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2. Das Rattenloch.

Möge der Leser uns erlauben, ihn nach dem Grèveplatz zurückzuführen, den wir gestern mit Gringoire verlassen haben, um der Esmeralda zu folgen.

Es ist zehn Uhr morgens; alles verräth hier den Tag nach einem Feste. Der Boden ist mit Ueberresten bedeckt; überall Bänder, Fetzen, Federn aus Federbüschen, Wachstropfen von Kerzen, Brocken von der öffentlichen Schmauserei. Eine ziemliche Anzahl Bürger »schlendert«, wie wir sagen, hier und da herum, stößt mit dem Fuße die erloschenen Brände des Freudenfeuers auseinander, ergötzt sich vor dem Säulenhause in der Erinnerung an die schönen Ausschmückungen vom vergangenen Abende und betrachtet heute, als Rest seiner Festfreude, die Nägel, an denen diese aufgehangen waren. Die Apfelwein- und Bierverkäufer rollen ihre Fässer durch die Menschengruppen. Einige beschäftigte Fußgänger kommen und gehen. Die Händler schwatzen und rufen sich von der Schwelle ihrer Läden an. Das Fest, die Gesandten, Coppenole, der Narrenpapst sind in aller Munde; darüber glossirt und lacht man um die Wette. Inzwischen haben vier Gerichtsdiener zu Pferde, die sich soeben an den vier Seiten des Prangers aufstellen, schon ein gut Theil des auf dem Platze zerstreuten »Volkes« um sich geschaart, das in der Hoffnung auf eine kleine Urteilsvollstreckung sich zur Ausdauer und Langeweile verurtheilt.

Wenn der Leser, nachdem er diese lebhafte und lärmende Scene, welche sich an allen Punkten des Platzes abspielt, betrachtet hat, seine Blicke jetzt nach jenem alterthümlichen, halb gothischen, halb romanischen Bauwerke des Rolandsthurmes richtet, welcher die Ecke des Quais im Westen bildet, so wird er in einem Winkel der Vorderseite ein dickes, zur öffentlichen Benutzung bestimmtes Gebetbuch bemerken, welches vor dem Regen durch ein Schutzdach, und gegen Diebe durch ein Gitter geschützt ist, welches jedoch in ihm zu blättern gestattet. Zur Seite dieses Gebetbuches befindet sich eine enge, gothisch gewölbte Luke, die auf den Platz geht und kreuzweise mit zwei eisernen Stangen verschlossen ist; dies ist die einzige Oeffnung, welche ein wenig Luft und Licht in eine kleine, thürlose Zelle dringen läßt, welche zur ebenen Erde in der Mauerdicke des alten Gebäudes angebracht ist und einen um so tiefern Frieden, ein um so düstereres Schweigen athmet, als das Leben eines öffentlichen Platzes, und zwar des volkreichsten und lärmendsten von Paris, ringsherum wogt und schwirrt.

Diese Zelle war in Paris seit beinahe dreihundert Jahren berühmt, weil Frau Roland vom Rolandsthurme, aus Trauer um ihren im Kreuzzuge gefallenen Vater, dieselbe in die Grundmauer ihres eigenen Hauses hatte hineinarbeiten lassen, um sich dort für immer einzuschließen, während sie von ihrem Schlosse nur dieses Gemach behielt, dessen Thüre vermauert und dessen Luke Winter wie Sommer geöffnet war, und alles Uebrige den Armen und Gott schenkte. Die trostlose Frau hatte, in Wahrheit lebendig begraben, zwanzig Jahre lang in dieser Gruft auf den Tod gewartet, betete Tag und Nacht für die Seele ihres Vaters, schlief im Staube, ohne auch nur ihr Haupt auf einen Stein zu betten, war in einen schwarzen Sack gehüllt und lebte einzig von dem, was das Mitleid der Vorübergehenden an Brot und Wasser auf dem Rande ihrer Luke niederlegte, wodurch ihr an Mitleid das vergolten wurde, was sie zuvor selbst geübt hatte. Bei ihrem Tode, im Augenblicke, wo sie zur letzten Ruhestätte einging, hatte sie diese Zelle für immer den unglücklichen Frauen, Müttern, Witwen oder Jungfrauen vererbt, welche viel für andere oder sich zu beten wünschen sollten, oder in einem großen Schmerze oder in großer Buße sich lebendig dem Grabe überliefern möchten. Die Armen ihres Zeitalters hatten ihr ein schönes, an Thränen und Segnungen reiches Begräbnis bereitet; doch zu ihrem Leide hatte die heilige Frau, aus Mangel an Fürsprache, nicht heilig gesprochen werden können. Diejenigen unter ihnen, welche etwas ruchlos waren, hatten gehofft, daß sich die Sache leichter im Paradiese, als in Rom machen würde, und in Ermangelung des Papstes, ganz einfach zu Gott für die Verstorbene gebetet. Die meisten hatten sich damit zufrieden gegeben, das Gedächtnis an Frau Roland heilig zu halten und Reliquien aus ihren Lumpen zu machen. Die Stadt ihrerseits hatte, nach dem Sinne der Jungfrau, ein öffentliches Gebetbuch gestiftet, welches man neben der Luke der Zelle aufgestellt hatte, damit die Vorübergehenden von Zeit zu Zeit hier stehen bleiben möchten, wäre es auch nur um zu beten, und damit ihr Gebet sie an eine Spende denken ließe, und daß die armen Büßerinnen, die Erbinnen der Zelle der Frau Roland, hier nicht ganz vor Hunger und durch Nichtbeachtung ihrer Mitmenschen zu Grunde gehen möchten.

Diese Art Grabhöhlen war in den Städten des Mittelalters übrigens gar nicht so was Seltenes. Man fand oft auf der belebtesten Straße, im buntesten und betäubendsten Marktgetriebe, so recht in der Mitte, unter den Hufen der Pferde, man möchte sagen unter den Rädern der Wagen, eine Höhle, eine Grube, ein vermauertes und vergittertes Loch, in dessen Tiefe Tag und Nacht ein menschliches Wesen betete, das sich freiwillig ewiger Klage, schwerer Buße geweihet hatte. Und alle Gedanken, welche dieses sonderbare Schauspiel, diese schreckliche Büßerzelle, die eine Art Mittelding zwischen Wohnhaus und Grab, zwischen Kirchhof und Stadt bildete: – alle Gedanken, sage ich, welche diese Flucht eines Lebenden aus der menschlichen Gemeinschaft und Fortexistenz bei den Todten, welche diese, im Schattenreiche ihren letzten Oeltropfen verzehrende Lebenslampe, dieser in einer Höhle flackernde Lebensrest, dieser Hauch, diese Stimme, dieses ewige Gebet in einer Steinkluft, dieses für immer einer andern Welt zugewandte Antlitz, dieses schon in einer andern Sonne sich spiegelnde Auge, dieses an die Grabeswände sich schmiegende Ohr, – ich wiederhole: alle Gedanken, welche diese an einen solchen Körper gefesselte Seele, dieser in solchem Kerker gefangen gehaltene Körper, das Klagen dieser unter der doppelten Hülle von Fleisch und Fels gepeinigten Seele in uns heute wachruft: – nichts von alledem wurde von der Menge begriffen! Die wenig klügelnde und gar nicht spitzfindige Frömmigkeit jener Zeit sah nicht so zahlreiche Seiten in einer religiösen Handlung. Sie nahm die Sache im großen und ganzen; sie ehrte und achtete sie, weihte das Opfer dem Bedürfnis, aber sie dachte nicht über ihre Leiden nach, und ward nur wenig von ihnen gerührt. Von Zeit zu Zeit brachte sie dem elenden Büßer etwas Speise, sah durch das Loch, ob er noch lebte, kümmerte sich nicht um seinen Namen, wußte kaum seit wie viel Jahren er hinzusterben begonnen hatte; und dem Fremden, welcher sich nach dem lebenden Skelette erkundigte, das in dieser Höhle verfaulte, antworteten die Nachbarn, im Falle der Büßer ein Mann war, einfach: »Es ist der Klausner«; bei einer Frau: »Es ist die Klausnerin«.

Man sah also damals alles ohne übernatürliche Gefühle, ohne Übertreibung, ohne Vergrößerungsglas, mit nüchternem Blicke an. Das Mikroskop war noch nicht erfunden worden, weder für stoffliche Dinge, noch für Gegenstände aus dem geistigen Leben. Die Beispiele dieser Art von Einschließung waren, obgleich man wenig Notiz von ihnen nahm, in Wahrheit, und wie wir eben gesagt haben, doch häufig im Innern der Städte. In Paris gab es eine ziemlich große Anzahl dieser Zellen, in denen man zu Gott betete und Buße that; sie waren fast alle besetzt. Es ist wahr, daß die Geistlichkeit sich keine Sorge machte, sie leer stehen zu lassen, was bei den Glaubensstarken Lauheit mit sich führte; und daß man mit Aussatz Behaftete hineinlegte, sobald sich keine Bußebegehrenden vorfanden. Außer der kleinen Zelle auf dem Grèveplatze gab es deren eine in Montfaucon, eine auf dem Gottesacker Des-Innocents, eine andere, ich weiß nicht mehr wo, täusche ich mich nicht, im Hause Clichon; andere noch an vielen andern Stellen, wo man, nachdem sie selbst verschwunden sind, ihre Spur in den Berichten wiederfindet. Das Universitätsviertel hatte auch die seinigen. Auf dem Sanct-Genovevenhügel sang eine Art Hiob des Mittelalters dreißig Jahre lang die sieben Bußpsalmen auf einem Düngerhaufen in der Tiefe einer Cisterne, wobei er, am Ende seiner Litanei, immer von neuem begann und des Nachts mit weithinschallender Stimme ( magna voce per umbras) sang, sodaß der Alterthumsforscher noch heute seine Stimme zu hören vermeint, wenn er in die Straße »Zum plätschernden Brunnen« einlenkt.

Um bei der Zelle im Rolandsthurme stehen zu bleiben, so müssen wir gestehen, daß sie niemals an Büßerinnen Mangel gelitten hatte. Seit dem Tode von Frau Roland hatte sie selten ein oder zwei Jahre leer gestanden. Viele Frauen waren gekommen, um Eltern, Geliebte und Fehltritte hier bis zum Tode zu beweinen. Die Schalkhaftigkeit der Parisers die sich in alles mengt, selbst in Dinge, die sie am allerwenigsten angehen, behauptete, daß man wenige Witwen darin gesehen hätte.

Nach der Mode des Zeitalters zeigte eine lateinische Inschrift, die auf die Mauer geschrieben war, dem die Sprache kennenden Wanderer die fromme Bestimmung diese Zelle. Der Gebrauch, ein Gebäude mit einem kurzen Denkspruche, der über den Eingang gesetzt war, kenntlich zu machen, hat sich bis in die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts erhalten. So las man noch in Frankreich über der Einlaßpforte zum Gefängnis im Herrenhause zu Tourville: »Sileto et spera«; 120 in Irland unter dem Wappenschilde, das über dem großen Thore des Schlosses Fortescue ragt: »Forte scutum, salus ducum«; 121 in England über dem Haupteingang des gastfreundlichen Herrensitzes der Grafen Cowper: »Tuum est«. 122 Damals drückte jedes Gebäude einen Gedanken aus.

Weil sich an der vermauerten Zelle des Rolandsthurmes keine Tür befand, so hatte man über dem Fenster mit großen lateinischen Buchstaben folgende zwei Worte eingegraben:

TU, ORA Lateinisch: Bete du.

Infolge davon geschah es, daß das Volk, dessen gesunder Sinn nicht so viel Spitzfindigkeit in den Dingen erblickt, und ganz gern »Ludovico Magno« mit »Pforte Saint-Denis« übersetzt, dieser schwarzen, düstern und feuchten Höhle den Namen »Rattenloch« 123 gegeben hatte: eine Auslegung, die vielleicht nicht so erhaben, als die andere, dafür aber malerischer ist.

  1. [Lateinisch: Schweige und hoffe.]
  2. [Lateinisch: Ein starker Schild ist das Heil der Fürsten.]
  3. [Lateinisch: Es ist dein.]
  4. [Der im Deutschen nicht wiederzugebende Wortwitz des Originales liegt in der Verwechslung der lateinischen Worte » Tu Ora« (bete du) mit den ähnlich klingenden französischen » Trou aux rats« (Rattenloch). Anm. d. Uebers.]

1. Unparteiischer Blick auf den alten Richterstand.

Eine vom Glücke sehr begünstigte Person war im Jahre der Gnade 1482 der Edelmann Robert von Estouteville, Ritter, Herr auf Beyne, Baron von Ivry und Saint-Andry in der Marche, Rath und Kammerherr des Königs und Vorsteher des Gerichtsamtes von Paris. Vor schon fast siebzehn Jahren, am 7. November 1465, im Kometenjahre, 111 hatte er vom Könige diese schöne Stellung im Gerichtsamte von Paris erlangt, die eher für eine Lehnsherrlichkeit, als für ein Amt gehalten wurde. » Dignitas« sagt Johannes Loemnoeus, »quae cum non exigua potestate politiam concernente, atque praerogativis multis et juribus conjuncta est.« 112 Wunderbar war es, daß im Jahre 1482 ein Edelmann ein Amt des Königs innehatte, über welches die Bestallungsurkunde bis zur Zeit der Verheirathung der natürlichen Tochter Ludwigs des Elften mit dem Herrn Bastard von Bourbon zurückdatirte. Am selben Tage, an welchem Robert von Estouteville den Jacob von Villiers beim Gerichtsamte von Paris ersetzt hatte, trat Johann Dauvet für den gestrengen Herrn Hélye von Thorlettes in das Amt des Oberpräsidenten beim Parlamentsgerichtshofe ein, verdrängte Johann Jouvenel-des-Ursins den Peter von Morvilliers aus dem Kanzleramte von Frankreich, entfernte Regnault-des-Dormans den Peter Puy aus seinem Amte als Chef der Bittschriftenkanzlei im königlichen Palaste. Nun! über wie viele Häupter waren das Präsidentenamt, die Kanzlerwürde und der Requêtenmeisterposten hinweggegangen, seitdem Robert von Estouteville seine Pariser Gerichtsamtswürde innehatte! Sie war ihm »in Obhut gegeben worden«, wie der Bestallungsbrief besagte; und gewiß, er nahm sie in gute Obhut. Er hatte sich an sie geklammert, war mit ihr verkörpert, war so vollkommen mit ihr eins geworden, daß er jener Veränderungswuth entgangen war, die Ludwig der Elfte, der mißtrauische, geizige, arbeitsame König besaß, welcher durch häufige Anstellungen und Abberufungen die Willkür seiner Macht dauernd zu erhalten bedacht war. Noch mehr: der tapfere Ritter hatte für seinen Sohn die Anwartschaft auf sein Amt erhalten, und schon seit zwei Jahren prangte der Name des edeln Herrn Jacob von Estouteville, des Junkers, neben dem seinigen am Kopfe des Civilregisters des Pariser Gerichtsamtes. Gewiß eine seltene und ungewöhnliche Gunst! Wahr ist, daß Robert von Estouteville ein guter Soldat war, daß er königlich gesinnt das Banner gegen »die Liga des Volkswohles« 113 erhoben, und der Königin am Tage ihres Einzuges in Paris im Jahre 14.. einen höchst wundervollen Hirsch aus Confect überreicht hatte. Ferner stand er mit Herrn Tristan l’Hermite, dem Obersten der Wache des königlichen Schlosses auf einem freundschaftlichen Fuße. Es war also eine recht angenehme und bequeme Stellung – diejenige des gestrengen Herrn Robert. Einmal hatte er sehr gute Besoldung, mit der, wie Trauben extra in seinem Weinberge, die Sporteln der Civil- und Criminalkanzleien des Gerichtsamtes, ferner die Sporteln der Civil- und Criminalkammern von Embas-du-Chatelet verbunden waren und von ihr abhingen, manchen kleinen Zoll von den Brücken zu Mantes und zu Corbeil, und die Einnahmen aus der Abgabe auf die Pariser Samenhändler, auf die Holz- und Salzmesser gar nicht zu rechnen. Dazu denke man sich das Vergnügen, bei Amtsritten durch die Stadt sich zu zeigen, und über die halb rothen, halb lohfarbenen Röcke der Schöffen und Viertelsmeister sein schönes Kriegsgewand hinleuchten zu lassen, das man heute noch in Stein gemeißelt auf seinem Grabmale in der Abtei Valmont in der Normandie, wie seine Pickelhaube in ganz getriebener Arbeit zu Montlhéry bewundern kann. Und dann, war es etwa nichts, über etwa ein Dutzend Gerichtsdiener, über den Schloßvogt und Commandanten vom Châtelet, über die zwei Gerichtsbeisitzer des Châtelet (auditores Castelleti), über die sechzehn Polizeicommissäre der sechzehn Quartiere, den Kerkermeister des Châtelet, die vier Lehnspolizeidiener, über die hundertundzwanzig berittenen und die hundertundzwanzig stocktragenden Gerichtsdiener, über den Commandanten der Scharwache mit seiner Wachrunde, seiner Unterwache, seiner Gegen- und Nachrunde jede Gewalt zu besitzen? War es nichts, höhere und niedere Gerichtsbarkeit auszuüben, war es nichts, daß er die Macht besaß, Pranger stehen, hängen und schleifen zu lassen, ganz zu geschweigen von der niedern Rechtspflege in erster Instanz (in prima instancia, wie die Urkunden sagen) über den ganzen Amtsgerichtsbezirk von Paris, der so würdig mit dem Einkommen von sieben adligen Balleien ausgestattet war? Kann man sich wohl etwas Angenehmeres denken, als Haftsbefehle und Urtheile zu erlassen, wie der gestrenge Herr Robert von Estouteville in Groß-Châtelet unter dem weiten und flachen Gewölbebaue Philipp Augusts alle Tage that? Und, wie er gewohnheitsgemäß jeden Abend pflegte, in jenes hübsche Haus in der Rue Galilée, im Bezirke des Königspalastes, heimzukehren, welches er als Ehegespons seiner Gemahlin, der Frau Ambroise von Loré, besaß, und von der Anstrengung auszuruhen, irgend einen armen Teufel seinerseits die Nacht »in jenem kleinen Zellchen der Rue-de-l’Escorcherie zubringen zu lassen, in welcher die Richter und Schöffen von Paris ihr Gefängnis herrichten wollten; welches besagte Zellchen elf Fuß in der Länge, sieben Fuß und vier Zoll in der Breite und elf Fuß in der Höhe maß?« 114

Und nicht nur besaß der gestrenge Herr Robert von Estouteville seine eigene Justizpflege als Amtsrichter und Gerichtsverwalter von Paris, sondern er hatte auch Sitz und Gewalt über Tod und Leben im hohen Gerichtshöfe des Königs. Es gab kein irgendwie stolzes Haupt, das ihm nicht durch die Hände gegangen wäre, ehe es dem Henker zufiel. Er war es gewesen, der den Herrn von Nemours aus der Bastille Saint-Antoine abholte, um ihn nach den Hallen zu geleiten; der den Herrn von Saint-Pol nach dem Grèveplatz brachte, welcher heulte und schrie zur großen Freude des Herrn Oberrichters, der dem Herrn Connetable nicht gewogen war.

Das alles betrachtet, fürwahr, was bedurfte es mehr, um ein glückliches und glänzendes Leben zu führen, und um eines Tages eine bemerkenswerthe Stelle in jener interessanten Geschichte der Oberrichter von Paris einzunehmen, aus der man erfährt, daß Oudard von Villeneuve ein Haus in der Rue-des-Boucheries besaß, daß Wilhelm von Hangest das große und kleine Savoyerhaus kaufte, daß Wilhelm Thibouft den Nonnen der heiligen Genoveva seine Häuser in der Rue Clopin schenkte, daß Hugo Aubriot im Palaste von Porc-Epic wohnte, und andere Familienverhältnisse mehr?

Gleichwohl, und bei so viel Veranlassungen, sein Leben in Ruhe und Freude zu genießen, war der gestrenge Herr Robert von Estouteville am Morgen des 7. Januar 1482 sehr mürrisch und mit einem wahren Teufelshumor erwacht. Woher kam diese Stimmung? Das hätte er selbst nicht zu sagen vermocht. Vielleicht deshalb, weil der Himmel trübe war? Weil die Schnalle seines alten Degenkoppels (wie in Montlhery zu sehen) schlecht geschnallt war und seien Oberrichterbauch zu soldatisch zusammenschnürte? Weil er auf der Straße unter seinem Fenster liederliche Gesellen, die ihn verhöhnten, vier Mann hoch, im Wamms ohne Hemde, in ganz zerrissenen Hüten, mit Quersack und Flasche an der Seite hatte vorübergehen sehen? War es das dunkle Vorgefühl vom Verluste der dreihundertundsiebzig Livres sechzehn Sols und acht Heller, um welche der künftige König Karl der Achte im nächsten Jahre die Einnahmen des Oberrichteramtes beschneiden sollte?

Der Leser hat die Wahl; was uns anbelangt, so möchten wir uns ganz einfach zu dem Glauben bekennen, daß er schlechte Laune hatte, eben weil er schlechte Laune hatte.

Uebrigens war es der Tag nach einem Feste, ein Tag voll Langeweile für jedermann, und namentlich für die Behörde, deren Aufgabe es im eigentlichen wie bildlichen Sinne war, alle den Schmutz bei Seite zu schaffen, den ein Fest in Paris verursacht. Und dann sollte er in Groß-Châtelet Sitzung abhalten. Nun hat man bemerkt, daß die Richter sich gewöhnlich so einrichten, daß ihr Sitzungstag auch der Tag ihrer schlechten Laune ist, damit sie immer jemanden haben, an welchem sie diese mit aller Bequemlichkeit im Namen des Königs, des Gesetzes und der Gerechtigkeit ausüben können.

Indessen die Sitzung ohne ihn begonnen. Seine Beisitzer für Civil-, Straf- und Privatstreitfälle versahen, dem Gebrauche gemäß, sein Amt; und von acht Uhr des Morgens an wohnten etliche Dutzend Bürger und Bürgerinnen, die in einem dunkeln Winkel des Gerichtssaales im Erdgeschosse Châtelet zwischen einer starken eichenen Schranke und der Mauer zusammengedrängt und eingepfercht standen, mit Genugthuung dem wechselnden und unterhaltenden Schauspiele der Civil- und Criminalrechtspflege bei, welche von Meister Florian Barbedienne, dem Untersuchungsrichter im Châtelet und Beisitzer des Herrn Oberrichters, ein wenig bunt durch einander und ganz aufs Gerathewohl abgehalten wurde.

Der Saal war klein, niedrig und gewölbt. Im Hintergrunde befand sich ein mit Lilien 115 geschmückter Tisch, nebst einem großen hölzernen Lehnstuhle aus geschnitztem Eichenholze, der leer war und dem Oberrichter gehörte, zur Linken ein Schemel für den Untersuchungsrichter Meister Florian. Untenan befand sich der Gerichtsschreiber, welcher schrieb. Gegenüber aber stand das Volk; und vor der Thüre, und vor dem Tische eine große Zahl Gerichtsdiener des Obergerichtsamtes, in Röcken aus violettem Wollenstoffe mit weißen Kreuzen. Zwei Diener des Rathszimmers für die Bürgerschaft, in ihre Jacken des Allerheiligenfestes, halb roth und halb blau gekleidet, hielten Wache vor einer niedrigen verschlossenen Thüre, die man hinter dem Tische in der Wand bemerkte. Ein einziges Spitzbogenfenster, das schmal in die dicke Mauer eingezwängt war, beleuchtete mit dem bleichen Scheine eines Januartages zwei wunderliche Gestalten: den phantastischen Teufel aus Stein, der als Deckenzierat in den Schlußstein des Gewölbes gemeißelt war, und den Richter, der im Hintergrunde des Saales bei den Lilien saß.

In Wirklichkeit denke man sich am Oberrichtertische, zwischen zwei Aktenstößen, Meister Florian Barbedienne, den Untersuchungsrichter im Châtelet, auf seine Ellbogen gestützt, den Fuß auf der Schleppe seines Kleides aus glattem, braunen Stoffe ruhend, in der Schaube aus weißem Lämmerfelle das rothe widerwärtige Gesicht, dessen Brauen ausgerissen schienen, wie er mit dem Auge zwinkert und würdevoll seine fetten Backen herauspreßt, die sich unter dem Kinne zusammenwulsteten.

Nun war der Untersuchungsrichter aber taub, – ein unbedeutender Fehler für einen Untersuchungsrichter. Meister Florian fällte deswegen nichts desto weniger seine Urtheile sehr angemessen und in letzter Instanz. Sicherlich genügt es, wenn ein Richter Miene macht, die Parteien anzuhören; und der ehrenwerthe Untersuchungsrichter erfüllte diese Bedingung, die einzige wesentliche bei einer guten Justizpflege um so besser, als seine Aufmerksamkeit von keiner Störung abgelenkt werden konnte.

