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654. Nacht

Herr, als ich ihn nun im Begriff sah, sein Verbrechen zu
vollenden, stieß ich einen lauten Schrei aus, ohne an die mir drohende Gefahr
zu denken. Der überraschte Sklave ließ sein Schlachtopfer fahren, und während
er sich nach allen Seiten umsah, hatte ich schon eines der Pferde bestiegen und
schoss ihm von diesem herab einen Pfeil in die Brust. Der Bösewicht stürzte
sogleich zur Erde und versuchte vergebens, sich wieder zu erheben; der Säbel
entfiel seiner unmächtigen Hand, er versuchte es noch, das Eisen aus seinem
Leib zu ziehen, aber das Blut floss stromweise aus seiner Wunde, und seine
wild verstörten Augen schlossen sich auf immer. Ich lief sogleich zu der jungen
Prinzessin, um ihr die Fesseln abzunehmen, mit denen sie belastet war. Sie
wollte sich zu meinen Füßen werfen, aber ich hinderte sie daran. Sie ergriff
meine Hand, bedeckte sie mit Küssen und benetzte sie mit Tränen, wobei sie mir
ihre Dankbarkeit in den leidenschaftlichsten und kräftigsten Ausdrücken zu
erkennen gab; und indem sie hierauf die Augen gen Himmel hob, rief sie aus:
„Großer Gott, ich danke Dir tausendmal, dass Du mir diesen Engel geschickt
hast!“ Sodann sich zu mir wendend, fügte sie hinzu: „Herr, ich rechne
sehr auf Eure Großmut. Habt Mitleid mit einer armen Prinzessin.“

Ich suchte sie durch die süßesten und freundlichsten
Reden zu beruhigen, ohne ihr jedoch meine Verkleidung zu verraten oder den
geringsten Verdacht hinsichtlich meines Geschlechtes bei ihr zu erregen.
Ungeachtet des eben erlittenen Anfalles schien sie keine Abneigung gegen meine
Person zu haben: Es ist wahr, dass ich nicht dieselbe Farbe hatte wie der
Sklave. Als sie sich ein wenig von ihrem Schrecken erholt hatte, drückte ich
ihr liebreich die Hand und fragte sie, was für ein Königreich das ihrige
wäre, und wie sie zu solch einem Abenteuer käme.“

„Das will ich Euch sehr gern erzählen,“
erwiderte sie mir, indem sie mich mit Wohlgefallen ansah, und ohne ihre Hand aus
der meinigen zu ziehen, begann sie wie folgt:

Geschichte
der Prinzessin der Tatarei

„Ich bin die Tochter des Kara-Oglu, Königs von Balch.
Der Sklave, den Ihr getötet habt, diente im Palast. Mein Vater, der ihn sehr
jung gekauft, hatte ihn wegen seiner Tapferkeit lieb gewonnen; denn es gab in
unserem Heer keinen ihm vergleichbaren Krieger; – aber es ist jetzt nicht der
Augenblick, Euch seine erstaunenswerten Taten zu erzählen. Dieser Elende,
trunken von dem Ruhm und von den Lobeserhebungen, mit welchen der König, mein
Vater, ihn überhäufte, glaubte nach meiner Hand trachten zu können. Er
verliebte sich sterblich in mich, und als er sich verschmäht sah, geriet er in
eine Wut, die er zu verbergen wusste, und fasste den Entschluss, mich zu
entführen. Dies war das einzige Mittel, seine viehische Leidenschaft zu
befriedigen.