Die Maslow konnte zum ersten Zuge beordert werden, so daß Nechludoff keine Zeit zu verlieren hatte, wenn er seine Angelegenheiten vor ihrer Abreise noch regeln wollte. Doch die zu regelnden Angelegenheiten waren so zahlreich, daß er wohl fühlte, er würde in der ihm zur Verfügung stehenden Zeit nicht damit zu stande kommen.

Seine Lage war von diesem Gesichtspunkte aus anders als in der Vergangenheit. Früher hatte er allerdings Mühe gehabt, eine Beschäftigung zu finden, und alle seine Beschäftigungen hatten nur den einzigen Gegenstand gehabt, der eben in Dimitri Iwanowitsch Nechludoff selbst bestand; was ihn übrigens nicht gehindert hatte, seine Thätigkeit damals tötlich langweilig zu finden. Jetzt dagegen hatten seine Beschäftigungen nicht mehr ihn selbst zum Gegenstand, sondern einen andern, und trotzdem interessierten sie ihn, er begeisterte sich dafür, und ihre Zahl war endlos. Die Geschäfte, die ihn in diesem Augenblick in Anspruch nahmen, teilten sich in vier Kategorien; er selbst hatte sie mit seinen etwas pedantischen Gewohnheiten so eingeteilt und die darauf bezüglichen Papiere in vier verschiedene Brieftaschen einrangiert.

Die erste Kategorie betraf alle auf die Maslow bezüglichen Angelegenheiten. Von dieser Seite aus war Nechludoff alles selbständige Handeln unmöglich, da alles von der Aufnahme abhing, die dem Gnadengesuch zu teil wurde. die zweite Kategorie betraf die verschiedenen Angelegenheiten, die sich auf das Vermögen der Nechludoffs bezogen. In dem Dorfe, das er von seinen Tanten geerbt, und in einem andern, noch kleineren Dorfe, hatte er alle seine Aecker den Bauern geschenkt und verlangte dafür nur die Bezahlung einer Rente, die für ihre eigenen allgemeinen Bedürfnisse bestimmt war. Doch in Kuzminskoja hatte er die Dinge so gelassen, wie sie waren, als er abgereist war, das heißt, der Ertrag der Aecker sollte ihm selbst bezahlt werden. Er mußte jetzt nur noch die Zahlungstermine dieser Rente bestimmen, auch mußte er festsetzen, welchen Teil der Summe er für sich behalten und welchen Teil er den Bauern überlassen wollte. Auch bei diesem Punkte mußte Nechludoff noch warten, denn er wußte nicht, wie viel Kosten seine Reise nach Sibirien, die ihm jeden Tag wahrscheinlicher schien, verursachen würde. Die dritte Kategorie betraf die Unterstützung von Gefangenen, die sich in immer größerer Zahl fortwährend an ihn wandten. Die Zahl dieser Unglücklichen war so groß geworden, daß es Nechludoff ungemein schwer wurde, sich mit jedem einzelnen im besonderen zu befassen, ganz abgesehen davon, daß die geringen Erfolge seiner einzelnen Bemühungen nicht danach angethan waren, ihn zu ermutigen. Außerdem hatte er sich mit einer weit allgemeineren Frage zu beschäftigen, die ihm schon, als er das Gefängnis zum erstenmale betreten hatte, aufgefallen war. Diese Frage bestand in der Untersuchung, wie und warum die merkwürdige Einrichtung geschaffen werden konnte, die man das Kriminalgericht nennt und die die Gefängnisse, die Zuchthäuser, die Festungen und das Opfer von Tausenden von menschlichen Wesen zur Folge hat. Aus seinen persönlichen Beziehungen zu den Gefangenen, den von dem Advokaten und dem Seelsorger des Gefängnisses gelieferten Mitteilungen, sowie auch aus mit großer Geduld studierten gerichtlichen Statistiken hatte Nechludoff die Schlußfolgerung gezogen, daß sich die Gesamtheit der Verbrecher genannten Gefangenen in fünf Arten von Menschen teilen ließ. Der ersten Art gehörten die vollständig Unschuldigen an, die Opfer von Justizmorden, wie der angebliche Brandstifter Metschoff, die Maslow und andere. Nach Aussage des Beichtigers war die Zahl dieser Leute sehr beschränkt, etwa sieben Prozent. Dagegen verdiente ihre Lage ganz besonderes Interesse. Die zweite Art umfaßte Leute, die wegen Verbrechen verurteilt waren, die sie unter ganz außergewöhnlichen Verhältnissen begangen hatten, etwa in der Wut, Trunkenheit, Eifersucht und so weiter, Verbrechen, die die Richter dieser Männer wahrscheinlich unter denselben Verhältnissen auch begangen hätten. Diese Gefangenen waren ziemlich zahlreich vorhanden, es war ungefähr die Hälfte der Gesamtzahl, soweit Nechludoff es hatte berechnen können. In der dritten Gruppe befanden sich Leute, die wegen Verübung von Handlungen verurteilt worden waren, die in ihren Augen durchaus nichts Schuldiges hatten, doch in den Augen der Menschen, die mit der Abfassung und Anwendung der Gesetze betraut waren, als Verbrechen galten, so zum Beispiel die Gefangenen, die des Verkaufs von geschmuggeltem Branntwein, des Gras- oder Holzdiebstahls aus öffentlichen und privaten Besitzungen angeklagt waren. Die vierte Klasse von Verbrechern umfaßte einfach diejenigen, die einen höheren moralischen Wert als der Durchschnitt der Gesellschaft besaßen, wie die Mitglieder der verschiedenen Religionssekten, wie auch die Polen, die Tscherkessen, die man verurteilt hatte, weil sie ihre Unabhängigkeit verteidigt, wie die wegen Ungehorsam gegen die Behörde verurteilten politischen Gefangenen. Die fünfte Gruppe dieser Menschen bestand endlich aus Unglücklichen, gegen die die Gesellschaft unendlich schuldiger war, als sie es selbst dieser gegenüber waren. Das waren Menschen, die die Gesellschaft aufgegeben und die eine beständige Unterdrückung zum Vieh herabgewürdigt hatte, Leute von der Art des jungen Burschen, der die Besen gestohlen, und hundert andere Elende, die die Bedingungen ihres Lebens sozusagen systematisch dazu gebracht hatten, die als Verbrechen gewertete Handlung zu begehen. Es befanden sich in dem Gefängnis viele Diebe und Mörder, die dieser Kategorie angehörten, und ihr gesellte Nechludoff auch die von Hause aus und von Geburt verrohten Menschen zu, die eine neue Schule die geborenen Verbrecher nennt, und deren Existenz das stärkste Argument derjenigen bildet, die für die Notwendigkeit der Strafgesetzbücher und der Strafen stimmen. Auch diese Vertreter des sogenannten Verbrechertypus waren für Nechludoff Unglückliche, gegen die die Gesellschaft weit größeres Unrecht hatte, als sie es gegen sie hatten; denn anstatt nur gegen sie allein schuldig zu sein, war es die Gesellschaft auch gegen ihre Eltern, was ihre Verantwortlichkeit nur noch schwerer machte.

