man bleibt aber nicht neun oder zehn Monate in einer Stadt, wenn man nur auf der Durchreise ist. In einem Monat wird sie sicherlich abreisen, aber daraus macht sie sich nicht viel; denn sie ist sicher, daß der Graf ihr überall einen mehr als reichlichen Lebensunterhalt gewähren wird, und es wird ihr vielleicht gelingen, ihn zugrunde zu richten. Einstweilen freut sie sich, daß sie seinen guten Ruf vernichtet hat.«

»Ich weiß ja, wie sie zu denken pflegt; aber schließlich kann sie doch nicht einen Mann hassen, durch den sie jetzt reich geworden sein muß.«

»Reich? Sie hat nur Diamanten. Aber können Sie annehmen, daß dieses Scheusal Dankbarkeit kennt? Glauben Sie, sie denke wie ein Mensch? Sie ist ein Scheusal; das weiß niemand so gut wie ich. Sie hat nur darum den Graf gezwungen, hundert Ungerechtigkeiten zu begehen, weil ganz Spanien von ihr sprechen und weil alle Welt wissen soll, daß sie Herrin über seinen Leib, sein Hab und Gut, seine Seele und seinen Willen ist. Je haarsträubender eine Ungerechtigkeit ist, zu der sie ihn veranlaßt, desto sicherer ist sie, daß man von ihr sprechen wird, und weiter will sie nichts. Ihre Verpflichtungen gegen mich, mein Herr, sind unzählig; denn sie verdankt mir alles, sogar das Leben; aber anstatt mir Gutes zu tun, indem sie meinem Mann einen besseren Posten mit einer Gehaltserhöhung verschaffte, was ihr nur ein Wort gekostet hätte, hat sie ihn verabschieden lassen.«

»Ich wundere mich, daß sie bei einer solchen Denkungsweise sich gegen mich so edel benommen hat.«

»Ja, ich weiß alles; aber wenn Sie ebenfalls alles wüßten, würden Sie ihr für das, was sie für Sie getan hat, keinen Dank wissen.«

»Nun, sprechen Sie!«

»Sie hat Ihre Rechnung im Gasthof und die Verpflegung im Gefängnisturm nur deshalb bezahlt, damit das Publikum zur Schande des Grafen glauben sollte, Sie wären ihr Liebhaber. Ganz Barcelona weiß, daß man Sie vor ihrer Tür hat ermorden wollen, und daß der Mordbube an dem Degenstich gestorben ist, den Sie zu Ihrem großen Glück ihm versetzt hatten.«

»Aber sie hat doch nicht meine Ermordung befehlen können! Sie hat nicht einmal Mitschuldige sein können; denn das wäre nicht natürlich!«

»Das weiß ich wohl, aber an Nina ist eben nichts Natürliches. Aber ich kann Ihnen für gewiß sagen, was ich selber mit angehört habe: Während der Stunden, die Graf Ricla bei ihr verbrachte, sprach sie unaufhörlich von Ihnen, von Ihrem Geist, von Ihrem edlen und galanten Auftreten, das sie mit dem der Spanier verglich, um diese verächtlich zu machen und herunterzusetzen. Der Graf ärgerte sich und sagte ihr schließlich, sie möchte von etwas anderem sprechen; aber vergeblich. Um nichts mehr davon zu hören, entfernte er sich mit einem Fluch auf Sie. Zwei Tage vor jenem Vorfall war er wieder ganz außer sich; er verließ sie mit den Worten: »Valga me Dios! Ich werde Ihnen eine Höflichkeit erweisen, auf die Sie nicht gefaßt sind!« Als wir dann den Büchsenschuß gleich nach Ihrem Fortgehen hörten, sagte sie ohne die geringste Gemütsbewegung, dieser Schuß sei ohne Zweifel die Höflichkeit, die ihr ekliger Spanier ihr in Aussicht gestellt habe. Ich sagte ihr, vielleicht habe man Sie getötet. »Um so schlimmer für den Grafen!« sagte sie zu mir; »denn er wird ebenfalls an die Reihe kommen.« Hierauf lachte sie wie eine Wahnsinnige bei dem Gedanken, welchen Lärm diese Neuigkeit in Barcelona verursachen würde. Am anderen Morgen um acht Uhr – dies muß ich zu ihrem Lobe sagen – war sie recht erfreut, als Ihr Bedienter ihr meldete, man habe Sie auf die Zitadelle gebracht.«

