Abgesehen von der Berufung der Maslow, die seine Reise nach St. Petersburg hauptsächlich verursachte, hatte Nechludoff sich noch mit drei anderen Angelegenheiten zu beschäftigen, von denen ihm Wera Bogoduschoffska zwei anvertraut hatte. Er sollte den Versuch machen, bei der Begnadigungskommission des Gnadengesuch der Fedossja durchzusetzen, der jungen Gefangenen, die wegen Mordversuchs verurteilt war, und der ihr Gatte verziehen hatte; den Direktor der Gensdarmerie sollte er um die Freilassung der Studentin Tschustoff bitten, und außerdem wollte er für die Mutter eines politischen Gefangenen die Erlaubnis erhalten, ihren im geheimen Gewahrsam gehaltenen Sohn sprechen zu dürfen.

Seit seinem letzten Besuche bei Maslinnikoff und seinem Aufenthalte auf dem Lande fühlte er einen tiefen Widerwillen gegen die Gesellschaft, der er bis dahin angehört hatte; er konnte sich des Gedankens nicht erwehren, daß zum Wohlbehagen und zum Zeitvertreib dieser Gesellschaft Millionen Menschen litten, und daß ihr Leiden an den Augen dieser Gesellschaft unbemerkt vorüberging, die es gleichzeitig vermied, über das Verbrecherische und Erbärmliche ihres eigenen Lebens Rechenschaft abzulegen. Doch in dieser Gesellschaft wurzelten seine Gewohnheiten; in ihr lebten seine Verwandten und Freunde; vor allem aber dachte er daran, daß er, um der Maslow und den andern Unglücklichen, deren Sache zu verteidigen er übernommen hatte, zu Hilfe zu kommen, den Schutz und die Dienste von Personen dieser Gesellschaft in Anspruch nehmen mußte, eine so große Abneigung er auch gegen sie im allgemeinen und gegen diese Personen im besonderen empfand.

Der letzte Grund veranlaßte ihn, als er nach St. Petersburg kam, bei seiner Tante, der Fürstin Tscharska, der Gattin eines früheren Ministers, Wohnung zu nehmen. Er würde sich wieder im Mittelpunkt der aristokratischen Welt befinden, und dieser Gedanke bereitete ihm Qualen, doch er wußte ebensogut, er beleidigte seine Tante, wenn er nicht bei ihr wohnte, und beraubte sich so für seine Unternehmungen einer Hilfe, die ihm äußerst wertvoll werden konnte.

»Nun, was hat man mir denn von dir erzählt?« fragte ihn die Gräfin Katharina Iwanowna, während sie sich damit beschäftigte, ihm seinen Milchkaffee vorzusetzen, »Du bist ja ein Original geworden, der Herr spielt sich als Philanthrop auf! Er unterstützt die Verbrecher und besucht die Gefangenen; du machst wohl Studien?«

»Ach nein, daran denke ich gar nicht!«

»Na, um so besser; dann ist es also ein romantisches Abenteuer? Erzähle!«

Nechludoff erzählte sein Verhältnis mit der Maslow genau so, wie es gewesen war.

»Ach ja, ich erinnere mich; deine arme Mutter hat nach deinem Aufenthalt bei den alten Jungfern davon erzählt. Sie hatten jawohl die Absicht, dich mit ihrer Mündel zu verheiraten, wie hieß sie doch noch? Ist sie noch hübsch?«

Die Gräfin Katharina Iwanowna Tscharska war eine kräftige, heitere, geschwätzige und energische Frau von 60 Jahren. Von hoher Gestalt und sehr korpulent, hatte sie einen kleinen schwarzen Schnurrbart, der sich ganz deutlich auf der Oberlippe abzeichnete. Nechludoff hatte sie sehr lieb, und er war seit seiner Kindheit daran gewöhnt, ihr seine Sorgen mitzuteilen und sein Herz auszuschütten.

»Nein, liebe Tante, das alles ist vorbei. Ich will ihr nur zu Hilfe kommen, weil sie unschuldig verurteilt worden ist und ich an ihrem ganzen Elend schuld bin. Ich halte mich verpflichtet, für sie alles zu thun, was in meinen Kräften steht.«

»Denke dir, man hat mir gesagt, du wolltest sie heiraten.«

»Ja, ich habe es gewollt, und will es noch, aber sie will nicht.«

Katharina Iwanowna, die ihren Neffen mit verzweifelter Miene betrachtete, beruhigte sich bei den letzten Worten und lächelte wieder.

»Nun, sie ist eben klüger als du; ach, mein armes Kind, was bist du doch für ein Taugenichts! Und du würdest dich wirklich mit ihr verheiraten?«

»Gewiß!«

»Nach alledem, was sie gewesen ist?«

»Gerade deshalb! Bin ich nicht schuld daran?«

»Höre: du bist doch ein richtiger Taugenichts,« erklärte die Tante weiter lächelnd, »ein richtiger Taugenichts, aber gerade darum liebe ich dich, weil du solch richtiger Taugenichts bist.«

Sie wiederholte das Wort beständig und war jedenfalls entzückt, einen Ausdruck gefunden zu haben, der die Vorstellung, die sie sich von ihrem Neffen machte, so ausgezeichnet wiedergab.

