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65. Nacht

Da die willfährige Dinarsade lange vor Tagesanbruch
erwacht war, so rief sie die Sultanin, und sagte zu ihr: „Bedenke, meine
Schwester, dass es Zeit ist, dem Sultan, unserm Herrn, die Folge dieser
Geschichte zu erzählen, die du begonnen hast.“ Scheherasade wandte sich
nun an Schachriar mit den Worten: „Herr, Eure Majestät wisse, dass der
Kalender seine Erzählung auf folgende Weise fortsetzte:“

„Edle Frau,“ sagte er, „die Reden dieser
schönen Prinzessinnen verursachten mir einen wahrhaften Schmerz. Ich unterließ
nicht, ihnen zu erkennen zu geben, dass ihre Abwesenheit mir vielen Kummer
verursachen würde, und ich dankte ihnen für ihre guten Ratschläge. Ich gab
ihnen die Versicherung, dass ich sie benutzen und noch schwierigere Dinge tun
würde, um mir das Glück zu verschaffen, den Rest meiner Tage mit Schönen von
so seltenen Vorzügen zubringen zu können. Unser Abschied war der zärtlichste
von der Welt, ich umarmte sie alle, eine nach der anderen.

Als sich diejenige nahte, die ich am meisten liebte, um
Abschied zu nehmen, kämpfte ihr Herz den mächtigsten Kampf der Liebe.

„Ihren Augen entquollen Perlen, zu denen sich meine
Tränen, gleich weißen Karneol, gesellten.
Auf ihren Busen rollten sie dahin, dort gleichsam ein Halsband
bildend.“

Die Mädchen gingen fort und ich blieb allein im Schloss.

Die Annehmlichkeit der Gesellschaft, die gute Kost, die
Konzerte, die Vergnügungen hatten mich das Jahr hindurch so beschäftigt, dass
ich nicht die geringste Zeit noch Luft hatte, die Wunder zu sehen, die sich in
diesem Zauberpalast befinden konnten. Ich hatte selbst auf tausend sehr
merkwürdige Gegenstände nicht geachtet, die mir täglich vor den Augen waren;
so sehr war ich von der Schönheit der Mädchen und von der Freude, sie bloß
mit der Sorge, mir zu gefallen, beschäftigt zu sehen, bezaubert gewesen. Ich
war über ihre Abreise innig betrübt, und obgleich ihre Abwesenheit nur vierzig
Tage dauern sollte, so schien es mir doch, als sollt‘ ich, ohne sie, ein
Jahrhundert zubringen.

Ich versprach mir wohl, dass ich ihren wichtigen Rat, die
goldene Tür nicht zu öffnen, nicht vergessen wollte; aber da es mir, dies
ausgenommen, erlaubt war, meine Neugier zu befriedigen, so nahm ich den ersten
der nach der Ordnung aufgereihten Schlüssel zu den anderen Türen.

Ich öffnete die erste Türe und trat in einen
Fruchtgarten, dem, wie ich glaube, keiner in der ganzen Welt zu vergleichen ist.
Ich bin der Meinung, dass selbst der, welchen unsere Religion uns nach dem Tode
verspricht, ihn nicht übertreffen kann. Die Symmetrie, die Reinlichkeit, die
bewundernswerte Anordnung der Bäume, der überfluss und die Verschiedenheit von
tausend Früchten unbekannter Art, ihre Frische, ihre Schönheit, alles
entzückte meine Augen. Ich darf nicht vergessen, euch, verehrte Frau, zu
bemerken, dass dieser köstliche Garten auf sehr seltsame Weise gewässert
wurde; mit Kunst und Gleichmaß gegrabene Rinnen leiteten Wasser im überfluss
zu den Wurzeln der Bäume, die dessen bedurften, um ihre ersten Blätter und
Blüten zu treiben, andre führten denen, deren Früchte schon angesetzt hatten,
ein geringeres Maß zu, andere noch weniger denen, deren Früchte schon größer
wurden, andere leiteten nur das Notwendige zu denen, deren Früchte schon die
gehörige Größe erlangt hatten und nur die Reise erwarteten; aber diese
Größe übertraf bei weitem die der gewöhnlichen Früchte unserer Gärten. Die
andern Rinnen endlich, welche an die Bäume reichten, deren Frucht schon reif
war, enthielten nur so viel Feuchtigkeit, als nötig war, sie, ohne dass sie
verdarben, in demselben Zustand zu erhalten. Ich konnte nicht müde werden,
einen so schönen Ort zu betrachten und zu bewundern, und ich hätte ihn niemals
verlassen, wenn ich nicht von da an eine größere Meinung von den andern noch
nicht gesehenen Dingen gefasst hätte. Ich ging aus dem Garten, ganz voll von
seinen Wundern, verschloss die Türe und öffnete die folgende.