»Wie? Mein Bedienter? Ich habe niemals gewußt, daß er Beziehungen zu ihr hatte.«

»Sie sollten das auch nicht wissen. Übrigens kann ich Ihnen versichern, daß der ein braver Mann war, der Sie liebte.«

»Davon bin ich überzeugt gewesen. Fahren Sie fort.«

»Nina schrieb Ihrem Wirt ein Briefchen. Sie zeigte es mir nicht; aber ohne Zweifel hat sie ihm darin befohlen, Ihnen alles zu besorgen, was Sie wünschen würden. Der Bediente sagte uns, er habe den blutbefleckten Degen gesehen, und Ihr Mantel sei von einer Kugel durchlöchert worden. Sie freute sich darüber, aber nicht etwa, weil sie Sie liebte; glauben Sie das nur nicht! Sie freute sich, weil Sie dem Mordanfall entronnen waren und sich daher rächen könnten. In Verlegenheit brachte sie nur der Vorwand, dessen der Graf sich bedient hatte, um Sie verhaften zu lassen. – An jenem Abend kam der Graf nicht, aber am nächsten Tage kam er um acht Uhr, und das niederträchtige Weib empfing ihn lachend, wie wenn sie ganz glücklich wäre. Sie sagte ihm, sie wisse, daß er Sie ins Gefängnis gesteckt habe; daran habe er wohl getan, denn er könne sich dazu doch nur entschlossen haben, um Ihr Leben gegen neue Nachstellungen zu sichern. Er antwortete kurz angebunden, Ihre Verhaftung habe mit dem Vorfall der Nacht nichts zu tun. Sie seien nur für einige Tage gefangen gesetzt, denn man untersuche Ihre Papiere und werde Sie wieder in Freiheit setzen, wenn man daran nichts finde, was eine strenge Haft rechtfertigen könnte. Nina fragte ihn, wer der Mann wäre, den Sie verwundet hätten. Er antwortete: >Die Polizei stellt Nachforschungen an, denn man hat weder einen Toten noch einen Verwundeten, ja nicht einmal Blutspuren gefunden. Man hat nur Casanovas Hut gefunden, und diesen hat man in seinen Gasthof geschickt.« – Hierauf blieben sie bis Mitternacht miteinander allein; so daß ich nicht hören konnte, was sie noch weiter über Sie sagten; aber drei Tage darauf erfuhr alle Welt, daß Sie in den Turm gesperrt worden seien.

Am Abend fragte Nina den Grafen nach dem Grunde dieser strengen Maßregel; er antwortete, man hätte Verdacht, daß Ihre Pässe falsch seien; denn der vom Botschafter in Ildefonso ausgestellte müsse falsch sein. Da Sie nämlich bei der Staatsinquisition von Venedig in Ungnade seien, so sei es nicht wahrscheinlich, daß der Gesandte Ihnen einen Paß gegeben habe; ohne diesen aber hätten Sie weder den des Königs noch den vom Grafen Aranda erhalten können. In dieser Annahme habe man Sie in den Turm setzen müssen, denn das Verbrechen könne Ihnen teuer zu stehen kommen.