Nechludoff hatte zum Beispiel Gelegenheit gehabt, einen rückfälligen Dieb Namens Otschotin kennen zu lernen. Der natürliche Sohn einer Prostituierten, in Tag- und Nachtasylen erzogen und aufgewachsen, hatte dieser Otschotin sicher bis zu seinem dreißigsten Jahre keinen Menschen mit moralischen Gefühlen kennen gelernt, sich schließlich einer Bande Diebe angeschlossen, und so war der Diebstahl sein einziges Handwerk geworden. Dabei besaß er aber eine Art komisches Genie, das ihm die Sympathie aller derjenigen, mit deren er zusammenkam, verschaffte. Während er Nechludoff um Unterstützung anging, konnte er sich nicht enthalten, seine Gefährten, die Richter und alle menschlichen und göttlichen Gesetze zu verspotten.

Ein anderer Gefangener, ein gewisser Feodoroff, hatte einen Greis ermordet und in der Erde vergraben, um ihm ein paar Rubel zu stehlen. Es war ein Bauer, dessen Vater von einem Nachbar jeder Gerechtigkeit zuwider zu Grunde gerichtet worden war. Er selbst, der eine leidenschaftliche, glühende, genußsüchtige Natur besaß, hatte nicht ein einziges Mal in seinem Leben Leute kennen gelernt, die sich mit etwas anderm als dem Genusse beschäftigten, und er hatte nicht ein einziges Mal gehört, daß es für den Menschen etwas anderes in der Welt giebt, als das Vergnügen.

