Zweiter Teil

Viertes Buch

Überspanntheiten

1. Vater Ferapont

Am frühen Morgen, noch vor dem Hellwerden, wurde Aljoscha geweckt. Der Starez war aufgewacht und fühlte sich sehr schwach, wünschte aber doch das Bett mit dem Lehnstuhl zu vertauschen. Er war bei voller Besinnung. Sein Gesicht zeugte zwar von großer Ermüdung, war aber klar und fast freudig und der Blick, heiter, freundlich und einladend. »Vielleicht werde ich nicht einmal den heutigen Tag überleben«, sagte er zu Aljoscha. Dann äußerte er den Wunsch, unverzüglich zu beichten und das Abendmahl zu nehmen. Sein Beichtvater war stets Vater Paissi. Nach dem Vollzug der beiden Sakramente begann die Letzte Ölung. Die Priestermönche versammelten sich, die Zelle füllte sich allmählich mit Einsiedlern. Inzwischen war der Tag angebrochen. Auch aus dem Kloster kamen Mönche. Als die heilige Handlung zu Ende war, wünschte der Starez von allen Abschied zu nehmen und alle zu küssen. Da die Zelle sehr eng war, gingen die zuerst Gekommenen wieder hinaus, um anderen Platz zu machen. Aljoscha stand neben dem Starez, der wieder im Lehnstuhl saß. Er redete und sprach Belehrungen aus, soviel er vermochte; seine Stimme war schwach, aber noch ziemlich fest. »So viele Jahre habe ich euch mit Belehrungen versehen und dabei so viele Jahre laut gesprochen, daß es mir förmlich zur Gewohnheit geworden ist, zu reden und redend zu belehren. Es würde mir fast schwerer fallen zu schweigen als zu reden, liebe Väter und lieber Brüder, sogar bei meiner jetzigen Schwäche«, scherzte er und blickte gerührt auf die Umstehenden. Aljoscha erinnerte sich später an dieses und jenes, was der Starez damals gesagt hatte. Obgleich er deutlich sprach und mit einigermaßen fester Stimme, war seine Rede doch ziemlich zusammenhanglos. Er sprach über vieles; er schien vor dem Tod gern noch sagen und aussprechen zu wollen, womit er im Leben nicht fertig geworden war, und zwar nicht nur der Belehrung wegen, sondern auch weil es ihn offenbar drängte, seine Freude und sein Entzücken mit allen und jedem zu teilen und nochmals sein ganzes Herz auszuschütten.

»Liebet einander, ihr Väter!« sprach der Starez, jedenfalls soweit sich Aljoscha später dessen entsann. »Liebet das Volk Gottes! Sind wir doch nicht deswegen heiliger als die Weltlichen, weil wir hierherkamen und uns in diesen Wänden einschlossen, im Gegenteil: Jeder, der hierherkommt, hat schon allein dadurch im stille bekannt, daß er schlechter ist als alle Weltlichen, als alle und jeder auf Erden … Und je länger er in seiner Zelle lebt, um so fühlbarer muß er sich dessen bewußt werden. Andernfalls hätte er gar nicht zu kommen brauchen. Erkennt er aber, daß er nicht nur schlechter ist als alle Weltlichen, sondern auch allen Menschen gegenüber an allem und jedem Schuld trägt, an allen menschlichen Sünden, die von der ganzen Welt und von einzelnen begangen werden, dann erst wird der Zweck unserer Vereinigung erreicht. Denn wisset, ihr Lieben, daß jeder einzelne von uns an allem und jedem auf Erden Schuld trägt, nicht nur, weil er an der allgemeinen Schuld der Welt teilhat, sondern ein jeder einzeln für alle und für jeden Menschen auf dieser Erde. Dieses Bewußtsein ist die Krone für den Lebenswandel des Mönchs, ja eines jeden Menschen auf Erden. Denn die Mönche sind nicht andere Menschen, sondern nur solche, wie alle Menschen auf Erden es sein sollten. Erst dann wird unser Herz erfüllt sein von jener gerührten, unendlichen, allumfassenden Liebe, die keine Sättigung kennt. Dann wird jeder von euch imstande sein, die ganze Welt durch Liebe zu gewinnen und die Sünden der Welt mit seinen Tränen abzuwaschen. Ein jeder höre auf die Stimme seines Herzens, ein jeder beichte sich selbst unermüdlich. Fürchtet euch nicht vor eurer Sünde, auch wenn ihr euch ihrer bewußt geworden seid; genug, wenn Reue vorhanden ist, aber laßt euch nicht einfallen, Gott Bedingungen zu stellen. Wiederum sage ich euch, seid nicht stolz! Seid nicht stolz gegenüber den Geringen, nicht stolz gegenüber den Großen! Hasset nicht, die euch nicht anerkennen, die euch schmähen, beschimpfen, verleumden! Hasset nicht die Atheisten, die falschen Lehrer, die Materialisten, selbst nicht die Schlechten unter ihnen, geschweige die Guten, denn auch unter ihnen sind viele Gute, besonders in unserer Zeit. Gedenket ihrer in eurem Gebet: ›Rette, Herr, alle, die niemand haben, der für sie betet. Rette auch diejenigen, die nicht zu dir beten wollen!‹

Und fügt sogleich hinzu: ›Nicht in meinem Stolz bitte ich darum, Herr, denn auch ich selbst bin ein schändlicher Mensch, schlimmer als alle und jeder …‹ Liebet das Volk Gottes, laßt nicht zu, daß Fremdlinge euch die Herde abspenstig machen; denn wenn ihr in Trägheit und geringschätzigem Stolz und vor allem in Eigennutz einschlafet, so werden sie von allen Seiten kommen und euch eure Herde abspenstig machen. Legt dem Volke unermüdlich das Evangelium aus! Wuchert nicht! Liebet nicht Silber und Gold, haltet es nicht in eurem Besitz! Seid gläubig und haltet das Banner fest! Erhebet es hoch!«

Der Starez sprach jedoch weniger zusammenhängend, als hier nach einer späteren Niederschrift Aljoschas wiedergegeben ist. Mitunter hörte er auf zu reden, als müßte er neue Kraft sammeln, und der Atem versagte ihm; aber er befand sich in einer Art von Begeisterung. Man hörte ihm mit Rührung zu, obgleich sich viele über seine Worte wunderten und manches darin dunkel fanden. Später erinnerten sich alle an diese Worte. Als Aljoscha sich zufällig einen Augenblick entfernte, war er überrascht von der allgemeinen Erregung und Erwartung in der Zelle und um sie herum. Die Erwartung trug bei manchen einen fast unruhigen, bei anderen einen feierlichen Charakter. Alle erwarteten, daß sich sofort nach dem Hinscheiden des Starez etwas Großes ereignete. Obwohl diese Erwartung unter gewissen Aspekten beinahe etwas Leichtfertiges hatte, konnten sich ihr selbst die ernstesten und ältesten Mönche nicht entziehen. Am ernstesten war das Gesicht des Priestermönchs Paissi.

Aljoscha hatte sich nur deshalb aus der Zelle entfernt, weil Rakitin ihm einen seltsamen Brief von Frau Chochlakowa aus

der Stadt mitgebracht und ihn durch einen Mönch hatte herausrufen lassen. Diese Dame machte Aljoscha eine interessante Mitteilung, die genau zu der augenblicklichen Lage paßte. Nämlich: Unter den einfachen Frauen, die sich am Vortag vor dem Starez verbeugt und von ihm hatten segnen lassen, sei auch eine namens Prochorowna gewesen, eine Unteroffizierswitwe. Diese habe den Starez gefragt, ob sie für ihren Sohn Wassenka, der dienstlich weit weg nach Sibirien, nach Irkutsk, versetzt worden sei und schon ein Jahr lang nichts von sich habe hören lassen, wie für einen Verstorbenen eine Seelenmesse lesen lassen dürfe. Das habe ihr der Starez als Hexerei streng verboten. Dann aber habe er ihr wegen ihrer Unwissenheit verziehen und – »als ob er im Buch der Zukunft läse«, so wörtlich in dem Brief von Frau Chochlakowa – tröstend hinzugefügt, ihr Sohn Wassja sei zweifellos am Leben und werde entweder selbst bald kommen oder einen Brief schreiben; sie solle nach Hause gehen und darauf warten. »Und soll man es glauben?« fügte Frau Chochlakowa begeistert hinzu. »Diese Prophezeiung ist buchstäblich in Erfüllung gegangen!« Ja mehr als das. Kaum sei die alte Frau zu Hause gewesen, habe man ihr sogleich einen Brief aus Sibirien übergeben. Und damit nicht genug. In diesem unterwegs, in Jekaterinburg, geschriebenen Brief habe Wassja die Mutter benachrichtigt, er sei zusammen mit einem Beamten nach Rußland unterwegs und hoffe in etwa drei Wochen die Mutter umarmen zu können.

Frau Chochlakowa richtete nun an Aljoscha die inständige Bitte, dieses neue »Wunder der Weissagung« unverzüglich dem Abt und der ganzen Brüderschaft mitzuteilen. »Das muß allen, aber auch allen bekannt werden!« rief sie am Schluß des Briefes aus. Der Brief war in Eile geschrieben, jede Zeile verriet die Aufregung der Schreiberin. Doch Aljoscha brauchte der Brüderschaft nichts mehr mitzuteilen, sie wußten es bereits alle. Rakitin hatte nämlich dem Mönch, durch den er Aljoscha herausrufen ließ, außerdem die respektvollste Meldung an Seine Hochehrwürden Vater Paissi aufgetragen, er, Rakitin, habe ihm eine Sache von solcher Wichtigkeit mitzuteilen, daß er sie keinen Augenblick zu verzögern wage, weshalb er für seine Dreistigkeit um Verzeihung bitte. Da der Mönch Rakitins Bitte Vater Paissi eher als Aljoscha ausgerichtet hatte, blieb Aljoscha, als er zurückgekehrt war und den Brief durchgelesen hatte, nichts übrig, als ihn Vater Paissi als Beweisdokument zu übergeben. Und siehe da, selbst dieser finstere, mißtrauische Mann konnte ein gewisses inneres Gefühl nicht verbergen, nachdem er die Nachricht von »dem Wunder« mit zusammengezogenen Augenbrauen gelesen hatte. Seine Augen blitzten, und seine Lippen lächelten in würdevoller Ergriffenheit.

»Werden wir das jemals schauen?« entfuhr es ihm unwillkürlich.

»Werden wir das je schauen, werden wir das je schauen?« wiederholten um ihn herum die Mönche.

Vater Paissi zog erneut die Augenbrauen zusammen und bat alle, wenigstens vorläufig mit niemand darüber zu sprechen, »bis die Sache noch weitere Bestätigung findet. In den weltlichen Dingen steckt viel Leichtfertigkeit, der Fall kann sich auch auf natürliche Weise zugetragen haben«, fügte er vorsichtig, wie zur Erleichterung seines Gewissens, hinzu. Eigentlich glaubte er aber selbst nicht an seinen Vorbehalt, und das merkten auch die Zuhörer sehr wohl. Noch in derselben Stunde wurde »das Wunder« natürlich dem ganzen Kloster und sogar vielen Laien, die zur Liturgie gekommen waren, bekannt.

Den größten Eindruck schien das Wunder auf einen Mönch zu machen, der einen Tag zuvor aus dem Kloster »Zum heiligen Silvester«, einem kleinen Kloster in Obdorsk im hohen Norden, in unser Kloster gekommen war. Er hatte sich am vorigen Tag, neben Frau Chochlakowa stehend, vor dem Starez verbeugt und diesen mit einem Hinweis auf die geheilte Tochter der Dame tief ergriffen gefragt: »Wie machen Sie es nur möglich, solche Taten zu vollbringen?«

Er befand sich ohnehin bereits in einer gewissen ratlosen Verwunderung und wußte nicht recht, was er glauben sollte. Schon am Abend vorher hatte er Vater Ferapont, ebenfalls ein Mönch unseres Klosters, in dessen separater Zelle hinter dem Bienenstand besucht, und diese Begegnung hatte außerordentlich auf ihn gewirkt und ihn zutiefst erschreckt; Vater Ferapont war ein hochbejahrter Mönch, ein großer Faster und Schweiger, ein Gegner des Starez Sossima und des Starzentums überhaupt, das er für eine schädliche und leichtfertige Neuerung hielt. Dieser Gegner war gefährlich, obwohl er fast mit niemand sprach; gefährlich besonders deshalb, weil einige Mitglieder der Brüderschaft derselben Ansicht waren wie er und weil ihn sehr viele Besucher als großen Gerechten und Glaubenseiferer verehrten, wenn sie ihn auch für einen religiösen Irren hielten. Doch gerade dieser religiöse Irrsinn gewann, ihm ihre Sympathie. Zum Starez Sossima ging Vater Ferapont nie. Er wohnte zwar in der Einsiedelei, aber man belästigte ihn nicht sonderlich mit den dort geltenden Geboten, wiederum weil er sich geradezu wie ein religiöser Irrer benahm. Er war mindestens fünfundsiebzig Jahre alt und wohnte hinter den Bienenstöcken der Einsiedelei, in einer alten, halbzerfallenen, hölzernen Zelle in einem Mauerwinkel; sie war bereits im vorigen Jahrhundert für einen anderen großen Faster und Schweiger errichtet worden, für Vater Jona, der es auf hundertundfünf Jahre gebracht hatte und von dessen Taten man sich im Kloster und in der Umgegend noch immer seltsame Geschichten erzählte. Vater Ferapont hatte vor sieben Jahren endlich durchgesetzt, daß auch er in dieser abgelegenen kleinen Zelle, die eigentlich eine einfache Hütte war, wohnen durfte. Die Hütte hatte allerdings Ähnlichkeit mit einer Kapelle, denn sie enthielt viele gestiftete Heiligenbilder, und vor diesen brannten gestiftete Ewige Lämpchen, die zu beaufsichtigen gewissermaßen Vater Feraponts Amt war. Er aß, wie man sagte, und das war, die Wahrheit, in drei Tagen nicht mehr als zwei Pfund Brot, das ihm alle drei Tage der ebenfalls in der Nähe der Bienenstöcke wohnende Imker brachte; auch zu ihm sprach Vater Ferapont selten ein Wort. Diese vier Pfund Brot bildeten zusammen mit dem sonntäglichen Weihbrot, das der Abt dem »Gerechten« regelmäßig nach der Spätmesse sandte, seine ganze Wochennahrung. Das Wasser in seinem Krug aber wurde täglich erneuert. Zum Gottesdienst erschien er nur selten. Verehrer, die ihn besuchten, sahen ihn manchmal den ganzen Tag im Gebet verharren, ohne daß er sich von den Knien erhob oder um sich blickte. Wenn er sich wirklich einmal in ein Gespräch einließ, so sprach er kurz, abgehackt, seltsam und beinahe grob. Es kam jedoch, wenn auch sehr selten, vor, daß er sich vor den Besuchern gesprächig zeigte; meist aber sprach er nur ein seltsames Wort, das dem Besucher ein Rätsel aufgab und das er, allen Bitten zum Trotz, nicht erklärte. Einen geistlichen Rang hatte er nicht, er war nur ein einfacher Mönch. Es ging das sonderbare Gerücht, allerdings nur unter ungebildeten Leuten, Vater Ferapont verkehre mit himmlischen Geistern und spreche nur mit ihnen, deshalb sei er Menschen gegenüber so schweigsam.

Nachdem sich der Mönch aus Obdorsk zu den Bienenstöcken hingefunden hatte, begab er sich nach den Hinweisen des Imkers, auch eines schweigsamen, finsteren Mönchs, in jenen Winkel, wo Vater Feraponts Zelle stand. »Vielleicht wird er mit dir, einem Fremden, reden. Es kann aber auch sein, daß du kein Wort zu hören bekommst«, sagte ihm der Imker im voraus. Der Mönch näherte sich der Zelle, wie er später selbst erzählte, mit großer Furcht. Es war ziemlich spät. Vater Ferapont saß vor der Tür der Zelle auf einem niedrigen Bänkchen. Über ihm rauschte eine mächtige Ulme. Die Abendkühle war bereits fühlbar. Der Mönch aus Obdorsk fiel vor dem »Gerechten« nieder, verbeugte sich bis zur Erde und bat um seinen Segen.

»Willst du, daß ich ebenfalls vor dir niederfalle, Mönch?« sagte Vater Ferapont. »Steh auf!«

Der Mönch erhob sich.

»Segne mich und sei gesegnet! Setze dich neben mich! Woher kommst du?«

Am meisten überraschte den Mönch, daß Vater Ferapont trotz seines zweifellos strengen Fastens und hohen Alters noch recht rüstig schien. Er war groß, hielt sich ungebeugt und hatte ein zwar mageres, aber doch frisches, gesundes Gesicht. Unzweifelhaft besaß er noch erstaunliche körperliche Kraft. Er war von athletischer Konstitution; trotz seines Alters war sein dichtes, früher schwarzes Kopf- und Barthaar noch nicht einmal vollständig ergraut. Seine Augen waren grau, groß und leuchtend, dabei auffallend weit geöffnet. Er trug einen langen rötlichen Bauernrock aus grobem »Sträflingstuch«, wie man früher sagte, und als Gurt einen dicken Strick. Hals und Brust waren nackt. Unter dem Rock hing ein dickes Leinwandhemd hervor, das seit Monaten nicht gewechselt und daher fast schwarz war. Angeblich trug er unter dem Rock dreißig Pfund schwere Büßerketten. Die nackten Füße steckten in alten Stiefeln, die beinahe auseinanderfielen.

»Aus einem kleinen Kloster in Obdorsk, ›Zum Heiligen Silvester‹«, antwortete der fremde Mönch demütig, während er den Einsiedler mit seinen flinken, neugierigen, etwas ängstlichen Äuglein betrachtete.

»Ich habe bei deinem Silvester gewohnt. Ist er gesund?«

Der Mönch stutzte.

»Unvernünftige Menschen seid ihr! Wie haltet ihr die Fasten ein?«

»Unsere Speisenordnung, entsprechend der alten Einsiedlerregel, ist folgende. In den Großen Fasten gibt es montags, mittwochs und freitags weder Mittag- noch Abendessen. Dienstags und donnerstags bekommt die Brüderschaft Weißbrot, Honigtrunk, Brombeeren oder Salzkohl und Haferbrei. Sonnabends Weißkohlsuppe, Nudeln aus Erbsenmehl, Grütze mit Hanfsaft, alles mit Öl. Sonntags gibt es zur Kohlsuppe trockenen Fisch und Grütze. In der Karwoche vom Montag bis Sonnabendabend, sechs Tage lang, Brot und Wasser, nur ungekochte Pflanzenkost, und auch das nur enthaltsam; wenn möglich, sollte man überhaupt nicht alle Tage Nahrung zu sich nehmen. Am Karfreitag wird nichts gegessen, ebenso am folgenden Sonnabend bis zur dritten Stunde, dann genießen wir etwas Brot mit Wasser und trinken eine Tasse Wein. Am Gründonnerstag essen wir Eingemachtes ohne Öl und trinken dazu bisweilen ein wenig Wein; denn laut Konzil zu Laodicea über den Gründonnerstag ziemt es sich nicht, in den Großen Fasten am Donnerstag der letzten Woche Dispens zu erteilen und so die ganze Fastenzeit zu entehren. So wird es bei uns gehalten. Aber was ist das im Vergleich mit Ihnen, großer Vater«, fügte der Mönch, schon etwas dreister geworden, hinzu. »Denn Sie leben das ganze Jahr, sogar am heiligen Osterfest, von Brot und Wasser, und die Brotmenge, die wir in zwei Tagen verzehren, reicht Ihnen für die ganze Woche. Wahrhaft bewundernswert, diese Enthaltsamkeit.«

»Und die Pfifferlinge?« fragte plötzlich Vater Ferapont.

»Welche Pfifferlinge?« fragte der Mönch erstaunt zurück.

»Ich werde von ihrem Brot abgehen, ich brauche überhaupt kein Brot. Ich werde einfach in den Wald gehen und von Pfifferlingen und Beeren leben. Aber die hier gehen nicht ab von ihrem Brot, sie sind dem Teufel verfallen. Heutzutage sagen die Ungläubigen, so zu fasten habe keinen Sinn. Hochmütig und heidnisch ist dieses Urteil!«

»Ach ja, das ist wahr«, sagte der Mönch seufzend.

»Hast du die Teufel bei ihnen gesehen?« fragte Vater Ferapont.

»Bei wem meinen Sie?« erkundigte sich schüchtern der Mönch.

»Ich war im vorigen Jahr am Pfingstsonntag beim Abt und bin seitdem nicht wieder da gewesen. Dem einen saß ein Teufel an der Brust und versteckte sich unter der Kutte, daß nur die Hörner herausguckten; bei einem zweiten sah einer zur Tasche heraus, seine Augen gingen schnell hin und her, weil er mich fürchtete; bei einem dritten saß einer im Bauch, in dem unsauberen Wanst, bei einem vierten gar hatte sich ein Teufel am Hals festgeklammert, er trug den Teufel und sah ihn nicht.«

»Und Sie … Sie haben die Teufel gesehen?« fragte der Mönch.