Diese Nachrichten beunruhigten uns, und als wir erfuhren, daß Pogomas verhaftet worden war, waren wir überzeugt, daß er Sie angezeigt hätte, um sich dafür zu rächen, daß Sie ihn aus unserem Hause hatten jagen lassen. Als wir erfuhren, daß der Kerl aus dem Gefängnisse entlassen, aber zu Schiff nach Genua gebracht worden war, glaubten wir, nun könne Ihre Freilassung nicht lange mehr dauern, denn man hätte doch längst die Nachricht erhalten müssen, daß ihre Pässe in Ordnung seien. Als wir aber sahen, daß man Sie immer noch in Haft behielt, da wußten wir nicht mehr, was wir darüber denken sollten; denn der Graf antwortete nicht mehr auf ihre Fragen nach Ihrem Befinden. Falsch, wie sie ist, hatte sie den Entschluß gefaßt, zu schweigen. Da erfuhren wir endlich, daß Sie in Freiheit gesetzt und vollkommen gerechtfertigt seien.

Nina zweifelte nicht, daß sie Sie im Parkett sehen und daß sie in ihrer Loge triumphieren würde; sie gedachte sich in dem ganzen Schmuck ihrer Diamanten zu zeigen; sie war daher in Verzweiflung, als sie von dem unerwarteten Ausfall der Theatervorstellungen hörte. Am Abend erfuhr sie vom Grafen, man habe Ihnen Ihre Pässe wiedergegeben, aber auch zugleich Ihnen den Befehl erteilt, binnen drei Tagen abzureisen. Die falsche Spitzbübin lobte die Vorsicht ihres Liebhabers, obgleich sie im geheimen ihn in die Hölle wünschte.

Sie dachte sich wohl, daß Sie nicht wagen würden, sie zu besuchen, denn sie glaubte, Sie hätten gewiß geheime Befehle empfangen, keinerlei Beziehungen zu ihr zu unterhalten; da erfuhr sie, daß Sie abgereist seien, ohne ihr auch nur ein ganz kleines Briefchen zu schreiben; sie geriet in eine rasende Wut gegen Ricla und schrie: >>Wenn Casanova den Mut gehabt hätte, mich zur Reise mit ihm einzuladen, so würde ich es getan haben.«

Durch Ihren Bedienten erfuhr sie, daß Sie glücklich drei Mördern entronnen seien. Am Abend machte sie Ricla ein Kompliment darüber, er schwor aber, er wisse nichts davon. Nina glaubte es ihm nicht. Ach! danken Sie Gott, daß Sie aus Spanien heraus gekommen sind, nachdem Sie Nina kennen gelernt hatten, dieses Scheusal, das Ihnen schließlich noch das Leben gekostet hätte und das mich dafür bestraft, es ihr gegeben zu haben.«

»Wie, Sie sind ihre Mutter?«

»Ja, Nina, dieses abscheuliche Geschöpf, ist meine Tochter.«

»Ist es möglich! Alle Welt hält sie für Ihre Schwester.«

»Das ist ja eben das Entsetzliche. Alle Welt hat recht.«

»Wie? Erklären Sie mir dies.«

»Ich will es tun, obgleich es mich in Verlegenheit bringt: sie ist meine Tochter und meine Schwester; denn sie ist die Tochter meines Vaters.«

»Was höre ich! Ihr Vater hat Sie geliebt.«

»Ob der Barbar mich geliebt hat, weiß ich nicht; jedenfalls hat er mich als seine Frau behandelt. Ich war damals sechzehn Jahre alt. Sie ist aus einem Verbrechen entsprossen, und der gerechte Gott bestraft mich durch sie. Mein Vater ist der Rache Gottes entgangen; möchte er auch der ewigen Höllenstrafe entgehen! Was soll aus mir werden? Ich hätte das niederträchtige Geschöpf in der Wiege erdrosseln sollen; vielleicht aber werde ich sie noch erdrosseln, bevor sie mich tötet.«

Außer mir vor Entsetzen, hörte ich schweigend diese furchtbare Erzählung an, deren Wahrheit nicht anzuzweifeln war.