Uebrigens hatte er im Gerichtssaale einen unerbittlichen Kritiker seiner Handlungen und Bewegungen in der Person unseres Freundes Johann Frollo du Moulin, jenes kleinen Studenten von gestern, jenes »Herumstreichers«, den man sicher war, immer und überall in Paris zu treffen, nur nicht vor dem Katheder der Professoren.

»Halt,« sagte er ganz leise zu seinem Kameraden Robin Poussepain, der neben ihm kicherte, während daß er allerlei Glossen zu den Scenen machte, die sich unter ihren Augen abspielten, »da ist ja Hannchen du Buisson, die Tochter des Tagediebes auf dem Marché-Neuf! – Bei meiner Seele, er verurtheilt sie, der Alte! Er hat also ebenso wenig Augen, als Ohren. Fünfzehn Sols vier Deniers Pariser Münze dafür, daß sie zwei Gebetsrosenkränze getragen hat! Das ist ein wenig theuer. Lex duri carminis 116 – Wer ist das da? Robin Chief de Ville, der Panzerlehnträger! – Damit er Meister geworden und als solcher in genanntes Handwerk aufgenommen worden ist? – Das ist sein Antrittsgeld. – Ei! zwei Edelleute unter diesen Schuften! Aiglet von Soins, Hutin von Mailly. Zwei Junker, corpus Christi! 117 Aha! sie haben Würfel gespielt. Wann werde ich hier einmal unsern Rector sehen? Hundert Livres Pariser Münze als Buße an den König! Der Barbedienne schlägt drauf los wie ein Tauber – was er auch ist! – Ich will mein Bruder, der Archidiaconus, sein, wenn mich das irgendwie zu spielen hindert, zu spielen am Tage, zu spielen des Nachts, für das Spiel zu leben, für das Spiel zu sterben und meine Seele nach meinem Hemde zu verspielen! – Heilige Jungfrau, wie viel Mädchen sind das! Eine nach der andern, meine Schäfchen! Ambroise Lécuyère! Isabeau La Paynette! Berarde Gironin! Ich kenne sie alle, bei Gott! Zur Geldstrafe verurtheilt! Zur Geldbuße! Da ist er, der euch lehren wird, vergoldete Gürtel zu tragen! Zehn Sols Pariser Münze, ihr Gefallsüchtigen! – Oh! die alte Fratze von Richter, taub und dumm! Oh! der Tölpel Florian! Oh! der Klotz Barbedienne! Seht ihn nur am Tische! Er zehrt vom Kläger, er zehrt vom Processe, er zehrt, er kaut, er mästet sich, er füllt sich den Bauch. Geldbußen, herrenlose Güter, Taxen, Kosten, gesetzmäßige Gebühren, Löhne, Schadenersätze und Zinsen, Tortur und Gefängnis, Stockhaus und Fesseln mit Verlusten am Vermögen – das sind für ihn Weihnachtsstollen und Johannisfestmarzipan! Sieh ihn nur an, das Schwein! – Sieh da! vortrefflich! noch ein verliebtes Frauenzimmer! Thibaud la Thibaude nicht mehr und nicht weniger! – Dafür daß sie die Rue Glatigny verlassen hat! – Wer ist jener Bursche? Gieffroy Mabonne, der Rottenführer bei den Handbogenschützen. Er hat den Namen Gottes gelästert. – Zur Geldstrafe die Thibaude, zur Buße den Gieffroy verdammt! Zur Buße alle beide! Der alte taube Schuft! er hat beide Fälle unter einander werfen müssen! Zehn gegen eins, daß er dem Mädchen die Lästerung und dem Gendarmen die Liebesbrunst entgelten läßt! – Aufgepaßt, Robin Poussepain! Wen werden sie jetzt hereintransportiren? Sieh nur die zahlreichen Gerichtsdiener! Beim Jupiter! alle Fanghunde von der Meute sind dabei. Das muß der Hauptfang von der Jagd sein. Ein Wildschwein. – Es ist eins, Robin, es ist eins. Und ein schönes dazu! – Hercle! 118 es ist unser Fürst von gestern, unser Narrenpapst, unser Glöckner, unser Einäugiger, unser Buckliger, unsere Fratze von Menschen! Es ist Quasimodo! …« Nichts Geringeres, als er war es.

Es war Quasimodo, zusammengeschnürt, mit Stricken umwunden, gefesselt und mit gebundenen Händen, unter starker Bewachung. Der Trupp Gerichtsdiener, welcher ihn umringte, erschien unter persönlicher Führung des Hauptmanns von der Scharwache, der das gestickte Wappen von Frankreich auf der Brust und dasjenige der Stadt Paris auf dem Rücken trug. Uebrigens war an Quasimodo, seine Mißgestalt abgerechnet, gar nichts zu bemerken, was diesen Aufwand von Hellebarden und Hakenbüchsen rechtfertigen konnte; er war finster, schweigsam und ruhig. Kaum warf sein einziges Auge von Zeit zu Zeit einen tückischen und zornigen Blick auf die Fesseln, welche ihn belasteten. Den nämlichen Blick ließ er, aber so erloschen und schläfrig, über seine Umgebung gleiten, daß die Weiber nur mit dem Finger auf ihn hinwiesen, um ihn auszulachen.

Unterdessen durchblätterte Meister Florian, der Untersuchungsrichter, die Akten der gegen Quasimodo gerichteten Anklage, die ihm der Gerichtsschreiber überreichte; und als er einen Blick hineingeworfen, schien er einen Augenblick mit sich zu Rathe zu gehen. Dank dieser Vorsicht, welche er stets Sorge getragen hatte zu beobachten, ehe er an ein Verhör ging, wußte er zum voraus Namen, Verhältnisse und Vergehen des Angeklagten, machte vorherbedachte Einwürfe auf vorausgesehene Antworten, und verstand es, sich aus allen Windungen des Verhöres herauszuziehen, ohne seine Taubheit allzusehr errathen zu lassen. Die Proceßakten waren für ihn der Hund des Blinden. Wenn es ja zufällig geschah, daß sein Gebrechen sich hier und da durch irgend eine Anrede außer dem Zusammenhange, oder durch eine unverständliche Frage verrieth, so galt das für tiefe Weisheit bei den einen, oder für Geistesschwäche bei den andern. In beiden Fällen erlitt die Ehre des Richterstandes keine Beeinträchtigung; denn es ist immer noch besser, daß ein Richter für dumm oder tiefsinnig, als für taub gehalten wird. Er wandte daher große Sorgfalt an, den Augen aller seine Taubheit zu verbergen; und es gelang ihm dieses für gewöhnlich so gut, daß er dahin gekommen war, sich selbst Täuschung zu bereiten; was übrigens leichter ist, als man glauben will. Alle Buckligen gehen mit erhobenem Haupte einher, alle Stotterer sprechen viel und laut, und alle Tauben sprechen leise. Was ihn betraf, so hielt er sein Gehör höchstens für ein wenig hart. Das war das einzige Zugeständnis, welches er nach dieser Seite hin, in Augenblicken von Offenherzigkeit und Gewissensprüfung der öffentlichen Meinung machte.

Nachdem er also die Angelegenheit Quasimodo’s hinlänglich erwogen hatte, warf er den Kopf in den Nacken und schloß, um würdevoller und unparteiischer zu erscheinen, die Augen zur Hälfte, was ihm so gut gelang, daß er in diesem Augenblicke taub und blind zugleich war – ein zwiefaches Erfordernis, ohne das kein vollkommener Richter existirt. In dieser gebieterischen Haltung begann er nun das Verhör.

»Euer Name?«

Nun aber lag hier ein Fall vor, welcher »im Gesetze nicht vorhergesehen« war: nämlich derjenige, daß ein Tauber in die Lage kommen könne, einen Tauben zu verhören. Quasimodo, der nichts von der an ihn gerichteten Frage vernahm, sah den Richter immer starr an und gab keine Antwort. Der taube Richter, den auch niemand auf die Taubheit des Angeklagten aufmerksam machte, glaubte, daß dieser, wie alle Angeklagten gewöhnlich thaten, geantwortet hätte, und fuhr in seiner gedankenlosen und albernen Zuversicht fort:

»Gut. Euer Alter?«

Quasimodo antwortete ebenso wenig auf diese Frage. Der Richter hielt sie für beantwortet und fuhr fort:

»Und nun Euer Stand?«

Immer das nämliche Schweigen. Die Zuhörer begannen indessen zu zischeln und sich unter einander anzusehen.

»Es ist genug,« fuhr der Richter ohne Beirrung fort, da er annahm, daß der Angeklagte seine dritte Antwort beendet hätte. »Ihr seid bei Uns verklagt: primo, wegen nächtlicher Ruhestörung; secundo, wegen unsittlicher Angriffe auf eine liederliche Dirne, in präjudicium meretricis; 119 tertio, wegen Widerstandes und Unehrerbietigkeit gegen die Häscher von der Ordonnanz Seiner Majestät des Königs, unseres gnädigen Herrn. Aeußert Euch über alle diese Punkte. – Schreiber, habt Ihr das, was der Angeklagte bis jetzt ausgesagt hat, niedergeschrieben?«

Bei dieser unglücklichen Frage erhob sich vom Platze des Schreibers an bis zur Zuhörerschaft hin ein so lautes, unmäßiges, ansteckendes und allgemeines Gelächter, daß es selbst die beiden Tauben bemerken mußten. Quasimodo wandte sich verächtlich um und zog seinen Buckel in die Höhe, während daß Meister Florian, der wie jener erstaunt und in der Meinung war, daß das Gelächter der Zuhörer durch irgend welche ehrerbietungslose Antwort des Angeklagten, die er aus dessen Achselzucken ersah, hervorgerufen worden wäre, ihn entrüstet anfuhr:

»Schlingel, Ihr habt mir da eine Antwort gegeben, welche jedenfalls den Strick verdienen dürfte! Wißt Ihr, mit wem Ihr redet?«

Dieser Zornausbruch war nicht dazu angethan, das Losbrechen allgemeiner Heiterkeit zu verhindern. Er erschien allen so seltsam und närrisch, daß das unbändige Gelächter sogar im Rathszimmer für die Bürgerschaft die Gerichtsdiener ergriff, eine Sorte von Piekenträgern, bei denen der Stumpfsinn doch zur Uniform gehörte. Quasimodo allein bewahrte seinen Ernst, und mit gutem Grunde; denn er begriff nichts von dem, was sich rings um ihn herum ereignete. Der Richter, welcher immer gereizter wurde, glaubte in demselben Tone fortfahren zu müssen, und hoffte damit den Angeklagten in solchen Schrecken zu versetzen, daß dieser auf die Zuhörerschaft zurückwirken und sie wieder zur Ehrfurcht bringen würde.

»Ich muß Euch begreiflich machen, Ihr Schelm und Spitzbube, daß Ihr Euch erlaubt, es am schuldigen Respect fehlen zu lassen gegen den Untersuchungsrichter beim Chatelet, gegen einen Beamten, der mit dem öffentlichen Sicherheitsdienste von Paris betraut ist, der die Obliegenheit hat, nach Verbrechen, Vergehen und schlechtem Gesindel zu forschen; alle Erwerbszweige zu beaufsichtigen und jedes Vorrecht zu verbieten; der das Straßenpflaster zu unterhalten hat; der die Hökereien mit Federvieh, Geflügel und Wildpret verhindern muß; der das Brennholz und andere Holzsorten messen, die Stadt vom Unrath und die Luft von ansteckenden Krankheitsstoffen reinigen zu lassen hat; der sich unausgesetzt dem öffentlichen Wohle widmen muß – kurz alles ohne Gehalt und Aussichten auf Belohnung! Wißt Ihr, daß ich Florian Barbedienne heiße, wirklicher Stellvertreter des Herrn Oberrichters, außerdem Bevollmächtigter, Untersuchungsbeamter, Oberaufseher und Prüfungsbeamter mit gleicher Machtbefugnis beim Gerichtsamte, Amtsbezirke, Verwaltungsamte und beim Obergerichte bin! …«

Spricht ein Tauber zu einem Tauben, so ist kein Grund vorhanden, daß er in seiner Rede innehält. Gott weiß, wo oder wann Meister Florian, nachdem er einmal mit allen Segeln auf das Gebiet der hohen Beredtsamkeit hinausgesteuert war, gelandet sein würde, wenn die niedrige Pforte im Hintergrunde sich nicht plötzlich geöffnet und dem Herrn Oberrichter in eigener Person nicht Zutritt gegeben hätte.

Bei seinem Eintritte blieb Meister Florian nicht stecken, sondern machte auf seinen Hacken eine Wendung zur Seite und richtete die Anrede, mit der er einen Augenblick zuvor Quasimodo angedonnert hatte, ganz unerwartet an den Oberrichter: »Gnädiger Herr,« sagte er, »ich beantrage eine so schwere Strafe, wie es in Eurem Belieben liegen wird, gegen den hier anwesenden Angeklagten wegen schweren und unerhörten Vergehens gegen die Obrigkeit.« Darauf setzte er sich ganz außer Athem nieder und trocknete große Schweißtropfen ab, die von seiner Stirne herabfielen und wie Thränen die vor ihm ausgebreiteten Pergamentrollen anfeuchteten. Der gestrenge Herr Robert von Estouteville runzelte die Stirn und machte Quasimodo eine dermaßen befehlende und ausdrucksvolle Geberde, aufzumerken, daß der Taube etwas von dem, worum es sich handelte, begriff.

Der Oberrichter richtete mit Härte das Wort an ihn: »Was hast du, Schurke, verbrochen, daß du hier bist?«

Der arme Teufel, welcher vermeinte, daß der Oberrichter ihn nach seinem Namen fragte, brach das Schweigen, welches er gewöhnlich beobachtete, und antwortete mit rauher Kehlstimme:

»Quasimodo.«

Die Antwort paßte so wenig zur Frage, daß das tolle Gelächter sich wieder zu erneuern begann, und Herr Roberts roth vor Zorn, ausrief:

»Höhnst du auch mich, du Erzschlingel?«

»Glöckner in Notre-Dame,« antwortete Quasimodo, der da glaubte, es handelte sich darum, dem Richter auseinanderzusetzen, wer er wäre.

»Glöckner!« entgegnete der Oberrichter, der, wie wir erzählt haben, am Morgen mit gerade schlechtem Humor genug erwacht war, als daß seine Wuth durch so ungehörige Antworten noch gereizt zu werden brauchte. »Glöckner! Ich werde dir an den Straßenecken von Paris ein Geläute mit Gerten auf den Rücken schreiben lassen. Hörst du, Schurke?«

»Wenn es mein Alter ist, was Ihr zu wissen wünscht,« sagte Quasimodo, »so glaube ich, daß ich am Sanct-Martinstage zwanzig Jahre alt sein werde.«

In der That das war zu viel; der Oberrichter vermochte nicht an sich zu halten«

»Ha! du verhöhnst den Gerichtshof, Elender! Stockmeister, Ihr werdet mir diesen Schurken zum Schandpfahl auf dem Grèveplatz führen, werdet ihn aushauen und eine Stunde lang auf dem Rade drehen. Er soll es mir büßen, beim Haupte unseres Heilandes! und ich will, daß gegenwärtiges Urtheil unter Beistand von vier vereideten Trompetern in den sieben Bezirken des Amtsgerichtssprengels von Paris öffentlich ausgerufen werde.«

Der Gerichtsschreiber schickte sich an, das Urtheil unverzüglich zu Papier zu bringen.

»Alle Wetter, das nenne ich mir da ein gutes Urtheil gefällt haben!« rief aus seiner Ecke der kleine Studiosus Johann Frollo du Moulin.

Der Oberrichter wandte sich um und heftete von neuem seine funkelnden Blicke auf Quasimodo. »Ich glaube gar, der Schurke hat gerufen ›alle Wetter!‹ Gerichtsschreiber, setzt zwölf Heller Pariser Münze als Buße für sein Fluchen hinzu, und daß das Kirchenvermögen von Sanct-Eustache die Hälfte davon erhalten soll. Ich besitze eine besondere Verehrung für den heiligen Eustache.«

In wenigen Minuten war das Urtheil fertig. Sein Wortlaut war einfach und kurz. Das Rechtsverfahren des Bezirks- und Amtsgerichtssprengels von Paris war noch nicht vom Präsidenten Thibaut Baillet und von Roger Barmne, dem Advowten des Hofes, ausgearbeitet worden; es war damals nicht von jenem undurchdringlichen Dickicht von Kniffen und Instanzenwegen überwuchert, welches diese beiden Rechtsgelehrten im Anfange des sechzehnten Jahrhunderts auf dasselbe pfropften. Alles war in ihm klar, rasch und deutlich. Man ging darin gerade auf das Ziel los, und man bemerkte am Ende jedes Rechtsweges, unversteckt und ohne Windung, Rad, Galgen oder Schandpfahl. Man wußte wenigstens, wohin man gelangte.

Der Schreiber überreichte dem Oberrichter das Urtheil, welcher sein Siegel daruntersetzte und davonging, um durch die Gerichtssäle seinen Rundgang in einer Gemüthsstimmung fortzusetzen, welche heute alle Gefängnisse von Paris bevölkern mußte. Johann Frollo und Robin Poussepain lachten ins Fäustchen. Quasimodo sah allem mit gleichgültiger und erstaunter Miene zu. Gleichwohl fühlte der Gerichtsschreiber im Augenblicke, wo Meister Florian Barbedienne seinerseits das Urtheil durchlas, um es zu unterzeichnen, sich von Mitleid für den armen Teufel von Verurtheilten bewegt, und in der Hoffnung, eine kleine Herabsetzung der Strafe zu erlangen, näherte er sich so viel er konnte dem Ohre des Untersuchungsrichters und sagte zu ihm, während er auf Quasimodo hindeutete: »Dieser Mensch ist taub.« Er hoffte, daß dieses gemeinschaftliche Gebrechen das Interesse Meister Florians für den Verurtheilten erwecken würde. Aber einmal haben wir schon bemerkt, daß Meister Florian sich nichts daraus machte, daß man seine Taubheit merkte. Dann aber war er so harthörig, daß er kein, Wort von dem vernahm, was der Gerichtsschreiber zu ihm sagte; dennoch wollte er sich das Ansehen geben, als ob er höre, und antwortete: »Ach! ach! das ist etwas Anderes; ich wußte das nicht. In diesem Falle eine Stunde Pranger mehr.«

Und er unterzeichnete das so abgeänderte Urtheil«

»Das ist wohlgethan,« sagte Robin Poussepain, welcher einen Zahn auf Quasimodo hatte; »das wird ihn lehren, den Leuten grob zu begegnen.«

  1. [Dieser Komet, gegen welchen Papst Calixt, ein Onkel Borgia’s, öffentliche Gebete anordnete, ist der nämliche, welcher im Jahre 1835 wieder erschien. Anm. d. Verf.]
  2. [ Lateinisch: Eine Würde, die mit nicht geringer, die Sicherheit betreffender Macht und mit vielen Vorrechten und Rechten ausgestattet ist. Anm. d. Uebers.]
  3. [Die sogenannte »Liga des Volkswohles« wurde im Jahre 1465 von französischen Fürsten und Herren gegen Ludwig den Elften gestiftet. Anm. d. Uebers.]
  4. [Rechnungsbücher der Krone 1383. Anm. d. Autors.]
  5. [Anspielung ans das Wappen der ehemaligen französischen Könige, welches Lilien im Schilde hatte. Anm. d. Uebers.]
  6. [Lateinisch: Ein Gesetz von hartem Inhalte.]
  7. [Lateinisch: Beim Leibe Christi.]
  8. [Lateinisch: Beim Herkules!]
  9. [Lateinisch: Zum Nachtheil eines Freudenmädchens. Anm. d. Uebers.]

2. Dies wird jenes vernichten.

Unsere Leserinnen werden verzeihen, wenn wir uns einen Augenblick dabei aufhalten, nachzuforschen, welches wohl der Gedanke sein mochte, der sich unter den räthselhaften Worten des Archidiaconus verbarg: »Dies wird jenes vernichten. Das Buch wird das Gebäude vertilgen.« Nach unserer Meinung hatte dieser Gedanke zwei Gesichtspunkte. Zunächst war es ein Priestergedanke. Es war der Schrecken eines Geistlichen vor einer neuen Culturmacht: der Buchdruckerkunst. Es war das Entsetzen und die Verblendung eines Kirchendieners vor der leuchtenden Presse Guttenbergs. Die Kanzel und die Handschrift, das gesprochene und das geschriebene Wort waren es, die über das gedruckte Wort in Schrecken geriethen; etwas der Bestürzung eines Spatzen Aehnliches, wenn er die himmlische Legion ihre sechs Millionen Flügel ausbreiten sehen würde. Der Ruf des Propheten war es, welcher bereits die vom Joche befreite Menschheit brausen und wogen hört; welcher in Zukunft die Religion durch die Erkenntnis untergraben, das Urtheil den Glauben entthronen und die Welt Rom abschütteln sieht. Es war die Vorhersagung des Philosophen, welcher den menschlichen Gedanken, der von der Presse beflügelt war, aus dem theokratischen Destillirgefäße sich verflüchtigen sieht; der Schrecken eines Soldaten, welcher den ehernen Sturmbock betrachtet und spricht: »Der Thurm muß zusammenbrechen.« Das bedeutete, daß eine Macht an die Stelle einer andern Macht treten wollte; das wollte sagen: »Die Druckerpresse wird die Kirche vernichten.« Aber hinter diesem Gedanken, dem nächsten und einfachsten zweifelsohne, stand, unserer Meinung nach, ein anderer und modernerer, der Folgegedanke aus dem erstern und nicht so schwer zu begreifen, aber viel schwieriger zu läugnen, eine ganz ebenso philosophische Ansicht, die nicht sowohl mehr die eines Geistlichen, als vielmehr die eines Weisen und Künstlers war. Es war das Vorgefühl, daß der menschliche Gedanke mit der Aenderung seiner Form die Ausdrucksweise zu ändern sich anschickte; daß der Hauptgedanke jedes Menschenalters nicht mehr mit demselben Material und in derselben Weise dargestellt werden würde; daß das so solide und dauerhafte Buch aus Stein dem noch solidern und dauerhafteren aus Papier den Platz einräumen sollte. Mit Rücksicht darauf hatte der unbestimmte Gedankenausdruck des Archidiaconus einen andern Sinn; er sprach aus, daß eine Kunst eine andere Kunst vom Throne zu stoßen sich anschickte; er wollte sagen: »Die Buchdruckerkunst wird die Baukunst vernichten.«

In Wahrheit bildet, vom Ursprünge der Dinge an bis einschließlich zum fünfzehnten Jahrhunderte der christlichen Zeitrechnung, die Baukunst das große Buch der Menschheit, das Hauptausdrucksmittel des Menschen in seinen verschiedenen Entwicklungszuständen, sei es nun als Macht oder sei es als Intelligenz.

Als die Gedächtniskraft der ersten Rassen sich zu sehr beladen wußte, als der Erinnerungsballast des menschlichen Geschlechtes so schwer und unordentlich wurde, daß das nackte und flüchtige Wort Gefahr lief, ihn unterwegs zu verlieren, übertrug man ihn in der sichtbarsten und zugleich dauerhaftesten und natürlichsten Weise auf den Erdboden. Man versiegelte jede Ueberlieferung in einem Baudenkmale.

Die ersten Baudenkmäler waren einfache Gevierte aus Felsenstücken, »welche das Eisen nicht berührt hatte«, sagt Moses.

Die Architektur fing wie jede Schreibkunst an: sie war zuerst Alphabet. Man stellte einen Stein aufrecht hin, und das war ein Buchstabe, und jeder Buchstabe war eine Hieroglyphe, und auf jeder Hieroglyphe ruhte eine Gedankengruppe, wie das Kapital auf der Säule. In dieser Weise schufen die ersten Rassen, überall, im nämlichen Augenblicke, und auf der Oberfläche der ganzen Erde. Man findet den »aufgerichteten Stein« der keltischen Völkerschaften im asiatischen Sibirien und in den Pampas von Amerika wieder.

Später bildete man Worte; man stellte den Stein auf den Stein; man verband diese granitenen Silben, das Wort versuchte einige Wortverbindungen.

Der keltische Dolmen 106 und Cromlech, 107 der etruskische Tumulus, 108 der Galgal 109 der Juden sind Worte. Einige, namentlich der Tumulus, sind Eigennamen. Zeitweilig sogar, wenn viel Steine und eine weite Landstrecke vorhanden waren, schrieb man einen Satz. Die ungeheure Steinmasse von Karnak ist schon eine ganz vollkommene Formel.