»Aber das trifft sich ja wunderbar. Aline hat gerade ein Asyl für büßende Magdalenen eröffnet. Ich war neulich dort, gräßlich! Als ich von meinem Besuch nach Hause kam, mußte ich ein Bad nehmen. Doch Aline hat sich ihrem Asyl mit Leib und Seele gewidmet; wir werden ihr deinen Zögling anvertrauen. Wenn jemand auf der Welt sie zum Guten zurückführen kann, dann ist es Aline.«

»Ja, sehen Sie, diese Unglückliche sitzt aber im Gefängnis und soll zur Zwangsarbeit abgeführt werden. Ich bin gerade hierhergekommen, um die Annullierung ihrer Verurteilung zu versuchen. Das ist eine der zahlreichen Angelegenheiten, in denen ich Ihrer Hilfe bedarf.« »Wovon hängt ihre Angelegenheit denn ab?«

»Vom Senat!«

»Vom Senat? Aber mein lieber Vetter Leo sitzt doch im Senat. Ach so, ich vergaß, er ist ja in der heraldischen Abteilung. Und außer ihm kenne ich niemand im Senat. Man findet dort nur Leute, die Gott weiß woher kommen, und außerdem viele Deutsche. Leute von der andern Welt! Aber trotzdem werde ich mit meinem Manne sprechen, er kennt sie ja alle. Er kennt die ganze Welt, ich werde mit ihm sprechen. Aber du mußt ihm die Sache selbst erklären, mich würde er nie verstehen. Wenn ich ihm etwas sage, antwortet er immer, er verstehe nicht. Das ist Voreingenommenheit, aber was soll ich dagegen thun?«

Die Gräfin wurde in ihren Mitteilungen durch den Eintritt eines Dieners unterbrochen, der ihr auf silbernem Teller einen Brief reichte.

»Wie sich das trifft! Ein Brief von Aline! Du wirst auch Kiesewetter hören!«

»Wer ist Kiesewetter?«

»Kiesewetter? Komm‘ heute abend zu uns, dann wirst du sehen, wer es ist. Er spricht so vorzüglich, daß die verstocktesten Verbrecher sich ihm weinend und bereuend zu Füßen werfen. Ach, wenn deine Magdalena ihn hören könnte, dann würde sie sich gleich bekehren. Aber komm‘ sicher heute abend, du wirst ihn hören, es ist ein ganz erstaunlicher Mensch.«

»Ja, aber, liebe Tante, diese Dinge interessieren mich nicht besonders.«

»O doch; ich sage dir, es wird dich schon interessieren, und du wirst kommen, ich will es, hörst du? Und jetzt sage, was du noch von mir willst; schnell, krame deine Neuigkeiten aus.«

»Ich habe mich auch mit der Angelegenheit eines jungen Menschen zu beschäftigen, der auf der Festung eingeschlossen ist.«

»Auf der Festung? Ach ja, ich kann dir auch einen Brief für den Baron Kriegsmuth geben, das ist ein braver Mensch, übrigens kennst du ihn ja. Er war ein Kamerad deines Vaters. Er hat sich dem Spiritismus zugewendet, ist aber trotzdem ein braver Mann. Was willst du von ihm?«

»Ich will für die Mutter des jungen Mannes um die Erlaubnis nachsuchen, ihren Sohn sprechen zu dürfen. Ich habe auch ein Gesuch für Tscherwianski, was mir sehr unangenehm ist.«

»Tscherwianski? Ach, dieser häßliche Mensch! Das ist ja Mariettens Gatte; doch ich kann mich immerhin an sie wenden. Sie wird alles für mich thun; sie ist ja so nett!«

»Ich habe sie um die Freilassung eines jungen Mädchens, einer Studentin, zu bitten, die seit mehreren Monaten im Gefängnis sitzt, ohne daß jemand weiß, warum!«

»O, sie selbst wird schon wissen, warum; diese Mädchen mit den kurzen Haaren sind weich wie Butter, wenn sie hinter Schloß und Riegel sitzen.«

»Ich weiß nicht, ob sie wirklich weich wie Butter sind, ich weiß nur, daß sie leiden, wie wir an ihrer Stelle leiden würden. Wie können Sie als Christin, die Sie doch an das Evangelium glauben, so mitleidslos sein?«

»Was sagst du da? Das ist ja Unsinn! Das Evangelium ist das Evangelium, und was schlecht ist, ist schlecht. Soll ich vielleicht erklären, ich liebe die Nihilisten und besonders die Nihilistinnen mit ihren kurzen Haaren, während ich sie in Wirklichkeit nicht ausstehen kann?«

»Ja, aber warum können Sie sie denn nicht ausstehen?«

»Was brauchen sie sich in Dinge zu mischen, die sie nichts angehen?«

»Nun, da ist zum Beispiel Mariette; Sie geben doch selbst zu, daß sie das Recht hat, sich mit den Angelegenheiten ihres Mannes zu beschäftigen?«

»Bei Mariette ist das etwas anderes, aber wenn so eine, Gott weiß was, so eine Popentochter uns gute Lehren geben will …«

»Sie will uns keine guten Lehren geben, sondern dem Volke helfen.«

»Man braucht sie aber gar nicht, um die Bedürfnisse des Volkes kennen zu lernen.«

»O, liebe Tante, darin irren Sie sich. Die Bedürfnisse des Volkes werden größer, und wir kennen sie tatsächlich nicht. Ich habe mich davon selbst überzeugt, denn ich komme eben vom Lande. Finden Sie es gerecht, daß die Bauern über ihre Kräfte arbeiten und nicht einmal ihren Hunger stillen können, während wir in Müßiggang und Luxus leben,« fuhr Nechludoff fort, den das Wohlwollen seiner Tante veranlaßte, ihr alle seine Gedanken nach und nach mitzuteilen.

