Die Anklage.

 

D’Avrigny hatte den Staatsanwalt, der eine zweite Leiche in diesem Totenzimmer zu sein schien, bald wieder zu sich gebracht.

 

Oh! der Tod ist in meinem Hause! rief Villefort.

 

Sagen Sie das Verbrechen, entgegnete der Doktor.

 

Herr d’Avrigny, rief Villefort, ich kann Ihnen nicht sagen, was alles in diesem Augenblicke in mir vorgeht; es ist Schrecken, es ist Schmerz, es ist Wahnsinn.

 

Ja, sagte Herr d’Avrigny mit ausdrucksvoller Ruhe; doch ich glaube, es ist Zeit, daß wir handeln. Ich glaube, es ist Zeit, daß wir dieser Sterblichkeit einen Damm entgegensetzen. Ich meinesteils fühle mich nicht fähig, länger solche Geheimnisse zu tragen, ohne die Hoffnung, bald die Rache für die Gesellschaft und für die Opfer daraus hervorgehen zu sehen.

 

Villefort schaute düster umher und murmelte: In meinem Hause! in meinem Hause!

 

Hören Sie, Staatsanwalt, sagte d’Avrigny, seien Sie ein Mann, Ausleger des Gesetzes, ehren Sie sich durch eine völlige Aufopferung!

 

Sie lassen mich beben, Doktor. Haben Sie jemand im Verdacht?

 

Ich habe niemand im Verdacht; der Tod klopft an Ihre Tür, er tritt ein und geht, nicht blind, sondern hinterlistig, von Zimmer zu Zimmer. Nun wohl! ich folge seiner Spur, ich erkenne seinen Gang; ich tappe im Finstern umher, denn meine Freundschaft für Ihre Familie, meine Achtung für Sie sind zwei Binden auf meinen Augen! wohl …

 

Oh! sprechen Sie, sprechen Sie, ich werde Mut haben.

 

Wohl! mein Herr, Sie haben bei sich, in dem Schoße Ihres Hauses, in Ihrer Familie vielleicht eines von jenen furchtbaren, gräßlichen Phänomenen, wie jedes Jahrhundert irgend eines hervorbringt. Locusta und Agrippina, Brunhilde und Fredegunde. Alle diese Frauen waren jung und schön. Auf ihren Stirnen blühte dieselbe Blume der Unschuld, die man auch auf der Stirn der Schuldigen erblickt, die in Ihrem Hause ist.

 

Villefort stieß einen Schrei aus, faltete die Hände und schaute den Doktor mit flehender Gebärde an. Dieser aber fuhr ohne Erbarmen fort: Suche, wem das Verbrechen nutzt, lautet ein Grundsatz der Rechtslehre.

 

Doktor! rief Villefort, ach! Doktor, wie oft ist nicht die Gerechtigkeit der Menschen durch diesen unseligen Grundsatz getäuscht worden. Ich weiß nicht, aber es scheint mir, dieses Verbrechen …

 

Ah! Sie gestehen doch endlich ein, daß ein Verbrechen obwaltet?

 

Ja, ich muß es anerkennen, ich kann nicht anders. Doch lassen Sie mich fortfahren! Es scheint mir, sage ich, daß dieses Verbrechen auf mich allein fällt und nicht auf die Opfer. Unter all diesem seltsamen Unglück ahne ich ein schweres Verhängnis für mich.

 

Oh! Mensch, selbstsüchtigstes von allen Wesen, persönlichstes von allen Geschöpfen, das stets glaubt, die Erde drehe sich, die Sonne glänze, der Tod mähe für seine Person allein. Herr von Saint-Meran, Frau von Saint-Meran, Herr Noirtier …

 

Wie, Herr Noirtier! …

 

Ah ja! glauben Sie vielleicht, es sei auf den unglücklichen Bedienten abgesehen gewesen? Nein, nein: er ist, wie Polonius bei Shakespeare, für einen andern gestorben. Noirtier sollte die Limonade trinken; Noirtier hat es auch, wie vorausgesehen, getan; der andere hat nur zufällig davon getrunken, und wenn auch Barrois gestorben ist, so sollte doch Noirtier sterben.

 

Wie kommt es dann, daß mein Vater nicht unterlag?

 

Ich habe es Ihnen bereits einmal, nach dem Tode der Frau von Saint-Meran, gesagt, weil sich sein Körper an den Gebrauch gerade dieses Giftes gewöhnt hatte; weil die Dose, unbedeutend für ihn, für jeden andern tödlich war; weil niemand, und auch der Mörder nicht, weiß, daß ich Herrn Noirtiers Lähmung mit Brucin behandle, während es dem Mörder nicht unbekannt blieb, daß Brucin ein heftiges Gift ist.

 

Mein Gott! murmelte Villefort, die Hände ringend.

 

Verfolgen Sie den Gang des Verbrechers; er tötete Herrn von Saint-Meran. – Oh, Doktor!