Schließlich wurden Bücher geschaffen. Die Überlieferungen hatten Sinnbilder hervorgebracht, unter denen jene wie der Stamm eines Baumes unter seinem Blätterwerk verschwanden; alle diese Sinnbilder, an welche die Menschheit glaubte, begannen mit der Zeit zuzunehmen, sich zu vervielfältigen, zu verbinden und sich mehr und mehr zu verwirren; die ersten Baudenkmäler genügten nicht mehr, sie in sich aufzunehmen; sie waren überall aus den beengenden Formen herausgequollen; kaum drückten diese Denkmäler noch die ursprüngliche Überlieferung aus, welche wie sie, einfach und nackt, auf dem Erdboden ruhte. Das Sinnbild hatte Bedürfnis, sich in dem Gebäude zu enthüllen. Die Architektur entwickelte sich damals mit dem menschlichen Gedanken; sie wurde eine tausendköpfige und tausendarmige Riesin und hielt in einer ewigen, sicht- und greifbaren Form diesen ganzen schwankenden Sinnbilderausdruck fest. Während Dädalus, der die Kraft bedeutet, maß, während Orpheus, der die Intelligenz vorstellt, sang, gruppirten sich, nach einem Gesetze der Meßkunst und nach einem solchen der Dichtkunst zugleich in Bewegung gesetzt, die Säule, welche einen Buchstaben, die Bogenwölbung, welche eine Silbe und die Pyramide, welche ein Wort vorstellt, verbanden sich, verschmolzen in einander, senkten sich herab, stiegen in die Höhe, setzten sich auf dem Boden neben einander und schichteten sich nach dem Himmel hinauf, bis daß sie, unter dem Dictate eines Hauptgedankens einer Zeitepoche, jene wunderbaren Bücher: die Pagode zu Eklinga, das Rhamseion in Egypten und den Tempel des Salomo geschrieben hatten, die ebenso bewunderungswürdige Bauwerke waren.

Der Grundgedanke, das Wort, fand sich nicht allein in der Anlage, sondern auch in der Form aller dieser Bauwerke. Der Tempel des Salomo zum Beispiel war nicht etwa einfach der Einband des heiligen Buches: er war das heilige Buch selbst. An jeder seiner concentrischen Einfriedigungen vermochten die Priester das den Augen überlieferte und offenbarte Wort zu lesen; und sie verfolgten so seine Umbildungen von Heiligthum zu Heiligthume, bis daß sie es in seinem letzten Zufluchtsorte und in seiner sinnfälligsten Gestalt, welche die Baukunst noch hatte, festhielten: als Arche. Auf solche Weise war das Wort in dem Gebäude eingeschlossen, aber sein Abbild fand sich auf seiner Hülle, wie die menschliche Gestalt an der Einsargung einer Mumie.

Und nicht nur die Gestalt der Gebäude, sondern auch die Baustelle, welche für sie gewählt wurden, enthüllten den Gedanken, welchen sie ausdrücken wollten. Je nachdem das auszudrückende Sinnbild anmuthig oder düster war, krönte Griechenland seine Berge mit einem für das Auge harmonischen Tempel, Indien durchwühlte die seinigen, um in ihnen jene unförmlichen, unterirdischen Pagoden auszumeißeln, die von riesigen Reihen granitner Elephanten getragen werden.

So ist während der sechs ersten Jahrtausende, der Welt, von der urältesten Pagode Hindostans an bis zum Kölner Dome, die Baukunst die große Schreibkunst des menschlichen Geschlechtes gewesen. Und das ist dermaßen in der Wahrheit begründet, daß nicht nur jedes religiöse Sinnbild, sondern auch jeder menschliche Gedanke in diesem ungeheuern Buche seine Seite und sein Denkmal besitzt.

Jede Civilisation beginnt mit der Priesterherrschaft und endigt mit der Demokratie. Dieses Gesetz freiheitlicher Entwicklung, welches an die Stelle der Einheit tritt, ist in der Baukunst niedergeschrieben. Denn, wenn wir auf diesen Punkt Gewicht legen, so muß man nicht glauben, daß die Mauerkunst vermögend sei, nur den Tempel zu bauen, nur den Mythus und die kirchliche Symbolik darzustellen, nur die geheimnisvollen Tafeln des Gesetzes auf seine steinernen Seiten in Hieroglyphenschrift einzutragen. Wenn es so wäre, wie ja in jedem menschlichen Gesellschaftszustande ein Augenblick eintritt, wo das geheiligte Sinnbild sich abnutzt und vor dem freien Gedanken verschwindet, wo der Mensch sich dem Priester entzieht, wo das Auswachsen der philosophischen Wissenschaften und Systeme die Grenzlinie der Religion durchbricht, so würde die Baukunst diesen neuen Zustand des menschlichen Geistes nicht wiedergeben können: ihre auf der Vorderseite beschriebenen Blätter würden auf der Rückseite leer bleiben, ihr Werk würde verstümmelt und ihr Buch unvollständig sein. Das geschah nun freilich nicht.

Nehmen wir zum Beispiel das Mittelalter an, bei dem wir deutlicher sehen können, weil es uns näher ist. Seine erste Periode hindurch, während daß die Priesterherrschaft Europa organisirt, während der Vatican die Elemente eines Rom wieder um sich vereinigt und zum Ansehen bringt, welches mit dem am Fuße des Capitols in Ruinen liegenden Rom geschaffen wird, während daß das Christenthum hinauszieht, um im Schutte der frühern Civilisation alle Schichten der Gesellschaft zu durchdringen und mit ihren Ueberresten ein neues hierarchisches Weltall aufzubauen, in dem das Priesterthum der Schlußstein der Wölbung ist, hört man es in diesem Chaos zunächst sich regen; hierauf sieht man, wie nach und nach unter dem Hauche des Christenthums und unter den Händen der Barbaren aus dem Schutte todter – griechischem und römischer – Bauformen jene geheimnisvolle romanische Baukunst, die Schwester der unter Priesterherrschaft entstandenen Mauerwerke Egyptens und Indiens, das unvergängliche Sinnbild des reinen Katholicismus und die unwandelbare Hieroglyphe päpstlicher Einheit sich erhebt. Die ganze Gedankenwelt von damals ist in Wahrheit in diesem düstern romanischen Stile geschrieben. Ueberall fühlt man dabei die päpstliche Gewalt, die Einheit, Verschlossenheit, das Unumschränkte, den gewaltigen Gregor den Siebenten heraus; überall den Priester, niemals den Menschen; überall die Kaste, niemals das Volk. Da kommen aber die Kreuzzüge heran. Es ist eine große Volksbewegung, und jede große Volksbewegung, mögen ihre Ursache und ihr Endziel sein, welche es wollen, befreit den Geist der Freiheit stets von seinem letzten Niederschlage. Neuerungen wollen sich Bahn brechen. Damit beginnt nun die stürmische Periode der Volksaufstände, der Bauernkriege und der Fürstenbündnisse. Die Autorität geräth ins Wanken, die Einheit spaltet sich. Das Lehnswesen fordert eine Theilung mit der Priesterherrschaft, indem es auf das Volk rechnet, das unvermeidlich und plötzlich auftreten und, wie immer, den Löwenantheil davontragen wird: quia nominor leo. 110 Die Lehnsherrschaft erscheint also hinter der Priesterherrschaft, die Volksherrschaft hinter der Lehnsherrschaft. Das Aussehen Europa’s wird umgestaltet; nun gut! Die Form der Baukunst hat sich gleichfalls geändert. Gleichwie die Civilisation hat sie eine neue Seite aufgeschlagen, und der neue Geist der Zeitverhältnisse findet sie bereit, unter seiner Eingebung zu schreiben. Sie ist aus den Kreuzzügen mit dem Spitzbogen heimgekehrt, wie die Völker mit der Freiheit. Hernach verfällt die romanische Baukunst, während daß Rom nach und nach zerstückelt wird. Die Hieroglyphe verschwindet aus dem Dome und beginnt den Thurm in die Wappenkunde einzuführen, um dem Lehnswesen einen Zauber zu verleihen. Der Dom selbst, dieses einst den Glauben so sicher ausdrückende Bauwerk, entzieht sich, hinfort von dem Bürgerthume, von der Gemeinde und der Freiheit in Besitz genommen, dem Priester und verfällt der Macht des Künstlers. Dieser baut ihn nach seiner Weise. Das Mysterium, die Mythe und das Gesetz sind verabschiedet, die Phantasie und Laune treten an deren Stelle. Falls der Priester das Schiff und den Altar für sich behält, so hat das nichts zu sagen: die vier Mauern gehören dem Künstler. Das steinerne Buch gehört nun nicht mehr dem Priesterthume, der Religion oder Rom; die Einbildungskraft, die Poesie und das Volk haben es in Besitz genommen. Von da an beginnen die reißend schnellen und unzähligen Umbildungen in diesem Zweige der Baukunst, die nur noch drei Jahrhunderte hindurch blüht, und die nach dem beharrlichen Stillstande des romanischen Baustiles während sechs oder sieben Jahrhunderten um so auffälliger sind. Inzwischen schreitet die Kunst mit Riesenschritten vorwärts. Das Genie und die Ursprünglichkeit des Volkes besorgen, was sonst die Bischöfe thaten. Jede Generation schreibt gelegentlich seine Zeile in das Buch; sie löscht die alten romanischen Hieroglyphen an den Vorderseiten der Dome aus, und das wird um so eher erkenntlich, wenn man hier und da noch das Dogma unter dem neuen Sinnbilde, welches sie ihnen aufdrückt, hervorschimmern sieht. Die Drapierungskunst des Volkes läßt kaum das aus dem Glaubensdogma entsprungene Knochengerüst errathen. Man vermag sich schwerlich einen Begriff von der Zügellosigkeit zu machen, die sich damals die Baumeister selbst gegen die Kirche erlauben. Da finden sich Kapitäle, die, wie in der Kamingalerie des Justizpalastes zu Paris, mit unzüchtig gepaarten Mönchs- und Nonnenfiguren geschmückt sind. Da sieht man das Abenteuer des Noah »in ganzen Zügen« ausgemeißelt, wie am Domportale zu Bourges. Da findet sich ein bacchischer Mönch mit Eselsohren und dem Glase in der Hand, der einer ganzen Gemeinde ins Gesicht lacht, wie am Waschbecken in der Abtei zu Bocherville. Es giebt in diesem Zeitabschnitte für den in Stein geschriebenen Gedanken ein ganz ähnliches Privileg, wie unsere gegenwärtige Preßfreiheit: das ist die Freiheit in der Baukunst.

Diese Freiheit geht sehr weit. Manchmal zeigt ein Portal, eine Façade, ja eine ganze Kirche einen bildlichen Sinn, welcher dem Gottesdienste völlig fremd, oder der Kirche sogar feindlich ist. Vom dreizehnten Jahrhunderte an haben Wilhelm von Paris, Nicolaus Flamel im fünfzehnten solche Seiten aufrührerischen Inhaltes geschrieben. Die Kirche Saint-Jacques-de-la-Boucherie war völlig ein den Widerstreit vorstellendes Gotteshaus. Der Gedanke war damals nur in solcher Gestalt frei; daher wurde er ganz vollständig nur in denjenigen Büchern niedergeschrieben, welche man Bauwerke nannte. Ohne diese steinerne Form, in der Gestalt einer Handschrift, würde er sich auf freiem Platze von der Hand des Henkers brennen gesehen haben, wenn er thöricht genug gewesen wäre, sich ans Licht zu wagen. Und der Gedanke in Kirchenportalgestalt hätte der Hinrichtung des freien Gedankens beigewohnt. Daher trieb die Maurerkunst, die nur diesen Ausweg hatte, um in die Erscheinung treten zu können, mit Gewalt und von allen Seiten nach dieser Richtung zu. Daher stammt die ungeheure Menge von Kathedralen, die Europa bedeckt haben, die eine so erstaunliche Anzahl bildet, daß man kaum an sie glaubt, selbst wenn man sich von ihr überzeugt hat. Alle physischen und alle geistigen Kräfte der Gesellschaft liefen in demselben Punkte: der Baukunst, zusammen. In dieser Weise, und unter dem Vorwande, der Gottheit Kirchen zu bauen, entfaltete sich die Kunst in großartigen Verhältnissen.

Wer damals immer als Dichter geboren wurde, ward Baumeister. Das in den Massen verstreute Genie, welches unter dem Feudalismus überall, wie unter einem Schildkrötenpanzer von erzenen Helmen zurückgedrängt war, und nur auf Seiten der Baukunst einen Ausweg fand, befreite sich in dieser Kunst, und seine Iliaden nahmen die Gestalt von Kathedralen an. Alle andern Künste gehorchten der Baukunst und stellten sich unter ihre Zucht. Sie waren die Arbeiter an dem großen Werke. Der Baumeister, der Dichter, der Magister verschmolz in seiner Person die Steinmetzkunst, welche ihm seine Façaden meißelte, die Malerei, welche ihm seine Fenster malte, und die Musik, die ihm seine Glocke schwang und in seiner Orgel klang. Es gab, im eigentlichen Sinne gesagt, nur eine ärmliche Dichtkunst: nämlich diejenige, welche hartnäckig darauf bestand, in den Manuscripten zu vegetiren; die, um etwas zu sein, nicht genöthigt war, sich unter der Form der Hymne oder Prosa in das Bauwerk einfügen zu lassen: zufolge allem dieselbe Rolle, welche die Tragödien des Aeschylus bei den Priesterfesten Griechenlands, und das Erste Buch Moses im Tempel des Salomo gespielt hatten.

Also bis zu Guttenbergs Auftreten war die Baukunst die hauptsächliche schriftliche Kunst, die Allgemeinschrift. Dieses granitne Buch wird im Oriente begonnen, vom griechischen und römischen Alterthume fortgesetzt, und das Mittelalter schreibt dessen letzte Seite. Uebrigens zeigt sich jene Erscheinung einer Volksbaukunst, welche, wie wir soeben im Mittelalter beobachtet haben, die Baukunst einer Gesellschaftskaste verdrängt, bei ganz gleichartiger Richtung in der menschlichen Intelligenz, auch in andern großen Epochen der Geschichte. Also: um ein Gesetz, welches verlangen könnte, in zahlreichen Bänden aufgedeckt zu werden, hier nur summarisch darzustellen, so folgte im Innern des Morgenlandes, an der Wiege der Urzeiten, auf die Baukunst der Hindus diejenige der Phönizier, als die reiche Mutter der arabischen Baukunst; im Alterthume schloß sich an die ägyptische Baukunst, von welcher der etruskische Stil und die Cyklopenbauten nur eine Abart sind, die griechische an, von welcher der römische Stil nur eine mit dem karthagischen Gewölbe überlastete Verlängerung ist; in den neuern Zeiten trat an Stelle des romanischen der gotische Baustil. Und wenn wir diese drei Stilreihen trennen, so finden wir an den drei ältern Schwestern: der Baukunst der Hindus, der ägyptischen und der römischen, dasselbe Symbol wieder, das heißt: die Priesterherrschaft, die Kaste, die Einheit, das Dogma, den Mythus, Gott; und was die drei jüngern Schwestern: die phönizische, griechische und gothische Baukunst betrifft, so finden wir, wie groß übrigens die Formenverschiedenheit, welche ihrer Natur anhaftet, auch sein mag, gleichfalls die nämliche Bedeutung, das heißt: die Freiheit, das Volk, den Menschen.

Ob es Bramine, Magier oder Papst in der indischen, ägyptischen oder romanischen Mauerkunst heißen mag, immer merkt man den Priester, nichts als den Priester. Das Nämliche ist es nicht in den Baukunstformen des Volkes. Sie sind reicher und nicht so heilig. In der phönizischen sieht man den Kaufmann, in der griechischen den Republikaner, in der gothischen den Bürger.

Die Haupteigenschaften aller aus der Zeit der Priesterherrschaft herstammenden Baudenkmäler sind: Unveränderlichkeit, Abscheu vor dem Fortschritte, Festhalten an den überlieferten Linien, Heilighaltung ursprünglicher Formen, unveränderliche Darstellung in allen Gestaltungen des Menschen und der Natur bei unbegreiflichen Einfällen in der Behandlung des Symboles. Es sind Bücher voll dunkeln Sinnes, welche nur die Eingeweihten zu entziffern wissen. Uebrigens hat bei ihnen jede Form und jede Mißgestaltung einen Sinn, der sie unverletzlich macht. Niemand fordere von den indischen, ägyptischen und romanischen Bauhütten, daß sie ihren Plan ändern oder ihre Bildhauerkunst vervollkommnen mögen. Jede Vervollkommnung ist bei ihnen Gottlosigkeit. Es scheint, als ob sich in diesen Bauwerken die Starrheit des Glaubensdogmas wie eine neue Versteinerung über den Stein verbreitet habe. – Im Gegensatze dazu sind die Haupteigenschaften der im Volke entstandenen Mauerwerke: Mannigfaltigkeit, der Fortschritt, Ursprünglichkeit, großer Reichthum und beständige Abwechslung. Sie sind schon hinlänglich von der Religion getrennt, um die Schönheit nicht zu vergessen, an diese ernstlich zu denken und die Ausschmückung ihrer Bildsäulen oder Arabesken unaufhörlich zu verbessern. Sie verrathen ihr Jahrhundert. Sie haben etwas Menschliches an sich, das sie beständig mit dem göttlichen Symbole vermengen, unter dessen Führung sie sich noch zeigen. Daher stammen nun Bauwerke, die von jedem Herzen, von jeder Intelligenz, von jeder Phantasie begriffen werden können, und wiewohl noch symbolischen Charakters, doch leicht wie die Natur zu verstehen sind. Zwischen der Priesterbaukunst und dieser findet ein Unterschied statt, wie derjenige zwischen einer frommen Sprache und der Volksrede, zwischen der Hieroglyphe und der Kunst, wie zwischen Salomo und Phidias.

Wenn wir das, was bis jetzt ganz summarisch angegeben worden ist, zusammenfassen, und dabei von zahllosen Beweisen und ebenso vielen Einwürfen absehen, so sind wir zu der Erkenntnis gelangt: daß die Baukunst bis zum fünfzehnten Jahrhunderte das Hauptbuch der Menschheit gewesen ist; daß in diesem Zeiträume nicht ein irgend verwickelter Gedanke in der Welt zu Tage getreten ist, der nicht Baudenkmal geworden wäre; daß jeder Volksgedanke, wie jedes Religionsgesetz seine Denkmäler gehabt hat; daß endlich das menschliche Geschlecht nichts Bedeutendes gedacht hat, was es nicht in Stein geschrieben hätte. Und warum? Deshalb, weil jeder Gedanke, mag er religiöser oder philosophischer Natur sein, sich zu verewigen ein Interesse hat; weil der Gedanke, der eine Generation aufgeregt hat, andere Generationen aufregen und seine Spur zurücklassen will. Ach, welche zweifelhafte Unsterblichkeit ist doch diejenige, welche in einer Handschrift liegt! Was ist doch ein Bauwerk für ein weit festeres, dauerhafteres und widerstandsfähigeres Buch! Um das geschriebene Wort zu vertilgen, genügt ein Schwamm und ein Türke. Um das aufgerichtete Wort zu vernichten, bedarfs eines gesellschaftlichen Umsturzes, einer Erdrevolution. Die Barbaren sind über das Colosseum hingegangen, die Sündflut ist vielleicht über die Pyramiden gebrandet. – Im fünfzehnten Jahrhunderte ändert sich alles.

Der menschliche Gedanke hat ein Mittel entdeckt, sich nicht nur dauerhafter und widerstandsfähiger, als durch die Baukunst? sondern auch einfacher und leichter fortzupflanzen » Die Architektur wird vom Throne gestoßen. An die Stelle der steinernen Buchstaben des Orpheus treten nun die bleiernen Lettern Guttenbergs.

Das Buch wird einst das Baudenkmal vernichten.

Die Erfindung der Buchdruckerkunst ist das größte Ereignis der Geschichte. Es ist die fortzeugende Revolution. Es ist die Ausdrucksweise der Menschheit, welche sich vollständig verjüngt; es ist der menschliche Gedanke, welcher eine Form ablegt und dafür eine andere anzieht; es ist die vollständige und letzte Häutung jener symbolischen Schlange, die seit Adams Zeiten den Geist vorstellt.

In der Gestaltung durch Buchdruck ist der Gedanke unvergänglicher, denn je zuvor; er ist beflügelt, unfaßbar, unvertilgbar. Er vereinigt sich mit der Luft. Zur Blütezeit der Baukunst ward er zum Berge und nahm gewaltthätig von einem Orte und einem Jahrhunderte Besitz. Jetzt wird er zur Vogelschaar, zerstreut sich in alle vier Winde und hat zugleich alle Punkte des Himmels und der Erde inne.

Wir wiederholen es: wer sieht nicht, daß der Gedanke in dieser Gestalt noch viel unauslöschlicher ist? Von der Festigkeit, die er besaß, gelangte er zur Schnelligkeit. Von der Dauerhaftigkeit geht er zur Unsterblichkeit über. Man kann eine feste Substanz vernichten, wie aber will man die Allgegenwart vertilgen? Möge eine Sündflut kommen – die Berge werden schon längst unter den Fluten verschwunden sein, wenn die Vögel noch dahinfliegen; und wenn eine einzige Arche auf dem Spiegel der Wasserflut segelt, werden sie sich auf ihr niederlassen, werden mit ihr obenauf schwimmen, mit ihr das Fallen der Fluten erleben, und die neue Welt, die aus diesem Chaos hervorgeht, wird aufwachend über sich, beflügelt und luftig den Gedanken der versunkenen Welt dahinschweben setzen.

Und wenn man beachtet, daß diese Ausdrucksweise nicht nur die conservativste, sondern auch die einfachste, die bequemste, die für Alle thunlichste ist; wenn man überlegt, daß sie kein großes Gepäck mit sich führt und kein unbeholfenes Geräth fortschleppt; wenn man den Gedanken vergleicht, der, um in ein Baudenkmal sich zu übersetzen, gezwungen ist, vier oder fünf andere Künste und Tonnen Goldes, einen ganzen Berg von Steinen, einen ganzen Wald von Balken und ein ganzes Volk von Arbeitern in Aufruhr versetzt; wenn man ihn mit dem Gedanken vergleicht, der zum Buche wird, und dem ein wenig Papier, ein wenig Tinte und eine Feder genügt – wie will man sich darüber wundern, daß der menschliche Geist sich von der Baukunst zur Buchdruckerkunst gewendet hat? Man durchsteche plötzlich das ursprüngliche Bett eines Flusses, eines Kanales, der unter seinem Niveau ausgehöhlt ist, und der Fluß wird sein Bett verlassen.

Man beobachte also, wie seit der Erfindung der Buchdruckerkunst die Baukunst hinsiecht, abzehrt und verschwindet; wie man fühlt, daß das Wasser sinkt, der Saft vertrocknet, und daß der Gedankengang der Zeiten und der Völker sich von ihr abwendet! Die Abkühlung ist im fünfzehnten Jahrhunderte fast noch unmerklich, die Presse ist noch zu schwach und nimmt höchstens der mächtigen Baukunst etwas Lebensüberfluß ab. Seit dem sechzehnten Jahrhunderte aber ist die Krankheit der Baukunst ersichtlich: sie drückt das gesellschaftliche Leben schon nicht mehr in wesentlicher Weise aus; sie ändert sich in kläglicher Weise zur klassischen Kunst um; aus gallischer, europäischer, eingeborener Kunst wird sie zu griechischer und römischer, aus wahrer und moderner zur falschen Antike. Es ist jener Verfall, der die Renaissance benannt wird: immerhin noch ein glänzender Verfall; denn der alte gothische Genius, diese Sonne, welche hinter der riesigen Buchdruckerpresse von Mainz hinabsinkt, durchleuchtet mit ihren letzten Strahlen noch eine Zeit lang diese Bastardmasse aus lateinischen Bogenwölbungen und korinthischen Säulenhallen.

Und gerade diese untergehende Sonne halten wir für eine Morgenröthe.

Von dem Augenblicke an jedoch, wo die Baukunst nur noch eine Kunst ist, wie die andere, seitdem sie nicht mehr die Gesammtkunst, die unumschränkte, die tyrannische Kunst ist, hat sie die Macht nicht mehr, die andern Künste im Zaume zu halten. Sie machen sich somit frei, brechen das Joch des Baumeisters und schlagen jede einen Weg für sich ein. Jede von ihnen gewinnt bei dieser Entzweiung. Die Absonderung macht jede größer. Die Steinmetzkunst wird zur Bildhauerkunst, die Bildschnitzkunst zur Malerei, der strenge Kanon zur freien Musik. Man könnte die Baukunst ein Weltreich nennen, welches beim Tode seines Alexander zerfällt, und dessen Provinzen zu Königreichen werden.