»Was willst du denn aber? Soll ich etwa arbeiten und nicht essen? Mein Lieber, mit dir nimmt es noch einmal ein schlimmes Ende.«

»Weshalb denn?«

Während der letzten Worte war ein kräftiger, hochgewachsener, älterer Herr in das Speisezimmer getreten; das war der Gatte der Gräfin Tscharska, der frühere Minister. Er küßte seiner Frau galant die Hand und sagte dann, Nechludoff seine frischrasierte Wange hinhaltend:

»Ah, guten Tag, Dimitri, seit wann bist du hier?«

»Nein, er ist unbezahlbar,« sagte die alte Gräfin zu ihrem Manne. »Er wünscht, ich solle meine Wäsche selbst im Flusse waschen und mich nur von Kartoffeln nähren. Du kannst dir nicht denken, was für ein Taugenichts er geworden ist. Trotzdem aber thätest du gut, alle seine Wünsche zu erfüllen. Apropos, man sagt, mit Frau Kamenski stehe es so verzweifelt, daß man für ihr Leben fürchtet; du solltest ihr einen Besuch machen.«

»Ja, es ist furchtbar,« versetzte der Mann.

»Und jetzt unterhaltet euch von euren Angelegenheiten im Rauchzimmer, ich habe Briefe zu schreiben.«

Nechludoff hatte das Eßzimmer kaum verlassen, als sie ihm nachrief, er solle wieder zu ihr kommen.

»Soll ich auch an Mariette schreiben?«

»Ach ja, Tante!«

»Aber ich werde die Erklärung dessen, um was du ihren Mann wegen der Nihilistin zu bitten hast, freilassen. Sie kann ihrem Manne dann befehlen, zu thun, was du verlangst, und er wird es thun. Aber glaube nur nicht, daß ich mitleidslos bin. Sie sind alle Ungeheuer, deine Schützlinge, aber ich will ihnen durchaus nicht übel, Gott beschütze sie. Also auf heute abend, du kommst heute abend sicher! Du wirst Kiesewetter hören und dann mit uns beten, das wird dir gut thun; also auf heute abend, nicht wahr?«

Der frühere Minister, Graf Iwan Michaelowitsch Tscharskin, war ein Mann von strengen Grundsätzen. Seine Grundsätze hatten von Jugend an in folgendem bestanden: Er war überzeugt, ebenso wie der Vogel sich von Würmern nährt, im freien Raum umherfliegt, mit Federn bekleidet ist, ebenso müsse er sich ganz naturgemäß von den feinsten Speisen nähren, mit den besten Stoffen bekleidet sein und in den teuersten Kaleschen fahren, denen die schnellsten Pferde vorgespannt waren. Der Graf Iwan Michaelowitsch glaubte, das müsse so sein und für ihn stets bereitstehen. Er hatte aber noch eine andere Ueberzeugung. Er war überzeugt, je mehr Geld er aus dem öffentlichen Schatze erheben, je mehr Orden und Titel er erhalten, je vertrauter er mit Personen von höherem Range werden würde, um so besser würde das für ihn und das ganze Weltall sein.

Im Vergleich zu diesen seinen Hauptgrundsätzen erschien dem Grafen Iwan Michaelowitsch alles übrige unbedeutend und interesselos. Ob alles andere so oder so geschah, das kümmerte ihn wenig. Mit solchen Ansichten hatte der Graf vierzig Jahre lang in Petersburg gelebt und war dann an die Spitze eines Ministeriums gestellt worden. Er hatte diese Ehre folgenden Vorzügen zu verdanken: Zunächst hatte er den Sinn der Vorschriften und anderer offizieller Akte verstanden, und konnte solche Akte selbst herstellen, allerdings, ohne viel Gedanken und Stil dabei zu verwenden, aber auch ohne allzu viel orthographische Fehler zu machen. Außerdem repräsentierte er ausnehmend gut und konnte zu gleicher Zeit, je nach den Umständen, den Eindruck der Würde, der Vornehmheit und Unzugänglichkeit oder den des Wohlwollens und der Demut hervorrufen; drittens besaß er den Vorzug, daß ihm alle nicht mit seinen Funktionen übereinstimmenden Grundsätze sowohl moralischer wie politischer Art vollständig fehlten, so daß er nach Belieben alles billigen oder mißbilligen konnte. Wir müssen ferner noch hinzufügen, daß er seine Ansichten je nach den Umständen wechselte, nie in allzu großem Widerspruche mit sich selbst stand, und zwar deshalb, weil er sich einzig und allein um das Wohlwollen seiner Vorgesetzten kümmerte, ohne je danach zu fragen, welche Folgen das für Rußland oder für das Wohl der Menschheit haben könnte.