»Ihr eigener Vater hat es ihr gesagt, als sie zwölf Jahre alt war. Er weihte sie zuerst in den Lebenswandel ein, den sie seitdem geführt hat, und er würde schließlich auch sie zur Mutter gemacht haben, wenn er nicht in demselben Jahre gestorben und dadurch vielleicht dem Galgen entgangen wäre.«

»Wie kam es, daß Graf Ricla sich in sie verliebte?«

»Hören Sie! Die Geschichte ist nicht lang, und sie ist eigenartig. Als sie vor zwei Jahren von Portugal nach Barcelona kam, wurde sie nur wegen ihres schönen Wuchses als Ballettfigurantin angenommen; denn Talent hat sie ja nicht; das einzige, was sie gut macht, ist die Rebaltade, eine Art Rückwärtssprung mit Pirouetten. Bei ihrem ersten Auftreten klatschte das Parkett lebhaften Beifall, weil sie bei der Rebaltade ihre Unterhosen bis zum Gürtel sehen ließ. Nun muß man wissen, daß in Spanien ein Gesetz besteht, daß jede Tänzerin, die auf der Bühne dem Publikum ihre Unterhosen zeigt, zu einem Taler Strafe verurteilt wird. Nina wußte davon nichts; als sie den Beifall hörte, machte sie es gleich noch einmal; aber nach dem Ballett sagte der Inspektor ihr, er würde zur Strafe für ihre schamlosen Sprünge zwei Taler von ihrem Monatsgehalt zurückbehalten. Nina fluchte und wetterte, konnte aber gegen das Gesetz nichts machen. Wissen Sie, was sie am nächsten Tage tat, um das Gesetz zu umgehen und sich zu rächen?«

»Vielleicht tanzte sie schlecht?«

»Sie tanzte ohne Unterhosen und machte wieder ihre Rebaltade. Dies erregte im Parkett eine so stürmische Heiterkeit, wie man sie in Barcelona noch niemals erlebt hatte.

Graf Ricla, der von seiner Loge alles gesehen hatte und sich von Entsetzen und zugleich von Bewunderung ergriffen fühlte, ließ den Inspektor rufen und sagte ihm, er müsse diese freche Tänzerin auf ganz andere Weise als durch Geldbuße exenplarisch bestrafen. ‚Einstweilen schicken Sie sie mal sofort zu mir!‘

Gleich darauf stand Nina in der Loge des Vizekönigs und fragte ihn mit ihrem schamlosen Gesicht, was er von ihr wünsche.

‚Sie sind eine schamlose Person und haben das Publikum beschimpft.‘

‚Was habe ich getan?‘

‚Sie haben denselben Sprung gemacht wie gestern.‘

‚Allerdings; aber ich habe Ihr Gesetz nicht verletzt; kein Mensch kann behaupten, daß er eine Unterhose gesehen hat; denn, um sicher zu sein, daß man sie nicht sehen würde, habe ich keine angezogen. Konnte ich mehr für Ihr verdammtes Gesetz tun, das mir bereits zwei Taler kostete? Antworten Sie nur!‘

Der Vizekönig und alle die ernsten würdigen Herren, die zugegen waren, mußten sich auf die Lippen beißen, um nicht zu lachen; denn im Grunde hatte Nina recht, und wenn es zu einer Diskussion über diese Gesetzesübertretung gekommen wäre, hätte man sich sehr lächerlich darüber gemacht.

Der Vizekönig begriff, daß er sich in einer falschen Lage befand; er sagte zur Tänzerin nur: wenn sie noch einmal ohne Unterhose tanze, werde sie einen Monat bei Wasser und Brot im Gefängnis sitzen.

Nina war gehorsam. Acht Tage darauf gab man ein Ballett meines Mannes. Es wurde mit solchem Beifall aufgenommen, daß das Publikum stürmisch die Wiederholung verlangte.

Ricia befahl, den Wunsch des Publikums zu erfüllen, und den Tänzern wurde gesagt, daß sie noch einmal aufzutreten hätten.