»Ich sage dir ja, daß ich sie gesehen habe, ganz genau habe ich sie gesehen. Als ich vom Abt weggehen wollte, sah ich, wie sich einer hinter der Tür versteckte, ein kräftiger, anderthalb Eilen großer, mit einem dicken und langen schwarzbraunen Schwanz, und mit dem Ende dieses Schwanzes war er in die Spalte der Tür geraten. Ich aber, nicht dumm, schlug plötzlich die Tür zu und klemmte seinen Schwanz ein. Hei, wie er winselte, wie er sich wand! Ich machte dreimal das Zeichen des Kreuzes über ihn, und er verreckte wie eine zerdrückte Spinne. Jetzt ist er jedenfalls da in der Ecke verwest und stinkt, aber die sehen nichts und riechen nichts. Seit einem Jahr gehe ich nicht mehr hin. Nur dir, einem Fremden, erzähle ich es.«

»Furchtbar sind Ihre Worte! Aber wie steht es, großer gerechter Vater«, fragte der Mönch, immer mutiger werdend, »mit

dem ruhmvollen Gerücht über Sie, das sogar in ferne Gegenden gedrungen ist. Sie ständen mit dem Heiligen Geiste in

ständiger Verbindung?«

»Er kommt manchmal herabgeflogen.«

»Wie denn? In welcher Gestalt?«

»Als Vogel.«

»Der Heilige Geist in Gestalt einer Taube?«

»Mal der Heilige Geist, mal der Heiliggeist. Der Heiliggeist ist etwas anderes, der kommt auch in anderer Vogelgestalt, manchmal als Schwalbe, manchmal als Stieglitz und manchmal als Meise.«

»Wie unterscheiden Sie ihn denn von einer Meise?«

»Er spricht.«

»Wie denn, in welcher Sprache?«

»In menschlicher.«

»Was sagt er denn zu Ihnen?«

»Gerade heute verkündete er mir, ein Dummkopf würde mich besuchen und alberne Fragen stellen. Sehr viel, Mönch, verlangst du zu wissen.«

»Furchtbar sind Ihre Worte, gerechtester, heiligster Vater!« sagte der Mönch, den Kopf hin und her wiegend. In seinen ängstlichen kleinen Augen war auch etwas Mißtrauen zu bemerken.

»Siehst du diesen Baum?« fragte Vater Ferapont nach einer Weile.

»Ja, ich sehe ihn, gerechtester Vater.«

»Du meinst, er ist eine Ulme? Nach meiner Meinung ist er etwas anderes.«

»Was denn?« fragte der Mönch, nachdem er eine Weile vergeblich auf eine Erläuterung gewartet hatte.

»Manchmal des Nachts … Siehst du diese beiden Äste? Des Nachts streckt dort Christus verlangend seine Arme nach mir aus, ich sehe es deutlich und zittere. Furchtbar, oh, furchtbar!«

»Was ist daran so furchtbar, wenn es Christus ist?«

»Er wird mich fassen und hinauftragen.«

»Lebendig?«

»Im Geist und in der Kraft des Elias, hast du davon noch nichts gehört? Er wird mich umarmen und davontragen …«

Nach diesem Gespräch war der Mönch aus Obdorsk zutiefst verwundert, doch stand er innerlich eher auf seiten des Vaters Ferapont als auf seiten des Vaters Sossima, als er in die Zelle zurückkehrte, die man ihm bei einem der Brüder zugewiesen hatte. Er war vor allem für das Fasten, und deshalb war es für ihn nicht erstaunlich, wenn ein großer Faster wie Vater Ferapont »Wunderbares erschaute«. Seine Worte schienen zwar etwas unverständlich, aber Gott mußte ja wissen, was für ein Sinn darin verborgen lag; bei den um Christi willen Törichten kamen noch ganz andere Worte und Taten vor. An den eingeklemmten Teufelsschwanz wollte er nicht nur im übertragenen, sondern im buchstäblichen Sinne von Herzen gern und bereitwillig glauben. Außerdem hatte er schon früher ein starkes Vorurteil gegen das Starzentum gehabt, das er bis dahin nur vom Hörensagen kannte und auf das Urteil anderer hin für eine schädliche Neuerung hielt. Während seines eintägigen Aufenthaltes im Kloster hatte er auch bereits das heimliche Murren einiger leichtsinniger Brüder bemerkt, die mit dem Starzentum unzufrieden waren. Zudem war er von Natur sehr beweglich und hatte für alles mögliche Interesse. Die große Nachricht von dem neuen »Wunder« des Starez Sossima versetzte ihn deshalb

außerordentlich in Erstaunen. Aljoscha erinnerte sich später, unter den Mönchen, die sich um die Zelle des Starez drängten und zu ihm wollten, war häufig die eifrige, auf alles horchende und nach allem fragende Gestalt des Gastes aus Obdorsk aufgetaucht. Doch hatte er ihn damals wenig beachtet, weil ihn ganz andere Dinge beschäftigten.

Der Starez Sossima, der sich wegen starker Müdigkeit wieder ins Bett gelegt hatte, erinnerte sich auf einmal Aljoschas und wollte ihn sprechen, obwohl ihm schon die Augen zufielen. Als Aljoscha zu ihm kam, traf er beim Starez nur Vater Paissi, den Priestermönch Vater Jossif und den Novizen Porfiri. Der Starez schlug die Augen auf, blickte Aljoscha lange an und fragte plötzlich: »Erwarten dich die Deinigen, lieber Sohn?«

Aljoscha stammelte etwas.

»Bedürfen sie deiner nicht? Hast du gestern jemand versprochen, heute zu ihm zu kommen?«

»Ja, ich habe es versprochen … dem Vater … den Brüdern … und anderen.«

»Siehst du, so geh unter allen Umständen zu ihnen! Sei nicht traurig! Wisse, daß ich nicht sterben werde, bevor ich nicht in deiner Gegenwart mein letztes Wort gesagt habe, und zwar zu dir, dir will ich es als Vermächtnis hinterlassen. Dir, lieber Sohn, weil du mich liebst. Jetzt aber geh zu denen, die dich erwarten!«

Aljoscha gehorchte, ohne zu zögern, allerdings schweren Herzens. Doch das Versprechen des Starez, er werde sein letztes Wort vernehmen, gleichsam als Vermächtnis, tröstete und beglückte ihn. Er wollte sich beeilen und so schnell wie möglich alles in der Stadt erledigen, um bald zurückkehren zu können. Als er mit Vater Paissi die Zelle des Starez verließ, gab dieser ihm noch ein Geleitwort mit auf den Weg, das einen unerwartet starken Eindruck auf ihn machte.

»Sei immer dessen eingedenk, Jüngling«, begann Vater Paissi ohne jede Einleitung, »daß die weltliche Wissenschaft eine große Macht geworden ist und namentlich im letzten Jahrhundert alles kritisiert hat, was uns in den heiligen Büchern Himmlisches vermacht worden ist. Die unbarmherzige Analyse der Gelehrten hat von allem, was früher heilig war, nichts übriggelassen. Sie untersuchten aber nur immer die einzelnen Teile und niemals das Ganze; man muß sogar die Blindheit bewundern, mit der sie dabei verfahren sind. Das Ganze jedoch steht vor ihren eigenen Augen unerschüttert da wie vorher, und die Pforten der Hölle können es nicht überwältigen. Hat es denn nicht neunzehn Jahrhunderte lang gelebt, lebt es nicht auch jetzt noch in den Bewegungen der einzelnen Seelen und denen der Volksmassen? Sogar in den Bewegungen der Seelen jener Atheisten, die alles zerstört haben, lebt es wie vorher, unerschütterlich! Denn auch diejenigen, die sich vom Christentum lossagten und sich dagegen empören, zeigen ihrem eigentlichen Wesen nach denselben Christustypus und blieben dieselben; denn bis jetzt war weder ihre Weisheit noch die Wärme ihres Herzens imstande, für den Menschen und seine Würde ein anderes, höheres Vorbild zu schaffen, als Christus uns vor alters gewiesen hat. Die Produkte aller ihrer Versuche waren nur Mißgeburten. Sei dessen besonders eingedenk, Jüngling! Denn dein hinscheidender Starez hat dich dazu bestimmt, in die Welt hinauszugehen. Vielleicht wirst du, wenn du dieses großen Tages gedenkst, auch meine Worte nicht vergessen, die ich dir von ganzem Herzen mit auf den Weg gebe;

denn du bist noch jung, und die Anfechtungen in der Welt sind schwer – deine Kräfte allein können ihnen nicht widerstehen. Und jetzt geh, du Ärmster!«

Mit diesen Worten segnete ihn Vater Paissi. Als Aljoscha das Kloster verließ und alle diese unerwarteten Worte überdachte, wurde ihm plötzlich klar, daß er in diesem strengen, ihm gegenüber bisher so finsteren Mönch unverhofft einen neuen Freund und liebenden neuen Führer gefunden hatte – beinahe wie vom Starez Sossima auf dem Totenbett vermacht. Vielleicht haben sie das untereinander abgemacht, überlegte Aljoscha. Vater Paissis soeben gehörte unerwartete Belehrung zeugte von dessen gütigem Herzen. Er beeilte sich, den jugendlichen Geist so schnell wie möglich für den Kampf mit den Versuchungen zu wappnen und die ihm anvertraute jugendliche Seele mit der denkbar festesten Rüstung auszustatten.

2. Beim Vater

Zuallererst ging Aljoscha zum Vater. Als er sich dem Haus näherte, fiel ihm ein, daß der Vater ihn am Tag vorher dringend gebeten hatte, so hereinzukommen, daß sein Bruder Iwan es nicht merkte. ›Warum?‹ fragte sich Aljoscha jetzt. ›Wenn der Vater mir etwas allein sagen will, warum soll ich denn heimlich hereinkommen? Wahrscheinlich wollte er gestern etwas anderes sagen und traf in der Aufregung nicht den richtigen Ausdruck?‹ Dennoch war er sehr froh, als Marfa Ignatjewna, die ihm öffnete – Grigori war krank und lag im Seitengebäude im Bett –, ihm mitteilte, Iwan Fjodorowitsch sei vor zwei Stunden ausgegangen.

»Und der Vater?«

»Der ist aufgestanden und trinkt Kaffee«, antwortete Marfa Ignatjewna ein wenig trocken.

Aljoscha trat ein. Der Alte saß am Tisch, in Pantoffeln und einem alten Paletot, und sah ohne besondere Aufmerksamkeit, mehr zur Unterhaltung, Rechnungen durch. Er war allein im Hause; Smerdjakow war ausgegangen, um zum Mittagessen einzukaufen. Seine Gedanken waren nicht bei den Rechnungen. Obgleich er zeitig aufgestanden war und ein forsches Wesen herauskehrte, sah er müde und schwach aus. Die Stirn, auf der über Nacht gewaltige blutrote Beulen entstanden waren, hatte er mit einem roten Tuch umwickelt. Auch auf der stark angeschwollenen Nase hatten sich einige, wenn auch unbedeutende, blutunterlaufene Stellen gebildet, die dem ganzen Gesicht einen besonders bösen, gereizten Ausdruck verliehen. Der Alte wußte das und sah den eintretenden Aljoscha unfreundlich an.

»Der Kaffee ist kalt«, rief er. »Ich biete ihn dir gar nicht an. Ich selbst, mein Lieber werde heute nur eine kärgliche Fischsuppe essen, wie in der Fastenzeit, und kann niemand einladen. Warum bist du gekommen?«

»Um mich nach Ihrem Befinden zu erkundigen«, antwortete Aljoscha.

»Aha. Außerdem habe ich dir gestern selbst befohlen, herzukommen. Das alles ist dummes Zeug. Du hast dich umsonst herbemüht. Ich wußte übrigens, daß du gleich angewetzt kommen würdest …« Er sagte das in sehr feindseliger Stimmung.

Inzwischen war er aufgestanden und betrachtete sorgenvoll seine Nase im Spiegel, vielleicht zum vierzigstenmal seit dem Morgen. Dann mühte er sich, das rote Tuch ordentlicher um die Stirn zu legen.

»Ein rotes macht sich besser, ein weißes erinnert zu sehr an Krankenhaus«, bemerkte er ärgerlich. »Na«, und wie steht es bei dir? Was macht dein Starez?«

»Es geht ihm sehr schlecht, er wird vielleicht heute sterben«, antwortete Aljoscha. Der Vater hörte jedoch gar nicht zu und hatte seine Frage gleich wieder vergessen.

»Iwan ist weggegangen«, sagte er plötzlich. »Er macht seinem Bruder Mitja aus Leibeskräften die Braut abspenstig … Darum hält er sich hier auch auf«, fügte er boshaft hinzu und starrte Aljoscha mit schiefem Mund an.

»Hat er Ihnen das selbst, gesagt?« fragte Aljoscha.

»Ja, schon längst. Was glaubst du wohl? Schon vor etwa drei Wochen. Er wird doch nicht auch gekommen sein, mir den Hals abzuschneiden? Zu irgendeinem Zweck muß er doch gekommen sein?«

»Was reden Sie da? Wie können Sie nur so etwas sagen!« rief Aljoscha bestürzt.

»Um Geld bittet er mich nicht, das ist richtig, er würde auch keine Kopeke von mir bekommen. Ich beabsichtige, möglichst lange zu leben, mein liebster Alexej Fjodorowitsch, und deshalb brauche ich jede Kopeke. Je länger ich lebe, um so nötiger brauche ich sie«, fuhr er fort, im Zimmer auf und ab gehend, die Hände in den Taschen seines weiten, fettfleckigen, gelben Sommerpaletots. »Jetzt bin ich einstweilen noch ein Mann, erst fünfundfünfzig, aber ich will noch zwanzig Jahre lang meinen Platz als Mann ausfüllen. Wenn ich alt und garstig bin, kommen die Weiber nicht mehr gutwillig, dann brauche ich Geld. Darum spare ich jetzt immer mehr zusammen, immer mehr, und zwar für mich, mein lieber Sohn Alexej Fjodorowitsch, das könnte ihr euch merken! Ich will in meiner Liederlichkeit bis zu meinem Ende weiterleben, das merkt euch. Die Liederlichkeit ist der schönste Genuß, alle Leute schimpfen auf sie, dabei leben sie doch alle liederlich, nur tun sie es heimlich – ich tue es öffentlich. Meine Offenherzigkeit ist auch der Grund, weshalb die anderen über mich herfallen. In dein Paradies, Alexej Fjodorowitsch, will ich gar nicht hinein, für einen ordentlichen Menschen schickt es sich gar nicht, ins Paradies einzugehen, selbst wenn es eins gibt. Nach meiner Ansicht werde ich, sobald ich mal eingeschlafen bin, nicht wieder aufwachen, und nichts wird mehr sein! Erinnert euch meiner, wenn ihr wollt – wollt ihr nicht, so hol euch der Teufel! Das ist meine Philosophie. Gestern hat Iwan hier schöne Reden gehalten, obwohl wir alle betrunken waren. Iwan ist ein Prahlhans, er ist nicht sehr gelehrt und besonders gebildet auch nicht. Er schweigt und lächelt über einen, das ist seine ganze Kunst.«

Aljoscha hörte schweigend zu.

»Warum spricht er nicht mit mir? Und wenn er spricht, so schauspielert er. Er ist ein Schuft, dein Iwan! Gruschenka aber werde ich heiraten, sobald ich nur will. Denn wenn man Geld hat, braucht man nur zu wollen, Alexej Fjodorowitsch! Mit Geld läßt sich alles einrichten. Eben das fürchtet Iwan, deshalb paßt er auf mich auf. Damit ich sie nicht heirate! Deshalb drängt er auch Mitka, Gruschenka zu heiraten. Auf diese Weise will er mich von ihr fernhalten – als ob ich ihm Geld vererbe, wenn ich sie nicht heirate! Andererseits will er sich, wenn Mitka Gruschenka heiratet, dessen reiche Braut nehmen, das ist seine Spekulation! Er ist ein Schuft, dein Iwan!«

»Wie gereizt Sie sind! Das rührt von gestern her. Sie sollten sich hinlegen«, sagte Aljoscha.

»Siehst du, wenn du das sagst«, bemerkte der Alte, als käme ihm dieser Gedanke zum erstenmal, »wenn du das sagst, bin ich dir nicht böse. Auf Iwan wäre ich böse, würde er dasselbe sagen. Nur wenn ich mit dir zusammen war, hatte ich manchmal Augenblicke, in denen ich gut war, sonst bin ich ein ganz schlechter Kerl.«

»Sie sind nicht schlecht, nur Ihre Seele ist entstellt«, sagte Aljoscha lächelnd.

»Hör mal, ich wollte diesen rohen Menschen, den Mitka, heute schon einsperren lassen, und ich weiß auch jetzt noch nicht, wie ich mich entscheide. Zwar ist es heutzutage üblich, den Respekt vor Vater und Mutter für einen überholten Standpunkt zuhalten, doch nach dem Gesetz ist es auch jetzt, glaube ich, noch nicht erlaubt, bejahrte Väter in ihrem eigenen Haus an den Haaren zu ziehen, auf den Boden zu werfen, ihnen mit dem Stiefelabsatz in die Visage zu treten und sich zu rühmen, man werde wiederkommen und sie ganz totschlagen, und das alles vor Zeugen! Ich könnte ihn, wenn ich wollte, sofort einsperren lassen und ihn gehörig in Verlegenheit bringen!«

»Sie wollen ihn also nicht verklagen?«

»Iwan hat mir abgeraten. Ich würde mich ja nicht um Iwans Rat kümmern, aber ich habe da meine eigenen Gedanken.« Zu Aljoscha hinübergebeugt, fuhr er fast flüsternd fort: »Wenn ich ihn einsperren lasse, den Schuft, erfährt sie es und läuft gleich zu ihm. Wenn sie aber heute hört, daß er mich schwachen alten Mann halbtot geschlagen hat, wird sie sich vielleicht von ihm abwenden und mich besuchen … Siehst du, so ist nun mal ihr Charakter, sie handelt oft nur den Leuten zum Trotz. Ich kenne sie durch und durch! Na, wie ist es, trinkst du nicht einen Kognak? Nimm doch ein bißchen kalten Kaffee, ich gieße dir ein viertel Gläschen Kognak dazu, das bessert den Geschmack, mein Lieber.«

»Nein, danke, nicht nötig. Aber dieses Brötchen werde ich mitnehmen, wenn Sie erlauben«, sagte Aljoscha, nahm ein Dreikopekenbrötchen und steckte es in seine Kuttentasche. »Kognak sollten auch Sie nicht trinken«, sagte er behutsam und schaute dem Alten ins Gesicht.

»Da hast du recht, er reizt nur, anstatt zu beruhigen. Na, nur ein einziges Gläschen … Ich will mir aus dem Schränkchen gleich mal …«

Er schloß das »Schränkchen« auf, goß sich ein »GIäschen« ein, trank es aus, schloß das Schränkchen wieder zu und steckte den Schlüssel in die Tasche.

»Und damit basta, von einem Gläschen krepiere ich nicht.«

»Sie sind ja jetzt auch ruhiger geworden«, sagte Aljoscha lächelnd.

»Hm! Dich liebe ich auch ohne Kognak, doch den Schuften gegenüber bin ich auch ein Schuft. Iwan fährt nicht nach Tschermaschnja. Warum? Er will spionieren, ob ich Gruschenka viel gebe, wenn sie zu mir kommt. Alle sind sie Schufte! Und Iwan erkenne ich überhaupt nicht an, ich kenne ihn gar nicht. Wo hat er nur sein Wesen her? Das ist gar nicht unsere Denkungsart. Und dem soll ich etwas hinterlassen? Ich werde überhaupt kein Testament hinterlassen, das könnt ihr euch merken. Und Mitka werde ich zerdrücken wie eine Schabe. Ich zerquetsche die schwarzen Schaben nachts immer mit dem Pantoffel, das knackt nur so, wenn man drauftritt. So wird auch dein Mitka einmal knacken. Ich sage dein Mitka, weil du ihn so liebst. Siehst du, du liebst ihn, aber ich fürchte mich deswegen nicht. Nur wenn Iwan ihn lieben würde – dann hätte ich Angst um mich. Aber Iwan liebt niemanden, er ist von anderer Art als wir. Menschen wie Iwan, mein Lieber, sind anders als wir, sind Staub, der sich erhebt. Wenn aber der Wind bläst, verweht der Staub … Gestern, als ich dir sagte, du möchtest mich heute besuchen, hatte ich einen dummen Gedanken. Ich wollte durch dich etwas über Mitka erfahren. Nämlich: wenn ich ihm jetzt tausend oder, sagen wir, zweitausend Rubel auszahle, ob er dann wohl, ein Bettler und Lump, wie er ist, bereit wäre, sich von hier wegzuscheren, auf fünf Jahre oder besser auf fünfunddreißig, aber ohne Gruschenka, jetzt und für immer?«

»Ich werde ihn fragen …«, murmelte Aljoscha. »Wenn es dreitausend wären, würde er vielleicht …«

»Unsinn! Jetzt brauchst du ihn überhaupt nicht mehr zu fragen, es ist nicht mehr nötig! Ich habe es mir anders überlegt. Mein gestriger Einfall war eine Dummheit. Nichts werde ich geben, gar nichts, ich brauche mein Geld allein!« sagte der Alte und machte eine energische Handbewegung. »Auch ohne das werde ich ihn wie eine Schabe zerquetschen. Sag ihm nichts, sonst macht er sich noch vergebliche Hoffnungen. Und auch du hast jetzt nichts mehr bei mir zu suchen. Mach, daß du wegkommst! Seine Braut Katerina Iwanowna, die er die ganze Zeit ängstlich vor mit verborgen hat, wird die ihn heiraten? Du bist ja wohl gestern bei ihr gewesen?«

»Sie will um keinen Preis von ihm lassen.«

»Na ja, diese Sorte von zartfühlenden Frauen liebt ja gerade solche Männer, die Wüstlinge und Schufte sind. Dumm sind sie, diese blassen Fräulein, das sage ich dir! Na, wenn ich seine Jugend hätte und mein Gesicht von damals – ich sah mit achtundzwanzig besser aus als er jetzt –, würde ich ebensolche Eroberungen machen wie er. Er ist eine Kanaille! Aber Gruschenka bekommt er doch nicht, die soll er nicht haben! Zu Dreck werde ich ihn machen!«

Bei den letzten Worten war er wieder in Wut geraten.

»Mach, daß du wegkommst! Du hast hier nichts mehr zu schaffen«, sagte er barsch.

Aljoscha trat zu ihm, um sich zu verabschieden, und küßte ihn auf die Schulter.

»Warum das?« fragte der Alte erstaunt. »Wir werden uns ja noch wiedersehen. Oder meinst du, wir werden uns nicht mehr wiedersehen?«

»Durchaus nicht. Ich habe es ohne besondere Absicht getan.«

»Na, ich habe auch nur so gefragt …«, sagte der Alte und sah ihn an. »Hör mal«, rief er ihm nach, »komm bald mal wieder! Zur Fischsuppe. Ich werde Fischsuppe kochen lassen, eine besondere, nicht so wie heute, komm bestimmt! Komm gleich morgen, hörst du, komm morgen!«

Kaum war Aljoscha aus der Tür, ging der Alte wieder zum »Schränkchen« und goß sich noch ein »Gläschen« hinter die Binde.