Als er an die Spitze des Ministeriums gestellt worden war, hatten alle seine Untergebenen und die Mehrzahl der anderen Personen, die ihn kannten, und noch mehr er selbst, die feste Ueberzeugung, er würde sich als ein ganz bedeutender Politiker bewähren. Als man aber nach einer gewissen Zeit feststellen mußte, er hätte weder etwas geändert noch verbessert, und andere, die die offiziellen Dokumente ebenso gut verstanden und aufsetzten, ihn ersetzen konnten, da bemerkte man einstimmig, daß er durchaus kein Mann von hervorragender Intelligenz, sondern im Gegenteil ein höchst beschränkter Mensch von maßloser Eitelkeit war. Man bemerkte, daß er nichts besaß, was ihn von den andern beschränkten, eitlen Mittelmäßigkeiten unterschied, die seine Stelle einzunehmen wünschten. Er aber hatte sowohl nach, wie vor seinem Ministerium die feste Ueberzeugung, er habe das Recht, jedes Jahr ein höheres Gehalt zu erheben, mehr Titel und Orden zu erhalten und jedes Jahr eine höhere sociale Stellung einzunehmen. Diese Ueberzeugung war in ihm so tief eingewurzelt, daß niemand den Mut hatte, ihm zu widersprechen, und so erhob der Graf Iwan Michaelowitsch jedes Jahr ein höheres Gehalt, hatte das Recht, jedes Jahr neue Kreuze oder Emaillesterne anzustecken, und vielleicht besaß niemand in St. Petersburg so ausgebreitete Verbindungen als er.

Die Erklärungen Nechludoffs hörte er mit demselben Ernst und derselben Aufmerksamkeit an, mit der er früher die Berichte seiner Bureauchefs angehört. Als er sie vernommen, sagte er seinem Neffen, er würde ihm zwei Empfehlungsbriefe geben. Der eine derselben war für den Senator Wolff vom Kassationshofe bestimmt. »Man spricht so mancherlei von ihm,« fügte Iwan Michaelowitsch hinzu, »aber auf jeden Fall ist es ein sehr »schneidiger« Mann, er ist mir verpflichtet und wird thun, was in seinen Kräften steht.« Der zweite Brief war an ein sehr einflußreiches Mitglied der Begnadigungskommission gerichtet, dem das Gnadengesuch der Fedossja vorgelegt werden sollte, deren Geschichte den früheren Minister sehr zu interessieren schien. »Wenn Ihre Majestät mir die Ehre erweist, mich zu einer ihrer nächsten kleinen Donnerstaggesellschaften einzuladen, so wird es mir vielleicht möglich sein, ein Wort über diese Sache fallen zu lassen.«

Als Nechludoff von seinem Onkel diese beiden Briefe und von seiner Tante den für Mariette Tscherwianska erhalten, begann er sofort, die nötigen Schritte zu thun. Zunächst begab er sich zu Mariette. Er hatte sie als junges Mädchen gekannt und wußte, daß sie nach einer ziemlich ärmlichen Kindheit sich mit einem sehr thätigen und sehr ehrgeizigen Beamten verheiratet hatte, der es jetzt schon verstanden hatte, sich eine sehr schöne Stellung zu schaffen. Er wußte außerdem, daß dieser Gatte in einem höchst verdächtigen Rufe stand, und geriet in große Verlegenheit bei dem Gedanken, diesen Mann um eine Gefälligkeit zu ersuchen. Zu dieser Verlegenheit trat noch für ihn ein persönliches Gefühl. Er fürchtete, er könne im Verkehr mit dieser Welt, die zu verlassen er entschlossen war, wieder an einem leichten und oberflächlichen Leben Geschmack gewinnen. Dieses Gefühl hatte er bereits empfunden, als er zu seiner Tante kam, und er erinnerte sich, wie er in der Unterhaltung mit ihr sich hatte hinreißen lassen, die ernstesten Fragen in ironischem und leichtfertigem Tone zu behandeln. Im allgemeinen machte St. Petersburg wieder auf ihn den verweichlichenden und berauschenden Eindruck, den er bereits früher empfangen hatte. Alles war darin so sauber, so bequem, es fehlte darin vollständig an geistigen und moralischen Skrupeln, daß das Leben hier leichter als anderswo erschien.

Ein Kutscher von wunderbarer Sauberkeit fuhr ihn in einem Wagen von ebenso wunderbarer Sauberkeit auf einem reinen und glatten Pflaster durch elegante und saubere Straßen bis zu dem Hause, in welchem Mariette lebte. Vor der Auffahrt sah er ein paar englische Pferde vor einem Landauer, auf dessen Bock mit würdiger und ernster Miene ein Kutscher saß, der einen Backenbart trug und den Eindruck eines Engländers machte. Ein in auffallende Livree gekleideter Portier öffnete die Eingangsthür, während Nechludoff am Fuß der Treppe einen ebenfalls in prächtige Livree gekleideten Diener mit sorgfältig gekämmtem Backenbart stehen sah; derselbe blieb unbeweglich, ohne Nechludoffs Erscheinen bemerken zu wollen, doch ein anderer Diener trat vor und sagte:

»Der General empfängt nicht und die Frau Generalin ebensowenig, sie hat eben ihre Befehle zum Ausfahren gegeben.«

