Sobald Nechludoff in die Stadt, die er bewohnte, zurückgekehrt war, begab er sich in das Gefängnis, um der Maslow mitzuteilen, daß ihre Berufung verworfen worden und sie sich auf ihre Abreise nach Sibirien vorzubereiten hätte. Er hatte das Gnadengesuch in der Tasche, das er sie unterzeichnen lassen wollte; doch er rechnete nicht auf diese Begnadigung, und – seltsamerweise – hatte er auch aufgehört, sie zu wünschen. Seine Gedanken hatten sich bereits an den Gedanken der Abreise nach Sibirien, an das Leben unter den Sträflingen und Verschickten gewöhnt, und er hatte Mühe, sich vorzustellen, was er mit sich und der Maslow anfangen sollte, wenn das Gnadengesuch bewilligt werden sollte. Er erinnerte sich an eine Bemerkung des amerikanischen Schriftstellers Thoreau, der da sagte, in einem Lande, wo die Sklaverei herrsche, wäre der einzige Ort, der sich für einen ehrlichen Mann eigne, das Gefängnis. Alles, was er in Petersburg gesehen, war geeignet, ihm diese Bemerkung ins Gedächtnis zurückzurufen.

Der Aufseher des Hospitals, der ihn sofort erkannte, kam ihm entgegen und erklärte ihm, die Maslow wäre nicht mehr da.

»Und wo ist sie?«

»Wieder in der Weiberabteilung!«

»Aber warum hat man sie dorthin zurückgebracht?«

»Bah, Sie wissen, Excellenz, das ist so ’ne Sorte!« versetzte der Aufseher mit verächtlichem Lächeln. »Sie hat mit einem Krankenwärter Streiche gemacht, und da hat sie der Oberarzt vor die Thür gesetzt!«

Nie hätte Nechludoff geglaubt, daß ihm die Maslow und seine eigenen Gefühle für sie so am Herzen lägen. Doch die Worte des Aufsehers wirkten auf ihn wie ein Keulenschlag. Er empfand ein Gefühl, wie man es empfindet, wenn man die Nachricht eines unvermutet eingetretenen großen Unglücks unvorbereitet erfährt. Ein grausamer Schmerz packte ihn und raubte ihm zuerst jede Ueberlegung.

Als er nach und nach wieder zu sich kam, bemerkte er, daß das, was in ihm vorherrschte, die Scham war. Er errötete über seine lächerliche Freude, als er in der Seele der Maslow eine scheinbare Veränderung zu bemerken geglaubt. All die schönen Worte, die sie zu ihm gesprochen, um sein Opfer zurückzuweisen, ihre Vorwürfe, ihre Thränen, das alles war also nur eine Komödie gewesen, die ihm ein elendes Geschöpf vorgespielt, um ihn zu foppen und sich ihm gegenüber wichtig zu thun. Er hatte jetzt die Empfindung, als habe er schon bei seiner letzten Unterredung mit ihr das Zeichen dieser Vorahnung bemerkt, an der er jetzt nicht mehr zweifeln konnte. Und all diese Gedanken und Erinnerungen drängten sich in ihm, während er das Hospital verließ.

»Aber was soll ich jetzt thun?« fragte er sich, »Bin ich noch mit ihr verbunden? Oder hat ihr Benehmen alle Bande gelöst?«

Doch kaum hatte er sich diese Frage gestellt, da begriff er auch schon, daß er, wenn er die Maslow von neuem verließ, nicht sie, sondern sich selbst bestrafte, und dieser Gedanke erfüllte ihn mit Entsetzen.

»Nein! Was geschehen ist, kann meinen Entschluß nicht nur nicht verändern, sondern muß ihn noch verstärken. Wenn dieses Weib so handelte, so hat sie sich nur dem Charakter angepaßt, die ihr die Lebensverhältnisse verliehen haben. Daß sie mit einem Krankenwärter »Streiche gemacht hat«, das ist ihre Sache! Doch meine Sache ist es, das zu vollführen, was mein Gewissen von mir verlangt. Und mein Gewissen verlangt, daß ich meine Freiheit opfere, um meine Sünde wieder gutzumachen. Was auch geschehen mag, ich werde sie heiraten und ihr überall dahin folgen, wohin sie geht!« Er wiederholte sich das mit einer Hartnäckigkeit, in die sich ein gewisses Unbehagen mischte, während er mit großen Schritten die Korridore entlang schritt.