Diese beiden Gefangenen waren Nechludoff lebhaft aufgefallen. Er hatte die Empfindung, beide hätten dem Guten zugeführt werden können, und ihr Verbrechertum käme einfach nur daher, weil die Gesellschaft sich nie um sie gekümmert hatte. Wenn diese mit all ihren Lastern ihm sympathisch waren, so widerten ihn dafür mehrere andere unter den Gefangenen durch ihre Verrohtheit und Grausamkeit an. Doch auch in diesen konnte er nicht den berühmten Verbrechertypus erkennen, von dem die italienische Schule sprach; er sah in ihnen nur Wesen, die ihm persönlich antipathisch waren, ebenso wie viele andere Personen, denen er nicht in den Gefängnissen, sondern in den Salons, im Frack, in der Gala-Uniform oder im Spitzenkleide begegnet war.

Das waren die verschiedenen Arten von Menschen, deren Gesamtheit die Masse der Verbrecher bildete, und die vierte Angelegenheit, die Nechludoff beschäftigte, bestand darin, in Erfahrung zu bringen, warum alle diese Menschen ins Gefängnis geworfen und gemartert wurden, während andere, ihnen ähnliche, ja, teilweise sogar unter ihnen stehende Menschen in Freiheit belassen und betraut waren, über sie zu Gericht zu sitzen und sie zu verurteilen. Nechludoff hatte zuerst die Hoffnung gehegt, in den Büchern eine Antwort zu finden, und hatte sich alle Werke gekauft, die den Gegenstand behandelten. Mit der größten Aufmerksamkeit hatte er die Schriften von Lombroso, Garofalo, Ferri, Maudsley, Tarde und ihrer Kollegen in der Kriminologie studiert, doch diese Lektüre war für ihn nur eine Quelle bitterer Enttäuschungen gewesen. Es passierte ihm dasselbe, was gewöhnlich jedem Menschen passiert, der eine Wissenschaft studiert, nicht um eine Rolle unter den Gelehrten zu spielen, nicht um schreiben, diskutieren und lehren zu können, sondern um auf gewisse einfache, praktische und lebenskräftige Fragen eine Antwort zu finden; die Wissenschaft, die er zu studieren angefangen, antwortete auf taufend feine, ausnehmend gelehrte Fragen, doch auf die Fragen, die ihn beschäftigten, gab sie keine Antwort. Und doch war diese Frage die einfachste von allen. Er fragte sich, wie und mit welchem Recht einige Menschen andere Menschen einsperrten, marterten, verschickten, schlugen und töteten, während sie doch diesen Menschen, die sie marterten, schlugen und töteten, ganz ähnlich waren. Doch anstatt auf diese Fragen zu antworten, fragten sich die Gelehrten, deren Werke er studierte, entweder, ob der menschliche Wille frei ist oder nicht, oder ob ein Mensch einfach nach seiner Schädelform als Verbrecher erklärt werden kann, oder ob der Instinkt der Nachahmung nicht in der Kriminalität eine große Rolle spielt. Die Gelehrten fragten sich ferner, was die Moralität, die Entartung, das Temperament, die Gesellschaft und so weiter und so weiter wäre. Sie studierten auch den Einfluß, den das Klima, die Nahrung, die Unwissenheit, der Hypnotismus, die Leidenschaft und so weiter auf das Verbrechertum ausübte.

Alle diese Werke erinnerten Nechludoff an die Antwort, die ihm einmal ein kleiner Junge, der aus der Schule kam, gegeben hatte. Nechludoff hatte ihn gefragt, ob er buchstabieren könne. »Gewiß,« hatte das Kind geantwortet. – »Nun, buchstabiere mir einmal das Wort Schnauze.« – »Ja, was für eine Schnauze, eine Hundeschnauze oder eine Ochsenschnauze?« hatte der kleine Junge mit verständnisinniger Miene gerufen. In derselben Weise beantworteten die von Nechludoff angerufenen Autoren die einzige Frage, die ihn beschäftigte. Er las sie noch weiter, gab aber immer mehr die Hoffnung auf, aus ihnen Nutzen zu ziehen. Dennoch schrieb er diesen Mangel nur dem oberflächlichen Charakter der kriminologischen Wissenschaft zu, und so hatte er sich bis dahin versagt, eine radikalere Antwort auf diese Fragen zu geben, die sich ihm doch in der letzten Zeit mit immer größerer Klarheit aufdrängte.