 

Ich würde darauf schwören; das, was man mir von den Symptomen gesagt hat, stimmt zu sehr mit dem überein, was ich mit eigenen Augen gesehen habe.

 

Villefort hörte auf zu widersprechen und stieß einen Seufzer aus.

 

Er tötete Herrn von Saint-Meran, wiederholte der Doktor, er tötete Frau von Saint-Meran; es ist eine doppelte Erbschaft zu machen.

 

Villefort wischte sich den Schweiß von der Stirn.

 

Herr Noirtier, fuhr Herr d’Avrigny fort, hatte kürzlich gegen Ihre Familie zu Gunsten der Armen testiert; Herr Noirtier wird verschont, man erwartet nichts von ihm. Doch, er hat sein erstes Testament umgestoßen und ein anderes gemacht, worauf man, ohne Zweifel aus Furcht, er könnte ein drittes machen, auch ihn angreift. Das Testament ist, glaube ich, von vorgestern, Sie sehen, man hat keine Zeit verloren.

 

Oh! Gnade, Herr d’Avrigny!

 

Keine Gnade, mein Herr! Ist das Verbrechen begangen worden, so kommt es dem Arzte zu, die Tatsache zu enthüllen.

 

Gnade für meine Tochter, Herr! murmelte Villefort.

 

Sie sehen, Sie haben sie genannt, Sie, ihr Vater?

 

Gnade für Valentine! Hören Sie, es ist unmöglich. Ich würde lieber mich selbst anklagen! Valentine, ein Herz von Diamant, eine Lilie der Unschuld!

 

Keine Gnade, Herr Staatsanwalt, das Verbrechen ist unleugbar. Fräulein von Villefort hat selbst die Medikamente eingepackt, die an Herrn von Saint-Meran abgeschickt worden sind, und Herr von Saint-Meran ist gestorben. – Fräulein von Villefort hat die Tisanen für Frau von Saint-Meran bereitet, und Frau von Saint-Meran ist gestorben. Fräulein von Villefort hat aus Barrois‘ Händen die Flasche mit Limonade genommen, die der Greis gewöhnlich am Morgen genießt, und der Greis ist nur durch ein Wunder entkommen. Fräulein von Villefort ist die Schuldige! Sie ist die Giftmischerin! Herr Staatsanwalt, ich zeige Fräulein von Villefort bei Ihnen an; tun Sie Ihre Pflicht!

 

Doktor, ich widerstehe nicht länger, ich verteidige mich nicht mehr, ich glaube Ihnen; doch haben Sie Mitleid, schonen Sie mein Leben, meine Ehre!

 

Herr von Villefort, erwiderte der Doktor mit wachsender Kraft, es gibt Umstände, wo ich alle Grenzen der albernen menschlichen Bedachtsamkeit überschreite. Hätte Ihre Tochter nur ein Verbrechen begangen, uns ich sähe sie auf ein neues sinnen, so würde ich zu Ihnen sagen: Warnen Sie Ihre Tochter, mag sie den Rest ihres Lebens in einem Kloster zubringen, um zu weinen und zu beten. Hätte sie ein zweites Verbrechen begangen, so würde ich Ihnen sagen: Hören Sie, Herr von Villefort, hier ist ein Gift, das die Giftmischerin nicht kennt, ein Gift, das kein bekanntes Gegengift hat, ein Gift, schnell wie der Gedanke, rasch wie der Blitz, geben Sie ihr dieses Gift, empfehlen Sie Ihre Seele Gott, und retten Sie so Ihre Seele und Ihr Leben, denn nunmehr gedenkt sie Ihre Tage abzukürzen, und ich sehe sie mit ihrem heuchlerischen Lächeln und ihren sanften Ermahnungen an Ihr Bett treten … Wehe Ihnen, Herr von Villefort, wenn Sie sich nicht beeilen, zuerst zu schlagen. Das würde ich Ihnen sagen, hätte sie nur zwei Personen getötet; aber sie hat drei Todeskämpfe gesehen, hat drei Sterbende betrachtet, bei drei Leichen gekniet; der Henker für die Giftmischerin! der Henker! Sie sprechen von Ihrer Ehre, tun Sie, was ich Ihnen sage!

 

Villefort rief: Hören Sie, ich besitze nicht die Kraft, die Sie haben, oder die Sie vielleicht nicht hätten, wenn es sich, statt um meine Tochter, um Ihre Tochter Madeleine handelte.

 

Der Doktor erbleichte.

 

Doktor, jeder Sohn einer Frau ist geboren, um zu leiden und zu sterben; ich werde leiden und den Tod erwarten.

 

Nehmen Sie sich in acht, sagte d’Avrigny, dieser Tod kann langsam sein; Sie werden ihn vielleicht herannahen sehen, nachdem Ihr Vater, Ihre Frau, Ihr Sohn getroffen ist.