Nina, die sich inzwischen fast gänzlich entkleidet hatte, sagte meinem Mann, er möchte sich einrichten, wie er wollte, sie würde nicht tanzen. Da sie nun die erste Rolle hatte, so konnte das Ballett ohne sie nicht aufgeführt werden. Mein Mann schickte daher den Direktor zu ihr, aber diesen warf sie in ihrer Wut mit solcher Kraft zur Türe hinaus, daß der arme Mensch mit der Stirn gegen die Korridorwand fuhr. Der Direktor berichtete jammernd dem Vizekönig von der Weigerung der Tänzerin. Zwei Soldaten erhielten Befehl, sie vor ihn zu führen, und dies war zu seinem Unglück; denn Nina ist, wie Sie wissen, sehr schön, und ihr Anzug war in jenem Augenblicke in einem Zustande, daß sie den kältesten Mann verführt haben würde.

Der Graf sagte ihr mit unsicherer Stimme, was er ihr zu sagen hatte. Seine Verlegenheit machte sie kühn, und sie antwortete ihm, es stehe in seiner Macht, sie in Stücke reißen zu lassen, aber er sei nicht mächtig genug, um sie dazu zu bringen, daß sie gegen ihren Willen tanze; denn in ihrem Vertrage stehe nichts davon, daß sie an einem Abend zweimal tanzen müsse; das könne weder er noch das Publikum von ihr verlangen.

‚Ich bin außer mir‘, rief sie, ‚über Ihr tyrannisches Vorgehen, das mich zwingt, beinahe nackt zwischen zwei Soldaten zu erscheinen, und ich werde Ihnen diesen barbarischen Despotismus niemals vergeben. Sie können machen, was Sie wollen, ich werde nicht tanzen, und ich erkläre Ihnen, ich werde Ihnen nicht mehr die Ehre erweisen, vor Ihnen und Ihrem Publikum zu tanzen. Ich verlange von Ihnen weiter nichts, als daß Sie mich gehen lassen oder mich töten; standhaft werde ich die härteste Behandlung erdulden und Ihnen beweisen, daß ich Venetianerin und ein freies Weib bin!‘ Erstaunt sagte der Vizekönig, Nina sei toll. Hierauf ließ er meinen Gatten kommen und befahl ihm, das Ballett ohne sie tanzen zu lassen und in Zukunft nicht auf sie zu rechnen, denn sie stehe nicht mehr in seinem Dienst.

Dann sagte er zu Nina, sie möchte gehen, und befahl den Soldaten, sie freizulassen.

Sie ging in ihre Ankleidekammer zurück, und als sie sich angezogen hatte, kam sie zu uns, denn sie wohnte bei uns.

Das Ballett wurde wiederholt, so gut es eben ging; der arme Graf sah aber nicht mehr viel davon, denn das Gift hatte bereits seine Wirkung getan. ‚

Am folgenden Tage kam der jämmerliche Sänger Molinari zu Nina und sagte ihr, der Gouverneur wünsche sich zu überzeugen, ob sie wahnsinnig sei oder nicht; er wolle sie in einem gewissen Landhause sehen.

Das war just, was das unglückselige Geschöpf wollte, und sie antwortete Molinari: ‚Sagen Sie Seiner Exzellenz, ich werde der Einladung Folge leisten und der Herr Gouverneur werde mich sanft wie ein Lamm und keusch wie einen Engel finden.‘ So begann ihre Bekanntschaft. Sie wußte die Schwächen ihrer neuen Eroberung so scharfsinnig zu erraten, daß sie den armen Spanier ebensosehr durch ihre schlechte Behandlung fesselte wie durch ihre verführerischen Reize und durch die schlaueste Koketterie.«

Dieses erzählte die unglückselige Schizza mit der ganzen Leidenschaft einer von Reue und Rachsucht gepeinigten Italienerin.