Statt des Fruchtgartens fand ich einen in seiner Art nicht
minder seltsamen Blumengarten. Er enthielt ein geräumiges Stück Land, nicht
mit derselben Verschwendung bewässert, als der vorige, sondern mit größerer
Ersparnis, um jeder Blume nicht mehr Wasser zu spenden, als sie bedurfte. Die
Rose, der Jasmin, das Veilchen, die Narzisse, die Hyazinthe, die Anemone, die
Tulpe, die Ranunkel, die Nelke, die Lilie und eine Menge anderer Blumen, welche
anderwärts nur zu verschiedenen Zeiten blühen, standen dort zugleich in der
Blüte, und nichts war süßer, als die Luft, welche man in diesem Garten
einatmete.

Ich eröffnete die dritte Türe, und fand ein sehr
weitläufiges Vogelhaus. Es war mit dem feinsten, seltensten Marmor von mehreren
Farben gepflastert. Der Käfig war von Sandel- und Aloeholz und umschloss eine
große Menge von Nachtigallen, Distelfinken, Zeisigen, Lerchen und anderen noch
gesangreicheren Vögeln, von denen ich in meinem Leben nichts gehört hatte. Die
Gefäße, in welchen sich ihr Futter und ihr Wasser befand, waren vom
kostbarsten Jaspis und Achat. übrigens herrschte in diesem Vogelhaus die
größte Reinlichkeit; seinem Umfange nach glaubte ich, dass nicht weniger, als
hundert Personen nötig wären, um es so reinlich zu erhalten, als es war, und
doch sah ich hier ebenso wenig irgend jemanden, als in den Gärten, in denen ich
gewesen war, und in welchen nicht ein einziges Unkraut, noch irgend etwas
überflüssiges meine Augen beleidigt hatte. Die Sonne war schon untergegangen,
und ich ging fort, entzückt von dem Gesang dieser Menge Vögel, die sich den
bequemsten Fleck zur Nachtruhe aussuchten. Ich begab mich in mein Gemach,
entschlossen, an den folgenden Tagen die anderen Türen, die hunderste
ausgenommen, zu öffnen.

Am folgenden Tage unterließ ich nicht, die vierte Türe
zu öffnen. Wenn das, was ich am vorigen Tage gesehen hatte, fähig gewesen war,
mich in Erstaunen zu setzen, so riss mich das, was ich nun sah, zum Entzücken
hin. Ich trat in einen großen Hof, der mit einem Gebäude von wundersamer
Bauart umgeben war, dessen nähere Beschreibung ich unterlasse, um nicht zu
weitläufig zu werden. Dieses Gebäude hatte vierzig offene Türen, jede führte
zu einem Schatz, und mehrere dieser Schätze waren mehr wert, als die größten
Königreiche. Der erste enthielt ganze Haufen von Perlen und – was allen Glauben
übersteigt – die kostbarsten, groß wie Taubeneier, überstiegen an Zahl die
mittelmäßigen. Im zweiten Schatz befanden sich Diamanten, Karfunkel und
Rubinen, im dritten Smaragden, im vierten Gold in Stangen, im fünften
gemünztes Gold, im sechsten Silber in Stangen, in den beiden folgenden
gemünztes Silber. Die andern enthielten Amethyste, Chrysolith, Topase, Opale,
Türkise, Hyazinthe und andere Edelsteine, die wir kennen, ohne vom Achat,
Jaspis und Karneol zu reden. Derselbe Schatz enthielt einen Vorrat nicht bloß
von Korallenzweigen, sondern von Korallenbäumen.

Erfüllt von Erstaunen und Bewunderung, rief ich nach der
Betrachtung aller dieser Reichtümer aus: „Nein, wenn die Schätze aller
Könige des Weltalls an einem einzigen Ort zusammengehäuft wären, so würden
sie diesen nicht gleichkommen. wie groß ist mein Glück, alle diese Güter mit
so vielen liebenswürdigen Prinzessinnen zu besitzen!“

Ich werde mich nicht dabei aufhalten, verehrte Frau, euch
eine ausführliche Beschreibung aller der seltenen und kostbaren Dinge zu
machen, die ich an den folgenden Tagen sah. Ich begnüge mich, euch zu sagen,
dass ich nicht weniger als 39 Tage brauchte, um die 99 Türen zu öffnen, und
alles, was sich meinem Anblick darbot, zu bewundern. Es blieb nur noch die
hundertste Tür übrig, deren Eröffnung mir verboten war …“

Der Tag, welcher das Zimmer des Sultans von Indien
erhellte, legte hier Scheherasade Stillschweigen auf. Aber diese Erzählung
ergötzte Schachriar zu sehr, als dass er nicht hätte wünschen sollen, in der
folgenden Nacht den Erfolg zu hören. Mit diesem Entschluss stand er auf.