Damit beginnt die Zeit Raphaeëls, Michel-Angelo’s, Johann Goujons und Palestrina’s, dieser Sterne des glanzvollen sechzehnten Jahrhunderts.

Zu gleicher Zeit mit den Künsten befreit sich der Gedanke allerwärts. Freigeister des Mittelalters hatten dem Katholicismus schon tiefe Wunden geschlagen. Das sechzehnte Jahrhundert zerreißt die Glaubenseinheit. Vor der Buchdruckerkunst wäre die Reformation nur eine Spaltung gewesen, die Erfindung des Buchdruckes macht sie zur Revolution. Man nehme die Presse weg, und die Ketzerei ist wirkungslos. Mag das verhängnisvoll oder von der Vorsehung bestimmt sein: Guttenberg ist der Vorläufer Luthers.

Doch als die Sonne des Mittelalters vollständig untergegangen, als das gothische Genie für immer am Horizonte der Kunst erstorben war, beginnt die Baukunst immer unscheinbarer zu werden, mehr und mehr zu verbleichen und zu erlöschen. Das gedruckte Buch, dieser Nagewurm des Gebäudes, zehrt sie auf und vertilgt sie. Sie entblößt, sie entblättert sich und nimmt zusehends ab. Sie ist dürftig, sie ist arm, sie ist nichtig. Sie drückt gar nichts mehr aus, nicht einmal die Erinnerung an die Kunst einer andern Zeit. Auf sich selbst beschränkt, verrathen von den andern Künsten, weil der menschliche Gedanke sie im Stiche läßt, zieht sie, aus Mangel an Künstlern, Handwerker an sich. Die Glasscheibe ersetzt das Kirchenfenster; der Steinhauer tritt an die Stelle des Bildhauers. Dahin ist jede Kraft, jede Ursprünglichkeit, jedes Leben, jeder Geist. Als klägliche Bettlerin vor der Werkstätte schleppt sie sich von Nachbildung zu Nachbildung. Michel-Angelo, der zweifelsohne merkte, wie sie seit dem sechzehnten Jahrhunderte hinstarb, hat einend letzten Gedanken gehabt, einen Gedanken der Verzweiflung. Dieser Titan der Kunst hatte das Pantheon auf das Pantheon gethürmt und Sanct-Peter in Rom geschaffen. Es ist ein gewaltiges Werk, welches verdiente, einzig in seiner Art zu bleiben, es ist das letzte ursprüngliche Werk der Baukunst, der Namenszug eines riesengroßen Künstlers auf dem Schlußblatte eines ungeheuern Buches von Stein, welches sich schloß. Als Michel-Angelo todt war, was thut da jene jämmerliche Baukunst, die sich in ihrem gespenstigen Schattendasein selbst überlebte? Sie macht sich an Sanct-Peter in Rom und formt ihn ab, parodirt ihn. Es ist ein Wahnwitz; es ist zum Erbarmen. Jedes Jahrhundert hat seinen Sanct-Peter von Rom: das siebzehnte Jahrhundert die Val-de-Grace-Kirche, das achtzehnte Sanct-Genoveva. Jedes Land hat seinen Sanct-Peter von Rom. London hat den seinigen; Sanct-Petersburg gleichfalls. Paris hat ihrer zwei oder drei. Es ist das nichtssagende Testament, die letzte Faselei einer großen, abgelebten Kunst, welche kindisch wird, ehe sie stirbt.

Wenn wir, anstatt der eigenartigen Baudenkmäler, wie die sind, von denen wir soeben gesprochen haben, das Gesammtaussehen der Kunst vom sechzehnten bis zum achtzehnten Jahrhunderte prüfen, so bemerken wir die nämlichen Erscheinungen des Verfalles und Hinsiechens. Seit der Zeit Franz des Zweiten verschwindet die architektonische Form der Bauwerke mehr und mehr und läßt die geometrische Form, ähnlich dem Knochenbaue eines abgemagerten Kranken, hervortreten. Die schönen Linien der Kunst weichen den kalten und strengen Linien der Geometrie. Ein Bauwerk ist nicht mehr ein Baudenkmal, es ist eine Zusammenstellung von Flächen. Dabei martert sich die Baukunst, diese Blöße zu verstecken. Daher finden wir den griechischen Giebel, welcher auf das römische Giebelfeld aufgesetzt wird, und umgekehrt. Es ist immer das Pantheon im Pantheon, der Sanct-Peter Roms. Daher stammen die Ziegelsteinhäuser mit Hartsteinecken aus Heinrichs des Vierten Zeit; die Place-Royale, die Place-Dauphine. Daher die Kirchen Ludwigs des Dreizehnten: plumpe, untersetzte, gedrückte und zusammengewürfelte Bauten, die eine Kuppel tragen, welche wie ein Buckel aussieht. Daher die Mazarin-Bauart, die schlechte italienische Stilpastete an den Quatre-Nations. Daher die Paläste Ludwigs des Vierzehnten: weite, steife, kalte und langweilige Hofschranzenkasernen. Daher endlich die Bauart aus Ludwigs des Fünfzehnten Zeit, mit ihren Cichorienblätter- und Fadennudelverzierungen und allen Warzen und Schwämmen, welche diesen alternden, hinfälligen, einer zahnlosen Kokette gleichenden Baustil verunstalten. Von Franz des Zweiten Zeiten bis zu Ludwig dem Fünfzehnten ist das Uebel im geometrischen Fortschritte gewachsen. Die Kunst besteht nur noch aus Haut und Knochen. Sie ringt in kläglicher Weise mit dem Tode.

Was wird unterdessen aus der Buchdruckerkunst? Jene ganze Lebenskraft, welche die Baukunst verläßt, geht zu ihr über. In dem Maße, wie die Baukunst niedersinkt, geht sie in die Höhe und wird groß. Dieser Reichthum an Kräften, den der menschliche Gedanke in Bauwerken verschwendete, gab er hinfort in Druckdenkmälern aus. Daher kämpft vom sechzehnten Jahrhunderte an die Presse, die über das Niveau der hinschwindenden Baukunst hinausgewachsen ist, mit ihr und tödtet sie. Im siebzehnten Jahrhunderte ist sie bereits unumschränkt, siegreich und in ihrem Siege befestigt genug, um der Welt das Schauspiel eines großen, wissenschaftlichen Jahrhunderts zu bieten. Im achtzehnten Jahrhunderte, nachdem sie lange Zeit am Hofe Ludwigs des Vierzehnten brach gelegen, ergreift sie das alte Schwert Luthers als Waffe Voltaire’s, und eilt mit lautem Geräusche zum Sturme auf jenes alte Europa, dessen Gedankenformen sie bereits in der Baukunst vernichtet hat. Im Augenblicke, wo das achtzehnte Jahrhundert zu Ende geht, hat sie alles zerstört. Im neunzehnten schickt sie sich an, wieder aufzubauen.

Aber, fragen wir jetzt, welche von den beiden Künsten spiegelt seit drei Jahrhunderten in der That den menschlichen Gedanken ab? Welche giebt ihn weiter? Welche drückt ihn aus, und zwar nicht etwa seine wissenschaftlichen Verirrungen und Schulthorheiten, sondern seine weitgehende, tiefe und allseitige Bewegung? Welche liegt gleichmäßig, ohne Riß und ohne Lücke über dem menschlichen Geschlechte, dem tausendfüßigen Ungethüme, das vorwärts eilt, ausgebreitet da? Die Baukunst oder die Buchdruckerkunst? – Die Buchdruckerkunst! Man wolle sich hierin nicht täuschen; die Baukunst ist todt, todt ohne Wiederkunft, vernichtet vom gedruckten Buche, vernichtet, weil sie nicht genug vorhält, vernichtet, weil sie zu theuer ist. Jede Kathedrale hat den Werth einer Milliarde. Man vergegenwärtige sich jetzt, welchen Aufwand von Mitteln es erfordern würde, um das architektonische Buch noch einmal zu schreiben; um Tausende von Bauwerken von neuem auf dem Erdboden zu errichten; um zu jenen Zeiten zurückzukehren, wo, nach Aussage eines Augenzeugen, die Menge der Baudenkmäler eine solche war, »daß man hätte sagen mögen, die Welt hätte, sich schüttelnd, ihre alten Gewandungen von sich geworfen, um sich mit einem weißen Kleide von Kirchen zu bedecken«. [Erat enim ut, si mundus, ipse excutiendo semet, rejecta vetustate, fandidam eccelsiarum vestem induceret. (Glaber Radulphus)]

Ein Buch ist so bald hergestellt, kostet so wenig und kann so weit gelangen! Wie darf man sich wundern, daß der ganze menschliche Gedankengang auf dieser Bahn dahineilt? Damit soll nicht gesagt sein, daß die Baukunst nicht noch hier und da ein schönes Baudenkmal, ein vereinzeltes Hauptwerk sein nennen wird. Unter der Herrschaft der Buchdruckerkunst wird man wohl von Zeit zu Zeit noch eine Säule aufweisen können, die, ich setze den Fall, von einem ganzen Heere, mit verschmolzenen Kanonen hergerichtet ist, wie man, unter der Herrschaft der Baukunst, Iliaden und Romanzeros, Mahabaratas und Nibelungen besaß, die von einem ganzen Volke aus angesammelten und mit einander verschmolzenen Heldenliedern geschaffen worden waren. Der Glücksfall, ein Baumeistergenie zu besitzen, wird im zwanzigsten Jahrhunderte ebenso unerwartet eintreten können, wie im dreizehnten derjenige mit Dante. Aber die Baukunst wird nicht mehr die Kunst der Gesellschaft, die Gesammtkunst, die herrschende Kunst sein. Die große Dichtung, das große Denkmal, das große Kunstwerk der Menschheit wird nicht mehr gebaut, es wird gedruckt werden.

Und künftighin, wenn die Baukunst sich neu belebt, wird sie nicht mehr die Gebieterin sein. Sie wird sich dem Gesetze der Wissenschaft unterwerfen, welche dasselbe einstmals von ihr erhielt. Die beiderseitigen Stellungen der zwei Künste werden zu einander im umgekehrten Verhältnisse stehen. Gewiß ist, daß in der Epoche der Baukunst die Dichterwerke selten und in Wahrheit den Baudenkmälern gleichen. In Indien ist die Vyasa bunt, sonderbar, unergründlich, wie eine Pagode. Im ägyptischen Morgenlande besitzt die Dichtkunst, wie die Gebäude, Größe und Ruhe der Linien; im alten Griechenlande Schönheit, Heiterkeit und Ruhe; im christlichen Europa die Erhabenheit des Katholicismus, volksthümliche Anmuth und das reiche und üppige Wachsthum einer Epoche der Wiedergeburt. Die Bibel gleicht den Pyramiden, die Ilias dem Parthenon, Homer dem Phidias. Dante im dreizehnten Jahrhunderte ist gleichsam die letzte romanische Kirche; Shakespeare im sechzehnten der letzte gothische Dom.

Um also das, was wir bis jetzt in einer nothwendigerweise unvollständigen und verstümmelten Art gesagt haben, zusammenzufassen, so hat das menschliche Geschlecht zwei Bücher, zwei Register, zwei Testamente: die Baukunst und die Buchdruckerkunst, die Bibel aus Stein und die Bibel aus Papier. Wenn man diese zwei, im Laufe der Jahrhunderte so weit geöffneten Bibeln betrachtet, so ist es gewiß erlaubt, über die offenbare Erhabenheit der granitnen Schrift, über diese riesigen in Colonnaden, in Portale, in Obelisken geformten Alphabete, über diese von Menschenhänden aufgerichteten Berge zu trauern, die von der Pyramide des Cheops an bis zum Straßburger Münster die Welt und die Vergangenheit bedecken. Man soll die Vergangenheit auf diesen marmornen Blättern wiederlesen, man muß das von der Baukunst geschriebene Buch bewundern und fortwährend wieder durchblättern; aber man darf die Größe des Denkmales nicht in Abrede stellen, das sich auch seinerseits die Buchdruckerkunst aufrichtet.

Dieses Denkmal ist riesenhaft. Ich weiß nicht, welcher Statistiker ausgerechnet hat, daß, wenn man alle aus der Presse seit Guttenberg hervorgegangenen Bände über einander aufschichtete, der Raum zwischen Erde und Mond ausgefüllt werden würde; von dieser Art Größe wollen wir aber gar nicht reden. Wenn man indessen ein vollkommenes Bild von der Gesammtheit der Buchdruckserzeugnisse bis auf unsere Zeit für seine Vorstellung zu bekommen sucht, erscheint uns dann diese Gesammtheit nicht wie ein ungeheures Gebäude, welches auf der ganzen Welt ruht, in welchem die Menschheit ununterbrochen arbeitet, und dessen Giebel im tiefen Dunkel der Zukunft verschwindet? Es ist das Durcheinander geistiger Kräfte, der Bienenstock, nach welchem alle Phantasien, diese goldschimmernden Bienen, mit ihrem Honige eilen. Der Bau hat unzählige Stockwerke. Hier und da sieht man die dunkeln Gänge der Wissenschaft, welche sein Inneres durchschneiden, nach den Zugängen hin ausmünden. Ueberall an seiner Außenseite zeigt die Kunst ihre reichverschlungenen Arabesken, ihre Rosetten, ihre spitzenartigen Verzierungen. Da hat jeder einzelne Bau, so phantastisch-launenhaft und abgesondert er auch erscheinen mag, seine Stelle und seine Wirkung. Harmonisches Zusammenwirken ergiebt sich aus dem Ganzen. Von der Shakespeare-Kathedrale an bis zur Byron-Moschee erheben sich unzählige Thürme in buntem Gemisch über diese Metropole des Weltgedankens. An der Grundmauer des Baues hat man einige alte Urkunden der Menschheit, welche die Baukunst nicht verzeichnet hatte, niedergeschrieben. Links vom Eingange hat man das alte, weißmarmorne Homer-Basrelief eingefügt, rechts erhebt die Polyglottenbibel ihre sieben Häupter. Der Romanzero-Drache sträubt sich weiterhin; auch einige andere Bastardformen, die Vedas und die Nibelungen. Uebrigens bleibt dieser wunderbare Bau ewig unvollendet. Die Presse, diese Riesenmaschine, welche ohne Unterlaß alle geistigen Säfte der Gesellschaft einsaugt, speit unaufhörlich neues Arbeitsmaterial für sein Werk aus. Das ganze Menschengeschlecht ist vollzählig auf dem Baugerüst; jeder Geist ist Maurer. Der Niedrigste verstopft ein Loch und legt einen Stein auf. Rétif de la Bretonne bringt seine Bütte voll Gypsmörtel herbei. Täglich wird eine neue Schicht aufgerichtet. Unabhängig von der selbstständigen und persönlichen Beisteuer jedes Schriftstellers finden sich Sammelbeiträge. Das achtzehnte Jahrhundert giebt die » Encyklopädie«, die große französische Revolution den » Moniteur«. Gewiß, auch da haben wir einen Bau, der wächst und sich in endlosen Spirallinien aufthürmt; auch da giebt es eine Sprachverwirrung, unendliche Thätigkeit, unermüdliche Arbeit, einen erbitterten Wettkampf der ganzen Menschheit, aber auch einen Zufluchtsort, welcher dem Geiste gegen eine neue Sündflut, gegen ein Versinken in Barbarei gesichert ist. Es ist der neue babylonische Thurm des Menschengeschlechtes.

  1. [Die älteste Form des keltischen Steinbaues.]
  2. [Der keltische Druidentempel.]
  3. [Der Grabhügel der Etrusker.]
  4. [Der altjüdische Begräbnisplatz. Anm. d. Uebers.]
  5. [ Lateinisch: Weil ich Löwe heiße. Anm. d. Uebers.]

1. Abbas Beati Martini.

Der Ruf Dom Claude’s hatte sich weithin verbreitet. Dieser verschaffte ihm ohngefähr um die Zeit, als er sich weigerte, Frau von Beaujeu zu sehen, einen Besuch, für den er lange Zeit hindurch sich die Erinnerung bewahrte.

Es war an einem Abende. Claude hatte sich nach Beendigung der Messe soeben in seine Stiftspfründezelle im Kloster Notre-Dame zurückgezogen. Diese bot, ausgenommen vielleicht einige Glasfläschchen, die in die Ecke gestellt und mit einem ziemlich verdächtigen Pulver, das ganz dem Schießpulver ähnelte, gefüllt waren, nichts Auffälliges und Geheimnisvolles dar. Hier und da fanden sich auch einige Inschriften an der Wand; aber das waren nur wissenschaftliche oder fromme Sentenzen, die aus guten Schriftstellern entlehnt worden waren. Der Archidiaconus hatte sich soeben beim Lichte eines dreiarmigen Leuchters aus Kupfer vor einer mächtigen, mit Handschriften gefüllten Truhe niedergelassen. Er hatte seinen Ellbogen auf das weitgeöffnete Buch des Honorius von Autun: » De praedestinatione et libero arbitrio« 96 gestützt und durchblätterte im tiefen Nachdenken einen gedruckten Folianten, den er soeben herbeigeholt hatte, und welcher das einzige Erzeugnis der Buchdruckerpresse war, das seine Zelle umschloß. Während er im Nachsinnen versunken war, klopfte man an seine Thür.

»Wer ist da?« rief der Weise mit dem freundlichen Tone einer hungrigen Dogge, die man bei ihrem Knochen stört. Eine Stimme antwortete von draußen: »Euer Freund Jacob Coictier.« Er erhob sich, um zu öffnen.

Es war in Wirklichkeit der Leibarzt des Königs: eine Persönlichkeit von ohngefähr fünfzig Jahren, deren harter Gesichtsausdruck nur durch einen listigen Blick gemildert wurde. Ein anderer Mann begleitete ihn. Alle beide trugen ein langes, schieferfarbiges, mit Grauwerk gefüttertes Kleid, das zugenestelt und in der Mitte des Leibes von einem Gürtel gehalten wurde; die Kopfbedeckung war von demselben Stoffe und derselben Farbe. Ihre Hände verschwanden in den Aermeln, ihre Füße unter den Kleidern, die Augen waren von ihren Mützen beschattet.

»So wahr Gott mir helfe, meine Herren!« sprach der Archidiaconus, indem er sie in die Zelle hereinführte, »ich machte mich auf so ehrenvollen Besuch zu solcher Stunde nicht gefaßt.« Und während er in dieser höflichen Weise sprach, warf er einen unruhigen und forschenden Blick vom Arzte auf dessen Begleiter.

»Es ist niemals zu spät, einem so bedeutenden Gelehrten, wie Dom Claude Frollo von Tirechappe, seinen Besuch zu machen,« antwortete der Doctor Coictier, dessen hochburgundische Aussprache alle seine Worte mit der Würde eines Schleppkleides hinschleifen ließ.

Dann begann zwischen dem Arzte und dem Diaconus eine jener beglückwünschenden Vorreden, die, wie es in diesem Zeitabschnitte so gebräuchlich war, jeder Unterhaltung unter Gelehrten vorangingen, und die sie nicht verhinderte, sich in der herzlichsten Weise von der Welt zu verabscheuen. Uebrigens ist es heute noch so: jeder Mund eines Gelehrten, der einen andern beglückwünscht, ist ein Gefäß mit honigsüßer Galle.

Die Glückwünsche Claude Frollo’s für Jacob Coictier bezogen sich hauptsächlich auf die zahlreichen irdischen Vortheile, welche der würdige Arzt im Fortgange seiner vielbeneideten Laufbahn aus jeder Krankheit des Königs zu ziehen verstanden hatte: – freilich die Wirkung einer besseren und sichereren Alchymie, als das Suchen nach dem Steine der Weisen.

»In Wahrheit, Herr Doctor Coictier, ich habe große Freude gehabt, die Beförderung Eures Neffen, meines ehrwürdigen Herrn Peter Versé, zum Bischofe zu vernehmen. Ist er nicht Bischof von Amiens?«

»Ja, Herr Archidiaconus, das ist ein Huld- und Gnadengeschenk Gottes.«

»Wisset Ihr, daß Ihr am Weihnachtstage ein wahrhaft großartiges Aussehen zeigtet an der Spitze Eures Rechnungskammer-Collegiums, Herr Präsident?«

»Vice-Präsident, Dom Claude. Leider nicht mehr!«

»Wie weit seid Ihr mit Eurem prächtigen Hause in der Straße Saint-André-des-Arcs? Das ist ein zweiter Louvre. Mir gefällt besonders der Aprikosenbaum, welcher über der Thüre ausgemeißelt ist, mit dem spaßhaften Wortspiele: A l’abri cotier97

»Ach, Meister Claude, dieser ganze Steinmetzfleiß kostet mich schweres Geld. In dem Maße, wie mein Haus emporwächst, geht’s mit mir abwärts.«

»Oho! Habt Ihr denn nicht Eure Einkünfte vom Stockhause und vom Amtsbezirke des Justizpalastes, und die Rente von allen Häusern, Fleischbänken, Meß- und Marktbuden innerhalb der Ringmauer? Das heißt doch eine gute Kuh melken.«

»Meine Burgbanngerichtsbarkeit von Poissy hat mir in diesem Jahre nichts eingebracht.«

»Aber Eure Zollhäuser in Triel, Saint-James und Saint-Germain-en-Laye sind immer rentabel.«

»Hundertundzwanzig Livres, nicht einen Pariser Sou drüber.«

»Ihr habt Euer Amt als Rath des Königs. Das hat feste Einnahmen, das Amt.«

»Ja, Amtsbruder Claude; aber die verdammte Lehnsherrschaft Poligny, von der man so viel Geschrei macht, bringt mir, ein Jahr ins andere gerechnet, nicht sechzig Goldthaler ein.«

Es lag in den Glückwünschen, welche Dom Claude an Jacob Coictier richtete, jener hämische, spitze und unmerklich spöttische Ton, jenes verdrießliche und herbe Lächeln eines überlegenen und unglücklichen Menschen, der zur Zerstreuung einen Augenblick einen gewöhnlichen Menschen mit seinem dummen Glücke foppt. Der andere merkte das nicht.

»Bei meiner Seele,« sagte schließlich Claude, indem er ihm die Hand drückte, »es freut mich, Euch bei so guter Gesundheit zu finden.«

»Danke, Meister Claude.«

»Was ich fragen wollte,« rief Dom Claude, »was macht Euer königlicher Patient?«

»Er bezahlt seinen Arzt nicht hinlänglich,« antwortete der Doctor und warf einen Seitenblick auf seinen Begleiter.

»Findet Ihr, Gevatter Coictier?« sagte der Begleiter.

Diese Worte, im Tone der Ueberraschung und des Tadels gesprochen, lenkten auf diese unbekannte Persönlichkeit wieder die Aufmerksamkeit des Archidiaconus hin, der, um die Wahrheit zu sagen, sich nicht einen einzigen Augenblick, seitdem der Fremde die Schwelle der Zelle überschritten, ganz von ihm weggewandt hatte. Es hatte gerade der vielen Gründe, die er besaß, bedurft, den Doctor Jacob Coictier, den allmächtigen Leibarzt Ludwig des Elften, sich zu Nutze zu machen, um ihn in solcher Begleitungen empfangen. Daher hatte seine Miene nichts sehr Verbindliches, als Jacob Coictier zu ihm sagte:

»Noch eins, Dom Claude, ich bringe Euch einen Mitbruder, der Euch auf Euren Ruf hin zu sehen gewünscht hat.«

»Der Herr ist Gelehrter?« fragte der Archidiaconus und heftete sein durchdringendes Auge auf den Begleiter Coictiers. Er fand unter den Brauen des Unbekannten einen ebenso durchbohrenden und ebenso argwöhnischen Blick, als der seinige war. Der Unbekannte war, soweit der schwache Schein der Lampe ihn zu beurtheilen gestattete, ein Greis von ohngefähr sechzig Jahren und von mittlerer Statur, die ziemlich krank und gebrochen erschien. Sein Gesicht, wiewohl von sehr alltäglichem Schnitte, zeigte etwas Gewaltiges und Strenges; sein durchdringender Blick funkelte unter einer mächtig geschwungenen Augenbraue wie ein Licht in der Tiefe einer Höhle; und unter der herabgezogenen Mütze, welche ihm auf die Nase fiel, bemerkte man die mächtige Breite einer genialen Stirn hervortreten.