Am nächsten Tage erhielt ich, wie ich erwartet hatte, die Antwort meiner Henriette. Sie schrieb mir:

»Nichts, mein lieber Freund, ist romantischer als unsere Begegnung in meinem Landhause vor sechs Jahren und jetzt wieder von neuem, zweiundzwanzig Jahre nach jenem Tage, da wir uns in Genf trennten. Wir sind alle beide gealtert, das ist natürlich. Aber wollen Sie es glauben? Obgleich ich Sie noch liebe, ist es mir doch angenehm, daß Sie mich nicht wiedererkannt haben. Nicht daß ich häßlich geworden wäre, aber ich bin dicker geworden, und dadurch haben sich meine Gesichtszüge verändert. Ich bin Witwe, lebe glücklich und besitze ein genügendes Vermögen, um Ihnen sagen zu können, daß Sie sich an Henriettens Börse wenden mögen, wenn Sie etwa bei den Bankiers kein Geld haben sollten. Kommen Sie nicht nach Aix zurück, um das Wiedersehen mit mir zu feiern, denn Ihre Rückkehr könnte Anlaß zu Gerede geben; wenn Sie aber nach einiger Zeit herkommen, so werden wir uns sehen können, jedoch nicht als alte Bekannte. Ich fühle mich glücklich in dem Gedanken, daß ich vielleicht zur Verlängerung Ihres Lebens beigetragen habe, indem ich Ihnen eine Frau schickte, deren gutes Herz und Treue ich kannte. Wenn Ihnen ein Briefwechsel mit mir recht ist, so werde ich gern mein Bestes tun. Ich bin sehr neugierig, zu erfahren, was Sie seit Ihrer Flucht aus den Bleikammern gemacht haben, und da Sie jetzt einen so schönen Beweis von Verschwiegenheit abgelegt haben, so verspreche ich Ihnen, alles zu erzählen, was unser Zusammentreffen in Cesena und meine Rückkehr in die Heimat veranlaßte. Unsere Bekanntschaft ist ein Geheimnis für alle Welt. Nur Herr d’Antoine kennt einen Teil davon. Ich bin Ihnen dankbar, daß Sie sich bei keinem Menschen nach meiner Existenz erkundigt haben, obwohl Marcolina Ihnen gewiß alles gesagt hat, was ich ihr für Sie auftrug. Schreiben Sie mir, was mit diesem entzückenden Geschöpf geworden ist. Leben Sie wohl!«

Ich antwortete ihr, indem ich den angebotenen Briefwechsel annahm und ihr in großen Umrissen meine wechselvollen Schicksale erzählte. Sie ihrerseits erzählte mir in etwa vierzig Briefen ihre ganze Lebensgeschichte. Wenn sie vor mir stirbt, werde ich diese Briefe meinen Erinnerungen beigeben; aber heutigentags lebt sie noch, und sie ist glücklich, wenngleich alt.

Am nächsten Tage besuchte ich Frau Audibert, und wir fuhren zusammen zu Frau N. N., die bereits Mutter von drei Kindern war. Sie wurde von ihrem Gatten angebetet und war infolgedessen glücklich. Ich brachte ihr gute Nachrichten von Marcolina und erzählte ihr Croces Abenteuer und Charlottens Tod, der ihr sehr zu Herzen ging.

Sie gab mir dafür die allerneuesten Nachrichten über Rosalie, die durch ihren Mann sehr reich geworden war. Ich konnte nicht mehr hoffen, diese reizende Frau wiederzusehen, denn in Genua würde der Anblick des Herrn Grimaldi mir kein Vergnügen gewesen sein.

Meine liebe frühere Nichte betrübte mich, ohne es zu wollen; sie sagte mir, sie finde mich gealtert. Obgleich ein Mann sich aus dem Altwerden nichts zu machen braucht, so mißfällt doch ein solches Kompliment, wenn man noch nicht auf Galanterie verzichtet hat. Sie gab mir zu Ehren ein schönes Diner, und ihr Gatte machte mir Anerbietungen, die ich aus falscher Scham nicht annahm. Ich besaß noch fünfzig Louis, und da ich nach Turin gehen wollte, so wußte ich, daß ich dort Hilfsquellen haben würde.