Als er an der Thür des großen Saales angelangt war, bat er den wachhabenden Aufseher, dem Direktor zu sagen, er wünsche die Maslow zu sprechen. Der Aufseher, der schon mehrmals mit ihm gesprochen, teilte ihm als Antwort eine große Neuigkeit mit; der »Hauptmann« wäre pensioniert worden, und an seine Stelle wäre ein anderer, weit strengerer Direktor getreten.

»O, das Leben wird jetzt viel härter werden!« fügte der Aufseher hinzu und lief fort, um den neuen Direktor zu benachrichtigen, der bald erschien. Es war ein großer, magerer Mann mit mürrischem Gesicht und hervortretenden Backenknochen.

»Man darf die Gefangenen nur noch in den vorschriftsmäßigen Besuchsstunden sprechen,« sagte er zu Nechludoff, ohne ihn anzusehen.

»Ich möchte ein Gnadengesuch unterzeichnen lassen!«

»Sie brauchen es ja nur mir zu übergeben!«

»Ich muß die Gefangene Maslow um jeden Preis einen Augenblick sprechen; bis jetzt ließ man mich sie stets sprechen!«

»Es sind bis jetzt viele Dinge geschehen, die nicht mehr geschehen werden,« sagte der Direktor, indem er die Augen plötzlich auf Nechludoff richtete.

»Aber ich habe eine Erlaubnis des Gouverneurs!« erklärte Nechludoff und zog seine Brieftasche hervor.

»Gestatten Sie,« sagte der Direktor, nahm das Blatt in seine langen, knochigen Hände, las es langsam durch und sagte dann:

»Wollen Sie ins Bureau kommen?«

Das Bureau war leer. Der Direktor setzte sich an einen Tisch und begann, darauf liegende Papiere zu durchblättern; er wollte offenbar der Unterredung beiwohnen. Als Nechludoff ihn fragte, ob er auch eine politische Gefangene, die Bogoduschoffska sprechen könne, erwiderte der Direktor in kurzem Tone, das wäre unmöglich. »Die Besuche bei den politischen Gefangenen sind untersagt,« erklärte er und vertiefte sich in die Lektüre seiner Papiere. Nechludoff, der einen Brief für die Bogoduschoffska in der Tasche hatte, hatte die Empfindung, er würde verdächtigt, könnte Verdacht erwecken und im Gefängnis zurückgehalten werden.

Als die Maslow ins Bureau trat, erhob der Direktor den Kopf und beschränkte sich, ohne Nechludoff oder sie anzusehen, auf die Bemerkung: »Sie können sprechen!« Dann vertiefte er sich wieder in seine Papiere.

Die Maslow trug ihr altes Gefängniskleid mit ihrer weißen Jacke und dem Kopftuch. Als sie den kühlen und feindseligen Ausdruck in Nechludoffs Gesicht bemerkte, errötete sie, ergriff einen Zipfel ihrer Jacke und schlug die Augen zu Boden. Ihre Haltung bestätigte in Nechludoffs Augen die Erzählung des Aufsehers.

Er hätte sie gern ebenso wie früher behandelt, doch als er versuchte, ihr die Hand zu reichen, war es ihm unmöglich, eine so große Abneigung hatte er gegen sie.

»Ich bringe Ihnen eine schlimme Nachricht,« sagte er zu ihr mit ruhiger Stimme, doch ohne sie anzusehen oder ihr die Hand zu reichen, »Ihre Berufung ist verworfen.«

»Ich wußte es im voraus!« versetzte sie ganz leise.