Er übernahm es selbst, auf die Frage des Archidiaconus zu antworten: »Ehrwürdiger Meister,« sagte er in ernstem Tone, »Euer Ruf ist bis zu mir gedrungen, und ich habe gewünscht, Euch um Rath anzugehen. Ich bin nur ein armer Edelmann aus der Provinz, der seine Schuhe auszieht, ehe er bei den Gelehrten eintritt. Ihr sollt meinen Namen wissen: ich nenne mich den Gevatter Tourangeau.«

»Merkwürdiger Name für einen Edelmann!« dachte der Archidiaconus. Indessen fühlte er, daß er einer bedeutenden und ernsten Angelegenheit gegenüber stand. Der Instinkt seiner hohen Intelligenz ließ ihn eine ebenso hohe, unter der gefütterten Mütze des Gevatters Tourangeau ahnen; und während er dieses ernste Antlitz betrachtete, verschwand das ironische Zucken, welches die Gegenwart Jacob Coictiers auf seinem mürrischen Gesichte hervorgebracht hatte, allmählich wie das Abendroth am nächtlichen Horizonte. Er hatte sich düster und schweigend wieder in seinem großen Armstuhle niedergelassen, sein Ellbogen hatte den gewohnten Platz wieder auf dem Tische, seine Stirne in der Hand eingenommen. Nach einigen Augenblicken stillen Nachdenkens gab er den beiden Besuchern ein Zeichen, sich zu setzen und richtete das Wort an Gevatter Tourangeau:

»Ihr kommt mich um Rath zu fragen, Meister, und über welchen Gegenstand der Wissenschaft?«

»Ehrwürdiger,« antwortete der Gevatter Tourangeau, »ich bin krank, sehr krank. Man nennt Euch einen großen Aesculap, und ich bin gekommen, Euch um Verordnung eines Arzneimittels zu ersuchen.«

»Eines Arzneimittels!?« sagte der Archidiaconus und schüttelte unwillig das Haupt. Er schien sich einen Augenblick lang zu besinnen und entgegnete: »Gevatter Tourangeau, da das nun einmal Euer Name ist, wendet das Haupt um. Ihr werdet meine Antwort deutlich an die Wand geschrieben finden.«

Der Gevatter Tourangeau gehorchte und las über seinem Haupte folgende, in die Mauer eingekratzte Inschrift: »Die Heilkunde ist die Tochter leerer Träume. – Jamblichus.«

Der Doctor Jacob Coictier hatte jedoch die Frage seines Begleiters mit einem Mißbehagen vernommen, welches die Antwort Dom Claude’s noch gesteigert hatte. Er neigte sich zum Ohre des Gevatters Tourangeau und sagte leise genug, um nicht vom Archidiaconus verstanden zu werden, zu ihm: »Ich hatte Euch ja berichtet, daß er ein Narr wäre. Ihr habt ihn sehen wollen!«

»Es ist doch sehr leicht möglich, daß er Recht hätte, dieser Narr, Doctor Jacob!« entgegnete der Gevatter im nämlichen Tone und mit bitterem Lächeln.

»Wie es Euch belieben wird,« entgegnete Coictier trocken. Dann wandte er sich an den Archidiaconus: »Ihr seid rasch im Urtheil, Dom Claude, und um den Hippokrates kaum mehr verlegen, als ein Affe um eine Haselnuß. Die Heilkunde ein Traum! Ich zweifle, daß die Apotheker und Doctoren, wenn sie hier wären, sich enthalten würden, Euch zu steinigen. Also Ihr läugnet den Einfluß der Zaubertränke auf das Blut, den der Salben auf das Fleisch! Ihr läugnet diese ewige Apotheke voll Blüten und Metalle, welche man Welt nennt, und die ausdrücklich für diesen Kranken geschaffen ist, welcher Mensch heißt.«

»Ich läugne weder die Kunst des Apothekers noch die Krankheiten der Menschen,« sprach Dom Claude kalt. »Vom Arzte will ich nichts wissen.«

»Also ist es nicht wahr,« fuhr Coictier mit Eifer fort; »daß die Gicht eine Flechte im Innern sei; daß man eine Schußwunde durch Auflegen einer gebratenen Maus heilt; daß jugendliches und in angemessener Weise eingespritztes Blut alten Adern die Jugend wiedergiebt? Es ist nicht wahr, daß zweimal zwei vier ist, und daß die Emprostothonie 98 auf die Opistothonie 99 folgt?«

Der Archidiaconus antwortete, ohne sich zu erregen: »Es giebt gewisse Dinge, über die ich in bestimmter Weise denke.«

Coictier wurde roth vor Zorn.

»Nun, nun, mein guter Coictier, ereifern wir uns nicht,« sagte der Gevatter Tourangeau. »Der Herr Archidiaconus ist unser Freund.«

Coictier wurde ruhig und brummte mit halber Stimme vor sich hin:

»Trotz alledem ist er ein Narr!«

»Beim allmächtigen Gott, Meister Claude,« begann der Gevatter Tourangeau wieder nach einem Schweigen, »Ihr bereitet mir viel Ungelegenheit. Ich hatte vor, Euch um zwei Gutachten zu bitten: das eine betrifft meinen Gesundheitszustand, das andere meinen Stern und mein Geschick.«

»Herr,« versetzte der Archidiaconus schnell, »wenn das Eure Meinung ist, so würdet Ihr ebenso wohl gethan haben, Euch auf den Stufen meiner Treppe nicht außer Athem zu steigen. Ich glaube nicht an die Heilkunde. Ich glaube nicht an Astrologie.«

»In Wahrheit!« sagte der Gevatter überrascht.

Coictier brach in ein erzwungenes Lachen aus.

»Ihr sehet wohl, daß er ein Narr ist,« sprach er ganz leise zum Gevatter Tourangeau. »Er glaubt nicht an die Astrologie!«

»O, über die Einbildung,« fuhr Dom Claude fort, »zu glauben, daß jeder Sternstrahl ein Faden sei, der am Haupte eines Menschen haftet!«

»Und woran glaubt Ihr denn?« rief der Gevatter Tourangeau aus.

Der Archidiaconus blieb einen Augenblick zweifelhaft; dann ließ er ein düstres Lächeln um seine Züge spielen, welches seine Antwort Lügen zu strafen schien: » Credo in Deum100

» Dominum nostrum,« 101 fügte der Gevatter Tourangeau mit dem Zeichen des Kreuzes hinzu.

»Amen,« sprach Coictier.

»Verehrter Meister,« nahm der Gevatter wieder das Wort, »ich bin in der Seele erfreut, Euch bei so gutem Glauben zu finden. Aber ein großer Gelehrter wie Ihr, seid Ihr auf dem Punkte angelangt, nicht mehr an die Wissenschaft zu glauben?«

»Nein,« sagte der Archidiaconus, indem er den Arm des Gevatter Tourangeau ergriff, und ein Strahl der Begeisterung flammte in seinem trüben Auge auf, »nein, ich läugne die Wissenschaft nicht. Ich bin nicht so lange, aus dem Leibe liegend und die Nägel in die Erde gegraben, durch die zahllosen Seitenpfade der Höhle gekrochen, ohne in der Ferne vor mir, am Ende des dunkeln Ganges ein Licht, eine Flamme, ein Etwas zu erblicken, zweifelsohne den Abglanz des blendenden Centralfeuers, wo Dulder und Weise die Gottheit erspähet haben.«

»Und schließlich,« unterbrach ihn Tourangeau, »was haltet Ihr für wahr und gewiß?«

»Die Alchymie.«

Coictier rief laut: »Bei Gott, Dom Claude, die Alchymie hat ohne Zweifel ihr Recht, aber weshalb die Heilkunde und die Astrologie lästern?«

»Nichts ist es mit Eurer Kenntnis des Menschen! Nichts mit Eurer Kenntnis des Himmels!« sagte der Archidiaconus mit Hoheit.

»Das heißt schonungslos mit Epidaurus und Chaldäa 102 verfahren,« entgegnete der Arzt hohnlächelnd.

»Höret, werther Herr Jacob. Das ist im guten Glauben gesprochen. Ich bin nicht der Leibarzt des Königs und Seine Majestät hat mir nicht den Garten Dädalus geschenkt, um da die Sternbilder zu beobachten… Ereifert Euch nicht und höret mich an… Welche Wahrheit habt Ihr – ich sage nicht in der Heilkunde, denn die ist ein allzu thörichtes Etwas, – sondern in der Astrologie gefunden? Nennet mir die Wirksamkeit des senkrechten Boustrophedon, die Funde aus der Zahl Ziruph und diejenigen aus der Zahl Zephirod.«

»Wollt Ihr,« sprach Coictier, »die sympathische Kraft des Schlüssels Salomonis und das, was cabbalistisch im Abtriftswinkel ist, läugnen?«

»Alles Irrthum, werther Herr Jacob! keine Eurer Formeln führt zur Wirklichkeit. Dagegen hat die Alchymie Ihre Entdeckungen aufzuweisen. Wollet Ihr Ergebnisse wie die folgenden, bestreiten? Das in der Erde tausend Jahre lang eingeschlossene Eis verwandelt sich in Bergkrystall. Das Blei ist der Ahne aller Metalle; denn das Gold ist kein Metall, das Gold ist Licht. Das Blei braucht nur vier Perioden, jede von zweihundert Jahren, um nach und nach aus dem Zustande von Blei in den von rothem Arsenik, vom rothen Arsenik zum Zinn, vom Zinn zum Silber überzugehen. Sind das nicht Thatsachen? Aber an den Schlüssel Salomonis, an die Berührungslinie zweier Körper und an die Sterne zu glauben, das ist gerade so lächerlich, als wie die Einwohner von Grand-Cathay zu glauben, daß die Goldamsel sich in einen Maulwurf und die Getreidekörner in karpfenartige Fische verwandeln!«

»Ich habe die Alchymie studiert,« rief Coictier aus, »und ich versichere … «

Der ungestüme Archidiaconus ließ ihn nicht aussprechen, »Und ich, ich habe Medicin, Astrologie und Alchymie studiert. In letzterer allem liegt die Wahrheit (während er so sprach hatte er aus der Truhe eine mit jenem Pulver gefüllte Phiole genommen, von dem wir weiter oben gesprochen haben), »in ihr allein ist Licht! Hippokrates – ein Traum; Urania – ein Traum; Hermes – es ist eine Meinung. Das Gold – es ist die Sonne; Gold machen – das heißt Gott sein. Das ist die einzige Wissenschaft. Ich habe die Heilkunde und die Astrologie erforscht sage ich Euch! Nichts, nichts ist’s mit ihnen. Der menschliche Körper – alles Dunkelheit! Die Sterne – Dunkelheit!«

Und er fiel mit gewaltiger und begeisterter Haltung in seinen Lehnstuhl zurück. Der Gevatter Tourangeau betrachtete ihn schweigend. Coictier zwang sich höhnisch zu lächeln, hob unmerklich die Schultern und wiederholte mit leiser Stimme: »Ein Narr!«

»Und,« sagte plötzlich Tourangeau, »der wunderbare Endzweck, habt Ihr ihn erreicht? Habt Ihr Gold gemacht?«

»Wenn ich es gemacht hätte,« erwiderte der Archidiaconus und hob langsam seine Worte hervor, wie ein Mensch, der in Nachdenken versunken ist, »würde der König von Frankreich Claude und nicht Ludwig heißen.«

Der Gevatter runzelte die Stirne«

»Was sage ich da?« fuhr Dom Claude mit verächtlichem Lächeln fort. »Was würde der Thron von Frankreich für mich bedeuten, wenn ich das Reich des Orientes wieder aufrichten könnte?«

»Das laß ich mir gefallen!« sagte der Gevatter.

»Ach, der arme Narr!« murmelte Coictier.

Der Archidiaconns, der sich nur noch mit seinen Gedanken zu unterhalten schien, fuhr fort:

»Doch nein, ich liege noch im Staube; ich stoße mir Gesicht und Knien wund an den Steinen des Weges zum Innern der Erde. Ich erkenne wohl, aber ich sehe noch nicht deutlich: ich lese noch nicht, ich buchstabire nur!«

»Und wenn Ihr lesen könnt,« fragte der Gevatter, »werdet Ihr Gold machen?«

»Wer zweifelt daran?« sagte der Archidiaconus.

»Für diesen Fall, die heilige Jungfrau weiß es, bin ich des Goldes sehr bedürftig, und ich möchte wohl in Euren Büchern lesen lernen. Sagt mir, verehrter Meister, ist Eure Wissenschaft Unserer lieben Frau feindlich gesinnt oder mißfällig?«

Auf diese Frage des Gevatters begnügte sich Dom Claude mit stolzer Ruhe zu erwidern:

»In wessen Diensten stehe ich als Archidiaconus?«

»Es ist wahr, lieber Meister. Nun wohl! Würdet Ihr die Güte haben, mich einzuweihen? Lasset mich mit Euch buchstabiren.«

Claude nahm die majestätische und hohepriesterliche Haltung eines Samuel an.

»Alter Mann, um diese Reise mitten durch die Welt der Geheimnisse zu unternehmen, braucht’s längere Jahre, als Ihr noch vor Euch habt. Euer Haupt ist sehr grau! Wohl verläßt man den dunkeln Weg nur mit weißem Haupthaar, aber man betritt ihn nur mit dunkelm. Die Wissenschaft vermag schon für sich allein die menschlichen Gesichter hohl zu machen, zu bleichen und einzutrocknen; sie hat nicht nöthig, daß das Alter ihr völlig runzlige Gesichter zuführe. Wenn Ihr indessen von der Begierde besessen seid, Euch in Eurem Alter der Unterweisung zu unterwerfen und das furchtbare Alphabet der Weisheit zu entziffern, wohlan, kommt zu mir, ich will’s versuchen. Euch will ich nicht heißen, armer Alter, Euch aufzumachen, um die Grabkammern der Pyramiden aufzusuchen, von denen der alte Herodot spricht, auch nicht den Backsteinthurm zu Babylon, noch das ungeheure, weißmarmorne Allerheiligste des indischen Tempels zu Eklinga. Gerade wie Ihr habe auch ich nicht die chaldäischen Mauern gesehen, die nach der geheiligten Form des Sikra errichtet waren, noch den Tempel des Salomo, der zerstört ist, auch nicht die steinernen Thüren am Grabmale der Könige Israels, die längst gebrochen sind. Wir wollen uns zufrieden geben mit den Ueberresten vom Buche des Hermes, welches wir hier haben. Ich werde Euch die Bildsäule des heiligen Christoph, das Sinnbild des Säemannes erklären, und diejenigen der beiden Engel, die sich am Portale der Heiligen Kapelle befinden, und von denen der eine seine Hand in einem Gesäße und der andere in einer Wolke hat …«

Nach diesen Worten setzte sich Jacob Coictier, den die hitzigen Einwürfe des Archidiaconus verblüfft hatten, wieder auf den Sessel und unterbrach ihn im triumphirenden Tone eines Gelehrten, der einen andern über etwas zurechtweist: » Erras, amice Claudi. 103 Das Symbol ist keine Zahl. Ihr nehmt Orpheus für Hermes.«

»Ihr seid vielmehr im Irrthume,« entgegnete würdevoll der Archidiaconus. »Dädalus ist die Grundmauer, Orpheus die Mauer, Hermes aber ist das Gebäude, ist das Ganze. Möget Ihr kommen, wann Ihr wollt,« fuhr er gegen Tourangeau sich wendend fort, »ich will Euch die Goldtheilchen zeigen, die im Schmelztiegel des Nicolaus Flamel zurückgeblieben sind, und Ihr möget sie mit dem Golde Wilhelms von Paris vergleichen. Ich werde Euch die geheimen Kräfte des griechischen Wortes »Peristera« 104 lehren. Vor allem aber will ich Euch die marmornen Buchstaben des Alphabets, die steinernen Seiten des Buches eine nach der andern lesen lassen. Vom Portale des Bischofs Wilhelm und von Saint-Jean-le-Rond wollen wir zur Heiligen Kapelle, hierauf zum Hause Nicolaus Flamels, in der Rue Mariveaulx, dann zu seinem Grabmale auf dem Kirchhofe Saints-Innocents, endlich zu seinen beiden Krankenhäusern in der Rue Montmorency gehen. Ich werde Euch die Hieroglyphen lesen lassen, mit denen die vier mächtigen eisernen Feuerböcke am Eingangsthore des Hospitals Saint-Gervais und desjenigen in der Rue-de-la-Ferronnerie bedeckt sind. Wir wollen auch zusammen die Façaden von Saint-Côme, von Saint-Geneviève-des-Ardents, von Saint-Martin, von Saint-Jacques-de-la-Boucherie buchstabiren…«

So klug das Auge Tourangeau’s dreinschaute, so schien er doch schon lange Dom Claude nicht mehr zu begreifen. Er unterbrach ihn:

»Zum Teufel auch! Wie verhält sich denn das mit Euern Büchern?«

»Hier ist eins davon,« sprach der Archidiaconus.

Und indem er das Fenster der Zelle öffnete, deutete er mit dem Finger auf die mächtige Notre-Damekirche, welche am gestirnten Himmel die schwarzen Umrisse ihrer beiden Thürme, ihrer steinernen Flächen und ihres mächtigen Dachrückens abhob und einer ungeheuern, zweiköpfigen Sphinx glich, die sich mitten in der Stadt niedergesetzt hatte.

Der Archidiaconus betrachtete das Riesengebäude eine Zeit lang schweigend, dann streckte er mit einem Seufzer die rechte Hand nach dem gedruckten Buche, welches geöffnet auf dem Tische lag, die linke nach der Notre-Damekirche aus und sagte, wahrend er einen traurigen Blick vom Buche zur Kirche hinüberschweifen ließ: »Wehe! dies wird jenes vernichten.«

Coictier, der sich mit Begierde dem Buche genähert hatte, konnte den Ausruf nicht unterdrücken: »Ei, aber! was giebt es denn so Schreckliches in diesem »Glossa in epistolas D. Pauli, Norimbergae, Antonius Koburger, 1474«. Das ist nichts Neues. Das ist ein Buch des Petrus Lombardus, der Magister setentiarum. Vielleicht deshalb, weil es gedruckt ist?«

»Ihr habt es ausgesprochen,« antwortete Claude, der in tiefes Nachdenken versunken schien, und, den eingebogenen Zeigefinger auf den aus Nürnbergs berühmten Druckerpressen hervorgegangenen Folianten stemmend, dastand. Dann fügte er folgende geheimnisvollen Worte hinzu: »Wehe! Wehe! Das Kleine folgt dem Großen auf dem Fuße nach; ein Zahn siegt über eine Masse. Die Nilratte tödtet das Krokodil, der Schwertfisch den Wallfisch, das Buch wird das Gebäude vernichten!«

In demselben Augenblicke, wo der Doctor Jacob seinem Begleiter ganz leise den ständigen Refrain »Er ist ein Narr« wiederholte, erklang die Abendglocke des Klosters. Diesmal antwortete der Begleiter auf die Worte des Archidiaconus: »Ich glaube, ja.«

Die Stunde war da, von welcher an kein Fremder länger im Kloster verweilen konnte. Die beiden Besucher zogen sich zurück.

»Meister,« sprach der Gevatter Tourangeau, indem er sich vom Archidiaconus verabschiedete, »ich liebe die Gelehrten und großen Geister, und ich habe eine besondere Hochachtung für Euch. Kommet morgen in den ParIamentspalast und fraget nach dem Abte des heiligen Martin von Tours.«

Der Archidiaconus kehrte bestürzt in sein Gemach zurück, begriff endlich, welche Persönlichkeit der Gevatter Tourangeau war, und erinnerte sich an jene Schriftstelle im Archive des heiligen Martin von Tours: »Abbas beati Martini, scilicet rex Franciae, est canonicus de consuetudine et habet parvam praebendam, quam habet Sanctus Venantius, et debet seder in sede thesaurarii.« 105

Man versicherte, daß der Archidiaconus seit dieser Zeit häufige Zusammenkünfte mit Ludwig dem Elften hatte, so oft Seine Majestät nach Paris kam, und daß das Ansehen des Dom Claude dasjenige Olivier Le-Daims in Schatten stellte, ebenso dasjenige Jacob Coictiers, der dann, seiner Gewohnheit gemäß, den König deshalb sehr grob behandelte.

  1. [Lateinisch: Ueber Vorherbestimmung und Willensfreiheit. Anm. d. Uebers.]
  2. [Das im Deutschen nicht wiederzugebende Wortspiel besteht in der Theilung des Wortes abricotier in zwei Worte: à l'abricotier, »Zum Aprikosenbaum« (Hauswahrzeichen) und: à l'abri cotier, »Im lehnzinspflichtigen Schutze«. Anm. d. Uebers.]
  3. [ Griechisch: Der Starrkrampf mit Zusammenziehung des Körpers nach vorn.]
  4. [ Griechisch:: Der Rückenkrampf. Anm. d. Uebers.]
  5. [ Lateinisch: Ich glaube an Gott.]
  6. [ Lateinisch: Unsern Herrn. Anm. d. Uebers.]
  7. [Im Alterthume durch ihre Sterndeuter bekannte Orte. Anm. d. Uebers.]
  8. [Lateinisch: Du irrst, Freund Claude. Anm. d. Uebers.]
  9. [Griechisch: die Taube. Anm. d. Uebers.]
  10. [ Lateinisch: Der Abt des heiligen Martin, nämlich der König von Frankreich, ist Domherr nach Herkommen, hat die kleine Chorpfründe, welche der heilige Venantius inne hat, und soll in der Behausung des Schatzmeisters wohnen. Anm. d. Uebers.]

6. Mißliebigkeit.

Der Archidiaconus und der Glöckner waren, wie wir schon gesagt haben, bei dem vornehmen und geringen Volke aus der Nachbarschaft der Kathedrale nicht sehr beliebt. Wenn Claude und Quasimodo, was zeitweilig geschah, mit einander ausgingen, und man sie in Gesellschaft, der Diener hinter dem Herrn drein, über die schmutzigen, engen und dunkeln Straßen der Klostergebäude von Notre-Dame schreiten sah, so beunruhigte sie manch böses Wort, manch ironisches Lachen und manch beleidigender Witz auf ihrem Gange, wofern Claude Frollo nicht, was freilich selten geschah, aufrechten und stolzen Hauptes einherschritt und sein ernstes, fast majestätisches Antlitz den bestürzten Spaßvögeln zeigte. Alle beide waren in ihrem Stadtviertel das, was jene »Dichter« waren, von denen Regnier spricht:

»Allerlei Leute rennen hinter dem Dichter drein,
Wie hinter Eulen just schreiende Grasmücklein.«

Bald war es ein heimtückischer Bursche, welcher seine Haut und seine Knochen für das unaussprechliche Vergnügen wagte, eine Nadel in Quasimodo’s Buckel zu bohren; bald streifte eine hübsche junge Dirne, die frecher und unverschämter war, als es sich geschickt hätte, das schwarze Kleid des Priesters und sang ihm unter hämischem Gelächter das Lied ins Gesicht:

»Verdufte, verdufte, der Teufel ist gefangen!«

Manchmal schimpfte ein Haufen schmutziger Weiber, die sich hinter einander auf den Stufen einer Thürhalle im Schatten niedergekauert hatten, mit lauten Worten beim Vorübergehen des Archidiaconus und des Glöckners und schleuderten ihnen unter Verwünschungen den anfeuernden Willkommen ins Gesicht: »Ha! sehet da einen, der eine Seele hat, wie der andere den Körper!« Oder es fand sich auch eine Bande Studenten und Soldaten, die Brett spielten, sich zusammenrotteten und jene in klassischer Weise mit dem Hohngeschrei auf Lateinisch begrüßten: »Eia, eia! Claudius cum claudo« 95

Gewöhnlich aber glitt die Beleidigung ungehört an dem Priester und Glöckner ab; denn um alle die niedlichen Dinge zu vernehmen, war Quasimodo zu taub und Claude zu sehr in Gedanken versunken.

  1. [ Lateinisch: Ei der tausend! Claude mit einem Lahmen! Anm. d. Uebers.]

5. Fortsetzung des Kapitels, welches von Claude Frollo handelte.

Im Jahre 1482 war Quasimodo ohngefähr zwanzig Jahre, Claude Frollo ohngefähr sechsunddreißig Jahre alt. Der eine war groß, der andere alt geworden.

Claude Frollo war nicht mehr der einfache Student des Collegiums Torchi, der zärtliche Beschützer eines kleinen Kindes, der junge und träumerische Philosoph, welcher vieles wußte und vieles wieder nicht wußte. Er war ein strenger, würdevoller und mürrischer Priester, ein Seelsorger, der Herr Archidiaconus von Josas, der zweite Meßgehilfe des Bischofs, und hatte die beiden Decanate Montchéry und Châteaufort und einhundertvierundsiebzig Landpfarrer auf dem Halse. Er war eine Ehrfurcht gebietende und düstere Persönlichkeit, vor welcher die Chorknaben im Chorhemde und im Jäckchen, sowie die Kirchensänger, die Brüder vom Orden des heiligen Augustinus, die Geistlichen der Frühmetten in Notre-Dame zitterten, wenn er langsam unter den hohen Bogen des Chores dahinschritt, majestätisch, in Nachdenken versunken, mit gekreuzten Armen und das Haupt so tief auf die Brust gesenkt, daß man von seinem Antlitze nur die hohe, kahle Stirn sah.