Ich traf in Marseille den Herzog von Villars, den Tronchin künstlich am Leben erhielt; der hohe Herr war Gouverneur der Provence; er lud mich zum Abendessen ein, und ich fand zu meiner Überraschung bei ihm den angeblichen Marquis d’Arragon, der eine Bank hielt. Ich spielte mit kleinen Einsätzen und verlor. Der Marquis lud mich zum Mittagessen bei seiner Frau, der alten Engländerin, ein, die ihm vierzigtausend Guineen zugebracht hatte, während weitere zwanzigtausend nach ihrem Tode einem Sohne zufallen sollten, den sie in London hatte. Von diesem glücklichen Taugenichts schämte ich mich nicht, fünfzig Louis zu borgen, obwohl es ziemlich sicher war, daß ich sie ihm niemals zurückgeben würde.

Ich reiste allein von Marseille über Antibes, Nizza und den Col di Tenda, die höchste Alpenstraße nach Turin. Auf diesem Wege hatte ich das Vergnügen, das sogenannte Piemont zu sehen, ein Land von großer Schönheit.

In Turin empfingen der Chevalier Raiberti und Graf de la Pérouse mich auf das freundlichste. Beide wiederholten mir das Kompliment meiner Exnichte: sie fanden, daß ich alt geworden wäre. Da ich aber nur im Verhältnis zu den vierundvierzig Jahren alt sein konnte, die ich damals zählte, so tröstete ich mich leicht.

Ich schloß enge Freundschaft mit dem englischen Gesandten, Ritter R., einem liebenswürdigen, wissenschaftlich gebildeten, reichen, geschmackvollen Mann, der eine ausgezeichnete Tafel führte und den alle Welt liebte, unter anderen auch eine Tänzerin aus Parma, namens Campioni, ein Weib von entzückender Schönheit.

Ich teilte meinen Freunden mit, daß ich die Absicht hätte, nach der Schweiz zu gehen, und dort auf meine Kosten in italienischer Sprache eine Widerlegung der Geschichte der venetianischen Regierung von Amelot de la Houssaie drucken zu lassen. Alle beeilten sich, mir Subskribenten zu verschaffen, die mir eine gewisse Anzahl von Exemplaren vorausbezahlten. Der Freigebigste von allen war der Graf de la Pérouse, der mir siebenhundertundfünfzig Franken für fünfzig Exemplare gab. Acht Tage darauf verließ ich Turin mit dreitausend Franken in meiner Börse. Dieses Geld setzte mich in den Stand, das ganze Werk drucken zu lassen, das ich in der Zitadelle von Barcelona niedergeschrieben hatte. Ich mußte es jedoch noch einmal umschreiben, weil ich damals den zu widerlegenden Autor und die venetianische Geschichte des Prokurators Rani nicht vor Augen gehabt hatte.

Nachdem ich mir diese Werke verschafft hatte, begab ich mich in der Absicht, mein Buch drucken zu lassen, nach Lugano, wo eine gute Buchdruckerei und keine Zensur war. Ich wußte außerdem, daß der Buchdruckereibesitzer ein wissenschaftlich gebildeter Mann war, sowie, daß man in Lugano gut aß und gute Gesellschaft fand. Ich war dort dicht bei Mailand, in nächster Nähe von Varese, wo der Herzog von Modena die schöne Jahreszeit verbrachte, von Como, Chiavenna und dem Lago Maggiore mit den berühmten Borromeischen Inseln. Ich befand mich also an einem Ort, wo ich leicht Unterhaltung finden mußte. Ich ging in den Gasthof, der für den besten galt, und der Wirt, ein gewisser Tagoeretti, gab mir das beste Zimmer seines Hauses.

Gleich am nächsten Morgen suchte ich den Dottore Agnelli auf; er war zugleich Buchdrucker, Priester, Theologe und ein recht ehrlicher Mann. Ich machte mit ihm einen Vertrag in einer Form, wonach er sich verpflichtete, mir wöchentlich vier Bögen in zwölfhundert Exemplaren zu liefern. Ich meinerseits verpflichtete mich, jede Woche das Fertige zu bezahlen. Er behielt sich das Recht der Zensur vor, sprach aber die Hoffnung aus, daß seine Meinung stets mit der meinigen übereinstimmen werde.