Nechludoff zog aus seiner Brieftasche eine Visitenkarte, näherte sich einem kleinen Tische im Vorzimmer und wollte mit Bleistift einige Worte darauf schreiben, als der Diener plötzlich eine Bewegung machte, während der Portier mit dem Worte: »Vorfahren!« auf die Freitreppe stürzte; der Diener richtete sich auf, legte die Hände an die Hosennaht und folgte mit den Augen einer kleinen und dünnen jungen Frau, die, ohne sich allzu viel um die Forderungen der Würde zu kümmern, schnellen Schrittes die Treppe herunterkam. Mariette trug einen großen Hut mit einer schwarzen Feder, dazu eine schwarze Pellerine über einem schwarzen Kleide und knöpfte sich beim Gehen ein Paar schwarze Handschuhe an. Ihr Gesicht war unter einem Schleier verborgen. Als sie Nechludoff bemerkte, lüftete sie den Schleier und zeigte ein sehr hübsches Gesicht mit großen glänzenden Augen. Als sie den Besucher einen Augenblick betrachtet, rief sie mit vertraulicher und fröhlicher Stimme:

»Ah, Fürst Dimitri Iwanowitsch!«

»Wie? Sie erinnern sich noch meines Namens?«

»Und Sie haben also vergessen, daß wir, meine Schwester und ich, einen ganzen Sommer in Sie verliebt gewesen sind?« versetzte sie lachend. »Aber wie verändert Sie sind! Wie schade, daß ich ausfahren muß! Uebrigens könnten wir noch einen Augenblick in den kleinen Salon gehen,« sagte sie zögernd, blickte auf die Uhr im Vorzimmer und fuhr fort: »Leider ist es unmöglich! Ich fahre zu den Kamenskys zur Leichenfeier. Schrecklich, nicht wahr?«

»Aber was ist denn diesen Kamenskys widerfahren?«

»Wie? Sie wissen nicht? Ihr Sohn ist im Duell gefallen. Ein Streit mit Posen. Ihr einziger Sohn! Es ist entsetzlich! Die Mutter ist wahnsinnig vor Verzweiflung. Nein, hier kann ich unmöglich bleiben, aber kommen Sie morgen oder heut‘ abend,« fuhr sie fort und wandte sich mit ihrem leichten Schritte der Thür zu.

»Heut‘ abend kann ich leider nicht! Ich kam gerade in einer wichtigen Angelegenheit!« sagte Nechludoff, während er mit ihr auf die Freitreppe trat.

»In was für einer Angelegenheit?«

»Hier ist ein Brief meiner Tante!« sagte Nechludoff und reichte ihr das kleine Couvert, das ein umfangreiches Siegel aufwies.

»Ja, ich weiß, die Gräfin Katharina Iwanowna bildet sich ein, ich hätte Einfluß auf meinen Gatten! Wie sie sich irrt! Ich vermag nichts über ihn und will mich nicht in seine Angelegenheiten mischen. Aber natürlich bin ich für Sie und die Gräfin bereit, von meinen Grundsätzen abzuweichen. Um was handelt es sich also?«

»Um ein junges Mädchen, das auf der Festung sitzt! Sie ist krank und man hat sie aus Verschen verhaftet.«

»Wie heißt sie?«

»Tschustoff, Lydia Tschustoff. Sie finden alle Auskünfte über sie in der dem Briefe beigefügten Notiz!«

»Nun, ich werde mir die Sache angelegen sein lassen,« sagte Mariette, während sie den Fuß auf das Trittbrett des eleganten neuen Wagens setzte, dessen Firniß in der Sonne glänzte. Sie setzte sich und öffnete ihren Sonnenschirm. Der Diener stieg auf den Bock und gab dem Kutscher ein Zeichen, man wäre bereit. Der Wagen setzte sich in Bewegung, doch in demselben Augenblick tippte Mariette mit dem plötzlich wieder geschlossenen Sonnenschirm dem Kutscher auf die Schulter; die Pferde, die unter dem Druck der Zügel den Kopf erhoben hatten, blieben stehen und bewegten ihre feinen Beine auf dem Platze.

»Aber Sie werden mich doch besuchen, und dann ohne selbstsüchtigen Grund?« fragte sie mit einem Lächeln, dessen Macht sie kannte. Dann öffnete sie den Sonnenschirm wieder und gab dem Kutscher ein neues Zeichen.

Nechludoff nahm höflich zum Abschied seinen Hut ab. Die Pferde stampften nervös auf dem Pflaster, und der Wagen entfernte sich schnell und leise.

Während Nechludoff sich an das Lächeln erinnerte, das er eben mit Mariette ausgetauscht, stellte er allerlei innerliche Betrachtungen an. »Du wirst kaum den Kopf gewendet haben,« sagte er sich, »und dieses Leben wird dich von neuem in seinen Bann schlagen.« Wieder dachte er an die Schwierigkeiten und Gefahren, die hinter seinen Bemühungen bei den Personen der Gesellschaft für ihn lauerten, die jetzt nicht mehr die seine bleiben konnte.

Als er Mariette verließ, begab er sich sofort nach dem Senat. Man führte ihn in ein großes Zimmer, in welchem eine Menge sehr sauberer und höflicher Beamten saßen, die ihm mitteilten, das Gesuch sei zur Prüfung an den nämlichen Senator Wolff geschickt worden, für den ihm sein Onkel ein Empfehlungsschreiben gegeben hatte.