Uebrigens hatte Dom 83 Claude Frollo weder die Wissenschaft, noch die Erziehung seines jungen Bruders, diese zwei Beschäftigungen seines Lebens, vernachlässigt. Aber mit der Zeit hatte sich einige Bitternis in diese so angenehmen Angelegenheiten gemischt. Auf die Länge, sagt Paulus Diaconus, wird selbst der beste Speck ranzig. Der kleine Johann Frollo, mit dem Beinamen Du-Moulin, wegen des Ortes, wo er erzogen worden, war nicht in der Richtung herangewachsen, welche Claude ihm hatte geben wollen. Der große Bruder rechnete auf einen frommen, folgsamen, gelehrten und ehrenhaften Zögling. Nun aber wuchs der kleine Bruder, wie jene jungen Bäume, welche aller Anstrengung des Gärtners spotten und sich hartnäckig nach der Seite hin wenden, von wo ihnen Luft und Sonne kommt, – wuchs also, trieb und mehrte der kleine Bruder schöne, dichte und üppige Zweige nur nach der Seite der Faulheit, Unwissenheit und Ausschweifung hin. Er war ein wahrhaft ausgearteter Teufel, weshalb Dom Claude die Augenbrauen zusammenzog, aber ebenso drollig und ebenso gewandt, was dem ältern Bruder ein Lächeln abnöthigte. Claude hatte ihn demselben Collegium Torchi anvertraut, wo er seine ersten Jahre im Studium und in der Andacht verbracht hatte; und es verursachte ihm Schmerz, daß dieses Heiligthum, das von dem Namen Frollo einst so erbaut war, jetzt an ihm Aergernis nahm. Er hielt Johann deshalb manchmal sehr ernste und sehr lange Strafpredigten, welche dieser furchtlos aushielt. Bei alledem hatte der kleine Taugenichts ein gutes Herz, wie man das in allen Lustspielen sehen kann. Aber war die Strafpredigt vorbei, so betrat er ebenso ruhig wieder die Pfade seines empörenden Treibens und seiner Abscheulichkeiten. Bald war es ein »Gelbschnabel« (so nannte man die neuen Ankömmlinge im Universitätsviertel), welchen er zum Willkommen gezaust hatte – eine köstliche Ueberlieferung, die sich sorgfältig bis auf unsere Tage forterhalten hat. Bald hatte er einer Bande von Studenten den Anstoß gegeben, die sich in wahrhaft klassischer Weise, » quasi classico excitati«, auf eine Kneipe geworfen, später den Wirth »angriffsweise mit Stöcken« geprügelt und in aller Fröhlichkeit das Lokal dermaßen geplündert hatten, daß die Weinfässer im Keller in Stücke gingen. Und dann gab es einen schönen lateinischen Bericht, welchen der Sub-Monitor von Torchi mit kläglicher Geberde und der schmerzlichen Randbemerkung: » Rixa, prima causa, vinum optimum potatum« 84 an Dominus Claude einreichte. Endlich erzählte man – was bei einem Knaben von sechzehn Jahren erschrecklich –, daß seine Abwege ihn zu wiederholten Malen bis in die Rue-de-Glatigny 85 führten.

Claude hatte sich, über das alles betrübt und in seinem Wohlwollen für die Menschen getäuscht, mit desto mehr Eifer in die Arme der Wissenschaft geworfen, – dieser Muse, die einem wenigstens nicht ins Gesicht lacht und immer, wiewohl manchmal mit etwas hohler Münze, die Sorgfalt bezahlt, welche man ihr gewidmet hat. Er wurde daher immer gelehrter und zu gleicher Zeit, durch eine natürliche Folge, als Priester immer strenger, als Mensch immer finsterer. Es bestehen für jedermann in der Welt gewisse Parallelismen zwischen unserer Verstandesbildung, unsern Sitten und unsern Charaktereigenschaften, die sich ohne Unterbrechung entwickeln und nur in Folge großer Störungen im Leben unterbrochen werden.

Da Claude Frollo von seiner Jugend an fast den ganzen Kreis des menschlichen, positiven, äußern und erlaubten Wissens durchmessen hatte, so war er gezwungen, falls er nicht stehen bleiben wollte, ubi defuit orbis 86 – war also gezwungen, weiter zu gehen und für die unersättliche Thätigkeit seines Geistes andere Nahrung zu suchen. Das alte Sinnbild der Schlange, die sich in den Schwanz beißt, paßt vornehmlich auf die Wissenschaft. Claude Frollo scheint das aus eigener Erfahrung kennen gelernt zu haben. Mehrere vertrauenswürdige Personen versicherten, daß, nachdem das » fas« 87 des menschlichen Wissens von ihm erschöpft worden war, er in das » nefas« 88 einzudringen sich erkühnt hätte. Man erzählte, er habe nach und nach alle Früchte vom Baume der Erkenntnis gekostet und, sei es aus Hunger oder aus Uebersättigung, schließlich in die verbotene Frucht gebissen. Er hatte, wie unsere Leser gesehen haben, nach und nach bei den Verhandlungen der Theologen in der Sorbonne, in den Versammlungen der Philosophiestudirenden an der Bildsäule des heiligen Hilarius, bei den Disputationen der Dekretisten an der Bildsäule des heiligen Martin, in den Zusammenkünften der Mediziner am Weihkessel in Notre-Dame ( ad cupam Nostrae-Dominae) seinen Platz eingenommen. Alle erlaubten und gutgeheißenen Gerichte, welche diese vier großen Küchen, genannt die vier Facultäten, einer Fassungskraft zubereiten und darbieten konnten, hatte er verschlungen, und er hatte Ueberdruß an ihnen bekommen, ehe sein Hunger gestillt worden war. Dann war er weiter und tiefer auf den Grund dieses ganzen beschränkten, materiellen und eingezwängten Wissens vorgedrungen; er hatte vielleicht seine Seele aufs Spiel gesetzt, sich im finstern Raume an jener geheimnisvollen Tafel der Alchymisten, der Astrologen und Hermesjünger 89 niedergelassen, an deren Ende Averroes, 90 Wilhelm von Paris und Nicolaus Flamel im Mittelalter sitzen, und welche bis in den Orient, bis zum Lichterglanze des siebenarmigen Leuchters, bis auf Salomo, Pythagoras und Zoroaster zurückreicht.

Wenigstens vermuthete man das, gleichviel ob mit Unrecht oder mit Recht. Gewiß ist, daß der Archidiaconus häufig den Kirchhof Saint-Innocents, wo sein Vater und seine Mutter bekanntlich mit den übrigen Opfern der Pest von 1466 begraben waren, besuchte; wahr ist aber auch, daß er mit weit geringerer Andacht am Kreuze ihres Grabes sich zeigte, als bei den seltsamen Figuren, mit denen die dicht daneben liegende Gruft Nicolaus Flamels und Claude Pernelles versehen war!

Es ist ausgemacht, daß man ihn öfter die Rue-des-Lombards entlang gehen und verstohlen in ein kleines Haus hatte eintreten sehen, welches die Ecke der Rue-des-Ecrivains und der Rue Marivaulx bildete. Das war das Haus, welches Nicolaus Flamel gebaut hatte, wo er um 1417 gestorben war, und welches seitdem, immer leer stehend, nachgerade zu verfallen anfing: so sehr hatten die Hermesjünger und Goldmacher aus aller Herren Länder die Mauern demolirt, auf die sie nur allein ihre Namen eingekratzt hatten. Ja, einige Nachbarn versicherten, durch ein Kellerloch einmal gesehen zu haben, wie der Archidiaconus Claude in den beiden Kellern, deren Stirnpfeiler von Nicolaus Flamel selbst mit zahllosen Versen und Hieroglyphen beschmiert worden waren, die Erde ausgehöhlt, auf- und umgewühlt habe. Man nahm an, daß Flamel den Stein der Weisen in diesen Kellern vergraben hätte; und die Alchymisten haben zwei Jahrhunderte lang, von Magistri bis zum Pater Pacifique, nicht abgelassen, den Boden desselben so lange zu durchsuchen, bis das schrecklich untergrabene und umgekehrte Haus schließlich unter ihren Füßen in Staub zusammengestürzt ist.

Auch das ist ausgemacht, daß der Archidiaconus eine merkwürdige Leidenschaft für das symbolische Portal von Notre-Dame hatte: diese Seite aus dem in Stein geschriebenen Zauberbuche des Bischofs Wilhelm von Paris, der ohne Zweifel dafür verdammt ist, weil er der heiligen Dichtung, welche das übrige Gebäude ewig singt, ein so höllisches Titelblatt gegeben hat. Auch nahm man an, daß der Archidiaconus Claude die Kolossalbildsäule des heiligen Christoph, jene hohe, räthselhafte Statue, untersucht habe, welche sich damals am Eingange zum Vorhofe erhob, und welche das Volk in seinen Spöttereien »den alten Sauertopf« nannte. Aber was jedermann hatte bemerken können, war, daß er ungezählte Stunden häufig damit hinbrachte, auf der Brustmauer des Vorhofes sitzend, die Bildhauerarbeiten des Portals zu betrachten, wobei er bald die törichten Jungfrauen mit ihren umgestoßenen Lampen, bald die klugen Jungfrauen mit ihren hochgehaltenen Lampen betrachtete; zu andern Malen wieder den Gesichtswinkel jenes Raben berechnete, welcher links am Portale sitzt und nach einem geheimnisvollen Punkte in der Kirche blickt, wo sicherlich der Stein der Weisen versteckt liegt, wenn anders er sich nicht im Keller Nicolaus Flamels befindet. Es war, im Vorbeigehen sei es gesagt, das sonderbare Geschick für die Kirche Notre-Dame, in dieser Epoche zweimal in so verschiedenen Graden, mit so viel Hingabe und von zwei so ungleichen Wesen geliebt zu werden, wie Claude und Quasimodo waren. Instinktmäßig geliebt von dem einen, der nur eine Art wilder Halbmensch war, wegen ihrer Schönheit, ihrer Gestalt, wegen der harmonischen Vollendung, die sich aus ihrem prächtigen Ganzen ergiebt; geliebt von dem andern, einem gelehrten und leidenschaftlichen Phantasten, wegen ihrer Bedeutung, ihrer Sage, wegen des Gedankens, den sie enthält, wegen des Symboles, das in den Skulpturen ihrer Façade versteckt liegt, wie der Urtext in einem Palimpseste 91 unter dem darübergeschriebenen Texte – mit einem Worte wegen des Räthsels, welches sie ewig dem menschlichen Verstande zu errathen giebt.

Außerdem war es bekannt, daß der Archidiaconus sich auf demjenigen der zwei Thürme, welcher nach dem Grèveplatz gelegen ist, dicht neben der Glockenstube eine kleine, ganz versteckte Zelle eingerichtet hatte, in welche niemand, nicht einmal der Bischof, wie man sich erzählte, ohne seine Erlaubnis eintreten durfte. Diese Zelle, die fast in der Spitze des Thurmes unter den Rabennestern lag, war einst vom Bischöfe Hugo von Besançon, 92 der hier zu seiner Zeit Zauberei getrieben, eingerichtet worden. Was diese Zelle enthielt, wußte niemand; aber man hatte oftmals vom Strande des Terrains aus, an einer kleinen Dachluke, die nach der Rückseite des Thurmes hinausging, des Nachts einen seltsamen rothen, manchmal nachlassenden Schein bemerkt, der in kurzen und gleichen Zwischenräumen sichtbar wurde, verschwand und sich wieder zeigte, und durch die Luftstöße eines Blasebalges zu entstehen, und eher von einer Flamme, als von einem Lichte herzurühren schien. In der Dunkelheit und in dieser Höhe machte das einen sonderbaren Eindruck, und die alten Weiber pflegten zu sagen: »Seht den Archidiaconus, wie er Feuer anfacht! Da oben prasselt die Hölle!«

In allem dem fanden sich freilich keine hinreichenden Beweise für Zauberei, aber der Rauch war doch immer groß genug, als daß man Feuer annehmen mußte; und der Archidiaconus hatte einen ziemlich schrecklichen Ruf. Wir müssen aber sagen, daß die ägyptischen Wissenschaften: die Geisterbeschwörung, die Magie, selbst die Weiße Magie 93 als die unschuldigste, keinen erbitterteren Feind, keinen unbarmherzigeren Angeber bei den Herren vor dem geistlichen Gerichtshofe von Notre-Dame hatten. Vielleicht war es aufrichtiger Abscheu, vielleicht auch der Kunstkniff eines verfolgten Diebes, der »ein Dieb, halt‘ auf!« ruft. Das alles verhinderte aber nicht, daß der Archidiaconus von den gelehrten Häuptern des Ordenskapitels für eine Seele gehalten wurde, die im Vorhofe der Hölle herumschweift, in den Höhlen der Kabala sich verloren hat und in der Finsternis geheimer Wissenschaften umhertappt. Das Volk ließ sich schon gar nicht mehr irre machen: bei jedermann, der nur ein wenig Scharfsinn besaß, galt Quasimodo für den Satan, Claude Frollo für den Hexenmeister. Es lag am Tage, daß der Glöckner dem Archidiaconus eine festgesetzte Zeit lang dienen mußte, nach deren Ablauf er seine Seele an Zahlungsstatt hinwegführen würde. Daher stand der Archidiaconus, trotz seines übermäßig strengen Lebenswandels, bei den frommen Seelen in üblem Geruche; und es gab keine noch so unerfahrene Betschwesternase, die in ihm nicht den Zauberer gewittert hätte.

Und hatten sich bei zunehmendem Alter in seiner Wissenschaft Abgründe aufgethan, so hatten sich solche auch in seinem Herzen geöffnet. Wenigstens hatte man Grund dazu, das zu glauben, sobald man dieses Antlitz prüfte, auf dem man seine Seele nur durch ein trübes Gewölk glänzen sah. Woher hatte er diese breite, kahle Stirne, dieses immer gesenkte Haupt, diese stetig von Seufzern geschwellte Brust? Welcher geheime Gedanke ließ seinen Mund mit so großer Bitterkeit in demselben Augenblicke lächeln, wo seine zusammengezogenen Augenbrauen sich einander wie zwei Stiere näherten, die miteinander kämpfen wollen? Warum waren die wenigen Haare seines Hauptes schon grau? Was für ein tiefinneres Feuer war das, welches bisweilen aus seinem Blicke mit solcher Gewalt hervorbrach, daß sein Auge der in die Wand eines Glühofens gebrochenen Oeffnung glich?

Diese Symptome eines heftigen moralischen Vorurtheiles hatten namentlich in dem Zeitraume einen hohen Stärkegrad angenommen, in welchem sich gegenwärtige Geschichte zuträgt. Mehr als einmal war ein Chorknabe entsetzt davongelaufen, wenn er sich allein mit ihm in der Kirche befand: dermaßen seltsam und stechend war der Blick seines Auges. Mehr als einmal während des Chorgesanges hatte, zur Stunde des Gottesdienstes, sein Nachbar im Chorstuhle ihn unverständliche Zwischenstrophen in den gregorianischen Choralgesang »ad omnem tonum« 94 hineinmischen gehört. Mehr als einmal hatte die Waschmeisterin des Terrains, die verpflichtet war, »das Klosterkapitel sauber zu erhalten«, nicht ohne Entsetzen Spuren von Nägeln und zusammengekrallten Fingern im Chorhemde des Herrn Archidiaconus von Josas wahrgenommen. Uebrigens nahm er an Härte zu und war doch niemals musterhafter gewesen. In Folge seines Standes und seines Charakters hatte er sich immer von den Frauen ferngehalten; er schien sie mehr als je zu hassen. Das bloße Rauschen eines seidenen Weiberrockes ließ seine Kapuze über seine Augen fallen. In diesem Punkte sah er dermaßen auf Strenge und Zurückhaltung, daß, als Frau von Beaujeu, die Tochter des Königs, im Monat December 1481 das Kloster Notre-Dame zu besuchen sich anschickte, er sich nachdrücklich ihrem Eintritte widersetzte und den Bischof an die Verordnung des »Schwarzen Buches«, datirt vom Vorabende des Sanct-Bartholomäustages 1334, erinnerte, welche den Zutritt zum Kloster jedweder Frau, »gleichviel ob alt oder jung, Herrin oder Dienerin« untersagt. Daraufhin hatte ihm der Bischof die Verordnung des Legaten Odo citiren müssen, welche gewisse Damen von Stande »aliquae magnates mulieres, quae sine scandalo evitari non possunt« ausnimmt. Und dennoch erhob der Archidiaconus Einsprache dagegen, indem er einwarf, daß die Verordnung des Legaten, welche auf das Jahr 1207 zurückreiche, einhundertsiebenundzwanzig Jahre älter, als das Schwarze Buch und, in Folge dessen, thatsächlich von letzterem aufgehoben sei. Und er hatte sich geweigert, vor der Prinzessin zu erscheinen.

Man bemerkte außerdem, daß sein Abscheu vor den Zigeunerinnen und Zigeunern sich seit einiger Zeit zu verdoppeln schien. Er hatte beim Bischofe um einen Erlaß nachgesucht, durch welchen den Zigeunerinnen ausdrücklich verboten sein sollte, auf dem Platze des Domhofes zu tanzen und Tamburin zu schlagen; und er durchwühlte seit der nämlichen Zeit die moderduftigen Urkunden des Offizes, um die Fälle zu sammeln, wo Zauberer und Zauberinnen wegen Theilnahme an Zaubereien mit Böcken, Sauen oder Ziegen zum Feuertode oder Strange verurtheilt worden waren.

  1. [Anrede gewisser Geistlicher: »Ehrwürdiger Herr.« Anm. d. Uebers.]
  2. [ Lateinisch: Eine Rauferei, die nächste Folge der vielen guten Weine, die getrunken waren.]
  3. [Name einer berüchtigten Gasse.]
  4. [ Lateinisch: Wo die Welt ein Ende hat. Anm. d. Uebers.]
  5. [ Lateinisch: Das Erlaubte, das erlaubte Wissen.]
  6. [ Lateinisch: Das Unerlaubte, das verbotene Wissen, wie z. B. alle geheimen Wissenschaften (Alchymie, Zauberei etc.).]
  7. [Schüler und Anhänger des Hermes Trismegistos, des Vaters der (geheimen) Wissenschaften.]
  8. [Arabischer Arzt und Philosoph († 1225). Anm. d. Uebers.]
  9. [Palimpseste heißen die alten Pergamenthandschriften griechischer und römischer Klassiker, von denen mönchischer Unverstand im Mittelalter den Text entfernt hat, um Schreibmaterial für Heiligenlegenden u. s. w. zu gewinnen. Anm. d. Uebers.]
  10. [ Hugo II. de Bisuncio (1326-32). Anm. d. Autors.]
  11. [Die weiße, natürliche Zauberei, die nicht verpönt war (eine Art Chemie) bildete den Gegensatz zur schwarzen, höllischen Magie im Mittelalter. Anm. d. Uebers.]
  12. [ Lateinisch: Zu dem ganzen Tone (weil der Gregorianische Gesang, benannt nach Papst Gregor dem Großen, aus lauter gleichwerthigen, ganzen Tönen bestand). Anm. d. Uebers.]

4. Der Hund und sein Herr.

Dennoch gab es ein menschliches Wesen, welches Quasimodo von seiner Tücke und seinem Hasse gegen die übrigen Menschen ausgeschlossen hatte und das er ebenso sehr, vielleicht noch mehr, als seine Kathedrale liebte: das war Claude Frollo.

Die Sache war ganz einfach. Claude Frollo hatte ihn bei sich aufgenommen, ihn an Kindesstatt angenommen, ernährt und erzogen. Als kleines Kind hatte er die Gewohnheit, sich zwischen die Beine Claude Frollo’s zu flüchten, wenn Hunde und Kinder auf ihn Jagd machten. Claude Frollo hatte ihn sprechen, lesen und schreiben gelehrt. Endlich hatte ihn Claude Frollo zum Glockenläuter gemacht. Nun aber dem Quasimodo die große Glocke zum Bündnis zu geben, das hieß Julia dem Romeo geben.

Daher war Quasimodo’s Erkenntlichkeit eine tiefe, leidenschaftliche und grenzenlose; und wiewohl das Antlitz seines Pflegevaters oft finster und kalt, wiewohl seine Rede gewöhnlich kurz, hart und befehlerisch war, so hatte sich diese Erkenntlichkeit doch niemals auch nur einen Augenblick verläugnet. Der Archidiaconus hatte in Quasimodo den unterwürfigsten Sklaven, den gelehrigsten Diener, die wachsamste Dogge. Als der arme Glockenläuter taub geworden war, hatte sich zwischen ihm und Claude Frollo eine Zeichensprache gebildet, die geheimnisvoll war und nur von ihnen beiden verstanden wurde. In Folge davon war der Archidiaconus das einzige menschliche Wesen, mit dem Quasimodo im Verkehre geblieben war. Er stand demnach nur mit zwei Dingen dieser Welt in Verbindung: mit Notre-Dame und mit Claude Frollo. Nichts war mit der Herrschaft des Archidiaconus über den Glöckner, und nichts mit der Hingabe des Glöckners für den Archidiaconus zu vergleichen. Es hätte nur eines Zeichens von Seiten Claude’s und nur des Einfalles bedurft, daß es ihm Vergnügen mache – und Quasimodo hätte sich von der Höhe der Notre-Damethürme in die Tiefe gestürzt. Es war ein merkwürdiges Etwas um diese ganze physische Kraft, die bei Quasimodo zu einer so außergewöhnlichen Entwickelung gekommen und von ihm blind zur Verfügung eines andern gestellt war. Es lag dabei ohne Zweifel kindliche Hingabe und die Anhänglichkeit des Dieners an den Herrn zu Grunde, jedenfalls aber auch die Bezauberung eines Geistes durch einen andern. Es war ein elendes, linkisches und ungelenkes Geschöpf, welches mit gesenktem Haupte und stehenden Blicken vor einem erhabenen und tiefen, mächtigen und überlegenen Geiste dastand. Endlich, und vor allem, war es Erkenntlichkeit, eine Erkenntlichkeit, welche bis zur äußersten Grenze getrieben war, so daß wir sie mit nichts zu vergleichen wissen. Gehörte diese Tugend nun nicht zu denen, von welchen sich die schönsten Beispiele unter den Menschen finden? Wir müssen demnach sagen, daß Quasimodo den Archidiaconus liebte, wie nur jemals ein Hund, je ein Pferd, je ein Elephant seinen Herrn geliebt hat.

1. Der große Saal.

Heute vor dreihundertachtundvierzig Jahren sechs Monaten und neunzehn Tagen erwachten die Pariser unter dem Geläute aller Glocken, welche innerhalb des dreifachen Bereiches der Altstadt, Südstadt oder des Universitätsviertels und der Nordstadt mit lautem Schalle ertönten.

Und dennoch ist der 6. Januar 1482 kein Tag, von dem die Geschichte eine Erinnerung bewahrt hat. Nichts Merkwürdiges war an dem Ereignisse, welches seit dem Morgen die Glocken und die Bürger von Paris so in Bewegung und Erregung versetzte. Weder war es ein Ueberfall der Picarden oder der Burgunder, noch ein glänzender Jagdaufzug, noch ein Studententumult im Weingarten von Laas, noch ein Einzug »unseres allergnädigsten Herrn, des sehr gefürchteten Herrn Königs«, noch auch eine hübsche Aufknüpfung von Spitzbuben und Diebinnen im Gerichtshofe zu Paris. Nein, nicht einmal die im fünfzehnten Jahrhunderte so häufige Ueberraschung durch irgend welche verbrämte und mit Federbüschen geschmückte Gesandtschaft war es. Vor kaum zwei Tagen hatte der letzte derartige Aufzug, nämlich derjenige der flamländischen Gesandten, welche mit Abschließung des Ehebündnisses zwischen dem Dauphin und Margarethen von Flandern beauftragt waren, seinen Einzug in Paris gehalten, zum großen Verdrusse des Herrn Cardinals von Bourbon, welcher, dem Könige zu gefallen, dieser ganzen tölpelhaften Gesellschaft flamländischer Bürgermeister höflich begegnen und sie in seinem Palaste Bourbon mit einem »viel köstlichen Moralitätsspiele, Possen- und Schwankspiele« hatte unterhalten müssen, während ein Platzregen die prächtigen Teppiche vor seinem Thore überschwemmte.

Der 6. Januar, welcher »die ganze Bevölkerung von Paris in Bewegung brachte«, wie Jehan von Troyes erzählt, vereinigte seit undenklicher Zeit ein Doppelfest in sich: das des Königstages und des Narrenfestes.