Ich übergab ihm sofort Vorwort und Einleitung, womit er für eine volle Woche genug zu tun haben mußte, und suchte ein Papier in Großoktavformat aus.

Als ich in den Gasthof zurückgekehrt war, um zu Mittag zu essen, meldete man nur den Bargello oder Polizeimeister.

Obgleich Lugano zu den dreizehn Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft gehört, wird die Polizei dort wie in den italienischen Städten gehandhabt.

Ich war neugierig, was ein solcher Mann von übler Vorbedeutung von mir wünschen könnte, und da ich außerdem verpflichtet war, ihn anzuhören, so ließ ich ihn eintreten. Nachdem er mir eine tiefe Verbeugung gemacht hatte, sagte der Signore Bargello, mit dem Hut in der Hand, er sei gekommen, um mir seine Dienste anzubieten und mir zu versichern, daß ich mich, wenngleich fremd, in Lugano sehr wohl befinden werde und daß ich weder für meine Person etwas zu befürchten habe, falls ich etwa Feinde außerhalb des Kantons habe, noch für meine persönliche Freiheit, falls ich Verdrießlichkeiten mit der venetianischen Regierung haben sollte.

»Ich danke Ihnen, Herr Bargello, und bin vollkommen überzeugt, daß Sie mir die Wahrheit sagen, da ich mich ja in der Schweiz befinde.«

»Ich nehme mir die Freiheit, Ihnen zu sagen, mein Herr, daß Ausländer, die hierher kommen und der Unverletzlichkeit der ihnen gewährten Zuflucht sicher sein wollen, gewöhnlich eine Kleinigkeit vorauszahlen, sei es wöchentlich oder monatlich oder auf ein Jahr.«

»Und wenn sie nicht zahlen wollen?«

»Dann sind sie nicht so sicher.«

»Schön! – Geld macht alles?«

»Aber mein Herr….«

»Ich verstehe, aber ich will Ihnen etwas sagen: ich habe nichts zu befürchten und halte mich daher für unverletzlich, ohne daß ich mir die Mühe mache, etwas zu bezahlen.«

»Sie werden mir verzeihen, aber ich weiß, daß Sie im Unfrieden mit der venetianischen Regierung leben.«

»Sie täuschen sich, mein guter Freund.«

»Oh nein, hierin täusche ich mich ganz gewiß nicht.«

»Wenn Sie Ihrer Sache sicher zu sein glauben, so bringen Sie mir irgend jemanden, der um zweihundert Zechinen wetten will, daß ich irgend etwas von Venedig zu befürchten habe. Ich werde dagegen wetten und die Summe sofort hinterlegen.«

Der Bargello wurde ganz verlegen, und der Wirt, der zugegen war, sagte ihm, er möchte sich doch vielleicht irren. Er grüßte mich und entfernte sich sehr enttäuscht.

Mein Wirt freute sich, dieses Gespräch mit angehört zu haben, und sagte mir: »Da Sie die Absicht haben, einige Zeit hier am Orte zu verweilen, so tun Sie gut, wenn Sie dem Capitano oder Landvogt einen Besuch machen. Er ist gewissermaßen Gouverneur, und alle Macht liegt in seiner Hand. Er ist ein liebenswürdiger Schweizer Edelmann, und seine Frau ist voller Geist und eine strahlende Schönheit.«

»O, das ist etwas anderes. Verlassen Sie sich darauf, gleich morgen werde ich den Herrn aufsuchen.«

Am nächsten Tage ließ ich mich gegen Mittag beim Landvogt melden; ich wurde sofort vorgelassen und sah vor mir Herrn von R. und seine reizende Gemahlin mit einem hübschen Knaben von fünf oder sechs Jahren.

Man stelle sich unsere gegenseitige Überraschung vor!