 

Keuchend preßte Villefort den Arm des Doktors und rief:

 

Hören Sie mich, beklagen Sie mich, helfen Sie mir … Nein, meine Tochter ist nicht schuldig … Schleppen Sie uns vor ein Tribunal; ich werde abermals sagen: Nein, meine Tochter ist nicht schuldig … Es gibt kein Verbrechen in meinem Hause … Ich will nicht, hören Sie, ich will nicht, daß es ein Verbrechen in meinem Hause gibt; denn wenn das Verbrechen irgendwo eintritt, so ist es wie der Tod: es tritt nicht allein ein. Hören Sie, was ist Ihnen daran gelegen, wenn ich ermordet sterbe? … Sind Sie mein Freund, sind Sie ein Mensch, haben Sie ein Herz? … Nein, Sie sind Arzt! … Wohl! ich sage Ihnen, nein, meine Tochter wird nicht durch mich in die Hände des Henkers geschleppt werden … Ha! das ist ein Gedanke, der mich verzehrt, der mich wie einen Wahnsinnigen aufreibt. Und wenn Sie sich täuschten! Wenn es ein anderer wäre, als meine Tochter! … wenn ich eines Tages, bleich wie ein Gespenst, käme und zu Ihnen sagte: Mörder, du hast meine Tochter getötet! … Hören Sie, wenn dies geschähe, ich bin ein Christ, Herr d’Avrigny, und dennoch würde ich mich töten! …

 

Es ist gut, sagte der Doktor nach kurzem Schweigen, ich werde warten.

 

Villefort schaute ihn an, als zweifelte er noch an seinen Worten.

 

Doch wenn eine Person Ihres Hauses krank wird, fuhr Herr d’Avrigny langsam und feierlich fort, wenn Sie sich selbst getroffen fühlen, rufen Sie mich nicht, denn ich werde nicht kommen. Wohl will ich mit Ihnen das furchtbare Geheimnis teilen, aber die Schande und die Reue sollen nicht in meinem Gewissen wachsen und furchtbar werden, wie das Verbrechen und das Unglück in Ihrem Hause wächst und Früchte treibt.

 

Sie verlassen mich also, Doktor?

 

Ja, ich kann Ihnen nicht ferner folgen, und ich verweile nicht am Fuße des Blutgerüstes. Eine andere Enthüllung wird kommen und das Ende dieser furchtbaren Tragödie herbeiführen. Gott befohlen!

 

Doktor, ich flehe Sie an.

 

Alle Greuel, die meinen Geist beflecken, machen mir Ihr Haus verhaßt und unselig. Gott befohlen, mein Herr.

 

Ein Wort, nur ein einziges Wort, Doktor! Sie entfernen sich und überlassen mich allen Schrecknissen meiner Lage, Schrecknissen, die Sie durch Ihre Enthüllung noch vermehrt haben. Doch was wird man von dem plötzlichen Tode des armen alten Dieners sagen?

 

Es ist richtig, sagte der Arzt, geleiten Sie mich zurück!

 

Der Doktor ging zuerst hinaus, Herr von Villefort folgte ihm; die Bedienten standen unruhig in den Gängen und auf den Treppen, wo der Doktor vorbeikommen mußte.

 

Mein Herr, sagte d’Avrigny so laut, daß es jeder hörte, der arme Barrois mußte in der letzten Zeit zu viel im Zimmer sitzen; einst gewohnt, mit seinem Herrn sich zu Pferde oder zu Wagen in allen Ländern Europas umherzutreiben, hat ihn der eintönige Dienst am Lehnstuhl getötet. Das Blut ist schwer geworden, er wurde vom Schlage gerührt, und ich erhielt zu spät Nachricht. – Vergessen Sie nicht, fügte er leise hinzu, vergessen Sie nicht, die Tasse mit Veilchensirup in die Asche zu werfen.

 

Und ohne Villeforts Hand zu berühren, entfernte er sich, geleitet von den Tränen und Wehklagen der Zurückbleibenden.

 

Am Abend kamen alle Dienstboten Villeforts, die sich in der Küche versammelt und lange miteinander besprochen hatten, zu Frau von Villefort und baten um ihren Abschied. Keine Ermahnung, kein Versprechen höheren Lohnes vermochte sie zurückzuhalten; auf alles, was man sagte, erwiderten sie: Wir wollen gehen, weil der Tod im Hause ist.

 

Sie gingen also, trotz aller Bitten, die man an sie richtete, und äußerten nur, sie bedauerten lebhaft, so gute Gebieter und besonders Fräulein Valentine zu verlassen, die so mild, so wohltätig, so sanft wäre.

 

Villefort schaute bei diesen Worten Valentine an. Sie weinte.

 

Seltsam! Von den Tränen der Tochter erschüttert, schaute er auch Frau von Villefort an, und es kam ihm vor, als ob ein flüchtiges, düsteres Lächeln über ihre dünnen Lippen hingeschwebt wäre.