An diesem Tage mußte es Freudenfeuer auf dem Grèveplatze, Maienaufpflanzung in der Kapelle Braque und geistliches Schauspiel im Justizpalaste geben. Am Abend vorher war es unter Trompetenschall in den Gassen durch des Herrn Oberrichters Leute in ihren Waffenröcken von violettem Camelot, mit großen weißen Kreuzen auf der Brust, ausgerufen worden.

Das Gedränge der Bürger und Bürgerinnen wogte also vom Morgen an, und nachdem Häuser und Verkaufsläden geschlossen waren, von allen Seiten nach einer der drei bezeichneten Stellen hin. Ein jeder hatte Partei genommen: der eine für das Freudenfeuer, der andere für die Maie, der dritte für das geistliche Schauspiel. Zum Ruhme des einfachen, gesunden Menschenverstandes der Pariser Maulaffen muß man sagen, daß der größte Teil der Menge seine Schritte nach dem Freudenfeuer lenkte, welches ganz zum Wetter paßte, oder nach dem Schauspiele, welches in dem wohl verdeckten und geschlossenen Saale des Palastes aufgeführt werden sollte; und daß die Schaulustigen übereingekommen waren, die arme, grüne Maie ganz allein unter dem Januarhimmel auf dem Kirchhofe der Kapelle Braque frieren zu lassen.

Das Volk wogte vornehmlich auf den Zugängen nach dem Justizpalaste, weil man wußte, daß die flamländischen Gesandten, welche vor zwei Tagen eingetroffen waren, sich entschlossen hatten, der Aufführung des Schauspiels und der Wahl des Narrenpapstes beizuwohnen, die gleichfalls im großen Saale stattfinden sollte.

Es war kein leichtes Vorhaben, an diesem Tage in jenen Saal zu gelangen, welcher damals für den größten bedeckten Raum, der in der Welt war, galt (freilich hatte Sauval den großen Saal des Schlosses Montargis noch nicht ausgemessen). Der menschenbedeckte Platz vor dem Palaste bot den Schaulustigen an den Fenstern den Anblick eines Meeres dar, in welches fünf bis sechs Straßen als ebenso viele Strommündungen jeden Augenblick neue Fluten von Köpfen ergossen. Die Wogen dieser unaufhörlich zunehmenden Menge brachen sich an den Ecken der Häuser, welche hier und da, wie ebenso viele Vorgebirge in das unregelmäßige Becken des Platzes hervortraten. In der Mitte der hohen gothischen 2 Façade des Palastes wogte die große Treppe unaufhörlich ein Doppelstrom auf und ab, welcher, nachdem er sich unter dem Zwischenperron gebrochen hatte, in großen Wellen auf seine beiden Seitentreppen hinströmte; ohngefähr, behaupte ich, wie eine Cascade in einen See spie die große Treppe unaufhörlich Menschen auf den Platz. Das Schreien, Lachen, Stampfen dieser Tausende von Füßen verursachte einen großen Lärm und mächtiges Toben. Von Zeit zu Zeit verdoppelten sich dieses Toben und Lärmen, sobald der Strom, welcher die ganze Menschenmasse nach der großen Treppe zu trieb, zurückprallte, durcheinander wogte und wirbelte; oder wenn ein Häscher Rippenstöße vertheilte, oder das Pferd eines Sergeanten vom Gerichtsamte hinten ausschlug, um die Ordnung wieder herzustellen: – eine herrliche Ueberlieferung, welche das Obergerichtsamt an die Landreiter, und die Landreiter an unsere Pariser Gendarmerie vererbt haben.

An den Thüren, in den Fenstern, an den Dachluken, auf den Dächern wimmelte es von Tausenden jener guten, ruhigen, rechtlichen Bürgergestalten, welche den Palast betrachteten, das Gedränge beobachteten und nichts weiter verlangten; denn sehr viele Leute in Paris sind schon zufrieden, Zuschauer von Zuschauern sein zu können, und für manche von uns ist schon eine Mauer, hinter der sich etwas ereignet, eine sehr merkwürdige Sache.

Wenn es uns, den Menschen von 1830, erlaubt wäre, im Gedanken uns unter diese Pariser des fünfzehnten Jahrhunderts zu mischen, und mit ihnen, gedrängt, gestoßen und getreten in den ungeheuern Saal des Palastes einzudringen, welcher am 6. Januar 1482 so beengt war, – dies Schauspiel würde für uns nicht ohne Reiz und Vergnügen sein, und wir würden so viel alterthümliche Gegenstände rings um uns erblicken, daß sie uns ganz neu erscheinen müßten.

Wenn es dem Leser recht ist, wollen wir versuchen, den Eindruck zu schildern, den er beim Eintritt in diesen Saal, mitten unter den Schwarm in Wamms, in Jacke und in Weiberrock mit uns empfangen haben würde.

Schon von vornherein sind unsere Ohren betäubt, unsere Augen geblendet. Ueber unseren Köpfen befindet sich ein doppelbogiges Gewölbe, mit Holzbildschnitzereien vertäfelt, azurblau gemalt und mit goldenen Blumen geschmückt; unter unseren Füßen ein abwechselnd aus weißem und schwarzen Marmor zusammengesetzter Boden. Einige Schritte von uns erhebt sich ein riesiger Pfeiler, dann ein zweiter, dann noch einer: im ganzen sieben Pfeiler in der Länge des Saales, der mitten in seiner Breite die Schwibbogen der Doppelwölbung trägt. Rings um die vier ersten Pfeiler stehen Kramläden, die von Glas und Flittertand glänzen, um die drei Letzten Bänke von Eichenholz, die von den Hosen der Processirenden und den Amtskleidern der Sachwalter abgenutzt und glatt gesessen sind. Ringsum im Saale, längs der hohen Wände, zwischen den Thüren, den Nischen und den Pfeilern befinden sich in unabsehbarer Reihe die Statuen aller Könige Frankreichs seit Pharamund: die schwachen Regenten unter ihnen mit herabhängenden Armen und gesenkten Blicken; die tapferen, schlachtberühmten mit muthig zum Himmel erhobenem Haupte und Händen. In den hohen Rundbogenfenstern aber glänzen tausendfarbige Scheiben; an den breiten Ausgängen des Saales sehen wir reiche Thüren mit schöner Holzschnitzerei; und das Ganze: Gewölbe, Pfeiler, Wände, Simswerk, Täfelung, Thüren und Statuen, ist von oben bis unten mit glänzender Malerei in Blau und Gold bedeckt, welche, als schon ein wenig gedunkelt in dem Zeitraume wo wir sie sehen, im Jahre der Gnade 1549, wo Du Breul sie nach der Überlieferung noch bewunderte, fast ganz unter dem Staube und den Spinneweben verschwunden war. Nun denke man sich diesen ungeheuren Saal in rechteckiger Gestalt erleuchtet von dem matten Lichte eines Januartages, überschwemmt von einer lärmenden und bunten Menge, die längs der Wände hinflutend um die sieben Pfeiler brandet, und man wird einen allgemeinen Eindruck von dem ganzen Gemälde haben, das wir in seinen merkwürdigen Einzelnheiten zu schildern versuchen wollen.

Sicher ist, daß, wenn Ravaillac Heinrich den Vierten überhaupt nicht ermordet hätte, es gar keine Proceßacten Ravaillacs, die in der Kanzlei des Justizpalastes lagen, gegeben haben würde; daß keine Mitschuldigen Interesse daran gehabt hätten, die genannten Acten verschwinden zu lassen; folglich keine Brandstifter erforderlich waren, um, mangels eines bessern Mittels, die Kanzlei anzuzünden, um die Acten zu verbrennen, und den Justizpalast einzuäschern, um die Kanzlei mit Feuer zu vernichten; in Folge wovon es schließlich 1618 keine Feuersbrunst gegeben hätte. Der alte Palast mit seinem alten großen Saale würde noch stehen, und ich könnte zum Leser sprechen: »Geh hin und sieh ihn an«; und wir würden demnach alle beide überhoben sein: ich, eine Beschreibung zu geben, und er, eine mittelmäßige Beschreibung zu lesen. – Diese neue Wahrheit beweist, daß große Ereignisse unberechenbare Folgen haben.

Freilich würde es sehr wohl möglich sein können, sobald Ravaillac keine Mitschuldigen hatte; hernach, daß seine Mitschuldigen, sofern er solche zufällig hatte, beim Brande von 1618 umsonst waren. Es giebt dafür zwei andere sehr annehmbare Erklärungen. Erstens: den großen flammenden Stern von ein Fuß Breite und einer Elle Höhe, der, wie jedermann weiß, am 7. März nach Mitternacht vom Himmel auf den Palast fiel. Zweitens: den vierzeiligen Vers Theophiles:

Der Spaß war wahrlich theuer,
Als in Paris der Dame Recht
Vom zu viel Schlingen wurde schlecht,
Der Palast ganz aufging in Feuer.

Was man von dieser dreifachen politischen, natürlichen und poetischen Erklärung des Brandes des Justizpalastes im Jahre 1618 auch denken mag, die unglücklicherweise feststehende Thatsache ist der Brand. Heute ist nur noch sehr wenig vorhanden, Dank diesem Unglücke, Dank vornehmlich den verschiedenen Wiederherstellungsversuchen im Laufe der Zeit, welche vollends zu Grunde gerichtet haben, was er verschont hatte; es ist nur noch sehr wenig von diesem ersten Aufenthaltsorte der französischen Könige, von diesem ursprünglichen Palastbaue des Louvre übrig, der schon zu Philipps des Schönen Zeit so alt war, daß man hier nach den Spuren der prächtigen Bauten forschte, die vom König Robert aufgeführt und von Helgaldus beschrieben worden sind. Fast alles ist verschwunden. Was ist aus dem Zimmer der Kanzlei geworden, wo der heilige Ludwig »seine Ehe vollzog«? Was aus dem Garten, wo er Recht sprach, »angethan mit einem Camelotrocke, mit einem grobwollenen Obergewande ohne Aermel, und mit einem Mantel darüber von schwarzem Sandal, auf Teppichen liegend mit Joinville«? Wo ist das Zimmer des Kaisers Sigismund? Dasjenige Karls des Vierten? Dasjenige Johanns ohne Land? Wo ist die Treppe, von welcher Karl der Sechste sein Gnadenedict verkündete? Die Steinplatte, wo Marcel, in Gegenwart des Dauphins, den Robert von Clermont und den Marchal von Champagne erwürgte? Das Pförtchen, wo die Bullen des Gegenpapstes Benedikt zerrissen wurden, und aus welchem diejenigen mit Spottchorröcken und Bischofsmützen angethan heraustraten, welche sie überbracht hatten, und welche öffentliche Buße durch ganz Paris thaten? Und wo der große Saal mit seiner Vergoldung, seinem Azurblau, seinen Spitzbogen, seinen Statuen, seinen Pfeilern; wo sein ungeheures Gewölbe, das von Steinmetzarbeiten ganz überzogen war? Und das vergoldete Zimmer? Und der steinerne Löwe, der an der Thür stand, mit gesenktem Kopfe, den Schwanz zwischen den Beinen, wie die Löwen an Salomo’s Throne, in der demüthigen Stellung, welche sich für die Stärke vor der Gerechtigkeit schickt? Und wo die schönen Thüren, und die farbenprächtigen Fenster? Wo die getriebenen Eisenbeschläge, welche Biscornette abschreckten? Und die zierlichen Schreinerarbeiten Du Hancys?… Was hat die Zeit, was haben die Menschen aus diesen Wunderwerken gemacht? Was hat man uns für alles das gegeben; für jene ganze Geschichte unserer Vorfahren, für jene ganze gothische Kunst? Die plumpen Halbwölbungen des Herrn de Brosse, dieses ungeschickten Baumeisters des Portals von Saint-Gervais – das hat man uns für die Kunst gegeben; und was die Geschichte betrifft, so haben wir die geschwätzigen Erinnerungen der dicken Schandsäule, die noch völlig wiederhallt von dem Altweibergewäsch der Leute wie Patru. 3 Das hat keine Bedeutung. – Wir wollen zu dem wirklichen großen Saale in dem wirklichen alten Palaste zurückkehren.

Die beiden Endseiten dieses gigantischen Rechtecks waren gleichfalls nicht frei: die eine war von der berühmten Marmorplatte aus einem Stücke eingenommen, welche so lang, breit und dick war, wie man sie niemals gesehen hat, erzählen die alten Grundbuchacten in einem Stile, der die Begierde Gargantua’s, »eines ähnlichen Marmorblockes in der Welt« gereizt haben würde; an der andern Seite befand sich die Kapelle, in welcher Ludwig der Elfte, auf den Knien vor der heiligen Jungfrau liegend, sich in Marmor hatte abkonterfeien lassen, und wohin er, unbekümmert, daß zwei Nischen in der Reihe der königlichen Standbilder leer würden, diejenigen Karls des Großen und des heiligen Ludwig hatte bringen lassen, – zwei Heilige, von denen er glaubte, daß sie als Könige von Frankreich im Himmel großes Ansehn hätten. Diese noch neue, kaum seit sechs Jahren fertige Kapelle war ganz im reizenden Geschmacke jener feinen Bauart und wunderbaren Meisel- und Grabstichelarbeit ausgeführt, die in Frankreich das Ende der gothischen Bauperiode kennzeichnet, und bis zur Mitte des sechzehnten Jahrhunderts in den zauberischen Phantasiespielen der Renaissance fortdauert. Die kleine, durchbrochene Rosette über dem Portale besonders war ein Meisterwerk von Zartheit und Anmuth: man hätte sie für einen Stern aus Spitzen halten mögen.

Mitten im Saale, der großen Thür gegenüber, war eine mit Goldbrokat bedeckte Erhöhung, die bis an die Mauer reichte, errichtet worden, und auf ihr durch ein Fenster aus dem Gange zu dem sogenannten goldenen Zimmer, ein besonderer Eingang für die flamländischen Gesandten und andere hohe Personen hergestellt, die zur Aufführung des Schauspieles geladen worden waren.

Dieses Schauspiel mußte dem Herkommen gemäß auf der Marmorplatte aufgeführt werden. Am Morgen war sie dazu hergerichtet worden; die große Marmorfläche, die von den Absätzen der Parlamentsschreiber ganz zerritzt war, trug ein ziemlich hohes Balkengerüst, dessen Oberfläche, vom ganzen Saale aus sichtbar, als Theater dienen sollte, während sein mit Teppichen ringsum verhängtes Innere für die Personen des Stückes als Ankleidezimmer herhalten mußte. Eine Leiter, die offenherzig außerhalb angebracht war, sollte die Communication zwischen Scene und Ankleidezimmer unterhalten, und ihre steilen Sprossen den auf- und abtretenden Personen herleihen. Da gab es keine so plötzliche Erscheinung, keine Entwicklung im Schauspiel, keinen Theatereffect, der nicht gezwungen gewesen wäre, auf der Leiter hinaufzuklettern. – O du unschuldige, theuere Einfalt in Kunst und Maschinerien!

Vier Diener des Gerichtsvogtes, die gewöhnlichen Aufseher aller Volksbelustigungen sowohl an den Festtagen, als an den Hinrichtungstagen, standen an den vier Ecken der Marmorplatte. Erst mittags, beim zwölften Glockenschlage auf der großen Palastuhr sollte das Stück beginnen. Das war freilich recht spät für eine Theateraufführung; aber man hatte auf die Zeit der Gesandtschaft Rücksicht zu nehmen.

Nun wartete diese ganze Menge schon seit dem Morgen. Eine gute Anzahl dieser neugierigen Spießbürger fror seit Tagesanbruch vor der großen Treppe des Palastes; ja, einige versicherten, die ganze Nacht dem Thore gegenüber zugebracht zu haben, um sicher zuerst den Saal zu betreten. Die Menge wurde jeden Augenblick dichter, und wie ein Gewässer, das sein Bett verläßt, fing sie an längs der Wände in die Höhe zu steigen, um die Säulen herum anzuschwellen, an den Täfelungen, Karnießen, Fensterbrettern, an allen Vorsprüngen der Architektur und an allen Erhöhungen der Bildhauerarbeit hinaufzusteigen. Dazu der Zwang, die Ungeduld, die Langeweile, die Zügellosigkeit eines frechen Narrenfestes, die Streitigkeiten, welche bei jeder Gelegenheit wegen eines spitzen Ellenbogens, eines eisenbeschlagenen Schuhes ausbrachen, das ermüdend lange Warten, – alles das gaben schon lange vor der Zeit, in welcher die Gesandtschaften anlangen sollten, dem Geschrei dieses eingeschlossenen, eingepferchten, gequetschten, erstickten Volkes einen scharfen und bittern Ausdruck. Man hörte nur Klagen oder Verwünschungen gegen die Flamländer, gegen den Oberbürgermeister, den Cardinal von Bourbon, den Palastvogt, gegen Madame Margarethe von Oestreich, gegen die Polizisten, über Kälte, Hitze und schlechtes Wetter, gegen den Bischof von Paris, gegen den Narrenpapst, gegen die Pfeiler und Statuen, gegen diese verschlossene Thür und jenes offene Fenster, – alles das zur großen Belustigung der unter der Volksmenge zerstreuten Studenten- und Bedientenrudel, welche diese Unzufriedenheit durch ihre boshaften Neckereien erhöhten, und die allgemeine Mißstimmung, so zu sagen, mit Nadelstichen reizten.

Unter anderen befand sich ein Haufe dieser lustigen Teufel, welche die Scheiben eines Fensters eingestoßen und sich keck auf das Gesims gesetzt hatten, und von wo aus sie ihre Blicke und Spöttereien abwechselnd bald nach innen, bald nach außen, auf die Menge im Saale und auf die des Platzes hinschickten. An ihren äffenden Geberden, an ihrem lauten Gelächter, an den spöttischen Zurufen, welche sie von einem Ende des Saales bis zum andern mit ihren Kameraden wechselten, konnte man leicht erkennen, daß diese jungen Gelehrten nicht die Langeweile und die Ermüdung der übrigen Anwesenden theilten, sondern daß sie recht gut verstanden, bei dem, was unter ihren Augen vorging, zu ihrem Privatvergnügen ein Schauspiel zu genießen, welches sie das andere geduldig erwarten ließ.

»Bei meiner Seele, Ihr seid’s, Johannes Frollo de Molendino!« rief einer von ihnen einer Art kleinem blonden Teufel mit hübschem und schalkhaften Gesichte zu, der sich an das Laubwerk eines Säulenknaufes angeklammert hatte, »Ihr heißt ganz richtig Mühlenhannes, denn Eure zwei Arme und Beine sehen ganz wie vier Flügel aus, die im Winde tanzen. Seit wie lange seid Ihr hier?«

»Bei der Gnade des Teufels,« antwortete Johannes Frollo, »seit mehr als vier Stunden, und ich hoffe mit Recht, daß sie mir dereinst auf meine Fegefeuerzeit angerechnet werden. Ich habe um Sieben die acht Sänger des Königs von Sicilien die erste Strophe des Hochamts in der heiligen Kapelle anstimmen hören.«

»Schöne Sänger das!« versetzte der andere, »und die eine noch spitzere Stimme haben, als ihre Mütze. Ehe der König dem heiligen Herrn Johannes eine Messe stiftete, hätte er sich erst erkundigen sollen, ob der heilige Herr Johannes lateinischen Psalmengesang mit provençalischem Accent vertragen kann.«

»Blos um die verdammten Sänger des Königs von Sicilien anzubringen, hat er das gethan,« rief ärgerlich ein altes Weib in der Menge unter dem Fenster. »Ich frage Euch nur! tausend Livres Pariser Münze für eine Messe! Und außerdem die Pachtung des Seefisches in den Markthallen von Paris auch noch!«

»Ruhig, Alte!« versetzte ein dicker ernsthafter Mann, welcher sich neben dem Fischweibe die Nase zuhielt, »er mußte wohl eine Messe stiften. Möchtet Ihr etwa, daß der König wieder krank würde?«

»Brav gesprochen, Herr Gilles Lecornu, Meister Hofkürschner!« rief der kleine Student, der am Säulenknaufe sich angeklammert hatte.

Ein lautes Gelächter aller Studenten bewillkommnete den unglücklichen 4 Namen des armen Hofkürschners.

»Lecornu! Gilles Lecornu!« riefen die einen.

»Cornutus et hirsutus,« 5 entgegnete ein anderer.

»Ei gewiß,« fuhr der Kleine oben auf dem Säulenknaufe fort. »Was ist da zu lachen? Ein Ehrenmann, der Gilles Lecornu, der Bruder des Meisters Johann Lecornu, des Profoß im königlichen Palaste, der Sohn vom Meister Mahiet Lecornu, dem Oberwaldhüter im Gehölz von Vincennes, – alles Bürger von Paris, alle verheirathet vom Vater bis zum Sohne!«

Die Ausgelassenheit verdoppelte sich. Der dicke Kürschner bemühte sich, ohne ein Wort zu sprechen, den Blicken sich zu entziehen, die überallher auf ihn gerichtet waren; – aber vergebens schwitzte und keuchte er: wie ein Keil, der ins Holz getrieben wird, dienten die Anstrengungen, die er machte, nur dazu, sein breites, aufgedunsenes, vor Zorn und Aerger purpurrotes Gesicht noch fester zwischen die Schultern seiner Nachbarn einzuklemmen. Endlich kam ihm einer von diesen, welche kurz, dick und ansehnlich wie er waren, zu Hilfe.

»Abscheulich! Schuljungen, die so mit einem Bürger sprechen! Zu meiner Zeit hätte man sie mit Ruthen ausgepeitscht, und dann hätte man sie verbrannt.«

Die ganze Bande brach nun los.

»Holla he! wer liest da einem den Text? Wer ist der Unglücksrabe?«

»Warte, ich kenne ihn,« sagte ein anderer, »es ist Meister Andry Musnier.«

»Jawohl, es ist einer von den vier geschworenen Universitätsbuchhändlern,« sagte ein anderer.

»Alles ist vierfach in dieser Bude,« schrie ein dritter, »die vier Nationen, die vier Facultäten, die vier Feste, die vier Procuratoren, die vier Wahlmänner, die vier Buchhändler.«

»Nun wohl,« entgegnete Johann Frollo, »man muß ihnen auch den Teufel vervierfachen.«

»Musnier, wir werden deine Bücher verbrennen.«

»Musnier, wir werden deinen Diener prügeln.«

»Musnier, wir werden deine Frau zerdrücken.«

»Die gute, dicke Frau Oudarde.«

»Die so frisch und so lustig ist, als wäre sie Witwe.«

»Möge der Teufel euch holen!« brummte Meister Andry Musnier.

»Meister Andry,« fing Johann wieder an, welcher immer noch an seinem Säulenknaufe hing, »sei stille, oder ich falle dir auf den Kopf!«

Meister Andry hob die Augen auf, schien einen Augenblick die Höhe des Pfeilers, die Schwere des Burschen zu taxiren, multiplicirte in Gedanken diese Schwere mit dem Quadrate der Geschwindigkeit, und schwieg.

Johann, Herr des Schlachtfeldes, fuhr triumphirend fort:

»Ja, das würde ich thun, obgleich ich der Bruder eines Archidiaconus bin!«

»Schöne Herren, unsere Leute von der Universität! nicht einmal an einem Tage, wie dem heutigen, unsere Privilegien in Ruhe zu lassen! Kurz, in der Nordstadt giebt’s Maifest und Freudenfeuer, in der Altstadt Schauspiel, Narrenpapst und flamländische Gesandte, und im Universitätsviertel – nichts!«

»Und doch ist der Maubertsplatz groß genug!« entgegnete einer von den Burschen, die auf dem Fensterbrette campirten.

»Nieder mit dem Rector, mit den Wahlmännern, mit den Procuratoren!« rief Johann.

»Diesen Abend wird man im Champ-Gaillard ein Freudenfeuer machen müssen,« fuhr der andere fort, »mit den Büchern Meister Andry’s.«

»Und mit den Pulten der Schreiber,« sagte sein Nachbar.

»Und den Stöcken der Pedelle!«

»Und den Spucknäpfen der Decane!«

»Und den Aktenschränken der Procuratoren!«

»Und den Kasten der Wahlmänner!«

»Und den Fußschemeln des Rectors!«

»Nieder!« rief der kleine Johann mit falscher Baßstimme, »nieder mit Meister Andry, mit den Pedellen und Schreibern, nieder mit den Theologen, Medicinern und Decretisten; mit den Procuratoren, den Wahlmännern und mit dem Rector!«

»Das ist ja das Weltende!« murmelte Meister Andry, indem er sich die Ohren verstopfte.