»Am nächsten Mittwoch findet eine Senatssitzung statt,« sagte man ihm, »doch die Tagesordnung ist so belastet, daß der Fall Maslow jedenfalls auf eine nächste Sitzung verschoben werden wird. Indessen können Sie immerhin die Beschleunigung der Beratung beantragen.

In diesem Senatsbureau hörte Nechludoff, während er weitere Einkünfte einholte, wieder von dem unglücklichen Duell sprechen, in welchem der junge Kamensky gefallen war. Zum erstenmale erfuhr er die Einzelheiten einer Geschichte, mit der sich damals die ganze Stadt beschäftigte. Die Sache hatte in einem Restaurant begonnen, wo die Offiziere Austern speisten und ihrer Gewohnheit gemäß viel tranken. Da einer derselben sich einige beleidigende Bemerkungen über das Regiment erlaubte, in dem Kamensky diente, so hatte ihn dieser einen Lügner geheißen; der so beschimpfte Offizier hatte ihn geohrfeigt, und das Duell hatte am nächsten Tage stattgefunden. Kamensky hatte eine Kugel in den Unterleib bekommen und war zwei Stunden später gestorben. Sein Gegner und die Zeugen waren verhaftet und auf mehrere Wochen ins Gefängnis gesperrt worden.

Vom Senat fuhr Nechludoff zur Begnadigungskommission, wo er einen hohen Beamten, den Baron Worobjeff, zu sprechen hoffte, an den ihm sein Onkel einen Brief mitgegeben. Doch der Portier gab ihm in strengem Tone zu verstehen, man könne den Baron nur an bestimmten Tagen sprechen. Nechludoff ließ den Brief da und begab sich zu dem Senator Wolff. Dieser hatte eben sein Frühstück beendet und sorgte für die Beförderung seiner Verdauung, indem er in seinem Kabinett auf und ab ging und dazu Cigarren rauchte. Nechludoff fand ihn bei dieser Thätigkeit. Wladimir Efimowitsch Wolff war wirklich ein Mann comme il faut; er stellte diese Eigenschaft über alle andern, und nichts war seiner Ansicht nach berechtigter, denn ihr nur allein verdankte er seine glänzende Laufbahn und die Befriedigung seines Ehrgeizes. Durch sie hatte er eine reiche Heirat gemacht, die ihm den Titel Senator und eine Stellung mit achtzehntausend Rubeln Gehalt eingebracht. Doch er war nicht damit zufrieden, ein Mann comme il faut zu sein, und betrachtete sich als einen Typus von ritterlicher Rechtschaffenheit. Tiefe Rechtschaffenheit bestand aber seiner Ansicht nach darin, die Privatleute zu schröpfen. Er glaubte seiner Rechtschaffenheit keinen Abbruch zu thun, wenn er alle Art von Geschenken, Schweigegeldern und Trinkgeldern entgegennahm und im Notfalle sogar darum bat. Er glaubte seine Rechtschaffenheit auch nicht zu verleugnen, wenn er seine Frau betrog, die er ihres Geldes wegen geheiratet hatte und die in ihn verliebt war. Im Gegenteil, niemand war stolzer als er auf die weise Einrichtung seines Familienlebens. Die Familie bestand aus seiner Frau, der Schwester der letzteren, deren Vermögen er sich unter dem Vorwand, es verwalten zu wollen, angeeignet, und einer Tochter, einer nicht besonders hübschen, schüchternen und sanften Person, die ein einsames und trauriges Leben führte und deren einzige Zerstreuung die frommen Versammlungen waren, die bei Aline und der alten Gräfin Tscharska abgehalten wurden.

Der Senator Wolff hatte auch einen Sohn, einen kräftigen Burschen, der bereits mit fünfzehn Jahren einen Bart wie ein Mann hatte und schon in diesem Alter angefangen hatte, zu trinken und den Mädchen nachzulaufen. Mit zwanzig Jahren hatte ihn sein Vater aus dem Hause gejagt, weil er seine Studien nicht beenden konnte und sein Benehmen ihn bloßzustellen drohte. Später hatte er für seinen Sohn eine Schuld von zweihundertdreißig Rubeln und dann noch eine von sechshundert Rubeln bezahlt, ihm dabei aber erklärt, das wäre die letzte. Anstatt sich zu bessern, hatte der Sohn wieder eintausend Rubel Schulden gemacht, und nun hatte ihm der Vater mitgeteilt, er betrachte ihn nicht mehr als seinen Sohn. Von diesem Augenblick an lebte er, als hätte er nie einen Sohn gehabt, und niemand wagte bei ihm zu Hause, von demselben zu sprechen. Das hinderte ihn aber nicht, der vollen Ueberzeugung zu leben, niemand könnte ein Familienleben so trefflich gestalten wie er.

Wolff empfing Nechludoff mit dem liebenswürdigen und etwas spöttischen Lächeln, mit der er seine Gefühle als Mann comme il faut der übrigen Menschheit gegenüber zum Ausdruck brachte.