»Mehr trinke ich jetzt nicht!« murmelte er, räusperte sich, schloß das Schränkchen wieder zu und steckte den Schlüssel in die Tasche. Dann ging er in sein Schlafzimmer und sank kraftlos aufs Bett, wo er im nächsten Augenblick einschlief.

3. Er gibt sich mit Schulknaben ab

›Gott sei Dank, daß er mich nicht nach Gruschenka gefragt hat!‹ dachte Aljoscha, als er vom Vater herauskam und die Richtung nach dem Haus von Frau Chochlakowa einschlug. ›Sonst hätte ich ihm am Ende von der gestrigen Begegnung mit Gruschenka erzählen müssen?‹ Aljoscha sagte sich betrübt: ›Gewiß haben die beiden Kämpfer über Nacht neue Kraft gesammelt und ihre Herzen wieder verhärtet. Der Vater ist in gereizter, zorniger Stimmung, er hat sich etwas ausgedacht und bleibt dabei. Und wie steht es mit Dmitri? Der wird sich gleichfalls über Nacht noch mehr verhärtet haben. Sicher ist er auch gereizt und zornig und hat sich auch etwas ausgedacht. Jedenfalls muß ich ihn heute noch aufsuchen! …‹ Aljoscha fand nicht die Möglichkeit, darüber lange nachzugrübeln. Er hatte plötzlich ein Erlebnis, das zwar bedeutungslos schien, ihn aber doch stark erregte. Kaum hatte er nämlich den Marktplatz überquert und war in eine Gasse eingebogen, um zur Michailowskajastraße zu gelangen, einer ParalleIstraße der Bolschajastraße, von ihr nur durch einen Graben getrennt –, unsere ganze Stadt ist von Gräben durchzogen –, da sah er an der keinen Brücke eine Gruppe Schulknaben von höchstens neun bis elf Jahren. Sie waren auf dem Heimweg von der Schule; die einen hatten ihre Ranzen auf dem Rücken, andere trugen Lederbeutel an Riemen über der Schulter, manche waren nur in Jacken, andere hatten kleine Mäntel an, einige auch hohe Stiefel mit Faltschäften, in denen die Jungen von wohlhabenden Eltern besonders gern umherstolzierten. Sie redeten lebhaft über etwas und schienen untereinander zu beraten. Aljoscha konnte an Kindern nie teilnahmslos vorübergehen, auch in Moskau hatte er das nicht gekonnt; und obgleich er etwa dreijährige Kinder am meisten mochte, hatte er auch etwas übrig für Schulknaben von zehn oder elf. Trotz aller Sorgen kam ihm doch auf einmal die Lust an, zu ihnen zu gehen und sich in ein Gespräch einzulassen. Als er näher kam und ihre rotbäckigen erregten Gesichter sah, bemerkte er, daß jeder Junge einen Stein in der Hand hatte, manche auch zwei. An einem Zaun, jenseits des Grabens, etwa dreißig Schritt von der Gruppe entfernt, stand noch ein Junge, auch ein Schüler und auch mit einem Bücherbeutel an der Seite, der Statur nach etwa zehn oder noch jünger, ein blasses, kränkliches Bürschlein mit funkelnden schwarzen Augen. Er beobachtete gespannt die Gruppe der sechs Schüler, offenbar seine Kameraden, die mit ihm zusammen die Schule verlassen hatten und mit denen er augenscheinlich in Feindschaft stand.

Aljoscha trat an sie heran, musterte einen krausköpfigen, blonden, rotbäckigen Jungen in einer schwarzen Jacke und sagte: »Als ich noch so einen Bücherbeutel trug wie ihr, hatten wir ihn auf der linken Seite, um mit der rechten Hand gleich hinfassen zu können. Ihr tragt euren Bücherbeutel rechts, das muß doch unbequem sein?«

Aljoscha hatte ohne alle vorherige schlaue Berechnung geradezu sachlich begonnen; anders darf ein Erwachsener auch nicht beginnen, wenn er das Vertrauen eines Kindes, besonders einer ganzen Gruppe von Kindern erlangen will. Man muß ernst und sachlich beginnen, sich mit ihnen völlig auf gleichen Fuß stellen. Aljoscha hatte das instinktiv begriffen.

»Der ist doch Linkshänder«, antwortete ein anderer Schüler, ein strammer, gesunder elfjähriger Bursche.

Die übrigen fünf Knaben blickten Aljoscha unverwandt an.

»Er schmeißt auch die Steine mit der linken Hand«, bemerkte ein dritter Junge.

In diesem Augenblick kam ein Stein geflogen und streifte den Linkshänder. Er tat aber keinen weiteren Schaden, obwohl er geschickt und kräftig geworfen worden war. Er kam von dem Jungen jenseits des Grabens.

»Schmeiß wieder, gib es ihm ordentlich, Smurow!« schrien alle.

Smurow, der Linkshänder, ließ auch nicht lange auf sich warten und warf einen Stein nach dem Jungen auf der anderen Grabenseite, doch ohne Erfolg: Der Stein fiel auf die Erde. Der Junge warf sofort einen Stein zurück, traf aber diesmal Aljoscha, und zwar ziemlich schmerzhaft an der Schulter. Der Junge auf der anderen Grabenseite hatte die Taschen voll Steine. Das sah man auf dreißig Schritt Entfernung an dem aufgebauschten Mantel.

»Er hat auf Sie gezielt, absichtlich auf Sie! Sie sind doch Karamasow, nicht wahr?« schrien die Knaben lachend. »Nun aber alle auf ihn! Los, Feuer!«

Sechs Steine flogen zugleich, und einer davon traf den Jungen am Kopf. Er fiel hin, aber sprang sofort wieder auf und antwortete mit erbitterten Steinwürfen. Es begann ein ununterbrochenes gegenseitiges Bombardement, wobei sich herausstellte, daß auch viele in der Gruppe Steine in den Taschen hatten.

»Was macht ihr denn! Schämt ihr euch nicht? Sechs gegen einen! Ihr tötet ihn ja!« rief Aljoscha.

Er sprang vor, um mit seinem Körper den Jungen jenseits des Grabens zu decken. Drei oder vier hörten auf zu werfen.

»Er hat selber angefangen!« schrie einer in einem roten Hemd mit erregter Kinderstimme. »Er ist ein Schuft! In der Schule hat er Krassotkin mit einem Messer gestochen, daß es blutete. Krassotkin wollte nur nicht petzen, aber jetzt muß der da seine Prügel beziehen!«

»Wofür? Ihr habt ihn doch sicher auch geärgert?«

»Jetzt hat er Sie wieder mit einem Stein in den Rücken getroffen. Er kennt Sie«, riefen die Kinder. »Er wirft nur nach Ihnen, nicht nach uns. Alle auf ihn! Ziel nicht vorbei, Smurow!«

Von neuem begann das Bombardement, und diesmal bösartiger.

Der Junge jenseits des Grabens wurde von einem Stein an der Brust getroffen, er schrie auf, fing an zu weinen und lief die Michailowskajastraße hinauf.

In der Gruppe erscholl ein Triumphgeschrei: »Ah, er hat Angst, er kneift, der Bastwisch!«

»Sie wissen nicht, was für ein gemeiner Kerl er ist, Karamasow. Ihn totzuschlagen wäre noch zuwenig«, sagte der Bursche in der Jacke wieder mit funkelnden Augen; er schien der älteste zu sein.

»Was ist er denn für einer?« fragte Aljoscha. »Er hat wohl gepetzt, wie?«

Die Knaben wechselten lächelnd Blicke.

»Geben Sie auch die Michailowskajastraße entlang?«,fuhr derselbe Junge fort. »Da werden Sie ihn einholen. Sehen Sie, er ist wieder stehengeblieben, er wartet und dreht sich nach Ihnen um.«

»Er dreht sich nach Ihnen um, er dreht sich nach Ihnen um!« fielen die anderen ein.

»Fragen Sie ihn doch mal, ob er einen zerzausten Bastwisch liebt. Verstehen Sie. Fragen Sie ihn mal.«

Darauf erscholl, allgemeines Gelächter. Aljoscha sah die Burschen an.

»Gehen Sie nicht hin, der wird Ihnen eins auswischen!« warnte ihn Smurow.

»Nach dem Bastwisch werde ich ihn nicht fragen, damit ärgert ihr ihn sicher. Aber ich werde mich bei ihm erkundigen, was ihr gegen ihn habt.«

»Erkundigen Sie sich nur, erkundigen Sie sich nur!« riefen die Jungen lachend.

Aljoscha ging über die kleine Brücke und am Zaun entlang die Anhöhe hinauf, genau auf den Jungen zu.

»Nehmen Sie sich in acht!« riefen ihm die anderen warnend nach. »Er hat keine Angst vor Ihnen, er wird heimtückisch zustechen, wie er es mit Krassotkin gemacht hat. »

Der Junge erwartete ihn, ohne sich von der Stelle zu rühren.

Als Aljoscha ganz nahe war, erblickte er einen Jungen von höchstens neun Jahren, klein und schwächlich, mit einem blassen, mageren, länglichen Gesichtchen und großen, dunklen Augen, die ihn böse ansahen. Bekleidet war er mit einem ziemlich abgetragenen Mantel, aus dem er völlig herausgewachsen war. Aus den Ärmeln ragten die nackten Arme. Auf dem rechten Knie der Hose saß ein großer Flicken, und an der rechten Stiefelspitze, wo die große Zehe sitzt, befand sich ein großes Loch, dessen Rand mit Tinte beschmiert war. Die beiden Taschen seines Mantels waren mit Steinen gefüllt. Aljoscha blieb in zwei Schritt Entfernung vor ihm stehen und sah ihn fragend an. Der Junge, der sogleich an Aljoschas Augen erkannte, daß dieser ihn nicht schlagen wollte, hatte keine Angst und begann von selbst: »Ich bin einer, und die sind sechs. Aber ich werde sie alle allein verprügeln!« sagte er plötzlich mit blitzenden Augen.

»Der eine Stein muß dich sehr schmerzhaft getroffen haben?« bemerkte Aljoscha.

»Aber ich habe Smurow am Kopf getroffen!« rief der Junge.

»Die anderen sagen, du kennst mich und hast aus irgendeinem Grund nach mir geworfen?« fragte Aljoscha.

Der Junge sah ihn finster an.

»Ich kenne dich nicht. Kennst du mich?« fragte Aljoscha weiter.

»Lassen Sie mich in Ruhe!« schrie der Junge gereizt, ohne sich vom Platz zu rühren. Er schien noch etwas zu erwarten, seine Augen funkelten wieder böse.

»Nun gut, ich gehe«, sagte Aljoscha. »Aber ich kenne dich nicht und will dich nicht ärgern. Die anderen haben mir gesagt, womit sie dich aufziehen. Ich will dich aber nicht aufziehen. Lebe wohl!«

»Mönch mit Tafthosen!« schrie der Junge und verfolgte Aljoscha mit demselben herausfordernden Blick. Zugleich stellte er sich in Positur, weil er damit rechnete, daß sich Aljoscha jetzt bestimmt auf ihn stürzen würde.

Doch Aljoscha wandte sich um, sah ihn nur an und ging weiter. Kaum hatte er aber drei Schritte getan, da traf ihn ein Stein schmerzhaft im Rücken; es war der größte, den der Junge in der Tasche gehabt hatte.

»Du wirfst von hinten? Da haben die anderen also recht, wenn sie sagen, daß du einen heimtückisch überfällst?« Mit diesen Worten drehte sich Aljoscha wieder um, doch der wütende Junge warf erneut nach Aljoscha, und zwar zielte er diesmal aufs Gesicht. Aljoscha konnte rechtzeitig parieren, so daß der Stein ihn nur am Ellbogen traf.

»Schämst du dich nicht? Was habe ich dir getan?« rief er.

Schweigend und verbissen erwartete der Junge nichts anderes, als daß sich Aljoscha jetzt auf ihn stürzte. Als dies aber auch jetzt nicht geschah, geriet er wie ein wildes Tier in Raserei. Er stürzte selber auf Aljoscha los, und ehe der sich rühren konnte, hatte der Junge den Kopf gesenkt, mit beiden Händen Aljoschas linke Hand gepackt und ihn schmerzhaft in den Mittelfinger gebissen. Er biß fest zu und ließ etwa zehn Sekunden nicht los. Aljoscha schrie vor Schmerz laut auf und versuchte mit aller Kraft die Hand wegzuziehen. Der Junge gab den Finger endlich frei und sprang zurück. Der Finger war schmerzhaft zerbissen, dicht am Nagel und bis auf den Knochen; er blutete stark. Aljoscha wickelte das Taschentuch fest um die verwundete Hand; womit er fast eine Minute zu tun hatte. Währenddessen stand der Junge da und wartete. Endlich schaute ihn Aljoscha ruhig an.

»So«, sagte er. »Du siehst, wie du mich gebissen hast, nun ist es wohl genug, nicht wahr? Sagst du mir jetzt, was ich dir getan habe?«

Der Bursche sah ihn verwundert an.

»Ich kenne dich zwar gar nicht und sehe dich zum erstenmal«, fuhr Aljoscha immer im gleichen ruhigen Ton fort, »aber ich muß dir doch etwas getan haben. Du würdest mir doch nicht grundlos solchen Schmerz zufügen. Was also habe ich dir getan, und womit habe ich mich gegen dich vergangen? Sag es mir, bitte!«

Statt zu antworten, fing der Junge an zu weinen und lief weg. Aljoscha folgte ihm langsam in die Michailowskajastraße und sah ihm noch lange nach. Der Junge lief weiter, ohne das Tempo zu mäßigen oder sich umzusehen, wahrscheinlich immer noch weinend. Aljoscha nahm sich vor, ihn so bald wie möglich zu besuchen und diesen rätselhaften Vorgang, der ihn sehr beeindruckt hatte, aufzuklären. Jetzt fehlte ihm die Zeit dazu.

4. Bei den Chochlakows

Schnell war er am Haus von Frau Chochlakowa angelangt. Es war ihr Eigentum, aus Stein gebaut, einstöckig und hübsch aussehend, eines der besten Häuser im Städtchen. Obgleich Frau Chochlakowa meist in einem anderen Gouvernement, wo sie ein Gut besaß, oder in ihrem Moskauer Haus lebte, gehörte ihr auch in unserem Städtchen ein Haus, das sie von ihren Vätern und Großvätern ererbt hatte. Das Gut, das sie in unserem Kreis besaß, war das größte von ihren drei Gütern; dennoch war sie bisher selten in unser Gouvernement gekommen.

Sie empfing Aljoscha bereits im Vorzimmer.

»Haben Sie meinen Brief über das neue Wunder erhalten. Haben Sie ihn erhalten?« begann sie hastig und aufgeregt.

»Ja, ich habe ihn erhalten.«

»Und haben Sie ihn allen gezeigt? Er hat der Mutter den Sohn zurückgegeben!«

»Er wird heute sterben«, sagte Aljoscha.

»Ich habe es gehört, ich weiß es. Oh, wie sehr drängt es mich, mit Ihnen zu sprechen! Mit Ihnen oder mit sonst jemand. Über das alles. Nein, mit Ihnen, mit Ihnen! Wie schade, daß es mir nicht möglich ist, ihn zu sehen! Die ganze Stadt ist aufgeregt, alle befinden sich in gespannter Erwartung. Jetzt aber … Wissen Sie, daß Katerina Iwanowna bei uns ist?«

»Ach, das trifft sich gut!« rief Aljoscha. »Da kann ich gleich bei Ihnen mit ihr sprechen. Sie bat mich gestern, heute unter allen Umständen zu ihr zu kommen.«

»Ich weiß alles, ich weiß alles. Ich habe alles, was gestern bei ihr vorgefallen ist, bis in die letzten Einzelheiten gehört. Auch die ganze schreckliche Szene mit dieser … Kreatur. C’est tragique, und ich würde an ihrer Stelle … Ich weiß nicht, was ich an Ihrer Stelle tun würde! Aber auch Ihr Bruder Dmitri Fjodorowitsch, was sagen Sie zu dem? O Gott, Alexej Fjodorowitsch, ich bin ganz durcheinander! Denken Sie nur, drin sitzt jetzt Ihr Bruder, das heißt nicht jener, nicht der schreckliche Mensch von gestern, sondern der andere, Iwan Fjodorowitsch, der sitzt da und redet mit ihr, das Gespräch der beiden hat so etwas Feierliches … Und wenn Sie es mir glauben wollen: Was da jetzt zwischen ihnen vorgeht, ist etwas Schreckliches, das ist, sage ich Ihnen, eine Überspanntheit, ein schreckliches Märchen, das man um keinen Preis für wahr halten möchte! Die beiden richten sich zugrunde, man weiß nicht, warum. Sie wissen selbst, daß sie sich zugrunde richten, und finden ihren Genuß daran. Ich habe auf Sie gewartet! Sehnsüchtig habe ich auf Sie gewartet! Das Wichtigste ist, ich kann das nicht länger ertragen. Ich werde Ihnen gleich alles erzählen, aber erst muß ich Ihnen noch etwas anderes mitteilen, das Allerwichtigste – ach, ich hatte ganz vergessen, daß es das Allerwichtigste ist! Sagen Sie, wovon hat Lise einen Weinkrampf bekommen? Kaum hatte sie erfahren, daß Sie sich dem Hause nähern, als sie einen hysterischen Anfall bekam.«

»Mama, jetzt sind Sie hysterisch, nicht ich«, drang auf einmal Lisas Stimmchen aus dem Nebenzimmer durch den Türspalt. Der Türspalt war schmal, und die Stimme klang, als ob ihr Gewalt angetan würde, als ob jemand furchtbare Lust hätte loszulachen, doch das Lachen nach Kräften unterdrückt. Aljoscha bemerkte den Spalt sofort und vermutete, daß ihn Lisa von ihrem Rollstuhl aus dadurch beobachtete, er konnte es aber nicht genau erkennen.

»Es wäre kein Wunder, Lise, wenn ich infolge deiner launischen Einfälle auch hysterisch würde! Übrigens ist sie sehr krank, Alexej Fjodorowitsch. Sie ist die ganze Nacht sehr krank gewesen, hat gefiebert und gestöhnt! Nur mit Mühe und Not habe ich den Morgen und den Doktor Herzenstube abwarten können. Er sagt, er könne das nicht verstehen, man müsse den weiteren Verlauf abwarten. Dieser Doktor Herzenstube kommt immer und sagt, er könne das nicht verstehen … Sowie Sie sich dem Haus näherten, schrie sie auf, bekam einen Anfall und verlangte hierher, in ihr früheres Zimmer gebracht zu werden …«

»Mama, ich habe überhaupt nicht gewußt, daß er kommt! Ich wollte nicht seinetwegen in dieses Zimmer gefahren werden.«

»Das ist schon wieder eine Unwahrheit, Lise! Julija lief zu dir, um dir zu sagen, daß Alexej Fjodorowitsch kommt. Sie hat auf deinen Befehl Wache gestanden.«

»Mama, liebes Täubchen, das ist furchtbar wenig geistreich von Ihnen! Wenn Sie es aber wiedergutmachen und gleich etwas sehr Verständiges sagen wollen, liebe Mama, so sagen Sie doch dem geehrten Herrn Alexej Fjodorowitsch, er habe schon dadurch einen Mangel an Feingefühl bewiesen, daß er sich nach allem, was gestern geschehen sei, entschlossen habe, heute zu uns zu kommen – wo er hier doch nur ausgelacht wird.«

»Lise, du erlaubst dir zu viel, und ich versichere dir, daß ich zu strengen Maßnahmen greifen werde! Wer lacht denn hier über ihn? Ich freue mich so, daß er gekommen ist! Ich brauche ihn, er ist mir ganz unentbehrlich. Ach, Alexej Fjodorowitsch, ich bin sehr unglücklich!«

»Was betrübt Sie denn so, Mama, mein Täubchen?«

»Ach, deine Launen, Lise, deine Unbeständigkeit, deine Krankheit, diese schreckliche Fiebernacht, dieser schreckliche Doktor Herzenstube, besonders, daß er ewig, ewig und ewig herkommt! Und schließlich alles, alles … Und zuletzt sogar dieses Wunder! Oh, wie mich dieses Wunder ergriffen und erschüttert hat, lieber Alexej Fjodorowitsch! Und dort im Salon jetzt diese Tragödie, die ich nicht ertragen kann, nein, ich kann es nicht, ich sage Ihnen von vornherein, daß ich es nicht kann. Vielleicht ist es übrigens eine Komödie und keine Tragödie? Sagen Sie, wird der Starez Sossima noch bis morgen leben, ja? Wird er so lange leben? O mein Gott! Was geschieht nur mit mir? Ich mache alle Augenblicke die Augen zu und sehe, daß alles Unsinn ist, alles Unsinn.«

»Ich möchte Sie sehr bitten«, unterbrach Aljoscha sie plötzlich, »mir ein reines Läppchen zu geben, damit ich meinen Finger verbinden kann. Ich habe ihn mir verletzt, und er tut mir furchtbar weh.«

Aljoscha wickelte seinen zerbissenen Finger aus dem Tuch, es war ganz voll Blut. Frau Chochlakowa schrie auf und machte die Augen zu.

»O Gott, was für eine Wunde, das ist ja entsetzlich!«

Aber Lisa hatte kaum durch den Spalt Aljoschas Finger gesehen, als sie sogleich die Tür sperrangelweit öffnete.

»Kommen Sie herein, kommen Sie zu mir herein!« rief sie gebieterisch. »Jetzt wollen wir die Dummheiten beiseite lassen! O Gott, warum haben Sie denn so lange dagestanden und geschwiegen? Er hätte verbluten können, Mama! Wo haben Sie das nur her? Wie haben Sie das angestellt? Vor allen Dingen Wasser, Wasser! Sie müssen die Wunde waschen, den Finger einfach in kaltes Wasser stecken, damit der Schmerz aufhört, und ihn immer hineinhalten, immer hineinhalten … Nur schnell, schnell Wasser, Mama! Aber schnell!« rief sie zum Schluß nervös. Sie befand sich in höchster Angst. Aljoschas Wunde hatte ihr einen Schreck eingejagt.