Unter anderen Verhältnissen hätte Nechludoff sie gefragt, warum sie das sagte; doch diesmal beschränkte er sich darauf, sie anzusehen, und nun bemerkte er, daß ihr die Thränen in den Augen standen; doch anstatt ihn zu rühren, wurde er durch diesen Anblick nur noch ärgerlicher.

Der Direktor stand auf und begann auf und ab zu gehen. Trotz seines Aergers glaubte Nechludoff der Maslow das Bedauern ausdrücken zu müssen, das er über die Verwerfung der Berufung empfand.

»Verzweifeln Sie nicht,« sagte er, »man kann noch auf das Gnadengesuch rechnen und…«

»O, das ist es nicht, was …« versetzte sie und richtete klagend ihre thränenfeuchten Augen auf ihn.

»Aber was denn?«

»Sie sind nach dem Hospital gegangen und man hat Ihnen gesagt …«

»Ach was! Das geht nur Sie an!« versetzte Nechludoff stirnrunzelnd in trockenem Tone. Die Erwähnung des Hospitals hatte in ihm das elende Gefühl seines verletzten Stolzes aufs neue erweckt. »Ich, ein Mann von Welt, mit dem sich das vornehmste junge Mädchen mit Freuden verheiratet hätte, ich habe mich erboten, dieses Geschöpf zu heiraten, und sie, sie konnte nicht warten und hat mit einem Krankenwärter Streiche gemacht!« Als er sich das sagte, sah er sie mit bösen Augen an.

»Sie müssen das unterzeichnen,« sagte er und legte ein großes Blatt Papier, das er aus der Brusttasche genommen, auf den Tisch. Die Maslow trocknete mit einem Zipfel ihres Kopftuches ihre Thränen, setzte sich an den Tisch und fragte ihn, wo sie unterzeichnen sollte.

Er zeigte ihr die Stelle; während sie schrieb, stand er vor ihr und betrachtete ihren über den Tisch geneigten Rücken, der zeitweise von heftigem Schluchzen erschüttert wurde.

In seiner Seele begann nun der Kampf der guten und bösen Gefühle, seines beleidigten Stolzes und seines Mitleids für sie, die er leiden sah, und das letztere Gefühl trug schließlich den Sieg davon. Dachte er zuerst daran, sie zu beklagen, oder erinnerte er sich zuerst an seine eigenen Fehler und besonders an die Fehler nach Art derer, die er der Unglücklichen zum Vorwurf machte? Jedenfalls fühlte er sich plötzlich schuldig, und sie that ihm leid.

Sie hatte inzwischen zu Ende geschrieben, rieb ihre tintenfleckigen Finger an ihrem Rock, stand auf und sah ihn an.

»Was auch geschehen mag und was Sie auch thun mögen, nichts wird meinen Entschluß ändern,« sagte Nechludoff zu ihr.

Der Gedanke, er verzeihe ihr, stärkte sein Mitleid mit ihr nur noch mehr, und er empfand ein gebieterisches Bedürfnis, sie zu trösten.

»Was ich Ihnen gesagt, werde ich thun. Wohin man Sie schickt, ich gehe mit Ihnen!«

»Nicht nötig!« unterbrach sie ihn und errötete von neuem.

»Und denken Sie auch an das, was Sie für die Reise brauchen.«

»Ich danke, ich brauche nichts!«

Der Direktor näherte sich ihm, und ohne seine Bemerkung abzuwarten, nahm Nechludoff von der Maslow Abschied und entfernte sich; er empfand dabei ein Gefühl, wie er es noch nie empfunden, ein Gefühl tiefer Ruhe und inniger Liebe für die Menschheit. »Jetzt sehe ich es,« sagte er sich stolz, »was die Maslow auch thun mag, nichts kann meine Anhänglichkeit für sie erschüttern. Wenn sie mit den Krankenwärtern Streiche macht, so ist das ihre Sache; die meine ist es, sie zu lieben, und zwar nicht um meinetwillen, sondern um ihret- und Gottes willen.«