»Ich bitte Sie,« sagte er, nachdem er den Brief des Grafen Iwan Michaelowitsch gelesen, »nehmen Sie Platz. Mir aber gestatten Sie wohl, weiter auf und ab zu gehen. Freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen und natürlich auch dem Grafen Iwan Michaelowitsch gefällig zu sein,« fuhr er fort, nachdem er eine dichte, blaue Rauchwolke ausgestoßen, wobei er seine Cigarre sorgsam so hielt, daß die Asche nicht auf den Teppich fallen konnte.

»Ich möchte Sie nur bitten, die Prüfung der Berufung beschleunigen zu lassen,« sagte Nechludoff, »damit die Maslow, wenn sie nach Sibirien muß, so schnell wie möglich abreisen kann.«

»Ja, ja, mit dem ersten Dampfer von Nischnij-Nowgorod, ich weiß!« erklärte Wolff mit seinem vorigen Lächeln, wie ein Mann, der genau im voraus weiß, was man mit ihm sprechen will. »Sie sagen, die Verurteilte heißt…?«

»Katharina Maslow!«

Wolff ging auf seinen Schreibtisch zu und öffnete einen Karton mit Papieren.

»Die Maslow! Ganz recht! Schön, ich werde mit meinen Kollegen darüber sprechen, und wir werden über den Fall Mittwoch beraten.«

»Darf ich meinem Advokaten telegraphieren?«

»Wie? Sie haben in dieser Sache einen Advokaten? Das ist ganz unnütz! Aber ja, Sie können ihm schließlich telegraphieren.«

»Ich fürchte, die Gründe zur Annullierung genügen nicht,« sagte Nechludoff, »aber schon das Protokoll der Verhandlungen beweist, daß die Verurteilung auf Grund eines Mißverständnisses erfolgt ist.«

»Ja, ja, das ist möglich; aber der Senat hat sich nur mit der Sache selbst zu beschäftigen,« versetzte Wolff, auf seine Cigarrenasche blickend, in strengem Tone. Der Senat muß sich darauf beschränken, ob die Verhandlung nach Gesetzesvorschrift erfolgt ist.«

»Aber ich glaube, der Fall liegt hier so außergewöhnlich…«

»Gewiß, gewiß! Alle Fälle sind außergewöhnlich. Na, wir werden thun, was zu thun ist!«

Die Asche hielt noch immer, begann aber am Ende der Cigarre zu zittern.

»Und Sie kommen nur selten nach Petersburg,« fuhr Wolff fort, indem er die Asche in den Aschbecher abstrich, »Dieser Tod des jungen Kamensky ist doch entsetzlich! Ein so reizender junger Mann! Der einzige Sohn! Die Mutter ist vor Verzweiflung wahnsinnig,« fügte er hinzu und wiederholte fast Wort für Wort, was die ganze Stadt sprach.

Nechludoff stand auf, um sich zu verabschieden.

»Wenn es Ihnen recht ist, so frühstücken Sie doch einmal in den nächsten Tagen bei mir,« sagte Wolff, während er ihm die Hand reichte.

Die Zeit war schon so vorgerückt, daß Nechludoff seine weiteren Bemühungen auf den nächsten Tag verschob und nach Hause, d. h. zu seiner Tante zurückkehrte.

Es waren an diesem Abend sechs Personen bei der Gräfin Katharina Iwanowna zu Tische. Der Graf, die Gräfin, ihr Sohn, – ein junger mürrischer und brummiger Gardeoffizier, der mit den Ellenbogen auf dem Tische aß, – Nechludoff, die französische Vorleserin und der Verwalter des Grafen.

Die Unterhaltung drehte sich natürlich um den Tod des jungen Kamensky. Jeder entschuldigte Posen, der die Ehre seiner Uniform verteidigt hatte. Nur die Gräfin Katharina Iwanowna zeigte sich mit ihrer freien und unüberlegten Sprechweise streng gegen den Mörder.

»Sich betrinken und dann reizende junge Leute töten, das werde ich nie entschuldigen,« erklärte sie.

»Ich begreife nicht, was Sie damit sagen wollen,« bemerkte ihr Gatte.

»Ja, ich weiß! Du begreifst nie, was ich sagen will,« versetzte die Gräfin und wandte sich zu Nechludoff, als wolle sie ihn zum Zeugen nehmen. »Jeder begreift mich, nur nicht mein Mann. Ich sage, ich beklage die Mutter dessen, den er getötet hat, und kann es nicht dulden, daß dieser Mensch, der Kamensky gemordet, davon noch Annehmlichkeiten haben soll.«

In diesem Augenblick ergriff der Sohn der Gräfin, der bis dahin nichts gesagt, das Wort, um die Verteidigung Posens zu übernehmen. In ziemlich grober Weise griff er die Worte seiner Mutter an und bemühte sich, ihr zu beweisen, ein Offizier müsse so handeln, wie Posen gehandelt; ja, er fügte hinzu, hätte er anders gehandelt, so hätte ihn das Ehrengericht der Offiziere aus dem Regiment ausgestoßen.

Ohne an der Unterhaltung teilzunehmen, hörte Nechludoff diese verschiedenen Reden an. In seiner Eigenschaft als früherer Offizier begriff er die Behauptungen des jungen Tscharsky und fand sie natürlicher, als er sich selbst zu gestehen wagte, andererseits konnte er sich bei dem Fall dieses Offiziers, der einen seiner Kameraden getötet, des Gedankens nicht erwehren, an einen jungen Mann zu denken, den er im Gefängnis gesehen und der wegen eines im Laufe eines Streites begangenen Mordes zur Zwangsarbeit verurteilt worden war.