»Soll ich nicht Doktor Herzenstube rufen lassen?« rief Frau Chochlakowa.

»Mama, Sie töten mich! Ihr Herzenstube wird kommen und sagen, er könne das gar nicht verstehen! Wasser, Wasser! Mama, um Gottes willen, gehen Sie selbst und treiben Sie Julija zur Eile an, die gewiß wieder irgendwo hängengeblieben ist und nie schnell kommen kann! Aber schnell, Mama, sonst ist es mein Tod!«

»Aber das ist doch nur eine Bagatelle!« rief Aljoscha, ganz erschrocken über den Schreck der beiden.

Julija kam mit Wasser. Aljoscha steckte den Finger ins Wasser.

»Mama, um Gottes willen, bringen Sie Scharpie! Und dieses scharfe, trübe Wasser für Schnittwunden, wie heißt es doch gleich? Wir haben welches, wir haben welches, wir haben welches … Mama, Sie wissen selbst, wo die Flasche steht, in Ihrer Schlafstube, in dem Schränkchen rechts, da ist eine große Flasche und auch Scharpie …«

»Sofort werde ich alles holen, Lise. Schrei nur nicht so und reg dich nicht auf! Du siehst doch, wie standhaft Alexej Fjodorowitsch sein Unglück erträgt. Wie haben Sie sich nur so furchtbar verwunden können, Alexej Fjodorowitsch?«

Frau Chochlakowa ging eilig hinaus. Darauf hatte Lisa nur gewartet.

»Vor allen Dingen beantworten Sie mir schnell eine Frage«, begann sie hastig. »Wie haben Sie es fertiggebracht, sich so zu verwunden? Doch dann will ich mit Ihnen von etwas ganz anderem reden. Nun?«

Aljoscha fühlte instinktiv, daß Lisa die Zeit bis zur Rückkehr ihrer Mama kostbar war, und erzählte ihr daher rasch, mit vielen Auslassungen und Kürzungen, aber doch genau von seiner seltsamen Begegnung mit den Schulknaben. Als Lisa alles gehört hatte, schlug sie die Hände zusammen.

»Aber wie konnten Sie nur! Wie konnten Sie sich nur, und noch dazu in dieser Kleidung, mit Schulbuben abgeben!« rief sie zornig, als ob sie irgendein Recht über ihn hätte. »Danach muß man ja glauben, daß Sie selbst noch ein Junge sind! Der kleinste Junge, den es überhaupt gibt! Stellen Sie aber unter allen Umständen Nachforschungen nach diesem abscheulichen Jungen an, und berichten Sie mir alles, da steckt irgendein Geheimnis dahinter! Jetzt das andere. Doch vorher eine Frage. Sind Sie, Alexej Fjodorowitsch, trotz Ihrer Schmerzen imstande, über ganz törichte Dinge zu reden? Vernünftig zu reden?«

»Vollkommen. Und ich fühle jetzt auch gar keinen besonderen Schmerz.«

»Das kommt, weil Ihr Finger im Wasser ist. Das Wasser muß gleich gewechselt werden, es wird sofort warm. Julija, hol schleunigst ein Stück Eis aus dem Keller. Und noch einen anderen Napf mit Wasser! So, jetzt ist sie weg, und ich komme zur Sache. Seien Sie so freundlich, lieber Alexej Fjodorowitsch, und geben Sie mir augenblicklich meinen Brief zurück, den ich Ihnen gestern geschickt habe. Augenblicklich, denn Mama kann gleich wiederkommen, und ich will nicht …«

»Ich habe den Brief nicht bei mir.«

»Das ist nicht wahr. Sie haben ihn bei sich. Ich habe übrigens gewußt, daß Sie so antworten würden. Sie haben ihn in der Tasche. Ich habe diesen dummen Scherz die ganze Nacht bereut. Geben Sie mir den Brief sofort zurück! Geben Sie ihn her!«

»Ich habe ihn dort gelassen.«

»Aber Sie müssen mich ja wegen meines Briefes mit diesem dummen Scherz für ein kleines Mädchen halten, für ein ganz kleines Mädchen! Ich bitte Sie für den dummen Scherz um Verzeihung. Den Brief aber bringen Sie mir, bitte, unter allen Umständen zurück, wenn Sie ihn wirklich nicht bei sich haben. Bringen Sie ihn noch heute, unter allen Umständen, unter allen Umständen!«

»Heute ist es ganz unmöglich. Ich gehe ins Kloster und werde zwei, drei, vielleicht auch vier Tage nicht zu Ihnen kommen können, weil der Starez Sossima …«

»Vier Tage, so ein Unsinn! Sagen Sie, haben Sie sehr über mich gelacht?«

»Ich habe nicht ein bißchen gelacht.«

»Warum nicht?«

»Weil ich alles für wahr hielt.«

»Sie beleidigen mich.«

»Durchaus nicht. Als ich den Brief gelesen hatte, sagte ich mir sogleich, daß alles so geschehen wird. Sobald der Starez Sossima gestorben ist, muß ich sofort das Kloster verlassen. Darauf werde ich das Gymnasium absolvieren und das Examen machen. Und wenn der gesetzliche Termin gekommen ist, werden wir heiraten. Ich werde Sie lieben. Obgleich ich noch keine Zeit hatte, darüber nachzudenken, habe ich mir doch gesagt, eine bessere Frau als Sie werde ich nicht finden. Und der Starez hat mir befohlen zu heiraten …«

»Aber ich bin ein Krüppel und werde im Rollstuhl gefahren!« sagte Lisa lachend. Eine dunkle Röte hatte ihre Wangen überzogen.

»Ich werde Sie selbst im Rollstuhl fahren. Doch ich bin überzeugt, daß Sie bis dahin gesund sind.«

»Sie sind wohl nicht bei Verstand«, erwiderte Lisa nervös, »daß Sie diesen Scherz gleich zu einem solchen Unsinn ausspinnen! … Ach, da kommt Mama zurück, vielleicht genau zur rechten Zeit. Mama, wie lange Sie immer wegbleiben! Wie ist das nur möglich? Da bringt Julija auch das Eis!«

»Ach, Lise, schrei nur nicht so, das ist die Hauptsache! Schrei nicht so! Von diesem Schreien wird mir … Was soll ich denn machen, wenn du die Scharpie selbst an einen anderen Platz gelegt hast! Ich habe gesucht und gesucht … Ich vermute, daß du es mit Absicht getan hast.«

»Ich konnte doch gar nicht wissen, daß er mit einem zerbissenen Finger zu uns kommt. Sonst hätte ich es vielleicht wirklich mit Absicht getan. Mama, mein Engel, Sie fangen an, außerordentlich geistreiche Dinge zu reden.«

»Meinetwegen geistreich, aber was für Empfindungen muß Alexej Fjodorowitschs Finger, muß alles andere bei mir wachrufen, Lise! Ach, lieber Alexej Fjodorowitsch, was mich tötet, sind nicht die Einzelheiten, nicht so ein Doktor Herzenstube, sondern alles zusammen, alles als Ganzes! Das ist es, was ich nicht ertragen kann.«

»Nun genug, Mama, genug von Doktor Herzenstube!« sagte Lisa lachend. »Reichen Sie mir schnell die Scharpie, Mama, und das Wasser! Es ist einfaches Bleiwasser, Alexej Fjodorowitsch, jetzt ist mir der Name eingefallen, aber es ist ein vorzügliches Mittel. Mama, denken Sie nur, er hat sich unterwegs auf der Straße mit Schulknaben geprügelt, und ein Junge hat ihn gebissen. Na, ist er da nicht selbst noch ein Junge, der reine Junge? Und kann er unter solchen Umständen etwa heiraten, Mama? Denn können Sie sich das vorstellen, er will heiraten, Mama? Stellen Sie sich ihn als Ehemann vor – na, ist das nicht zum Lachen, ist das nicht schrecklich?«

Lisa brach in ihr nervöses leises Lachen aus und sah Aljoscha dabei schelmisch an.

»Nun, wie er heiratet, Lise, und aus welchem Grund, ist ganz und gar nicht deine Sache … Vielleicht war dieser Bursche tollwütig?«

»Ach, Mama! Gibt es etwa tollwütige Kinder?«

»Warum nicht, Lise? Als ob ich eine Dummheit gesagt hätte! Diesen Burschen hat ein toller Hund gebissen, und da ist er selber toll geworden und beißt den ersten besten, der ihm nahe kommt. Was für einen schönen Verband sie Ihnen gemacht hat Alexej Fjodorowitsch. Ich hätte das nie so gut fertigbekommen Haben Sie jetzt noch Schmerzen?«

»Nur geringfügig.«

»Und sind Sie nicht wasserscheu?« fragte Lisa.

»Nun hör auf, Lise! Was ich von dem tollwütigen Burschen gesagt habe, war vielleicht wirklich übereilt, aber du nutzt das nun gleich aus. Katerina Iwanowna hatte kaum erfahren, daß Sie hier sind, Alexej Fjodorowitsch, als sie auch zu mir kam. Sie möchte Sie dringend sprechen.«

»Ach, Mama! Gehen Sie allein zu ihr. Er kann jetzt nicht gleich kommen, er hat zu große Schmerzen.«

»Ich habe gar keine großen Schmerzen und kann sehr wohl zu ihr gehen …«, sagte Aljoscha.

»Wie? Sie wollen fortgehen? Also so sind Sie? So einer sind Sie?«

»Was ist denn? Sowie ich fertig bin, komme ich zurück, und wir können dann wieder miteinander reden, soviel Ihnen beliebt. Es liegt mir aber sehr daran, recht bald mit Katerina Iwanowna zu sprechen, weil ich heute möglichst bald ins Kloster zurückkehren, möchte.«

»Mama, nehmen Sie ihn und bringen Sie ihn schleunigst weg! Alexej Fjodorowitsch, bemühen Sie sich nicht, nach dem Gespräch mit Katerina Iwanowna noch einmal zu mir zu kommen! Gehen Sie direkt in Ihr Kloster, da ist Ihr Platz! Ich möchte schlafen, ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen.«

»Ach, Lise, das sind alles nur Scherze von dir. Doch wie wäre es, wenn du jetzt wirklich ein bißchen schläfst?« rief Frau Chochlakowa.

»Ich weiß nicht, wodurch ich … Ich werde noch ungefähr drei Minuten bleiben. Wenn Sie wollen, auch fünf«, murmelte Aljoscha.

»Auch fünf! Bringen Sie ihn bloß schnell weg, Mama! Dieses Ungeheuer!«

»Lise, du hast den Verstand verloren! Kommen Sie, Alexej Fjodorowitsch, sie ist heute zu launenhaft! Ich habe Angst, sie zu reizen. Oh, es ist ein Kreuz mit so einem nervösen Mädchen, Alexej Fjodorowitsch! Aber vielleicht ist sie während des Zusammenseins mit Ihnen müde geworden. Wie haben Sie sie nur so schnell müde gemacht? Das ist ja ein wahres Glück!«

»Ach, Mama, wie lieb Sie jetzt reden! Ich will Ihnen einen Kuß dafür geben, Mamachen.«

»Und ich dir auch, Lise. Hören Sie, Alexej Fjodorowitsch«, flüsterte Frau Chochlakowa geheimnisvoll und mit wichtiger Miene, während sie mit Aljoscha wegging. »Ich will Ihnen nichts einflüstern und nicht den Schleier lüften. Gehen Sie hinein und sehen Sie sich selbst alles mit an, was da vorgeht – es ist wahrhaftig zum Erschrecken! Es ist die phantastischste Komödie, die man sich denken kann. Sie liebt Ihren Bruder Iwan Fjodorowitsch und will sich mit Gewalt einreden, daß sie Ihren Bruder Dmitri Fjodorowitsch liebt. Es ist schrecklich. Ich gehe mit Ihnen zusammen hinein und warte das Ende ab, wenn ich nicht hinausgejagt werde…«

5. Überspanntheit im Salon

Aber im Salon war das Gespräch bereits beendet. Katerina Iwanowna war sehr erregt, obgleich sie äußerlich einen entschlossenen Eindruck machte. In dem Augenblick, als Aljoscha und Frau Chochlakowa eintraten, stand Iwan Fjodorowitsch gerade auf, um hinauszugehen. Sein Gesicht war ein wenig blaß, Aljoscha musterte es beunruhigt. Für einen seiner Zweifel, für ein Rätsel, das ihn seit einiger Zeit gequält hatte, fand Aljoscha nämlich jetzt hier eine Lösung. Schon seit einem Monat hatte er mehrere Male und von verschiedenen Seiten zu hören bekommen, sein Bruder Iwan liebe Katerina Iwanowna und beabsichtige, sie seinem Bruder Mitja »abspenstig zu machen«. Bis zuletzt hatte Aljoscha das für eine Ungeheuerlichkeit gehalten, obwohl es ihn wirklich tief beunruhigte. Er liebte seine Brüder beide und fürchtete eine solche Nebenbuhlerschaft zwischen ihnen. Und doch hatte ihm Dmitri Fjodorowitsch auf einmal gestern selbst erklärt, er freue sich sogar über die Nebenbuhlerschaft seines Bruders Iwan; sie werde ihm, Dmitri, bei vielem behilflich sein. Wobei behilflich? Gruschenka zu heiraten? So einen Schritt hielt Aljoscha für ein verzweifeltes Wagnis. Außerdem hatte er, ohne im geringsten zu zweifeln, bis zum gestrigen Abend geglaubt, Katerina Iwanowna selbst liebe seinen Bruder Dmitri leidenschaftlich – aber er hatte es nur bis zum gestrigen Abend geglaubt. Außerdem hatte er sich aus irgendeinem Grund immer vorgestellt, sie könne einen Menschen wie Iwan gar nicht lieben, sie liebe eben seinen Bruder Dmitri, und zwar so, wie er ist, trotz der Ungewöhnlichkeit einer solchen Liebe. Doch gestern, während der Szene mit Gruschenka, war er plötzlich zu einer anderen Auffassung gelangt. Das Wort »Überspanntheit«, das Frau Chochlakowa soeben verwendet hatte, ließ ihn fast zusammenzucken, da er gerade in dieser Nacht, als er im Morgengrauen halbwach dalag, wahrscheinlich nach einem Traum, vor sich hin gesagt hatte: »Überspanntheit! Überspannt!« Geträumt hatte er die ganze Nacht von der gestrigen Szene bei Katerina Iwanowna. Jetzt nun äußerte Frau Chochlakowa plötzlich offen und mit aller Bestimmtheit ihre Überzeugung, Katerina Iwanowna liebe seinen Bruder Iwan und betrüge sich absichtlich, aus Spielerei, aus »Überspanntheit« selbst und quäle sich mit ihrer irrtümlichen, auf einer Art Dankbarkeit beruhenden Liebe zu Dmitri. Das hatte Aljoscha stark beeindruckt. ›Ja‹, sagte er sich, ›vielleicht liegt die volle Wahrheit tatsächlich in diesem Wort!‹ Doch wie war in diesem Fall die Lage seines Bruders Iwan? Aljoscha fühlte instinktiv, daß ein Charakter wie Katerina Iwanowna herrschen mußte; herrschen konnte sie aber nur über einen Menschen wie Dmitri, kaum über einen wie Iwan. Denn nur Dmitri könnte sich ihr, allerdings nur für kurze Zeit, schließlich zu seinem eigenen Glück fügen, was sogar Aljoschas Wunsch gewesen wäre, Iwan aber nicht. Iwan konnte sich ihr nicht fügen, und eine derartige Fügsamkeit würde ihm auch kein Glück bringen. Diese Ansicht hatte sich Aljoscha unwillkürlich bereits über Iwan gebildet. Und nun gingen ihm alle diese Zweifel und Erwägungen in dem Augenblick durch den Kopf, als er in den Salon trat. Und noch ein Gedanke drängte sich ihm plötzlich unwiderstehlich auf: ›Wie, wenn sie keinen von beiden liebt, weder den einen noch den anderen?‹ Ich vermerke, daß sich Aljoscha solcher Gedanken gewissermaßen schämte und sich jedesmal Vorwürfe machte, wenn sie ihm im letzten Moment zufällig in den Kopf kamen. ›Was verstehe ich denn von der Liebe und den Frauen, wie kann ich nur solche Schlüsse ziehen?‹ sagte er sich mit Selbstvorwürfen, wenn er etwas Derartiges dachte. Und doch konnte er nicht umhin, so zu denken. Er verstand instinktiv, daß diese Nebenbuhlerschaft in dem Schicksal seiner Brüder jetzt eine wichtige Frage bildete, von der überaus viel abhing. Ein Reptil frißt das andere auf, hatte Bruder Iwan gesagt, als er gestern in gereizter Stimmung vom Vater und von Dmitri sprach. Also war Dmitri in seinen Augen ein Reptil, und vielleicht betrachtete er ihn schon lange als ein solches? Wohl seitdem er Katerina Iwanowna kennengelernt hatte? Die Worte waren Iwan gestern sicher unwillkürlich entfahren, doch dadurch waren sie nur um so bedeutungsvoller. Wenn es so stand, wie konnte da Friede herrschen? Ergaben sich daraus nicht neue Anlässe für Haß und Feindschaft in der Familie? Die Hauptsache aber war, mit wem sollte er, Aljoscha, sympathisieren? Was sollte er ihnen wünschen? Er liebte sie beide, doch was sollte er ihnen wünschen, angesichts so furchtbarer Gegensätze? In diesem Wirrwarr konnte man sich unmöglich zurechtfinden. Aljoschas Herz aber konnte keine Ungewißheit ertragen, denn seine Liebe war immer tätiger Natur. Untätig lieben konnte er nicht; wenn er jemand liebgewann, machte er sich auch gleich daran, ihm zu helfen. Doch dazu mußte er sich ein Ziel setzen, mußte er bestimmt wissen, was dem anderen gut und nützlich war. Wenn er sich von der Richtigkeit eines Zieles überzeugt hatte, war es für ihn selbstverständlich, daß er auch half. Aber statt eines festen Zieles sah er jetzt überall nur Unklarheit und Wirrwarr. Eine Überspanntheit! Dieses Wort war heute gefallen. Doch was sollte er darunter verstehen? Gleich das erste Wort in diesem Wirrwarr war ihm unverständlich!

Als Katerina Iwanowna Aljoscha erblickte, sagte sie erfreut zu Iwan, der gerade geben wollte: »Noch einen kleinen Augenblick! Bleiben Sie noch einen Augenblick! Ich möchte die Meinung dieses Menschen hören, dem ich von ganzem Herzen vertraue. Katerina Ossipowna, bleiben Sie auch«, fügte sie, an Frau Chochlakowa gewandt, hinzu. Sie bat Aljoscha, an ihrer Seite Platz zu nehmen, und Frau Chochlakowa setzte sich gegenüber, neben Iwan Fjodorowitsch.

»Hier sind nun alle meine Freunde beisammen, alle meine lieben Freunde, die ich auf der Welt habe«, begann Katerina Iwanowna in warmem Ton, in dem aufrichtiges Leid mitschwang, Aljoschas Herz wandte sich ihr sofort wieder zu. »Sie, Alexej Fjodorowitsch, waren gestern Zeuge dieser schrecklichen Szene und haben gesehen, wie ich mich benahm. Sie, Iwan Fjodorowitsch, haben es nicht gesehen, er aber hat es gesehen. Was er gestern von mir gedacht hat, weiß ich nicht. Ich weiß nur das eine: Würde sich dasselbe jetzt auf der Stelle wiederholen, würde ich dieselben Gefühle zum Ausdruck bringen, dieselben Worte sprechen und dieselben Gesten machen. Sie erinnern sich an meine Gesten, Alexej Fjodorowitsch, bei einer haben Sie mich selbst zurückgehalten.« Bei diesen Worten errötete sie, und ihre Augen fingen an zu funkeln. »Ich erkläre Ihnen, Alexej Fjodorowitsch, daß ich mich mit nichts aussöhnen kann. Hören Sie, Alexej Fjodorowitsch, ich weiß nicht einmal, ob ich ihn jetzt noch liebe. Er erscheint mir bemitleidenswert, aber Mitleid ist ein schlechtes Zeichen von Liebe. Würde ich ihn lieben, immer noch weiterlieben, dann müßte ich ihn jetzt wohl nicht bemitleiden, sondern hassen …«

Ihre Stimme zitterte, und Tränen hingen an ihren Wimpern. Aljoscha erschrak. ›Dieses Mädchen ist wahrheitsliebend und aufrichtig!‹ dachte er. Und sie liebt Dmitri nicht mehr!

»Ganz richtig! Ganz richtig!« rief Frau Chochlakowa.

»Warten Sie, liebe Katerina Ossipowna, ich habe die Hauptsache noch nicht gesagt. Ich habe noch nicht gesagt welchen endgültigen Entschluß ich in dieser Nacht gefaßt habe. Ich fühle, daß mein Entschluß vielleicht furchtbar ist, furchtbar für mich. Aber ich weiß auch, daß ich ihn um keinen Preis ändern werde, um keinen Preis, in meinem ganzen Leben nicht! Mein lieber, guter, hochherziger Ratgeber, er, der mein Herz in seiner tiefsten Tiefe kennt, der einzige Freund, den ich auf der Welt habe, Iwan Fjodorowitsch, stimmt mir in allen Stücken zu und billigt meinen Entschluß. Er kennt ihn.«

»Ja, ich billige ihn«, sagte Iwan Fjodorowitsch mit leiser, aber fester Stimme.