Die »Streiche«, die die Maslow mit dem Krankenwärter gemacht, bestanden in Wirklichkeit in folgendem: Eines Tages, als sie die Krankenwärterin nach der Apotheke geschickt hatte, um Brustthee zu holen, war sie am äußersten Ende des Ganges dem Wärter Ustinoff begegnet, einem großen Manne mit sinnigem Gesicht, der sie schon seit langer Zeit mit seinen Galanterien verfolgte. Dieser Mensch hatte sie gepackt, sie hatte sich verteidigt und sich so lebhaft von ihm losgerissen, daß sie an ein Gestell gestoßen hatte und zwei daraus stehende Flaschen zerbrach. In demselben Augenblick kam der Oberarzt durch den Gang und sagte, als er das Geräusch des zerbrechenden Glases hörte und die Maslow blutrot und mit wirren Haaren entfloh:

»Na, Mütterchen, wenn du anfängst, hier Skandal zu machen, dann werde ich dich schnell wegbringen. Um was handelte es sich denn?« fragte er den Krankenwärter, den er mit strengen Augen anblickte.

Der Wärter begann mit seinem blöden Lachen eine lange Geschichte, in der er alles Unrecht auf die Maslow abwälzte. Der Arzt ließ ihn übrigens nicht zu Ende reden, und noch an demselben Abend wurde die Maslow auf sein Ersuchen vom Lazarett fortgeschickt.

Diese Strafe kümmerte sie an sich sehr wenig; doch der angegebene Grund betrübte sie um so mehr, als ihr der Gedanke an jede fleischliche Berührung mit einem Manne jetzt Abscheu einflöße. Nichts in der Welt demütigte und betrübte sie so sehr, als sich sagen zu müssen, daß sich jeder Mann auf Grund ihrer Vergangenheit berechtigt glaubte, ihr Gewalt anzuthun. Und als sie sich Nechludoff im Bureau genähert hatte, hatte sie die feste Absicht gehabt, sich vor ihm von den ungerechten Anklagen, die man gegen sie erhoben hatte, zu reinigen, Doch schon bei den ersten Worten, die sie zu ihm gesprochen, hatte sie gemerkt, er würde ihr nicht glauben, und alle ihre Entschuldigungen würden seinen Argwohn nur noch bestärken. Da waren ihr die Thränen in die Kehle gekommen, und sie hatte geschwiegen.

Die Maslow bildete sich weiter ein, sie könne Nechludoff, wie sie es ihm bei seinem zweiten Besuche gesagt, nicht verzeihen und hasse ihn immer noch. In Wirklichkeit aber hatte sie bei diesem zweiten Besuche wieder angefangen, ihn zu lieben. Sie liebte ihn derart, daß sie unbewußt alles that, was er ihrer Ansicht nach nur wünschen konnte: sie hatte zu rauchen, zu trinken und an die Männer zu denken aufgehört; und um Nechludoff zu gefallen, hatte sie auch eingewilligt, im Hospital zu dienen. Alles, was sie that, that sie nur einzig und allein darum, weil sie ahnte, er wünsche es. Und wenn sie ihm jedesmal erklärte, sie wolle sein Opfer nicht, so kam das zuerst daher, daß sie sein Anerbieten zum erstenmale abgelehnt und nun ein Gefühl der Eigenliebe dabei empfand, auf ihrer Absicht zu beharren; doch es kam auch außerdem und hauptsächlich daher, weil sie fühlte, ihre Heirat mit Nechludoff würde für diesen eine Quelle des Schmerzes werden, und darum schwor sie sich mit allen Kräften zu, sein Opfer nicht anzunehmen. Gleichzeitig aber blutete ihr das Herz bei dem Gedanken, daß er sie verachtete und der Ansicht war, sie müsse stets so bleiben, wie sie gewesen, ohne die Veränderung kennen zu wollen, die sich in ihr vollzogen hatte. Der Gedanke, Nechludoff könne sie im Verdacht haben, Beziehungen zu dem Krankenwärter zu unterhalten, quälte sie weit mehr, als die Nachricht von der Verwerfung ihrer Berufung oder die Aussicht ihrer bevorstehenden Abreise nach Sibirien.