In beiden Fällen war die erste Ursache des Verbrechens die Trunkenheit gewesen. Der junge Bauer hatte unter dem Eindruck einer ungewöhnlichen Ueberreizung getötet, und um ihn dafür zu bestrafen, hatte man ihn von seinem Weibe und seinen Kindern getrennt, ihm Eisen an die Füße gelegt, ihm den halben Kopf rasiert und wollte ihn nun zur Zwangsarbeit verschicken; dagegen saß der Offizier, der unter ganz gleichen Bedingungen dasselbe Verbrechen begangen, in einem hübschen Zimmer in Arrest, aß gute Speisen, trank gute Weine, las ungehindert alle Bücher, die er lesen wollte, und wurde demnächst in Freiheit gesetzt, um sein altes Leben wieder aufzunehmen, wo er jetzt Aussicht hatte, von nun an mit noch größerer Rücksicht als bisher behandelt zu werden.

Nechludoff konnte dem Verlangen, alles zu sagen, was er dachte, nicht widerstehen. Zuerst schien die Gräfin Katharina Iwanowna seine Ansichten zu billigen; kurz darauf schwieg sie jedoch ebenso wie die andern Tischgäste, und Nechludoff hatte die Empfindung, er habe mit seinen Bemerkungen etwas Unpassendes gesagt.

Nach dem Diner gingen die Gäste in den großen Salon, den man der Gelegenheit entsprechend wie einen Schulsaal hergerichtet. Man hatte hier Bänke und Stühle in Reihen aufgestellt; im Hintergrund des Saales stand auf einer kleinen Estrade ein Tisch und ein Stuhl für den Redner. Schon kamen die Gäste in großer Zahl und freuten sich, den berühmten Kiesewetter hören zu können.

Die Straße vor dem Hause füllte sich mit prächtigen Equipagen. In den reich ausgestatteten Salon traten in Seide, Sammet und Spitzen gekleidete Namen mit hoch aufgebauten Frisuren und künstlich verengerten Taillen. Mit ihnen kamen einige Männer, Civilisten und Militärs in Gala-Uniform, und Nechludoff sah zu seiner Verwunderung in dieser glänzenden Gesellschaft fünf Leute aus dem Volke: zwei Diener, einen Krämer, einen Handwerker und einen Kutscher.

Kiesewetter, ein untersetzter kleiner Mann mit grauen Haaren, stieg auf die Estrade und begann seine Rede. Er sprach deutsch, und ein mageres junges Mädchen mit einem Lorgnon auf der Nase, übersetzte seine Worte stückweise.

Er sagte, daß unsere Sünden so groß und die Strafen so schwer und unvermeidlich wären, daß es für uns ganz unmöglich wäre, in der Erwartung dieser Strafen ruhig zu leben.

»Theure Brüder und Schwestern, denken wir einen Augenblick an uns selbst, an unser Leben, an die Art, wie wir handeln, wie wir den Zorn Gottes erregen; dann werden wir begreifen, daß es für uns keine Verzeihung, keinen Ausgang, kein Heil giebt und daß wir rettungslos verloren sind. Das schrecklichste Verderben, ewige Qualen sind uns bestimmt,« fügte er mit zitternder Stimme hinzu. »Wie uns retten? Meine Brüder, wie sollen wir uns aus diesem schrecklichen Brande retten? Schon hat er unser Haus ergriffen, und es fehlt uns jeder Ausweg!«

Er schwieg. Richtige Thränen flossen über seine Wangen. Schon seit acht Jahren empfand er, wenn er an diese Stelle seiner Rede kam, die ihm am meisten gefiel, einen Krampf in der Kehle, und Thränen flossen über seine Wangen. Im Saal ließ sich Schluchzen vernehmen. Die fetten, entblößten Schultern der Gräfin Katharina Iwanowna wurden von heftigem Zittern ergriffen. Der Kutscher betrachtete den Redner mit einem Gemisch von Verwunderung und Entsetzen, wie er etwa einen Mann betrachtet hätte, den seine Pferde überfahren hätten. Wolffs Tochter, die mit auffälligem Luxus gekleidet war, war auf die Kniee gesunken und verbarg das Gesicht in den Händen.

Inzwischen erhob der Redner wieder das Haupt, und auf seinen Lippen erschien ein Lächeln, wie es die Schauspieler zeigen, wenn sie die neu auftauchende Hoffnung andeuten wollen. Und mit sanfter und demütiger Stimme fuhr er fort:

»Aber die Rettung lebt. Sie ist uns erreichbar, sicher, leicht und fröhlich. Diese Rettung ist das für uns vergossene Blut des Gottessohnes. Sein Martyrium, sein für uns vergossenes Blut retten uns vor dem Verderben. Meine Brüder und Schwestern, danken wir Gott, der seinen einzigen Sohn für die Erlösung von des Menschen Sünden gnädiglich geopfert hat. Sein dreimal gesegnetes Blut…«

Während dieser Rede war Nechludoffs Unbehagen so unerträglich geworden, daß er die allgemeine Aufregung benutzte, in diesem Augenblick auf den Fußspitzen hinausging und sich in sein Zimmer begab.