»Aber ich möchte, daß auch Aljoscha – ach, verzeihen Sie, Alexej Fjodorowitsch, daß ich Sie einfach Aljoscha genannt habe –, ich möchte, daß auch Alexej Fjodorowitsch mir jetzt in Gegenwart meiner Freunde sagt, ob ich recht handle oder nicht. Ich habe das instinktive Gefühl, daß Sie, Aljoscha, mein lieber Bruder, denn Sie sind mein lieber Bruder«, fuhr sie begeistert fort und ergriff seine Hand. »Ich habe das Gefühl, daß Ihr Urteil, Ihre Billigung mir trotz aller Qualen zur Ruhe verhelfen wird. Denn nach Ihren Worten werde ich mich beruhigen und in mein Schicksal fügen, das fühle ich schon vorher!«

»Ich weiß nicht, wonach Sie mich fragen wollen«, erwiderte Aljoscha errötend. »Ich weiß nur, daß ich Sie liebe und Ihnen in diesem Augenblick mehr Glück wünsche als mir selbst! Aber ich verstehe ja nichts von diesen Dingen!« beeilte er sich plötzlich hinzuzufügen.

»In diesen Dingen, Alexej Fjodorowitsch, sind Ehre und Pflicht die Hauptsache, ich weiß nicht, was noch – aber es ist etwas Hohes, vielleicht sogar etwas Höheres als Pflicht. Mein Herz spricht von diesem unwiderstehlichen Gefühl, und dieses Gefühl reißt mich fort. Übrigens läßt sich alles in wenigen Worten sagen. Mein Entschluß ist folgender. Auch wenn er jene … Kreatur heiraten sollte«, begann sie feierlich, »der ich niemals verzeihen kann – selbst dann werde ich ihn nicht verlassen! Von jetzt an werde ich ihn nie, nie mehr verlassen!« rief sie mit blasser, gekünstelter Begeisterung. »Das heißt nicht etwa, daß ich ihm nachlaufe, ihm alle Augenblicke vor Augen komme und ihn quäle – o nein, ich werde in eine andere Stadt ziehen, eine beliebige andere Stadt, aber ich werde mein ganzes Leben unermüdlich auf ihn achtgeben. Und wenn er mit dieser Frau unglücklich wird, und das wird gewiß bald geschehen, dann mag er zu mir kommen, und er wird in mir eine Freundin und Schwester finden, natürlich nur eine Schwester, und das wird lebenslänglich so bleiben, aber er wird sich schließlich überzeugen, daß diese Schwester wahrhaft seine Schwester ist, die ihn liebt und ihm ihr ganzes Leben geopfert hat. Ich werde es durchsetzen, daß er mich endlich ganz kennenlernt und mir alles gesteht, ohne sich zu schämen!« rief sie wie verzückt. »Ich werde sein Gott sein, zu dem er betet – wenigstens das ist er mir schuldig für seine Untreue und für das, was ich gestern durch ihn gelitten habe. Mag er sein Leben lang sehen, daß ich ihm und dem Wort, das ich ihm einmal gegeben habe, mein Leben lang treu bin, obwohl er mir untreu gewesen ist und sich von mir abgewandt hat. Ich werde nur ein Mittel zu seinem Glück sein – oder wie soll man das ausdrücken? Ich werde mich in ein Werkzeug, in eine Maschine zu seinem Glück verwandeln – für das ganze Leben, und er soll das sein Leben lang sehen! Das ist der ganze Inhalt meines Entschlusses! Iwan Fjodorowitsch billigt ihn vollkommen.«

Der Atem stockte ihr. Sie hatte vielleicht gewünscht, ihre Gedanken würdiger, geschickter und natürlicher vorzubringen, und nun war alles etwas zu hastig und kahl herausgekommen. Schuld daran war vor allem ein jugendlicher Mangel an Selbstdisziplin: Vielfach spürte man den Zorn über die Kränkung vom Vortag und das Bedürfnis, sich stolz zu zeigen; das fühlte sie selbst. Ihr Gesicht verfinsterte sich auf einmal, und der Ausdruck der Augen wurde unschön. Aljoscha bemerkte es sofort, und aufrichtiges Mitleid regte sich in seinem Herzen.

In diesem Augenblick machte sein Bruder Iwan eine Bemerkung:

»Ich habe nur meine Meinung geäußert«, sagte er. »Bei jeder anderen würde alles verstellt und gezwungen herauskommen, bei Ihnen ist das nicht der Fall. Eine andere hätte unrecht, Sie jedoch haben recht. Ich weiß nicht, wie ich das begründen soll, aber ich sehe, daß Sie im höchsten Grade aufrichtig sind: darum haben Sie recht …«

»Aber das ist doch nur in diesem Augenblick so. Was will denn dieser Augenblick besagen? Das ist nur die Folge der gestrigen Beleidigung – weiter nichts!« platzte plötzlich Frau Chochlakowa heraus. Augenscheinlich hatte sie sich nicht in das Gespräch einmischen wollen, sich aber doch nicht zurückhalten können und einen sehr richtigen Gedanken ausgesprochen.

»Ja, ja«, fiel ihr Iwan ins Wort, der auf einmal zornig geworden war und sich offenbar darüber ärgerte, daß sie ihn unterbrochen hatte. »Bei einer anderen Frau würde dieser Augenblick nur die gestrigen Gefühle fortsetzen und wäre eben nur ein Augenblick. Bei Katerina Iwanownas Charakter jedoch erstreckt sich dieser Augenblick auf das ganze Leben. Was für andere nur ein Versprechen darstellt, ist für sie eine lebenslängliche, schwere, vielleicht traurige, aber unermüdlich erfüllte Pflicht. Und am Ende dieser Pflichterfüllung wird sie sich aufrichten! Ihr Leben, Katerina Iwanowna, wird jetzt im schmerzlichen Bewußtsein der eigenen Gefühle, der eigenen Großtat und des eigenen Leides vergehen, doch allmählich wird sich dieser Schmerz mildern, und Ihr Leben wird Ihnen das süße Bewußtsein eines ein für allemal verwirklichten stolzen Vorsatzes vermitteln, eines in seiner Art tatsächlich stolzen, gewagten, aber von Ihnen siegreich erfüllten Vorsatzes. Und dieses Bewußtsein wird Ihnen schließlich vollste Befriedigung gewähren und Sie mit allem übrigen aussöhnen …«

Er sagte das in entschiedenem Ton und mit einer gewissen Bosheit, die anscheinend beabsichtigt war; er schien gar nicht verbergen zu wollen, daß er absichtlich so spöttisch sprach.

»O mein Gott, wie falsch das alles ist!« rief Frau Chochlakowa wieder.

»Alexej Fjodorowitsch, sagen Sie denn gar nichts? Ich warte ungeduldig, was Sie mir zu sagen haben!« rief Katerina Iwanowna und brach plötzlich in Tränen aus.

Aljoscha stand vom Sofa auf.

»Das hat nichts zu bedeuten, das hat nichts zu bedeuten«, fuhr sie weinend fort. »Das kommt von der Aufregung und von der heutigen Nacht. Neben zwei Freunden wie Ihnen und Ihrem Bruder fühle ich mich noch stark, denn ich weiß, daß Sie mich nie verlassen.«

»Leider muß ich vielleicht schon morgen nach Moskau fahren und Sie doch für längere Zeit verlassen. Und das läßt sich zu meinem Bedauern nicht ändern«, sagte Iwan Fjodorowitsch plötzlich.

»Morgen nach Moskau?« rief Katerina Iwanowna, und ihr Gesicht verzog sich auf einmal. »Mein Gott, wie glücklich sich das trifft!« Ihre Stimme hatte sich augenblicklich verändert; ihre Tränen waren verschwunden, so daß auch nicht die Spur von ihnen zurückgeblieben war. In einem einzigen Augenblick ging mit ihr eine Veränderung vor, die Aljoscha sehr erstaunte. Statt des armen beleidigten Mädchens, das soeben in einem Gefühlsausbruch geweint hatte, erschien plötzlich eine Frau, die sich vollkommen in der Gewalt hatte und sogar außerordentlich zufrieden und erfreut wirkte.

»Oh, nicht daß ich Sie verliere, trifft sich glücklich, selbstverständlich nicht!« korrigierte sie sich schnell mit dem liebenswürdigen Lächeln einer Weltdame. »Ein Freund wie Sie kann das nicht annehmen. Ich bin im Gegenteil höchst unglücklich darüber, daß ich Sie vermissen muß …« Sie stürzte plötzlich ungestüm zu Iwan Fjodorowitsch, ergriff seine Hände und drückte sie heftig. »Nein, was sich glücklich trifft, ist der Umstand, daß Sie selbst, Sie persönlich imstande sein werden, meiner Tante und meiner Schwester Agascha meine ganze jetzige Lage und all das Entsetzliche zu schildern. Zu Agascha können Sie ganz offen sein, aber mein liebes Tantchen werden Sie schonen müssen, wie Sie es ja so gut verstehen. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie unglücklich ich gestern und heute vormittag war, als ich mir keinen Rat wußte, wie ich diesen schrecklichen Brief an sie schreiben sollte! Denn in einem Brief läßt sich das alles unter keinen Umständen wiedergeben. Jetzt jedoch wird es mir ein leichtes sein, zu schreiben, weil Sie dort persönlich alles erklären werden. Oh, wie ich mich freue. Aber ich freue mich nur darüber; ich bitte Sie nochmals, mir das zu glauben. Sie selbst sind mir natürlich unersetzlich … Ich werde den Brief sofort schreiben«, schloß sie plötzlich und tat bereits ein paar Schritte, um das Zimmer zu verlassen.

»Und Aljoscha? Und die Meinung von Alexej Fjodorowitsch, die Sie unbedingt hören wollten?« rief Frau Chochlakowa, und ihre Worte klangen etwas boshaft und ärgerlich.

»Ich habe das nicht vergessen«, erwiderte Katerina Iwanowna und blieb stehen. »Aber warum verhalten Sie sich zu mir jetzt so feindlich, Katerina Ossipowna?« fragte sie im Ton eines starken, bitteren Vorwurfs. »Was ich gesagt habe, dabei bleibe ich. Seine Meinung ist mir unentbehrlich. Ja noch mehr, ich brauche seine Entscheidung! Was er sagen wird, soll geschehen! Da sehen Sie, wie sehr ich auf Ihre Worte warte, Alexej Fjodorowitsch … Aber was haben Sie?«

»Das hätte ich nie gedacht. Ich kann mir das gar nicht vorstellen!« rief Aljoscha traurig.

»Was denn, was denn?«

»Er fährt nach Moskau, und Sie sagen, daß Sie sich freuen – und zwar sagen Sie das absichtlich! Und dann erklären Sie, daß Sie nicht darüber froh sind, im Gegenteil, es tue Ihnen leid, daß Sie einen Freund verlieren. Aber auch das haben Sie uns vorgespielt, wie auf der Bühne haben Sie Komödie gespielt!«

»Wie auf der Bühne? Was soll das heißen?« rief Katerina Iwanowna verwundert. Sie war dunkelrot geworden und zog die Augenbrauen finster zusammen.

»Trotz aller Versicherungen, daß Sie die Abreise eines solchen Freundes bedauern, sagen Sie ihm ins Gesicht, seine Abreise sei ein Glück für Sie …«, sagte Aljoscha schwer atmend. Er stand am Tisch, ohne sich zu setzen.

»Wovon reden Sie? Ich verstehe Sie nicht.«

»Ich weiß es selbst nicht. Es ist auf einmal wie eine Erleuchtung über mich gekommen. Ich weiß, daß ich mich nicht gut ausdrücken werde, aber ich will es dennoch sagen«, fuhr Aljoscha mit zitternder, häufig versagender, Stimme fort. »Die Erleuchtung besteht darin, daß Sie meinen Bruder Dmitri vielleicht überhaupt nicht lieben, ihn von Anfang an nicht geliebt haben … Und auch Dmitri liebt Sie vielleicht gar nicht, sondern achtet Sie nur … Ich weiß wirklich nicht, wieso ich wage, das alles jetzt zu sagen – aber einer muß doch die Wahrheit sagen. Und da es niemand hier tun will … »

»Was für eine Wahrheit?« rief Katerina Iwanowna, und aus ihrer Stimme klang hysterische Erregung.

»Ich will Ihnen sagen, was für eine«, flüsterte Aljoscha, dem zumute war, als ob er von einem Dach stürzte. »Lassen Sie sofort Dmitri kommen – ich werde ihn schon finden. Soll er kommen und Sie und meinen Bruder Iwan an der Hand fassen und Ihre Hände vereinigen. Denn Sie quälen Iwan nur, weil Sie ihn lieben … Sie quälen ihn, weil Sie Dmitri aus Überspanntheit lieben, nicht wirklich lieben, sondern sich das nur eingeredet haben …«

Aljoscha stockte und verstummte.

»Sie … Sie sind ein kleiner frommer Narr! Ja, das sind Sie!« sagte Katerina Iwanowna in scharfem Ton. Ihr Gesicht war ganz blaß geworden, und ihre Lippen hatten sich vor Zorn verzerrt.

Iwan Fjodorowitsch lachte plötzlich auf und erhob sich, den Hut in der Hand.

»Du hast dich geirrt, mein guter Aljoscha«, sagte er mit einem Gesichtsausdruck, den Aljoscha noch nie an ihm bemerkt hatte, einem Ausdruck jugendlicher Aufrichtigkeit und starken, unbezwingbaren Verlangens, sich offen auszusprechen. »Niemals hat Katerina Iwanowna mich geliebt! Sie hat die ganze Zeit gewußt, daß ich sie liebe, obgleich ich ihr nie ein Wort von meiner Liebe gesagt habe. Sie hat es gewußt, aber sie liebt mich nicht. Auch ihr Freund bin ich nie gewesen, nicht einen Tag lang; die stolze Frau brauchte meine Freundschaft nicht. Sie hat mich bei sich gehalten, um sich unaufhörlich rächen zu können. Sie rächte sich an mir für alte Beleidigungen, die sie von Dmitri von ihrer ersten Begegnung an ständig und jeden Augenblick zu ertragen hatte. Denn auch die allererste Begegnung mit ihm empfindet sie noch immer als Beleidigung. Ich habe sie die ganze Zeit immer nur von ihrer Liebe zu ihm reden hören. Ich reise jetzt ab, Sie aber sollten wissen, Katerina Iwanowna, daß Sie wirklich nur ihn lieben. Und je ärger er Sie beleidigt, desto mehr lieben Sie ihn. Das ist eben Ihre Überspanntheit. Sie lieben ihn so, wie er ist, Sie lieben ihn sogar, weil er Sie kränkt. Würde er sich bessern, würden Sie sich sofort von ihm abwenden und ihn überhaupt nicht mehr lieben. Aber Sie brauchen ihn, um fortwährend Ihre Großtat, Ihre Treue vor Augen zu haben und ihm seine Treulosigkeit vorzuwerfen. Das rührt alles von Ihrem Stolz her. Gewiß, es ist auch viel Selbsterniedrigung und Selbstdemütigung dabei, aber die Wurzel von alledem ist Ihr Stolz … Ich bin zu jung und habe Sie zu leidenschaftlich geliebt. Ich weiß, daß ich Ihnen das nicht sagen sollte, daß es sich von meiner Seite würdiger ausnehmen würde, wenn ich einfach von Ihnen fortginge, das wäre auch für Sie nicht so beleidigend. Aber ich fahre weit weg und komme nie wieder. Das ist eine Trennung fürs ganze Leben. Ich mag so eine Überspanntheit nicht aus der Nähe mit ansehen … Übrigens verstehe ich nicht, die richtigen Ausdrücke zu wählen, aber alles Wesentliche habe ich gesagt … Leben Sie wohl, Katerina Iwanowna! Zürnen können Sie mir nicht, denn ich bin hundertmal mehr bestraft als Sie, schon allein dadurch, daß ich Sie nie mehr wiedersehen werde. Leben Sie wohl! Geben Sie mir nicht die Hand! Sie haben mich zu sehr bewußt gequält, als daß ich Ihnen in diesem Augenblick verzeihen könnte. Später werde ich Ihnen verzeihen, doch jetzt möchte ich Ihnen nicht die Hand schütteln. ›Den Dank, Dame, begehr ich nicht!‹« fügte er mit einem gezwungenen Lächeln hinzu, dadurch ganz unerwartet beweisend, daß auch er seinen Schiller gelesen hatte und aus dem Kopf zitieren konnte, was Aljoscha nicht geglaubt hätte. Er verließ das Zimmer, ohne sich auch nur bei Frau Chochlakowa, der Gastgeberin, zu verabschieden.

Aljoscha rang die Hände. »Iwan!« rief er ihm fassungslos nach. »Komm zurück, Iwan! Nein, er wird um keinen Preis zurückkommen!« sagte er in trauriger Gewißheit. »Und ich, ich bin schuld daran, ich habe angefangen! Iwan hat im Zorn ungerecht gesprochen. Er muß wiederkommen, er muß, er muß!« Aljoscha schrie, als ob er nur halb bei Verstand wäre.

Katerina Iwanowna ging plötzlich in ein anderes Zimmer.

»Sie haben nichts Schlimmes angerichtet. Sie haben vorzüglich gehandelt, wie ein Engel«, flüsterte Frau Chochlakowa, die ganz begeistert war, rasch dem betrübten Aljoscha zu. »Ich werde alles unternehmen, damit Iwan Fjodorowitsch nicht wegfährt …«

Ihr Gesicht strahlte vor Freude, zum größten Kummer Aljoschas.

Da kehrte Katerina Iwanowna zurück, in der Hand zwei Hundertrubelscheine.

»Ich habe eine große Bitte an Sie, Alexej Fjodorowitsch«, begann sie, an Aljoscha gewandt, in ruhigem, gleichmäßigem Ton, als ob soeben wirklich nichts geschehen wäre. »Vor einer Woche, ja, ich glaube, es war vor einer Woche, hat Dmitri Fjodorowitsch eine unbeherrschte, ungerechte Tat begangen, eine sehr häßliche Tat. In einem unschönen Lokal, einer Kaschemme, hat er jenen verabschiedeten Offizier, einen Stabskapitän, getroffen, dessen Dienste Ihr Vater in seinen geschäftlichen, Angelegenheiten zu benutzen pflegte. Dmitri Fjodorowitsch, der irgendeinem Grund böse auf diesen Stabskapitän war, faßte ihn am Bart, zerrte ihn vor aller Augen in diesem unwürdigen Zustand auf die Straße und führte ihn auch noch längere Zeit so herum. Man erzählt, der Sohn dieses Stabskapitäns, ein Schüler der hiesigen Schule, ein Kind noch, sei nebenhergelaufen, habe laut geweint, für seinen Vater gebeten, sich an die Umstehenden gewandt und sie um Hilfe angefleht, doch alle hätten nur gelacht. Verzeihen Sie, Alexej Fjodorowitsch, ich kann an diese schmähliche Tat Dmitri Fjodorowitschs nicht ohne Empörung denken! Es ist eine von den Taten, die nur er in seinem Zorn und seiner Leidenschaftlichkeit verüben kann! Ich bin sogar außerstande, das zu erzählen, ich verwechsle die Worte. Ich habe mich nach diesem Beleidigten erkundigt und erfahren, daß er sehr arm ist. Sein Name ist Snegirjow. Er hat sich im Dienst etwas zuschulden kommen lassen und daraufhin den Abschied bekommen, ich kann das nicht genauer erzählen, und jetzt ist er mit seiner unglücklichen Familie, die aus einer wohl irrsinnigen Frau und kranken Kindern besteht, in schreckliche Armut geraten. Er wohnt schon lange hier in der Stadt, arbeitet auch irgendwas, irgendwo ist er Schreiber gewesen, aber auf einmal wird ihm jetzt sein Lohn vorenthalten! Da habe ich nun Sie ausersehen … Das heißt, ich dachte, ich weiß nicht, ich bin so durcheinander … Sehen Sie, ich wollte Sie bitten, Alexej Fjodorowitsch, mein bester Alexej Fjodorowitsch, zu ihm zu gehen, ihm unter einem Vorwand einen Besuch zu machen, ich meine diesem Stabskapitän, o Gott, wie konfus ich bin, und in taktvoller, behutsamer Weise, so wie nur Sie das können.« Bei diesen Worten errötete Aljoscha plötzlich. » … ihm dies als Unterstützung zu überreichen, hier diese zweihundert Rubel. Er wird sie sicher annehmen … Das heißt, Sie müßten ihn überreden, sie anzunehmen … Oder wird er sie nicht annehmen, was meinen Sie? Sehen Sie, das soll ja keine Bezahlung dafür sein, daß er die Sache auf sich beruhen läßt und nicht klagt – ich glaube, er wollte eine Klage anstrengen –, sondern einfach ein Ausdruck der Teilnahme und des Wunsches, ihm zu helfen, von mir, der Braut Dmitri Fjodorowitschs, nicht von diesem selbst … Kurz, Sie werden schon damit zurechtkommen … Ich würde selbst hinfahren, aber, Sie verstehen das viel besser als ich. Er wohnt in der Osjornajastraße, im Haus der Kleinbürgerin Kalmykowa … Ich bitte Sie inständig, Alexej Fjodorowitsch, tun Sie mir diesen Gefallen! Und jetzt … jetzt bin ich etwas müde. Auf Wiedersehen!«

Sie drehte sich plötzlich um und verschwand so schnell hinter der Portiere, daß Aljoscha keine Zeit fand, auch nur ein Wort zu sagen – und er hätte doch so gern etwas gesagt. Er hätte sie gern um Verzeihung gebeten, sich selbst angeklagt, überhaupt etwas gesagt; denn sein Herz war übervoll, und er wollte um keinen Preis weggehen, ohne noch mit ihr gesprochen zu haben.

Doch Frau Chochlakowa nahm ihn bei der Hand und führte ihn selbst hinaus. Im Vorzimmer blieb sie wieder mit ihm stehen, wie se es vorher getan hatte.

»Sie ist stolz und ringt mit sich selbst, aber sie ist eine gute, prächtige, hochherzige Frau!« rief Frau Chochlakowa fast flüsternd. »Oh, wie ich sie mag, besonders manchmal, und wie ich mich über alles jetzt von neuem freue! Lieber Alexej Fjodorowitsch, Sie wissen ja eines noch nicht: Wir alle, ich, ihre beiden Tanten, kurz wir alle, sogar Lise, haben schon einen Monat lang keinen anderen Wunsch und kein anderes Gebet, als daß sie sich von ihrem Liebling Dmitri Fjodorowitsch trennen möchte, der nichts von ihr wissen will und sie gar nicht liebt. Daß sie Iwan Fjodorowitsch heiraten möchte, einen gebildeten, vortrefflichen jungen Mann, der sie über alles in der Welt liebt. Wir haben hier schon eine richtige Verschwörung angezettelt, und ich reise vielleicht nur deshalb nicht ab … »

»Aber sie hat doch geweint? Sie fühlt sich wieder beleidigt!« rief Aljoscha.

»Glauben Sie nicht den Tränen einer Frau, Alexej Fjodorowitsch! Ich bin in solchen Fällen immer gegen die Frauen und für die Männer.«

»Aber Mama, Sie richten ihn ja völlig zugrunde!« ließ sich Lisas helles Stimmchen durch den Türspalt vernehmen.

»Nein, ich bin an allem schuld! Ich habe mich schrecklich vergangen!« wiederholte Aljoscha in einem Anfall von Scham, untröstlich über sein dreistes Auftreten von vorhin, verbarg er vor Scham das Gesicht in den Händen.

»Im Gegenteil, Sie haben gehandelt wie ein Engel. Ich bin bereit, Ihnen das tausend- und aber tausendmal zu wiederholen.«

»Mama, warum hat er denn gehandelt wie ein Engel?« wurde Lisas Stimme wieder vernehmbar.

»Als ich das alles mit ansah«, fuhr Aljoscha fort, als hätte er Lisas Frage gar nicht gehört, »bildete sich bei mir, ich weiß nicht warum, die Vorstellung, daß sie Iwan liebt, und da sagte ich diese Dummheit … Was wird nun werden?«

»Mit wem denn, mit wem wird etwas werden?« rief Lisa. »Mama, Sie wollen mich wohl umbringen? Ich frage Sie immerzu, und Sie antworten mir nicht.«

In diesem Augenblick kam das Stubenmädchen herein.

»Katerina Iwanowna geht es nicht gut. Sie weint … Sie hat einen hysterischen Anfall und schlägt um sich.«

»Was soll denn das heißen?« rief Lisa mit erregter Stimme. »Mama, ich bin es, die einen hysterischen Anfall bekommen wird, nicht sie!«

»Lise, um Gottes willen, schrei nicht so, töte mich nicht! Du bist noch in einem Alter, in dem du nicht alles wissen mußt, was die Erwachsenen wissen. Ich werde dir schon alles erzählen, was man dir mitteilen kann … O mein Gott, ich laufe, ich laufe ja … Ein hysterischer Anfall – das ist ein gutes Zeichen, Alexej Fjodorowitsch! Ausgezeichnet, daß sie einen hysterischen Anfall hat. Das ist genau das, was jetzt angebracht ist. Ich bin in solchem Fall immer gegen die Frauen, gegen alle diese hysterischen Anfälle und Weibertränen. Julija, lauf hin und sag ihr, daß ich fliege. Daß Iwan Fjodorowitsch so weggegangen ist, daran ist sie selbst schuld. Aber er wird nicht abreisen. Lise, um Gottes willen, schrei nicht so! Ach so, du schreist ja gar nicht, ich bin es, die schreit, verzeih deiner Mama! Ich bin hingerissen, ganz einfach hingerissen! Haben Sie bemerkt, Alexej Fjodorowitsch, wie jung Iwan Fjodorowitsch vorhin aussah, als er ging? Als er das alles gesagt hatte, und ging? Ich hatte immer gedacht, er wäre so ein Gelehrter, so ein Akademiker – und nun auf einmal dieses Feuer, diese offenherzige, diese unerfahrene Jugendlichkeit, wie schön das alles war, genau wie bei Ihnen! Und dieser deutsche Vers – als ob man Sie hörte! Aber ich laufe schon, ich laufe. Alexej Fjodorowitsch, beeilen Sie sich mit diesem Auftrag, und kommen Sie dann schnell wieder her! Lise, brauchst du etwas? Um Gottes willen, halte Alexej Fjodorowitsch nur keinen Augenblick länger auf, er wird gleich wiederkommen …«

Endlich eilte Frau Chochlakowa hinaus. Aljoscha wollte, bevor er ging, die Tür zu Lisa öffnen.

»Auf keinen Fall!« rief Lisa. »Auf gar keinen Fall! Sprechen Sie so, durch die Tür hindurch! Wieso sind Sie bloß ein Engel geworden? Das möchte ich wissen.«

»Wegen einer schrecklichen Dummheit, Lisa. Leben Sie wohl!«

»Unterstehen Sie sich nicht, so zu gehen«, rief Lisa.

»Lisa, ich bin sehr betrübt. Ich werde gleich wiederkommen, aber ich bin sehr, sehr betrübt!«

Und er verließ das Zimmer.

6. Überspanntheit in der ärmlichen Wohnung

Er empfand wirklich einen ernsten Kummer, wie er ihn bisher selten durchgemacht hatte. Er hatte vor Übereifer eine Dummheit gemacht, und auf welchem Gebiet? In Liebesdingen! ›Aber was verstehe ich denn davon? Kenne ich mich in solchen Sachen überhaupt aus?‹ fragte er sich zum hundertsten Male. ›Die Scham ist dabei das Wenigste, die Scham ist nur meine verdiente Strafe! Das Schlimme ist, daß ich jetzt unweigerlich die Ursache eines neuen Unglücks sein werde … Der Starez hat mich ausgesandt, damit ich versöhne und vereine. Versöhnt man so?‹ Da fiel ihm plötzlich wieder ein, wie er die Hände der beiden hatte vereinigen wollen, und wieder schämte er sich furchtbar. ›Ich habe das alles zwar in bester Absicht getan, aber ich muß künftig klüger sein!‹ war seine Schlußfolgerung, und er lächelte nicht einmal über sie.

Katerina Iwanownas Auftrag führte ihn in die Osjornajastraße. Sein Bruder Dmitri wohnte am Weg, nicht weit von dieser Straße in einer Seitengasse. Aljoscha beschloß, bei ihm vorbeizugehen, bevor er den Stabskapitän aufsuchte, obgleich er ahnte daß er den Bruder nicht antreffen würde. Er vermutete, daß sich dieser wohl absichtlich vor ihm verstecken würde, doch mußte er ihn um jeden Preis ausfindig machen. Die Zeit verstrich; der Gedanke an den sterbenden Starez hatte ihn seit dem Augenblick, da er aus dem Kloster gegangen war, nicht eine Sekunde verlassen.

In dem Auftrag Katerina Iwanownas gab es ein Moment, das auch ihn außerordentlich interessierte. Als sie den Schulknaben erwähnte, den Sohn des Stabskapitäns, der laut weinend neben dem Vater hergelaufen sei, hatte er gleich denken müssen, dieser Schüler könnte derselbe sein, der ihn vorhin in den Finger gebissen hatte, als er, Aljoscha, ihn fragte, was er ihm denn getan habe. Jetzt war Aljoscha, ohne zu wissen warum, davon beinahe schon überzeugt. Diese nebensächlichen Überlegungen lenkten ihn etwas ab, und er nahm sich vor, nicht mehr an das von ihm angerichtete »Unglück« zu denken und sich nicht mehr mit Reue zu quälen, sondern zu tun, was ihm aufgetragen war, dann mochte geschehen, was geschehen mußte.

Bei diesem Gedanken wurde er endgültig wieder guten Mutes. Und als er in die Seitengasse zu seinem Bruder Dmitri einbog und Hunger verspürte, zog er das Weißbrot aus der Tasche, das er von seinem Vater mitgenommen hatte, und aß es im Gehen. Das stärkte seine Kräfte.

Dmitri traf er nicht zu Hause an. Die Besitzer des Häuschens, ein alter Tischler, sein Sohn und seine alte Frau, sahen Aljoscha mißtrauisch an. »Es ist schon der dritte Tag, daß er die Nacht nicht hier verbracht hat, vielleicht ist er verreist«, antwortete der Alte auf Aljoschas dringliche Fragen. Aljoscha merkte, daß er seine Antworten nach einer Instruktion erteilte. Als er fragte: »Ist er bei Gruschenka, oder hat er sich vielleicht wieder bei Foma versteckt?« und dabei absichtlich seine Kenntnis der intimen Verhältnisse bewies, blickten ihn die Wirtsleute ganz erschrocken an. ›Also haben sie ihn gern und stehen auf seiner Seite‹, dachte Aljoscha. ›Das ist gut!‹

Endlich fand er in der Osjornajastraße das Haus der Kleinbürgerin Kalmykowa, ein baufälliges, schiefgesunkenes Häuschen mit nur drei Fenstern zur Straße und mit einem schmutzigen Hof, auf dem einsam eine Kuh stand. Der Eingang in den Flur war vom Hof aus; links vom Flur wohnte die alte Wirtin mit ihrer ebenfalls schon bejahrten Tochter, beide schienen taub zu sein. Auf Aljoschas mehrmalige Frage nach dem Stabskapitän deutete eine von ihnen, endlich begreifend, daß er nach den Mietern fragte, mit dem Finger auf die Tür zur vermieteten »guten Stube«. Die Wohnung des Stabskapitäns bestand tatsächlich nur aus einer einzigen Stube. Aljoscha wollte schon nach der eisernen Klinke greifen, um die Tür zu öffnen, als ihn die auffallende Stille hinter der Tür stutzig machte. Er wußte jedoch von Katerina Iwanowna, daß der verabschiedete Stabskapitän Familie hatte, und sagte sich: ›Entweder schlafen sie alle, oder sie haben gehört, daß ich gekommen bin, und warten darauf, daß ich eintrete? Ich will doch lieber erst anklopfen.‹ Und er klopfte an. Eine Antwort erfolgte, aber nicht sogleich, sondern etwa zehn Sekunden später.

»Wer ist da?« rief jemand mit lauter und betont verärgerter Stimme.

Aljoscha öffnete nun und trat über die Schwelle. Er befand sich in einer Stube, die zwar ziemlich geräumig, doch übermäßig voll von Menschen und allerlei Hausrat war. Links stand ein großer russischer, Ofen. Von dem Ofen war durch das ganze Zimmer zum linken Fenster ein Strick gespannt, an dem diverse Lappen hingen. An den beiden Wänden links und rechts stand je ein Bett mit einer Strickdecke. Auf dem einen, dem linken, war ein kleiner Berg aus vier Baumwollkopfkissen aufgetürmt, von denen immer eines kleiner war als das andere. Auf dem anderen Bett lag nur ein sehr kleines Kopfkissen. In der vorderen Ecke war durch einen Vorhang oder vielmehr durch ein Laken ein kleiner Raum abgeteilt; dieses Laken war über einen quer über die Ecke gespannten Strick geworfen. Hinter diesem Vorhang befand sich noch ein Bett, das seitlich auf einer Bank und einem herangerückten Stuhl aufgeschlagen war. Ein einfacher viereckiger hölzerner Bauerntisch reichte von der anderen vorderen Ecke bis zum mittleren Fenster. Alle drei Fenster, jedes mit vier kleinen, grün angelaufenen Scheiben, waren sehr trüb und dazu dicht geschlossen, so daß es im Zimmer recht dumpfig und nicht besonders hell war. Auf dem Tisch stand eine Pfanne mit Spiegeleiresten, daneben lag ein halb aufgegessenes Stück Brot, und außerdem stand da noch eine Literflasche mit einem geringen, nur den Boden bedeckenden Rest »irdischer Seligkeit«. Links neben dem Bett, auf einem Stuhl, saß eine Frau in einem Kattunkleid, die wie eine Dame aussah. Sie war im Gesicht mager und gelb, ihre eingefallenen Wangen zeugten von ihrem schlechten Gesundheitszustand. Den stärksten Eindruck machte auf Aljoscha der Blick dieser armen Frau; er hatte etwas auffällig Fragendes und zugleich etwas sehr Hochmütiges an sich. Und die ganze Zeit, während sie nicht selbst sprach, weil Aljoscha ein Gespräch mit dem Hausherrn hatte, ließ sie ihre großen braunen Augen in derselben fragenden, hochmütigen Weise von einem zum anderen schweifen. Neben dieser Frau, am linken Fenster, stand ein junges Mädchen mit ziemlich unschönem Gesicht und rötlichem, dünnem Haar, ärmlich, aber sehr sauber gekleidet. Sie sah den eintretenden Aljoscha geringschätzig an. Rechts am Bett saß noch ein drittes weibliches Wesen, ein sehr bemitleidenswertes Geschöpf: ebenfalls ein junges Mädchen, etwa zwanzig Jahre alt, aber bucklig und an den Beinen gelähmt; sie waren, wie Aljoscha später hörte, verdorrt. Ihre Krücken standen neben ihr in der Ecke, zwischen dem Bett und der Wand. Die auffallend schönen, guten Augen des Mädchens schauten Aljoscha sanft und ruhig an. Am Tisch saß, mit dem Rest der Spiegeleier beschäftigt, ein Herr von etwa fünfundvierzig Jahren, klein und schwächlich, mager, mit rötlichem Haar und einem rötlichen, dünnen Bärtchen, das große Ähnlichkeit mit einem zerzausten Bastwisch hatte, dieser Vergleich und besonders das Wort »Bastwisch« schossen Aljoscha gleich beim ersten Blick durch den Kopf. Offenbar war es dieser Mann gewesen, der durch die Tür gerufen hatte: »Wer ist da?« Eine andere männliche Person war nicht im Zimmer. Bei Aljoschas Eintritt sprang er hastig von der Bank, auf der er saß, wischte sich eilig mit einer löchrigen Serviette den Mund und stürzte Aljoscha geradezu entgegen.

»Ein Mönch bittet um Geld für sein Kloster, da ist er an die Richtigen gekommen!« sagte laut das Mädchen, das in der linken Ecke stand.

Doch der Mann, der auf Aljoscha zulief, drehte sich augenblicklich zu ihr um und antwortete mit erregter, fast versagender Stimme: »Nein, Warwara Nikolajewna, das stimmt nicht, da haben Sie falsch geraten! Gestatten Sie nun, daß ich meinerseits frage«, wandte er sich plötzlich wieder an Aljoscha, »Was hat Sie veranlaßt, hier in den Schoß der Familie einzudringen?«

Aljoscha blickte ihn aufmerksam an, er sah diesen Menschen zum erstenmal. Er hatte etwas Eckiges, Hastiges, Reizbares. Obgleich er augenscheinlich eben getrunken hatte, war er nicht betrunken. In seinem Gesicht war höchste Frechheit und gleichzeitig, das war das Seltsame, tiefste Feigheit ausgeprägt. Er sah aus wie ein Mensch, der sich lange Zeit untergeordnet und vieles erduldet hat, nun aber auf einmal aufspringt und sich zeigen will, oder noch besser, wie ein Mensch, der Lust hat, einen anderen zu schlagen, zugleich aber auch furchtbare Angst, der andere könnte ihn selbst schlagen. In seinen Worten und in dem Klang seiner ziemlich durchdringenden Stimme lag eine Art von närrischem Humor, der bald boshaft, bald schüchtern herauskam, den Ton nicht festzuhalten vermochte und dann plötzlich abbrach. Bei der Frage nach dem »Schoß der Familie« zitterte er am ganzen Körper, riß die Augen auf und sprang so heftig auf Aljoscha los, daß dieser unwillkürlich einen Schritt zurücktrat. Bekleidet war er mit einem dunklen, vielfach geflickten und fleckigen abgetragenen Tuchmantel. Seine Hosen waren ungewöhnlich hell, wie sie kein Mensch mehr trug, kariert und aus sehr dünnem Stoff, sie waren sehr geknautscht und hatten sich infolgedessen nach oben geschoben, so daß es aussah, als ob er aus ihnen wie ein kleiner Junge herausgewachsen war.

»Ich bin Alexej Karamasow …«, setzte Aljoscha gerade an zu, antworten.

»Soviel begreife ich auch selber«, unterbrach ihn der Hausherr sofort in scharfem Ton. Er wollte damit zu verstehen geben, daß ihm auch ohne diese Mitteilung bekannt war, wen er vor sich hatte.

»Ich meinerseits bin der Stabskapitän Snegirjow. Es wäre mir aber doch angenehm zu erfahren, was Sie veranlaßt hat …«

»Ich bin nur so vorbeigekommen. Ich hätte gern ein paar Worte mit Ihnen gesprochen … Wenn Sie mir erlauben wollen …«

»In diesem Fall ist hier ein Stuhl. Belieben Sie, Platz zu nehmen! So wurde ja in den alten Lustspielen immer gesagt: Belieben Sie, Platz zu nehmen!« Der Stabskapitän ergriff mit einer schnellen Bewegung einen freien Stuhl, einen einfachen Bauernstuhl, ganz aus Holz und ohne Bezug, und stellte ihn beinahe in die Mitte des Zimmers. Dann ergriff er einen zweiten solchen Stuhl für sich und setzte sich Aljoscha gegenüber. Angesicht in Angesicht und so nahe, daß sich ihre Knie beinahe berührten.

»Nikolai Iljitsch Snegirjow, ehemals Stabskapitän der russischen Infanterie, zwar durch meine Laster entehrt, aber doch Stabskapitän. Wodurch konnte meine Person so viel Interesse erwecken? Ich lebe in Verhältnissen, die den Empfang von Gästen unmöglich machen.«

»Ich bin in jener gewissen Angelegenheit gekommen …«

»In welcher … gewissen Angelegenheit?« unterbrach ihn der Stabskapitän ungeduldig.

»Wegen des Zusammenstoßes, den Sie mit meinem Bruder Dmitri Fjodorowitsch hatten«, erwiderte Aljoscha ungeschickt.

»Was meinen Sie? Doch nicht etwa die Sache mit dem Bastwisch, wie?«

Er rückte plötzlich so nahe, daß er nun wirklich mit seinen Knien an Aljoschas Knie stieß. Seine Lippen preßten sich eigentümlich zusammen, so daß sie nur einen schmalen Strich bildeten.

»Mit welchem Bastwisch?« murmelte Aljoscha.

»Er ist gekommen, um sich über mich zu beschweren, Papa!« rief eine Stimme, die Aljoscha bereits kannte, hinter dem Vorhang aus der Ecke. Es war die Stimme des Schulknaben von vorhin. Ich habe ihn heute nämlich in den Finger gebissen.«

Der Vorhang wurde zur Seite geschoben, und Aljoscha erblickte in der Ecke unter den Ikonen, auf einem Bettchen, das auf einer Bank und auf einem Stuhl zurechtgemacht war, seinen Gegner von vorhin. Der Bursche lag da, mit seinem zu kleinen Mantel und einer alten wattierten Decke zugedeckt. Er war offensichtlich krank und hatte, nach seinen brennenden Augen zu urteilen, starkes Fieber. Anders als bei der früheren Begegnung sah er Aljoscha jetzt furchtlos an, wie wenn er sagen wollte: ›Hier zu Hause kannst du mir nichts tun!‹

»Was heißt das – in den Finger gebissen?« rief der Stabskapitän und machte Anstalten, von seinem Stuhl aufzuspringen. »Hat er Sie in den Finger gebissen?«

»Ja, das hat er getan. Er und andere Jungen haben sich heute auf der Straße mit Steinen beworfen, und zwar sechs gegen ihn allein. Ich wollte zu ihm gehen, aber er warf auch nach mir mit einem Stein und mit einem anderen sogar nach meinem Kopf. Ich fragte ihn, was ich ihm getan hätte, da stürzte er sich plötzlich auf mich und biß mich schmerzhaft in den Finger – warum, weiß ich nicht!«

»Sofort werde ich ihn verprügeln! Augenblicklich werde ich ihn verprügeln!« rief der Stabskapitän und sprang nun wirklich von seinem Stuhl auf.

»Aber ich beschwere mich ja gar nicht, ich habe nur den Hergang erzählt. Ich möchte überhaupt nicht, daß Sie ihn verprügeln. Er scheint ja auch krank zu sein …«

»Haben Sie wirklich gedacht, ich würde ihn verprügeln? Ich würde Iljuschetschka nehmen und ihn in Ihrer Gegenwart zu Ihrer Genugtuung verprügeln? Haben Sie es denn so eilig?« sagte der Stabskapitän und wandte sich mit einer Bewegung, als wollte er sich auf ihn stürzen, an Aljoscha. »Es tut mir leid um Ihren Finger, mein Herr. Aber soll ich mir nicht, statt Iljuschetschka durchzuhauen, vor Ihren Augen zu Ihrer Genugtuung vier von meinen Fingern mit diesem Messer abschneiden? Vier Finger werden Ihnen zur Befriedigung Ihres Rachedurstes genügen, glaube ich, den fünften verlangen Sie doch wohl nicht?«

Er hielt plötzlich inne, offenbar aus Luftmangel. Jeder Muskel seines Gesichts bebte und zuckte, sein Blick hatte etwas Herausforderndes. Er schien außer sich zu sein.

»Ich glaube jetzt alles zu verstehen«, antwortete Aljoscha, der sitzen geblieben war, leise und traurig. »Ihr Sohn ist also ein braver Junge, der seinen Vater liebt. Er hat sich auf mich gestürzt, weil er wußte, daß ich der Bruder jenes Mannes bin, der Sie beleidigt hat. Das verstehe ich jetzt«, wiederholte er nachdenklich. »Aber mein Bruder Dmitri Fjodorowitsch bereut seine Tat, das weiß ich, und wenn es ihm nur möglich wäre, zu Ihnen zu kommen oder, noch besser, sich mit Ihnen nochmals an demselben Ort zu treffen, würde er Sie in Gegenwart aller um Verzeihung bitten … Wenn Sie es wünschen.«

»Also erst hat er mit den Bart ausgerissen und nachher um Entschuldigung gebeten? Dann kann er sagen, er habe alles erledigt und Genugtuung gegeben, nicht wahr?«

»O nein, im Gegenteil, er wird alles tun, was Sie wünschen und wie Sie es wünschen.«

»Also wenn ich Seine Erlaucht ersuchen würde, in demselben Restaurant, es heißt ›Zur Residenz‹, oder auf dem Marktplatz vor mir auf die Knie zu fallen, würde er das tun?«

»Ja, er würde vor Ihnen auf die Knie fallen.«

»Ihre Worte haben mich tief ergriffen. Zu Tränen gerührt und tief ergriffen. Ich bin nur zu geneigt, die Großmut Ihres Bruders zu empfinden. Gestatten Sie aber, daß ich Ihnen nunmehr alle Anwesenden vorstelle. Hier meine Kinder, meine beiden Töchter und mein Sohn – mein Wurf. Wenn ich sterbe, wer wird sie dann lieben? Und solange ich noch lebe, wer wird mich Scheusal außer ihnen lieben? Es ist etwas Schönes und Großes um diese Einrichtung, die Gott da für jeden Menschen meiner Art getroffen hat. Denn auch einen Menschen meiner Art muß doch irgend jemand lieben …«

»Ja, das ist vollkommen richtig!« rief Aljoscha.

»Hören Sie doch endlich auf, den Hanswurst zu spielen! Da kommt irgendein Dummkopf daher, und Sie entehren sich gleich!« rief plötzlich das Mädchen am Fenster, dabei zeigte es seinem Vater eine Miene des Ekels und der Verachtung.

»Gedulden Sie sich noch ein wenig, Warwara Nikolajewna! Gestatten Sie, daß ich die einmal eingeschlagene Richtung beibehalte!« rief ihr der Vater zu, und wenn sein Ton auch gebieterisch klang, sah er sie doch durchaus beifällig an. »Meine Tochter hat nun einmal so einen Charakter«, wandte er sich wieder an Aljoscha.

»Und nichts, was ihm gefallen hätte, gab’s auf dem weiten Erdenrund …«

»Das heißt, man müßte es eigentlich weiblich sagen: ›Nichts, was ihr gefallen hätte‹ … Aber jetzt gestatten Sie mir, Sie auch meiner Gemahlin vorzustellen. Hier – das ist Arina Petrowna, eine an den Füßen gelähmte Dame, dreiundvierzig Jahre alt, laufen kann sie zwar noch, aber nur wenig. Sie ist eine einfache Frau. Arina Petrowna, glätten Sie Ihre Gesichtszüge, hier – das ist Alexej Fjodorowitsch Karamasow. Stehen Sie auf, Alexej Fjodorowitsch!« Er packte ihn am Arm und zog ihn plötzlich mit einer Kraft, die man ihm nicht zugetraut hätte, hoch. »Sie werden einer Dame vorgestellt, da müssen Sie doch aufstehen. Das ist nicht der Karamasow, Mamachen, der … und so weiter, sondern sein Bruder, der durch demütige Tugenden glänzt. Erlauben Sie, Arina Petrowna, erlauben Sie, Mamachen, daß ich Ihnen zunächst die Hand küsse.« Und er küßte seiner Frau respektvoll, ja zärtlich die Hand; das hochmütig fragende Gesicht der Mutter wurde auf einmal außerordentlich freundlich. Das Mädchen am Fenster drehte der Szene empört den Rücken zu.

»Seien Sie willkommen, setzen Sie sich, Herr Karamasow, oder wie Sie sonst heißen. Setzen Sie sich doch, warum hat er Sie veranlaßt aufzustehen? Eine an den Füßen gelähmte Dame, sagt er. Ja, meine Füße sind geschwollen, wie Eimer, doch am übrigen Körper bin ich ganz dürr. Früher, da war ich wer weiß wie dick. Jetzt sehe ich aus, als ob ich eine Nadel verschluckt hätte …«

»Sie ist eine einfache Frau, eine einfache Frau«, flüsterte der Stabskapitän Aljoscha abermals zu.

»Papa!« rief plötzlich das bucklige Mädchen, das bisher still auf seinem Stuhl gesessen hatte, und hielt sich das Taschentuch vor die Augen.

»So ein Possenreißer«, rief das Mädchen am Fenster heftig.

»Sehen Sie, was es bei uns für Neuigkeiten gibt«, sagte die Mutter, indem sie die Arme ausbreitete und auf ihre Töchter wies. »Es ist, wie wenn die Wolken ziehen; die Wolken ziehen vorüber, und es beginnt wieder unsere Musik. Früher, als wir noch beim Militär waren, kamen viele solche Gäste zu uns. Ich will damit keinen Vergleich der Verdienste anstellen, werter Herr. Wer einen liebt, den soll man wieder lieben. Damals kam die Frau des Diakonus zu mir und sagte: ›Alexander Alexandrowitsch ist ein Mann von vortrefflichem Charakter, aber Nastasja Petrowna‹, sagte sie, ›die ist ein Auswurf der Hölle.‹ – ›Na‹, antwortete ich, ›das kommt darauf an, wen man liebt und verehrt; du aber bist ein Häufchen, das zwar nur klein ist, aber arg stinkt.‹ – ›Dich‹, sagte sie, ›müßte man stramm im Zügel halten.‹ – ›Ach du alte Schraube‹, sagte ich, ›wen meinst du denn hier belehren zu können?‹ – ›Ich‹, sagte sie ›lasse frische Luft in mein Zimmer, du verdirbst die Luft.‹ – ›Frag doch mal‹, antwortete ich, ›alle Herren Offiziere, ob ich die Luft verderbe – oder vielmehr eine andere Person.‹ Und das liegt mir seitdem auf der Seele. Als ich nun neulich hier saß wie jetzt und denselben General eintreten sah, der schon zu Ostern gekommen war, da sagte ich zu ihm: ›Wie ist das, Exzellenz, darf eine vornehme Dame frische Luft hereinlassen?‹ – ›Ja‹, antwortete er, ›bei Ihnen müßte die Luftklappe oder die Tür geöffnet werden; die Luft bei Ihnen ist nicht frisch …‹ Na, und so sind sie alle! Was sie nur mit meiner Luft haben? Leichen riechen doch noch schlechter. ›Ich werde Ihre Luft nicht verderben, sagte ich, ›sondern mir ein Paar Schuhe bestellen und gehen.‹ Um Gottes willen, meine Lieben, macht eurer Mutter keine Vorwürfe! Nikolai Iljitsch, Väterchen, habe ich etwas nicht recht gemacht? Meine ganze Freude ist ja, wenn Illuschetschka aus der Schule kommt und so lieb zu mir ist. Gestern hat er mir einen Apfel gebracht. Verzeiht um Gottes willen, meine Lieben, eurer Mutter! Verzeiht mir, der Vereinsamten, woher ist euch nur meine Luft so zuwider geworden?«

Die arme Irre begann plötzlich zu schluchzen, Tränen traten ihr in die Augen. Der Stabskapitän sprang eilig zu ihr.

»Mamachen, Mamachen, Täubchen, hör auf, hör auf! Du bist nicht vereinsamt. Alle lieben wir dich, alle verehren wir dich!« Und er begann ihr wieder beide Hände zu küssen und ihr zärtlich das Gesicht zu streicheln; dann ergriff er die Serviette und machte sich daran, ihr die Tränen vom Gesicht wegzuwischen. Aljoscha glaubte sogar zu sehen, daß er selbst weinte. »Nun, haben Sie es gesehen? Haben Sie es gehört?« wandte er sich auf einmal grimmig zu Aljoscha um und zeigte mit der Hand auf die Schwachsinnige.

»Ich sehe und höre«, murmelte Aljoscha.

»Papa! Willst du wirklich mit ihm … Laß ihn doch laufen, Papa!« rief plötzlich der Sohn, richtete sich auf seinem Bett auf und sah den Vater mit brennenden Augen an.

»Hören Sie doch endlich auf, den Hanswurst zu spielen und Ihre dummen Faxen zu machen, die nie zu etwas Gutem führen!« rief ihm die Tochter Warwara Nikolajewna zu; sie war wütend und stampfte sogar mit dem Fuß auf.

»Mit vollem Recht belieben Sie diesmal außer sich zu geraten, Warwara Nikolajewna, und ich werde Sie schnellstens zufriedenstellen. Setzen Sie Ihre Mütze auf, Alexej Fjodorowitsch, ich werde die meinige auch nehmen – und dann kommen Sie! Ich muß ein paar ernste Worte mit Ihnen reden, aber außerhalb dieser Wände. Das Mädchen, das da sitzt, ist meine Tochter Nina Nikolajewna, ich habe vergessen, sie Ihnen vorzustellen, ein Engel in Menschengestalt, der zu uns Sterblichen herabgeflogen ist … Wenn Sie das überhaupt verstehen können …«

»Er zittert ja am ganzen Leib, als ob er Krämpfe hat!« fuhr Warwara Nikolajewna unwillig fort.

»Und die da, die jetzt vor Unwillen mit dem Fuß stampft und mich eben einen Hanswurst genannt hat, ist ebenfalls ein Engel Gottes in Menschengestalt, und sie hat mich mit Recht beschimpft … Gehen wir, Alexej Fjodorowitsch, wir müssen zu Ende kommen …«

Er nahm Aljoscha bei der Hand und führte ihn aus dem Zimmer auf die Straße,

7. Und an frischer Luft

»Die Luft hier ist frisch, in meiner Behausung dagegen ist sie es durchaus nicht, in keiner Bedeutung des Wortes. Lassen Sie uns langsam gehen, mein Herr! Es liegt mir daran, Ihr Interesse für mich zu erregen.«

»Ich habe selber ein Anliegen an Sie …«, bemerkte Aljoscha. »Ich weiß nur nicht, wie ich anfangen soll.«

»Wie sollte ich nicht wissen, daß Sie ein Anliegen an mich haben? Ohne ein Anliegen würden Sie niemals einen Blick zu mir hereinwerfen. Oder sind Sie wirklich nur gekommen, um sich über den Jungen zu beschweren! Das ist doch unwahrscheinlich. Aber da ich gerade den Jungen erwähne – ich konnte Ihnen da drin nicht alles auseinandersetzen, jetzt will ich Ihnen diese Szene schildern. Sehen Sie, der Bastwisch war früher, noch vor einer Woche, dichter – ich rede von meinem Bärtchen, die Leute haben es Bastwisch getauft, besonders die Schulknaben. Nun, und an diesem Bärtchen zog mich damals Ihr Bruder Dmitri Fjodorowitsch, um nichts und wieder nichts, er suchte Streit, und ich kam ihm in den Weg. Er zog mich aus dem Restaurant auf den Marktplatz, da kamen gerade die Schüler aus der Schule, und unter ihnen auch Iljuscha. Als er mich in dieser unwürdigen Lage sah, stürzte er zu mir: ›Papa‹, schrie er, ›Papa!‹ Er faßte mich, umschlang mich, wollte mich losreißen und schrie Ihrem Herrn Bruder zu: ›Lassen Sie ihn los, lassen Sie ihn los! Das ist mein Papa, mein Papa, üben Sie Gnade mit ihm!‹ Ja, das schrie er. ›Üben Sie Gnade mit ihm!‹ Mit seinen Händchen griff er nach ihm, küßte ihm die Hand, diese selbe Hand, die … Ich erinnere mich, was er in diesem Augenblick für ein Gesichtchen hatte. Ich habe es nicht vergessen, und werde es nicht vergessen!«

»Ich schwöre Ihnen«, rief Aljoscha, »mein Bruder wird Ihnen aufrichtigste Reue bezeigen! Wenn Sie es verlangen, auf den Knien, auf jenem Marktplatz! Ich werde ihn dazu zwingen, oder er soll nicht mehr mein Bruder sein!«

»Aha, das befindet sich also alles noch im Stadium des Projektes. Das geht nicht direkt von ihm aus, sondern entspringt aus dem Edelmut Ihres Herzens. Das hätten Sie gleich sagen sollen. Erlauben Sie mir unter diesen Umständen, auch von der höchst ritterlichen, eines Offiziers würdigen edlen Gesinnung zu reden, die Ihr Bruder damals an den Tag gelegt hat. Als er aufgehört hatte, mich am Bastwisch zu ziehen, sagte er: Du bist Offizier, und ich bin Offizier. Wenn du einen Sekundanten finden kannst, einen anständigen Menschen, schick ihn zu mir. Ich werde dir Satisfaktion geben, obgleich du ein Schurke bist! So sprach er. Eine wahrhaft ritterliche Denkungsart! Ich bin dann gleich weggegangen mit Iljuscha, doch dieses Bild aus dem Leben einer adligen Familie hat sich meinem Söhnchen fürs ganze Leben eingeprägt. Was soll ich nun als Adliger anfangen? Urteilen Sie selbst, Sie sind ja eben selbst in meiner Wohnung gewesen, was haben Sie da gesehen? Da sitzen drei Damen: Die eine ist an den Füßen gelähmt und schwachsinnig, die andere ebenfalls an den Füßen gelähmt und bucklig, und die dritte hat zwar gesunde Füße, ist aber schon allzu klug, eine Studentin, will wieder nach Petersburg, um an den Ufern der Newa die Rechte der russischen Frau zu suchen. Von Iljuscha rede ich schon gar nicht, der ist erst neun Jahre alt und völlig hilflos. Wenn ich sterbe, was wird dann aus meinen Angehörigen? Das möchte ich Sie nur fragen. Wenn ich ihn nun unter diesen Umständen zum Duell fordere und er mich tötet, was dann? Welches Schicksal erwartet sie dann? Noch schlimmer – wenn er mich nicht tötet, sondern nur zum Krüppel schießt? Dann kann ich nicht arbeiten, der Mund aber bleibt dennoch, wer wird ihn dann füttern, meinen Mund, und wer wird die anderen alle füttern? Oder sollen wir Iljuscha statt in die Schule alle Tage zum Betteln schicken? Nun wissen Sie, was es für mich bedeutet, ihn zum Duell zu fordern! Nur ein dummes Wort, weiter nichts.«

»Er wird Sie um Verzeihung bitten! Er wird Ihnen mitten auf dem Marktplatz zu Füßen fallen«, rief Aljoscha wieder mit flammenden Augen.

»Ich wollte ihn vor Gericht bringen«, fuhr der Stabskapitän fort, »aber schlagen Sie mal unser Gesetzbuch auf, ob ich eine

Genugtuung für diese persönliche Beleidigung erlangen kann. Und außerdem ließ mich nun noch Agrafena Alexandrowna

zu sich rufen und schrie mich an: ›Untersteh dich nicht, das zu tun! Wenn du ihn vor Gericht bringst, werde ich dafür sorgen, daß es in der ganzen Welt öffentlich bekannt wird, wieso er dich geprügelt hat, wegen deiner eigenen Schurkerei! Dann wird man dir selbst den Prozeß machen!‹ Aber Gott allein weiß, von wem diese Schurkerei ausging und auf wessen Befehl ich untergeordnetes Wesen dabei handelte. Handelte ich denn nicht auf ihre eigene und Fjodor Pawlowitschs Anordnung? ›Und außerdem‹, fügte sie hinzu, ›werde ich dich für immer fortjagen, und du wirst nichts mehr bei mir verdienen. Auch meinem Kaufmann werde ich es sagen …‹ So nennt sie den Alten: mein Kaufmann. ›Dann wird auch der dich wegjagen!‹ Da dachte ich: Wenn auch der Kaufmann mich wegjagt, was dann? Bei wem soll ich dann etwas verdienen? Denn das sind die beiden einzigen, die mir geblieben sind, da Ihr Vater Fjodor Pawlowitsch mir nicht nur aus einem anderen Grund sein Vertrauen entzogen hat, sondern mich auch noch, gestützt auf meine Quittungen, selbst vor Gericht bringen will. Infolgedessen habe ich mich still verhalten. Sie haben nun einen tiefen Blick in alle diese Verhältnisse getan. Und gestatten Sie mir jetzt die Frage: Hat Iljuscha Sie heute schmerzhaft in den Finger gebissen? Im

Zimmer wollte ich vor ihm nicht auf diesen Punkt eingehen.«

»Ja, sehr schmerzhaft. Er war in sehr gereizter Stimmung. Er nahm, weil ich ein Karamasow bin, an mir Rache für die Ihnen zugefügte Beleidigung. Aber wenn Sie gesehen hätten, wie die Steine zwischen ihm und seinen Schulkameraden hin und her flogen! Das ist sehr gefährlich. Seine Kameraden hätten ihn totwerfen können, sie sind dumme Kinder. So ein Stein fliegt und kann einem den Kopf zerschmettern.«

»Auch heute hat ihn schon wieder ein Stein getroffen, nicht an den Kopf, aber an die Brust, oberhalb des Herzens. Er hat einen blauen Fleck davon bekommen. Als er nach Hause kam, weinte und stöhnte er, und nun ist er krank geworden.«

»Aber wissen Sie, er greift ja von selber zuerst an. Er ist Ihretwegen wütend. Sie sagen, er hat heute einem gewissen Krassotkin mit dem Messer in die Seite gestochen …«

»Auch davon habe ich gehört, das ist gefährlich. Dieser Krassotkin ist der Sohn einer hiesigen Beamtenwitwe, da werden wir vielleicht noch Unannehmlichkeiten haben …«

»Ich würde Ihnen raten«, fuhr Aljoscha mit Wärme fort, »ihn eine Zeitlang überhaupt nicht in die Schule zu schicken, bis er sich beruhigt hat. Der Zorn, der jetzt in ihm ist, wird vergehen …«

»Zorn!« fiel der Stabskapitän ein. »Ganz richtig, Zorn. Er ist nur ein kleines Wesen, aber es steckt ein großer Zorn in ihm. Sie wissen noch nicht alles. Erlauben Sie, daß ich Ihnen diese Geschichte gesondert erzähle. Nach jenem Vorfall begannen ihn alle Schüler der Schule mit dem Wort Bastwisch zu necken. Die Kinder in der Schule sind ein erbarmungsloses Volk. Einzeln sind sie Engel Gottes, zusammen jedoch sehr oft erbarmungslos. Sie begannen ihn zu necken, und da empörte sich in Iljuscha der adlige Geist. Ein gewöhnlicher Junge, ein schwaches Söhnchen, hätte sich gefügt, hätte sich seines Vaters geschämt – er aber erhob sich, einer gegen alle. Als Verteidiger seines Vaters und für Wahrheit und Recht. Denn was er damals erduldet hat, als er Ihrem Bruder die Hand küßte und ihn um Gnade für seinen Vater bat, das weiß nur Gott allein und ich. Und so erkennen denn unsere Kinderchen, das heißt nicht Ihre, sondern unsere Kinderchen, die Kinder verachteter adliger Bettler, die Wahrheit auf Erden schon mit neun Jahren. Bei den Reichen ist das unmöglich, die dringen ihr ganzes Leben lang nicht in solche Tiefe. Aber mein Iljuscha hat in jenem Augenblick, auf dem Marktplatz, als er Ihrem Bruder die Hand küßte, die ganze Wahrheit erkannt. Diese Wahrheit überwältigte ihn und schlug ihn für immer zu Boden«, sagte der Stabskapitän hitzig und schlug dabei mit der rechten Faust in die linke Handfläche, als ob er verdeutlichen wollte, wie »die Wahrheit« seinen Sohn zu Boden geschlagen hatte. »Gleich damals fieberte und phantasierte er die ganze Nacht. Den ganzen Tag sprach er nur wenig mit mir, er schwieg fast ganz, doch ich bemerkte, daß er mich aus seiner Ecke immerzu beobachtete und sich immerzu über das Fensterbrett beugte und tat, als ob er seine Aufgaben lernte; ich sah aber, daß er etwas anderes als seine Aufgaben im Kopf hatte. Am folgenden Tag betrank ich mich vor Kummer, ein sündiger Mensch wie ich bin, und erinnere mich an vieles nicht. Das Mamachen hatte ebenfalls angefangen zu weinen, und das Mamachen hab ich sehr lieb, na, und da betrank ich mich denn vor Kummer für mein letztes Geld. Verachten Sie mich deshalb nicht, mein Herr, bei uns in Rußland sind die Trinker die besten Menschen. Die besten Menschen bei uns sind die schlimmsten Trinker. Ich lag da und kümmerte mich an diesem Tag nicht viel um Iljuscha, doch ab eben diesem Tag begannen sie ihn in der Schule vom Morgen an zu verhöhnen: ›Bastwisch!‹ riefen sie. ›Dein Vater ist an seinem Bastwisch aus der Kneipe gezerrt worden, und du bist daneben hergelaufen und hast um Gnade gebettelt!‹ Als er am dritten Tag wieder aus der Schule kam, bemerkte ich, daß sein Gesicht ganz entstellt und blaß aussah. ›Was hast du denn?‹ fragte ich. Er schwieg. Na, im Zimmer konnte ich nicht gut mit ihm darüber reden, sonst hätten sich das Mamachen und die Mädchen ins Gespräch eingemischt; außerdem hatten die Mädchen schon längst alles erfahren, gleich am ersten Tag. Warwara Nikolajewna fing schon an zu brummen: ›Ihr Possenreißer, ihr Hanswurste, Vernunft ist bei euch kein bißchen zu finden!‹ – ›Ganz richtig, Warwara Nikolajewna‹, sagte ich, ›Vernunft ist bei uns nicht zu finden!‹ Damit beendete ich diesmal das Gespräch. Am Abend nahm ich den Jungen mit zu einem Spaziergang. Sie müssen nämlich wissen, daß wir früher jeden Abend spazierengegangen sind, genau denselben Weg, den wir beide jetzt gehen, von unserem Pförtchen bis zu dem großen Stein, der dort neben dem Zaun am Weg liegt, da, wo die städtischen Weideplätze anfangen – eine hübsche, einsame Gegend. Ich ging also mit Iljuscha. Sein Händchen lag wie gewöhnlich in meiner Hand, er hat ein so winziges Händchen und so schmale, kalte Fingerchen, er ist ja brustleidend. ›Papa‹, sagte er, ›Papa!‹ – ›Was denn?‹ fragte ich. Ich sah, daß seine Augen glänzten. ›Papa, wie durfte er dir das damals tun?‹ – ›Was soll man machen, Iljuscha!‹ sagte ich. – ›Versöhne dich nicht mit ihm, Papa! Versöhn dich nicht mit ihm! Die Schüler sagen, er hat dir zehn Rubel gegeben?‹ – ›Nein‹, sagte ich, ›Geld werde ich von ihm unter keinen Umständen annehmen.‹ Da ging eine Erschütterung durch seinen ganzen Körper; er nahm meine Hand in seine kleinen Hände und küßte sie immer wieder. ›Papa‹, sagte er, ›Papa! Fordere ihn doch zum Duell! In der Schule necken sie mich und sagen, du seist ein Feigling und willst ihn nicht zum Duell fordern, weil du zehn Rubel von ihm nimmst.‹ – ›Zum Duell kann ich ihn nicht fordern, Iljuscha‹, sagte ich und setzte ihm in Kürze alles auseinander, was ich Ihnen eben auseinandergesetzt habe. Er hörte mir zu. ›Papa‹, sagte er dann, ›Papa, versöhn dich trotzdem nicht mit ihm. Ich werde, wenn ich groß bin, ihn selber fordern und töten!‹ Seine Augen glühten. Nun, bei alledem bin ich doch sein Vater und mußte ihm ein Wort der Wahrheit sagen. ›Es ist Sünde‹, sagte ich zu ihm, ›einen Menschen zu töten, auch im Zweikampf.‹ – ›Papa‹, sagte er, ›Papa, ich werde ihn zu Boden werfen, wenn ich groß bin. Ich werde ihm seinen Säbel aus der Hand schlagen, mich auf ihn stürzen, ihn zu Boden werfen, mit dem Säbel ausholen und sagen: Ich könnte dich töten, aber ich verzeihe dir! Da hast du es!‹ – Sehen Sie, mein Herr, was für ein Denkprozeß während dieser zwei Tage in seinem kleinen Kopf vorgegangen war? Tag und Nacht hatte er nur an diese Rache mit dem Säbel gedacht und nachts gewiß davon geträumt. Seitdem ist er aus der Schule immer arg zugerichtet nach Hause gekommen, das habe ich alles erst vorgestern erfahren. Sie haben recht, ich werde ihn nicht mehr in diese Schule schicken. Ich hörte, daß er allein der ganzen Klasse gegenübersteht und alle herausfordert. Er muß sich in so eine Wut gesteigert haben, daß ihm geradezu das Herz in der Brust entbrannt ist. Ich bete aus Angst um ihn. Wir gingen wieder einmal spazieren. ›Papa‹, fragte er, ›Papa, die Reichen sind wohl die Stärksten auf der Welt?‹ – ›Ja‹, sagte ich, ›Iljuscha, nichts auf der Welt ist stärker als ein Reicher!‹ – ›Papa‹, sagte er, ›ich werde reich, ich werde Offizier und werde alle Feinde niederschlagen. Der Zar wird mich auszeichnen, ich werde wiederkommen, und dann wird es niemand wagen …‹ Er schwieg ein Weilchen, dann sagte er, die Lippen zuckten ihm noch immer wie vorher: ›Papa‹, sagte er, ›wie häßlich unsere Stadt doch ist, Papa!‹ – ›Ja‹, sagte ich, ›Iljuschetschka, unsere Stadt ist nicht sehr schön.‹ – ›Papa, laß uns in eine andere Stadt ziehen, in eine schöne Stadt!‹ sagte er. ›In eine Stadt, wo man nichts von uns weiß!‹ – ›Wir werden umziehen‹, sagte ich. ›Wir werden umziehen, Iljuscha! Ich spare nur erst Geld dafür …‹ Ich freute mich über die Gelegenheit, ihn von seinen trüben Gedanken abzulenken, und wir begannen uns beide auszumalen, wie wir in eine andere Stadt ziehen und uns dazu ein eigenes Pferdchen und ein eigenes Wägelchen kaufen. ›Das Mamachen und die Schwestern‹, sagte ich, ›setzen wir hinein und decken sie gut zu. Wir selbst laufen nebenher. Manchmal werde ich auch dich hineinsetzen, doch ich werde immer nebenher gehen, denn wir müssen doch unser Pferdchen schonen und können uns nicht alle hineinsetzen.‹ So wollten wir uns auf den Weg machen. Er war davon entzückt, besonders darüber, daß das Pferdchen ihm gehören und er selbst darauf reiten sollte. Es ist ja bekannt, daß ein russischer Junge sozusagen zusammen mit einem Pferdchen geboren wird … So plauderten wir lange. ›Gott sei Dank!‹ dachte ich. ›Ich habe ihn ein bißchen zerstreut und getröstet.‹ Das war vorgestern abend. Gestern abend jedoch zeigte sich ein ganz anderes Bild. Er war am Morgen wieder in diese Schule gegangen und mit finsterer Miene zurückgekehrt, mit sehr finsterer Miene. Am Abend nahm ich ihn bei der Hand und ging mit ihm spazieren. Er schwieg, redete kein Wort. Es hatte sich ein Wind erhoben, die Sonne war dunkel geworden, es war richtig herbstlich und dämmerte schon – wir gingen, und uns beiden war traurig zumute. ›Na, mein Junge‹, sagte ich, ›wie werden wir uns denn auf die Reise machen?‹ Ich wollte ihn wieder auf das Gespräch vom vorigen Tag bringen. Er schwieg. Ich fühlte nur, wie seine Finger in meiner Hand zuckten. ›O weh‹, dachte ich, ›das ist schlimm, da gibt es etwas Neues!‹ Wir kamen, wie jetzt, an diesen Stein. Ich setzte mich darauf, am Himmel schwebten eine Menge Drachen, die die Kinder steigen ließen, sie rauschten und knatterten, man konnte an die dreißig Drachen sehen. Es ist ja jetzt die richtige Jahreszeit, um Drachen steigen zu lassen. Weißt du, Iljuscha, sagte ich, jetzt sollten auch wir den Drachen vom vorigen Jahr steigen lassen. Ich werde ihn ausbessern, wo hast du ihn verwahrt? Mein Junge schwieg und blickte zur Seite und wandte sich von mir ab. Da heulte der Wind auf einmal los, der Sand flog wirbelnd in die Höhe. Der Junge stürzte plötzlich zu mir, umschlang mit beiden Ärmchen meinen Hals und drängte sich an mich. Wissen Sie, schweigsame, stolze Kinder halten ihre Tränen oft lange zurück, doch wenn sie vor großem Kummer einmal weinen müssen, dann strömen die Tränen wie Bäche. Mit solchen Tränenbächen benetzte er mir das ganze Gesicht. Er schluchzte krampfhaft, bebte am ganzen Körper und drückte mich an sich; ich saß auf dem Stein. ›Papachen‹, rief er, ›Papachen, liebes Papachen, wie hat er dich erniedrigt!‹ Da fing ich auch an zu schluchzen, wir saßen beide und hielten uns umschlungen. ›Papachen‹, sagte er, ›Papachen!‹ – ›Iljuscha‹, sagte ich zu ihm, ›Iljuschetschka!‹ Niemand hat uns damals gesehen, nur Gott, vielleicht hat er es in mein Konto eingetragen … Bestellen Sie Ihrem Bruder meinen Dank, Alexej Fjodorowitsch! Nein, ich werde meinen Jungen nicht zu Ihrer Genugtuung verprügeln!«

Er hatte boshaft und närrisch wie vorhin geendet. Doch Aljoscha fühlte, daß der Stabskapitän bereits Vertrauen zu ihm gefaßt hatte, daß er einem anderen gegenüber nicht so aus sich herausgegangen wäre und ihm nicht das mitgeteilt hätte, was er ihm soeben mitgeteilt hatte.

Dieser Gedanke ermutigte Aljoscha, der zutiefst erschüttert war.

»Wie gern möchte ich mich mit Ihrem Jungen aussöhnen!« rief er. »Wenn Sie das zuwege brächten?«

»Sehr wohl«, murmelte der Stabskapitän.

»Aber jetzt von etwas ganz anderem, hören Sie mich an!« fuhr Aljoscha eifrig fort. »Hören Sie mich an! Ich habe einen Auftrag an Sie. Mein Bruder, dieser Dmitri, hat auch seine Braut beleidigt, ein sehr edeldenkendes Mädchen, von dem Sie sicher schon gehört haben. Ich habe ein Recht, vor Ihnen von der ihr angetanen Beleidigung zu reden, und ich muß es sogar tun. Denn als sie von der Ihnen zugefügten Beleidigung hörte und von Ihrer unglücklichen Lage erfuhr, hat sie mich sogleich beauftragt, Ihnen diese … Beihilfe von ihr zu überbringen … Aber nur von ihr allein, nicht von Dmitri, der auch sie gekränkt und im Stich gelassen hat. Von ihm nicht, auch nicht von mir, seinem Bruder, auch nicht von sonst jemandem, sondern von ihr, nur von ihr allein! Sie bittet Sie inständig, ihre Hilfe anzunehmen … Sie sind beide von demselben Menschen beleidigt worden. Sie hat sich Ihrer erst erinnert, als sie von ihm ebenso beleidigt worden war wie Sie, das heißt ebenso schwer. Eine Schwester kommt also ihrem Bruder zu Hilfe … Sie hat mich ausdrücklich beauftragt, ich soll Sie überreden, diese zweihundert Rubel von ihr anzunehmen wie von einer Schwester, weil sie weiß, daß Sie sich in Not befinden. Niemand wird etwas davon erfahren, es kann kein häßliches Gerede entstehen. Da sind die zweihundert Rubel, und ich bitte Sie, Sie müssen sie annehmen, sonst … sonst müßten ja alle Menschen auf der Welt einander feindlich gesinnt sein! Aber es gibt auch Brüder auf der Welt! Sie sind ein edler Mensch, Sie müssen das einfach verstehen! Ja, das müssen Sie!«

Und Aljoscha hielt ihm zwei neue, regenbogenfarbene Hundertrubelscheine hin. Sie standen in diesem Augenblick gerade an dem großen Stein am Zaun, und ringsrum war niemand zu sehen.

Die Banknoten schienen auf den Stabskapitän einen gewaltigen Eindruck zu machen. Er fuhr zusammen, zunächst aber offenbar nur vor Erstaunen; er hatte dergleichen auch nicht im entferntesten geahnt und so einen Ausgang des Gesprächs ganz und gar nicht erwartet. Hilfe von jemand, und noch dazu eine so beträchtliche Hilfe – der Gedanke war ihm nicht einmal im Traum gekommen. Er nahm die Geldscheine und konnte fast eine Minute nicht antworten. Sein Gesicht bekam einen ganz neuen Ausdruck.

»Das soll für mich sein? Für mich? So viel Geld, zweihundert Rubel! O Gott! Seit vier Jahren habe ich so eine Geldsumme nicht mehr gesehen, mein Gott! Und sie sagt, sie ist eine Schwester? … Und das soll wahr sein, wirklich wahr?«

»Ich schwöre Ihnen, daß alles, was ich Ihnen gesagt habe, wahr ist!« rief Aljoscha.

Der Stabskapitän errötete. »Hören Sie mal, mein Täubchen, hören Sie mal. Wenn ich das annehme, bin ich dann auch kein Schuft? Bin ich in Ihren Augen dann auch kein Schuft, Alexej Fjodorowitsch? Nein, hören Sie, Alexej Fjodorowitsch, hören Sie«, fuhr er hastig fort und berührte Aljoscha mit beiden Händen. »Sie wollen mich dadurch überreden, daß es ›eine Schwester‹ schickt. Aber werden Sie mich auch nicht im stillen verachten, wenn ich es annehme? Wie?«

»Aber nein doch, nein! Bei meinem Seelenheil schwöre ich Ihnen, daß ich das nicht tun werde! Und niemand wird je etwas davon erfahren. Nur ich weiß es und Sie und die Spenderin. Und noch eine Dame, eine gute Freundin von ihr …«

»Was kümmert mich die Dame! Hören Sie, Alexej Fjodorowitsch, hören Sie mich an! Jetzt ist der Augenblick gekommen, wo Sie mich anhören müssen, denn Sie können sich keinen Begriff machen, was diese zweihundert Rubel jetzt für mich bedeuten«, fuhr der Mensch fort und geriet allmählich in eine maßlose Verzückung. Er war wie von Sinnen und redete hastig, als befürchtete er, man würde ihn nicht zu Ende sprechen lassen.

»Abgesehen davon, daß ich dieses Geld ehrlich erworben hätte, von einer geachteten, gottesfürchtigen ›Schwester‹ – wissen Sie auch, daß ich das Mamachen und Ninotschka, meinen verwachsenen Engel, mein Töchterchen, jetzt gesund machen kann? Doktor Herzenstube kam vor einiger Zeit und untersuchte sie beide eine ganze Stunde lang. ›Ich verstehe nichts‹, sagte er dann. Jedoch werde dem Mamachen gewiß ein Mineralwasser helfen, das in der hiesigen Apotheke zu haben ist (er verschrieb es ihr). Fußbäder aus gewissen Arzneien verschrieb er ihr ebenfalls. Das Mineralwasser kostet dreißig Kopeken der Krug, und man muß vielleicht vierzig Krüge trinken. So nahm ich denn das Rezept und legte es auf das Wandbrett unter die Heiligenbilder, und da liegt es noch. Und für Ninotschka verordnete er heiße Wannenbäder mit irgendeiner Lösung, täglich morgens und abends. Aber wie können wir so eine Kur bei uns bewerkstelligen, in unserer Stube, ohne Bedienung, ohne Wanne und ohne solches Wasser? Ninotschka leidet sehr an Rheumatismus, ich habe Ihnen das noch nicht gesagt. Nachts tut ihr die ganze rechte Seite weh, sie hat schreckliche Schmerzen, aber – können Sie es glauben? Dieser Engel Gottes nimmt alle Kraft zusammen, um uns nicht zu stören! Sie stöhnt nicht, um uns nicht aufzuwecken. Wir essen, was wir bekommen können, was wir gerade haben, und sie nimmt sich das allerschlechteste Stück, das man eigentlich nur einem Hund vorwerfen kann! Ich bin diesen Bissen nicht wert, ich nehme ihn euch weg, ich bin nur eine Last für euch – das ist es, was ihr Engelsblick ausdrückt. Wir bedienen sie, ihr aber ist das peinlich. ›Ich bin das nicht wert‹, sagt sie. ›Ich bin das nicht wert. Ich bin ein unwürdiger, nutzloser Krüppel!‹ Aber sie sollte das nicht wert sein, wo sie doch in ihrer engelhaften Sanftmut mit ihrem Gebet bei Gott für uns alle eintritt? Ohne sie, ohne ihr stilles Wort wäre bei uns die Hölle, sogar auf Warja hat sie einen mildernden Einfluß ausgeübt. Und was nun Warwara Nikolajewna betrifft, so dürfen Sie auch sie nicht verdammen. Auch sie ist ein Engel, auch ihr ist Unrecht widerfahren. Sie kam im Sommer zu uns und brachte sechzehn Rubel mit, die sie sich durch Stundengeben verdient hatte. Sie hob sich das Geld für die Rückreise auf, um damit im September, das heißt jetzt, nach Petersburg zurückzufahren. Aber wir nahmen ihr Geld und verbrauchten es zum Leben, und sie besitzt jetzt keine Mittel zur Rückreise – ja, so ist das! Und sie kann auch deshalb nicht fahren, weil sie wie eine Zuchthäuslerin für uns arbeitet. Wir haben sie wie einen Karrengaul eingespannt, allen wartet sie auf, flickt, wäscht, fegt aus, legt das Mamachen ins Bett, denn das Mamachen ist launisch, das Mamachen ist weinerlich, das Mamachen ist irrsinnig! Da kann ich jetzt für diese zweihundert Rubel eine Hilfskraft mieten, verstehen Sie wohl, Alexej Fjodorowitsch? Ich kann die Heilung dieser lieben Wesen in Angriff nehmen. Ich kann meine Studentin nach Petersburg zurückschicken, kann Rindfleisch kaufen und eine neue Kost einführen. O Gott, das ist wohl nur ein schöner Traum!«

Aljoscha war erfreut, daß er so viel Glück bereitet hatte, daß der Mensch eingewilligt hatte, sich beglücken zu lassen.

»Warten Sie noch, Alexej Fjodorowitsch! Warten Sie noch!« rief der Stabskapitän. Wieder griff er nach einer neuen Idee, die ihm plötzlich eingegeben worden war, wieder begann er wie verzückt schnell und hastig zu reden. »Wissen Sie auch, daß wir, ich und Iljuschka, jetzt womöglich unseren phantastischen Plan verwirklichen werden? Wir kaufen ein Pferdchen und einen Reisewagen, das Pferd muß ein Rappe sein, er hat ausdrücklich verlangt, es müßte ein Rappe sein. Und dann machen wir uns auf den Weg, wie wir uns das vorgestern ausgemalt haben. Im Gouvernement K. wohnt ein Bekannter von mir, ein Jugendfreund. Durch einen zuverlässigen Menschen habe ich erfahren, er würde mir bei sich die Stelle eines Bürovorstehers geben – wer weiß, vielleicht tut er es wirklich? Na, da setze ich dann das Mamachen und Ninotschka auf den Wagen, Iljuschetschka lasse ich kutschieren, und ich selbst gehe zu Fuß: so bewerkstellige ich unseren Umzug … O Gott, wenn ich nur die eine kleine Summe zurückerhalten könnte, die ich hier jemandem geliehen habe und für verloren ansehen muß! Dann würde es vielleicht auch dazu reichen?«

»Es wird reichen, es wird reichen!« rief Aljoscha. »Katerina Iwanowna wird Ihnen noch mehr geben. Soviel Sie brauchen. Und wissen Sie, ich habe auch etwas Geld – nehmen Sie, soviel Sie brauchen! Betrachten Sie mich als Ihren Bruder, als Ihren Freund! Sie können es mir später wiedergeben, denn sie werden reich werden, ja reich werden! Und wissen Sie, Sie konnten sich gar nichts Besseres ausdenken als diesen Umzug in ein anderes Gouvernement! Das ist Ihre Rettung, und vor allem die Rettung Ihres Sohnes! Und wissen Sie, führen Sie den Plan recht bald aus, noch vor dem Winter, ehe es kalt wird! Und dann schreiben Sie uns von dort, und wir wollen Brüder bleiben! Nein, das ist keine Träumerei!«

Aljoscha wollte ihn schon umarmen, so zufrieden war er. Doch als er ihn ansah, zögerte er plötzlich. Der Stabskapitän,

stand da mit gestrecktem Hals, vorgeschobenen Lippen und entstelltem, blassem Gesicht und bewegte die Lippen, als ob er etwas sagen wollte. Es war aber kein Laut zu hören, er bewegte nur die Lippen. Es war ein seltsamer Anblick.

»Was haben Sie?« fragte Aljoscha erschrocken.

»Alexej Fjodorowitsch, ich … Sie … », murmelte der Stabskapitän stockend und starrte ihn sonderbar wild an. Seine Miene war die eines Menschen, der sich entschlossen hat, von einem Berg hinabzustürzen, gleichzeitig aber lag auf seinen Lippen eine Art von Lächeln. »Ich … Sie … Wenn es Ihnen recht ist, werde ich Ihnen jetzt ein kleines Kunststück vormachen!« flüsterte er plötzlich schnell – diesmal fest und ohne zu stocken.

»Was denn für ein Kunststück?«

»Ein kleines Kunststück, so einen Hokuspokus«, antwortete der Stabskapitän immer noch flüsternd. Sein Mund hatte sich ganz nach links gezogen, das linke Auge war zugekniffen: So sah er Aljoscha unverwandt an, als ob seine Blicke an ihm festgenagelt wären.

»Was haben Sie bloß? Und von was für einem Kunststück reden Sie?« rief Aljoscha, nunmehr tief beunruhigt.

»Da haben Sie es, sehen Sie her!« kreischte der Stabskapitän auf einmal.

Er zeigte ihm die beiden regenbogenfarbenen Banknoten, die er während des ganzen Gesprächs an einer Ecke zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand gehalten hatte, zerknitterte sie plötzlich, in einem Anfall von Wut und preßte sie in der rechten Faust zusammen.

»Haben Sie es gesehen, haben Sie es gesehen?« schrie er blaß und außer sich. Dann hob er die Faust und schleuderte die zusammengeknüllten Banknoten mit vollem Schwung in den Sand. »Haben Sie es gesehen?« kreischte er wieder und zeigte mit dem Finger auf sie. »Nun, dann sehen Sie weiter!«

Da hob er den rechten Fuß und begann in blinder Wut mit dem Absatz darauf zu stampfen, und bei jedem Fußtritt schrie und keuchte er.

»Da haben Sie Ihr Geld! Da haben Sie Ihr Geld! Da haben Sie Ihr Geld. Da haben Sie Ihr Geld!«

Dann sprang er zurück und richtete sich vor Aljoscha auf; in seiner ganzen Haltung drückte sich ein unbeschreiblicher Stolz aus.

»Melden Sie denen, die Sie geschickt haben, der Bastwisch verkauft seine Ehre nicht!« kreischte er, die Arme in die Luft gereckt.

Dann drehte er sich rasch um und lief weg. Doch er war noch keine fünf Schritte gelaufen, da drehte er sich noch einmal um und warf Aljoscha eine Kußhand zu. Dann, nachdem er abermals kaum fünf Schritte gelaufen war, drehte er sich zum letztenmal um; diesmal zeigte sein Gesicht kein schiefes Lächeln mehr, es zuckte unter Tränen. Weinend rief er hastig mit stockender, fast versagender Stimme: »Was sollte ich denn meinem Jungen sagen, wenn ich von Ihnen Geld für unsere Schande angenommen hätte?« Nach diesen Worten lief er weg, ohne gleich nochmals umzudrehen.

Aljoscha sah ihm zutiefst betrübt nach. Er begriff, daß der Stabskapitän bis zum letzten Augenblick selbst nicht gewußt hatte, daß er die Geldscheine zerknüllen und auf die Erde schleudern würde. Er wandte sich kein einziges Mal mehr um, und Aljoscha wußte, er würde es auch nicht mehr tun. Ihm folgen oder ihm etwas nachrufen wollte er nicht: er wußte, warum. Doch als der Stabskapitän außer Sichtweite war, hob Aljoscha die Banknoten auf. Sie waren nur stark zusammengeknüllt und in den Sand getreten, sonst aber vollständig heil geblieben und knisterten sogar wie neu, als Aljoscha sie auseinanderfaltete und glattstrich. Nachdem er das getan hatte, legte er sie zusammen, steckte sie in die Tasche und ging zu Katerina Iwanowna, um ihr über den Erfolg ihres Auftrags zu berichten.

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