»Ei seht da, der Rector! Da geht er auf dem Platze,« rief einer von denen im Fenster. Die Folge war, daß sich alles nach dem Platze wandte.

»Ist das wirklich unser ehrwürdiger Rector, Meister Thibaut?« fragte Johann Frollo du Moulin, der an einem Pfeiler im Innern hängend, nicht sehen konnte, was draußen vorging.

»Ja, ja,« antworteten alle andern, »gewiß, er ist es, Meister Thibaut, der Rector.«

Es war in der That der Rector mit allen Würdenträgern der Universität, welche in feierlichem Zuge der Gesandtschaft entgegengingen, und in diesem Augenblicke den Platz des Palastes überschritten. Die in das Fenster gedrängten Studenten empfingen sie beim Vorübergehen mit Spottreden und ironischem Beifallsgeschrei. Der Rector, welcher dem Zuge voranschritt, erhielt die erste Salve; sie war stark.

»Guten Tag, Herr Rector! Holla! ei! Guten Tag denn!«

»Wie kommt es, daß er hier ist, der alte Spieler? Er hat also seine Würfel verlassen?«

»Wie er auf seinem Maulesel einhertrottet! der hat weniger lange Ohren, als er.«

»Holla, he! Guten Tag, Herr Rector Thibaut! Tybalde aleator! 6 Alter Esel, alter Spieler!«

»Gott schütze Euch! Habt Ihr vergangene Nacht oft Doppel-Sechs geworfen?«

»O! seht einmal das hinfällige, bleifarbige, matte Gesicht, mit den Spuren der Spielwuth darin!«

»Wo geht es jetzt hin, Thibaut, Tybalde ad clades, 7 weil Ihr der Universität den Rücken zugekehrt habt und nach der Stadt trabt?«

»Zweifelsohne will er eine Wohnung in der Straße Thibautodé 8 suchen,« schrie Johann du Moulin.

Die ganze Bande wiederholte den faulen Witz mit donnerndem Geschrei und wüthenden Händeklatschen.

»Ihr wollt Euch in der Straße Thibautodé Wohnung suchen, nicht wahr, Herr Rector, Ihr Spielcumpan des Teufels?«

Dann kamen die andern Würdenträger an die Reihe.

»Nieder mit den Pedellen! nieder mit den Stabträgern!«

»Sage mir doch, Robin Poussepain, wer ist denn jener dort?«

»Das ist Gilbert von Suilly, Gilbertus de Soliaco, der Kanzler des Collegiums Autun.«

»Da hast du meinen Schuh: wirf ihn diesem an den Kopf; du hast einen bequemeren Platz als ich.«

» Saturnalitias mittimus ecce nuces9

»Nieder mit den sechs Theologen in ihren weißen Chorhemden!«

»Das dort sind die Theologen? – Ich dachte, es wären die sechs weißen Gänse, welche Sanct Genoveva der Stadt für das Lehngut von Roogny geweiht hat.«

»Nieder mit den Medicinern!«

»Fort mit den schwerfälligen und abgeschmackten Redeübungen!«

»Da fliegt dir meine Mütze an den Kopf, Kanzler von Sanct Genoveva! Du hast mir Unrecht gethan.«

»Jawohl! er hat meine Stelle in der normannischen Landsmannschaft dem kleinen Ascanio Falzaspada gegeben, der zur Provinz Bourges gehört, weil er ein Italiener ist.«

»Das ist eine Ungerechtigkeit,« sagten alle Studenten. »Nieder mit dem Kanzler von Sanct Genoveva!«

»Ho he! Meister Joachim von Ladehors! Ho he! Ludwig Dahuille! Ho he! Lambert Hoctement!«

»Hole der Teufel den Procurator der deutschen Landsmannschaft!«

»Und die Kapläne der heiligen Kapelle in ihren grauen Pelzmänteln, cum tunicis grisis

» Seu de pellibus grisis fourratis!« 10

»Holla, seht, die Meister der freien Künste! Die ganzen schönen Schwarz- und Rothmäntel!«

»Die bilden einen schönen Schweif für den Rector!«

»Man möchte ihn für einen Dogen von Venedig halten, der sich mit dem Meere vermählen will.«

»Sind das die Canonici von Sanct Genoveva, Johann?«

»Zum Teufel mit den Canonicis!«

»Abt Claude Choart! Doctor Claude Choart! sucht Ihr Marie la Giffarde?«

»Sie wohnt in der Straße Glatigny.«

»Sie macht dem Hurenkönige das Bett.«

»Sie zahlt ihre vier Heller; quator denarios.«

»Aut unum bombum!«

»Soll sie Euch hinter die Ohren bezahlen?«

»Kameraden! Meister Simon Sanguin, der Wahlmann der Picarden, der seine Frau hinter sich auf dem Pferd hat!«

» Post equitem sedet atra cura« 11

»Muthig, Meister Simon!«

»Guten Tag, Herr Wahlmann!«

»Gute Nacht, Frau Wählerin!«

»Sind die doch glücklich, alles sehen zu können,« seufzte Johannes de Molendino, der immer noch am Blätterwerke seines Säulenknaufes hing.

Währenddem neigte sich Meister Andry Musnier, der geschworene Universitätsbuchhändler, zum Ohre des Hofkürschners, Meister Gilles Lecornu.

»Ich sage Euch, Herr, es ist das Ende der Welt da. Man hat wohl niemals solche Zügellosigkeiten der Studentenschaft gesehen! Das kommt aber von den verfluchten Erfindungen dieses Jahrhunderts, die noch alles verderben: von den Geschützen, Feldschlangen und Donnerbüchsen, und vor allem vom Buchdruck, dieser zweiten deutschen Pest. Giebt’s keine Manuscripte mehr, giebt’s keine Bücher mehr! Der Buchdruck vernichtet den Buchhandel. Das Ende der Welt ist nahe.«

»Ich merke es auch recht am Überhandnehmen der Sammetstoffe,« sagte der Pelzhändler.

In demselben Augenblicke schlug es Zwölf.

»Ah!…« machte der ganze Haufe mit einem Munde.

Die Studenten schwiegen. Nun entstand eine große Verwirrung, eine geräuschvolle Bewegung der Füße und der Köpfe, ein starkes, allgemeines Gehuste und Geschneuze; jeder stellte sich zurecht, richtete sich in die Höhe. Nun tiefes Schweigen; alle Hälse blieben gereckt, alle Mäuler offen, alle Blicke nach der Marmortafel gerichtet … nichts war dort zu sehen. Die vier Diener des Vogtes waren immer noch da, starr und unbeweglich, wie vier bemalte Statuen. Alle Augen wandten sich nach der, für die flamländischen Gesandten bestimmten Tribüne. Die Thür blieb geschlossen, und die Tribüne leer. Diese Menschenmasse erwartete nun seit der Frühe dreierlei: die Mittagsstunde, die flandrische Gesandtschaft, das geistliche Schauspiel. Der Mittag allein war da, auf die Minute. Das war für diesmal zu viel!

Man wartete eine, zwei, drei, fünf Minuten, eine Viertelstunde: nichts kam. Die Tribüne blieb leer, das Theater stumm. Da folgte der Ungeduld der Zorn auf dem Fuße nach. Gereizte Worte flogen umher, allerdings noch mit leiser Stimme. »Das Schauspiel! das Schauspiel!« murmelte man dumpf. Die Köpfe erhitzten sich. Eine Wetterwolke, die nur erst noch grollte, zog über die Häupter dieser Menge hin und her.

Johann du Moulin war es, der ihr den ersten Funken entlockte.

»Das Schauspiel, und zum Teufel mit den Flamländern!« schrie er aus Leibeskräften, indem er sich wie eine Schlange um seinen Säulenknauf wand.

Die Menge klatschte in die Hände.

»Das Schauspiel,« wiederholte sie, »und mit Flandern zu allen Teufeln!«

»Wir müssen das Stück auf der Stelle haben,« fuhr der Student fort, »oder ich bin der Ansicht, wir hängen den Palastvogt, als Ersatz für Lustspiel und Schauspiel.«

»Wohl gesprochen,« schrie das Volk, »und laßt uns mit den Gerichtsdienern das Hängen beginnen.«

Rauschender Beifall folgte. Die vier armen Teufel fingen an blaß zu werden und sich gegenseitig anzusehen. Die Menge drang auf sie ein, und sie sahen schon das schwache Holzgeländer, das sie von ihr trennte, sich biegen und unter dem Drängen der Menge zusammenbrechen. Der Augenblick war kritisch.

»Drauf! drauf!« schrie man von allen Seiten.

In diesem Augenblicke hob sich der Teppich des Ankleidezimmers, welches wir oben beschrieben haben, und ließ eine Person herein, deren bloßer Anblick die Menge plötzlich zum Stehen brachte, und wie mit einem Zauberschlage ihren Zorn in Neugierde verwandelte.

»Still! still!«

Die Person trat, ziemlich bestürzt und an allen Gliedern zitternd, an den Rand der Marmorplatte unter vielen Verbeugungen, die, je näher sie kam, zu förmlichen Kniebeugungen wurden.

Indessen war die Ruhe nach und nach wieder hergestellt. Nur jenes leise Geräusch blieb übrig, das selbst noch beim Schweigen der Menge vernommen wird.

»Meine Herren Bürger,« sagte die Person, »und meine werthen Bürgerinnen, wir sollen die Ehre haben, ein sehr schönes Schauspiel mit Namen: »Das gerechte Urtheil unserer lieben Jungfrau Maria« vor Seiner Eminenz dem Herrn Cardinal vortragen und aufführen. Ich selbst gebe den Jupiter. Seine Eminenz begleitet in diesem Augenblicke die sehr ehrenwerthe Gesandtschaft des Herrn Herzogs von Oesterreich; diese ist gegenwärtig noch an der Pforte Baudets aufgehalten, um die Begrüßungsrede des Herrn Universitätsrectors anzuhören. Sobald der hochwürdigste Herr Cardinal angekommen sein wirb, wollen wir anfangen.«

Sicherlich bedurfte es nichts weniger, als der Dazwischenkunft Jupiters, um die vier unglücklichen Diener des Palastvogtes vom Verderben zu retten. Wenn wir das Glück hätten, diese sehr glaubwürdige Geschichte erfunden zu haben, und folglich vor unserer Dame, der Kritik, dafür verantwortlich zu sein, so könnte man sich in diesem Augenblicke uns gegenüber nicht auf die klassische Vorschrift berufen: » Nec deus intersit.« 12

Uebrigens war das Costüm des Herrn Jupiter sehr schön, und hatte nicht wenig dazu beigetragen, die Menge zu beruhigen, deren ganze Aufmerksamkeit er auf sich zog. Herr Jupiter war in ein Panzerhemd aus schwarzem Sammet, der mit vergoldeten Nägeln beschlagen war, gekleidet; er trug einen Helm mit vergoldeten Silberknöpfen auf dem Kopfe; und wäre der rothe und lange Bart, welcher die Hälfte seines Gesichts bedeckte, wäre die Rolle vergoldeter Pappe nicht gewesen, die er, mit eisernen Haken übersäet und starrend von Flittergoldstreifen, in der Hand trug, und in welchem geübte Augen leicht den Blitzstrahl erkennen konnten; wären die fleischfarbenen, nach griechischer Weise bebänderten Beine nicht gewesen, er hätte wegen der Ernsthaftigkeit seiner Haltung mit einem bretonischen Bogenschützen vom Corps des Herrn von Berry den Vergleich aushalten können.

  1. [Das Wort »gothisch« ist in dem Sinne, in welchem man es gewöhnlich gebraucht, völlig falsch, aber ebenso geheiligt. Wir acceptiren es also, und gebrauchen es, wie alle Welt, um die Baukunst der zweiten Hälfte des Mittelalters zu kennzeichnen: diejenige nämlich, bei welcher der Spitzbogen die Grundlage bildet, und welche auf die Baukunst der ersten Periode folgt, bei welcher der Rundbogen das Princip ist. Anm. d. Verfassers.]
  2. [Patru, Olivier, französischer Schriftsteller und Advocat (1604-81).]
  3. [Lecornu = der Gehörnte (oder der Hahnrei).]
  4. [ Lateinisch: der Gehörnte und Struppige.]
  5. [ Lateinisch: Thibaut, du Spieler!]
  6. [Lateinisch: Thibaut, zu Verlusten.]
  7. [Thibautodé: ein Wortwitz = Thibaut aux dés: Thibaut bei den Würfeln. Anm. d. Uebers.]
  8. [ Lateinisch (in freier Übersetzung): Heute giebt’s faule Aepfel an den Kopf.]
  9. [ Lateinisch: Oder in ihren grauen, pelzgefütterten Mänteln. Anm. d. Uebers.]
  10. [ Lateinisch: Hinter dem Reiter sitzt die finstre Sorge. Anm. d. Uebers.]
  11. [ Lateinisch: Kein Gott soll die Hand im Spiele haben. Anm. d. Uebers.]

3. Immanis pecoris custos, immanior ipse. 79

Nun, im Jahre 1482, war Quasimodo herangewachsen. Er war seit mehreren Jahren Glöckner von Notre-Dame, Dank seinem Pflegevater Claude Frollo, welcher Archidiaconus von Josas durch seinen Oberlehnsherrn Louis von Beaumont geworden war, der dagegen 1472, nach Wilhelm Chartiers Tode, durch Vermittlung seines Gönners Olivier Le-Daim, des Barbiers König Ludwigs des Elften von Gottes Gnaden, Bischof von Paris geworden war.

Quasimodo war also Glockenläuter von Notre-Dame.

Mit der Zeit hatte sich ein gewisses inniges Band gebildet, welches den Glöckner mit der Kirche verband. Auf immer von der Welt geschieden durch das zwiefache Mißgeschick seiner unbekannten Herkunft und seiner verkrüppelten Leibesbeschaffenheit, von Kindesbeinen an in diesen unüberschreitbaren Doppelkreis gebannt, hatte sich der arme Unglückliche daran gewöhnt, jenseits der frommen Mauern, die ihn in ihren Schatten aufgenommen, nichts von dieser Welt kennen zu lernen. Notre-Dame war, je nachdem er heranwuchs und sich entwickelte, für ihn nach einander das Ei, Nest, Haus, Vaterland und Weltall geworden.

Und sicher ist, daß zwischen diesem Geschöpfe und dieser Kirche eine Art geheimer und vorher bestehender Harmonie bestand. Als er, noch ganz klein, schlangenartig und sprungweise unter ihren düstern Wölbungen sich hinschlich, so erschien er mit seinem menschlichen Antlitze und seinem thierischen Gliederbau als das leibhafte Reptil dieses feuchten und dunkeln Bodens, auf welchen der Schatten der romanischen Säulenkapitäle in so vielen seltsamen Figuren niederfiel.

Später, als er sich maschinenmäßig zum ersten Male an dem Glockenstrange festhielt, sich daran schaukelte und die Glocke in Bewegung setzte, so machte das auf Claude, seinen Pflegevater, den Eindruck von einem Kinde, dessen Zunge sich löst und das zu sprechen anfängt.

Weil er im Verständnis des Wesens der Kirche sich immer mehr entwickelte, in ihr lebte, dort schlief, sie fast niemals verließ, ihre geheimnisvolle Einwirkung stündlich auf sich wirken ließ, so kam es, daß er ihr allmählich ähnlich wurde, sich ganz in sie versenkte und gewissermaßen einen ergänzenden Theil von ihr zu bilden begann. Die hervortretenden Ecken seines Körpers fügten sich (man gestatte uns dieses Bild) in die zurückweichenden Winkel des Gebäudes, und er erschien nicht nur als ihr Insasse, sondern vielmehr ihr verkörperter Inhalt. Man möchte fast sagen, daß er ihre Gestalt angenommen hätte, wie die Schnecke die Gestalt ihres Hauses annimmt. Sie war seine Behausung, sein Loch, seine Hülle. Zwischen der alten Kirche und ihm fand eine so tiefe und instinktive Übereinstimmung, so große magnetische Wahlverwandtschaft, so viel tatsächliche Ähnlichkeit statt, daß er an ihr in gleicher Weise, wie die Schildkröte an ihrem Gehäuse hing; die furchige Kirche war sein Rückenschild.

Es ist überflüssig, den Leser daran zu erinnern, die Bilder nicht buchstäblich zu verstehen, die wir hier zu gebrauchen gezwungen sind, um diese sonderbare, gleichmäßige, unmittelbare, fast wesengleiche Verbindung zwischen einem Menschen und einer Kirche zu schildern. Ebenso überflüssig ist, es zu sagen, wie sehr er sich mit der ganzen Kathedrale in einem so langen und innigen Zusammenleben vertraut gemacht hatte. Dieses Haus war ihm ganz zu eigen; es gab keine Tiefe, in die Quasimodo nicht gekrochen wäre, keine Höhe, die er nicht erstiegen hätte. Es geschah unzählige Male, daß er die Front der Kirche mit ihren zahlreichen Erhebungen erklomm und sich dabei nur an die Vorsprünge der Steinhauerarbeit klammerte. Die Thürme, an deren Außenfläche man ihn häufig wie eine Eidechse, die an einer senkrechten Mauer hinschlüpft, herumklettern sah, diese zwei so hohen, drohenden und furchtbaren Zwillingsriesen hatten für ihn nichts Entsetzendes, Schreckhaftes, noch Schwindelerregendes. Wenn man sie unter seinen Händen so ruhig, so leicht zu erklimmen sah, hätte man sagen mögen, daß er sie gezähmt hätte. Durch vieles Umherspringen, Klettern und dadurch, daß er sich inmitten der Untiefen der gigantischen Kathedrale herumtummelte, war er in gewisser Hinsicht zum Affen und zur Gemse geworden, oder ähnlich dem Kinde in Calabrien, welches schwimmt, ehe es laufen kann und schon in zarter Jugend mit dem Meere spielt.

Uebrigens schien sich nicht allein sein Körper, sondern auch sein Geist nach der Kathedrale geformt zu haben. In welchem Zustande befand sich diese Seele? Welche Richtung hatte sie angenommen, welche Form hatte sie unter dieser geschlossenen Hülle, in dieser ungeselligen Lebensweise erlangt? Das zu bestimmen würde schwer halten. Quasimodo war einäugig, bucklig und hinkend auf die Welt gekommen. Nur mit großer Mühe und nicht weniger Geduld hatte Claude Frollo es erreicht, ihn sprechen zu lehren. Aber ein Verhängnis hatte das arme Findelkind betroffen. Nachdem er Glöckner von Notre-Dame im vierzehnten Lebensjahre geworden, hatte sich ein neues Gebrechen eingestellt, jenes vollständig zu machen, die Glocken hatten ihm das Trommelfell zersprengt: er war taub geworden. Die einzige Pforte, welche ihm die Natur zur Welt hin ganz offen gelassen hatte, war plötzlich auf immer geschlossen.

Als sie sich schloß, schnitt sie den einzigen Licht- und Freudestrahl ab, der noch in die Seele Quasimodo’s fiel. Diese Seele versank in eine tiefe Nacht. Die Schwermuth des Unglücklichen wurde unheilbar und völlig, wie seine Häßlichkeit. Außerdem machte ihn seine Taubheit in gewisser Hinsicht stumm. Denn um andern keine Veranlassung zum Lachen zu geben, verdammte er sich von dem Augenblicke an, wo er sich taub fühlte, entschlossen zu einem Stillschweigen, welches er selten und nur dann brach, wenn er allein war. Er fesselte freiwillig diese Zunge, die zu lösen Claude Frollo so viele Mühe gehabt hatte. In Folge davon geschah es, daß, wenn ihn die Nothwendigkeit zum Sprechen zwang, seine Rede schwerfällig, ungeschickt war und einer Thüre glich, deren Angeln verrostet sind.

Wenn wir nun versuchten, durch dieses dicke und harte Aeußere bis in Ouasimodo’s Seele zu dringen; wenn wir die Tiefen dieses übelbeschaffenen Wesens untersuchen könnten, wenn es uns vergönnt wäre, mit einer Leuchte hinter diese undurchsichtigen Theile zu schauen, das düstere Innere dieses unerforschlichen Geschöpfes zu ergründen, seine dunkeln Falten, seine unbegreiflichen Schlupfwinkel aufzuhellen und plötzlich einen hellen Lichtstrahl auf die in der Tiefe dieser Höhle gefesselte Psyche fallen zu lassen, so würden wir diese unglückliche ohne Zweifel in einer ähnlichen elenden, geknickten und verkrüppelten Lage finden, wie jene Gefangenen der Bleidächer in Venedig, welche in einem sehr niedrigen, kurzen Steinkasten liegend und zu zwei Hälften zusammengekrümmt hinaltern.

Es steht fest, daß in einem mißgestalteten Leibe der Geist verkrüppelt. Quasimodo empfand kaum, daß sich in seinem Innern blindlings eine Seele rege, die nach seinem Aeußern geformt war. Die Eindrücke der Gegenstände erlitten eine beträchtliche Strahlenbrechung, ehe sie zu seinem Denkvermögen gelangten. Sein Gehirn war ein sonderbarer Vermittler: die Ideen, welche es durchkreuzten, gingen alle verkehrt daraus hervor. Die Vorstellung, welche von jener mangelhaften Anschauung herrührte, war notwendigerweise eine abweichende und schiefe. Die Folge davon waren zahllose Sinnestäuschungen, zahllose Urtheilsirrungen, zahllose Gedankensprünge, in denen sein theils thörichtes, theils blödsinniges Denken abschweifte.

Die eine Folge jener verhängnisvollen Anschauungsweise war die, den Blick, welchen er auf die Dinge um sich her warf, zu verwirren. Er empfing von ihnen fast keine unvermittelte Vorstellung. Die äußere Welt erschien ihm in einer weiteren Entfernung, als uns.

Die andere Wirkung dieses unglücklichen Seelenzustandes war, daß er boshaft wurde.

Er war in der That boshaft, weil er verwildert war; er war verwildert, weil er mißgestaltet war. In seinem Naturell war gerade so viel Logik, wie in dem unsrigen. Seine außergewöhnlich entwickelte Körperkraft war ein Grund mehr zur Boshaftigkeit: » Malus puer robustus80 sagt Hobbes. Uebrigens muß man ihm die Gerechtigkeit widerfahren lassen: die Boshaftigkeit war ihm vielleicht nicht angeboren. Von seinem ersten Auftreten an unter den Menschen hatte er sich verhöhnt, beschimpft, zurückgestoßen gefühlt, dann gesehen.

Die Worte der Leute hatten für ihn immer eine Verspottung oder eine Verwünschung enthalten. Als er heranwuchs, hatte er nur Haß in seiner Umgebung gefunden. Er hatte ihn verstanden. Er hatte die gewöhnliche Bosheit angenommen. Er hatte die Waffe ergriffen, mit der man ihn verwundet hatte.

Nach alledem zeigte er nur mit Widerwillen sein Antlitz der Menschheit; seine Kirche war seine Welt. Sie war bevölkert mit marmornen Gestalten, Königen, Heiligen, Bischöfen, welche ihm wenigstens nicht ins Gesicht lachten und nur ein stilles, wohlwollendes Mitleid für ihn hatten. Die andern Bildsäulen, die der Teufel und Dämonen, hatten keinen Haß gegen ihn; Quasimodo – war ihnen darin selbst zu ähnlich. Sie verspotteten wohl eher die andern Menschen. Die Heiligen waren seine Freunde und segneten ihn; die Ungeheuer waren es gleichfalls und beschützten ihn. Daher hatte er lange Herzensergießungen mit ihnen. Daher verbrachte er manchmal ganze Stunden, vor einer dieser Bildsäulen niedergekauert, im einsamen Gespräche mit ihr. Wenn jemand unvermuthet dazukam, so entfloh er wie ein Liebhaber, der beim Ständchen überrascht wird.

Und die Kirche war für ihn nicht allein die Gesellschaft, sondern auch das Weltall, ja die ganze Natur. Er träumte von keinen andern Baumgeländern, als den immer in Farbenpracht schimmernden Kirchenfenstern, von keinem andern Schatten, als demjenigen dieses steinernen Laubwerkes, welches, mit Vogelgestalten angefüllt, den Knauf der sächsischen Kapitale umrankt; von keinen andern Gebirgen, als den riesigen Thürmen der Kathedrale, von keinem andern Oceane, als Paris, welches zu ihren Füßen brandete.

Was er aber vor allem in diesem mütterlichen Gebäude liebte, was seine Seele aufweckte und sie die armen Fittiche ausbreiten ließ, die sie in ihrem Innern so traurig zusammengefaltet trug, was ihn manchmal glücklich machte, das waren die Glocken. Er liebte sie, er liebkoste sie, sprach mit ihnen, verstand sie. Vom Glockenspiele auf der Spitze des Kreuzschiffes an bis zur großen Glocke des Vordergiebels waren sie alle Gegenstände seiner Zärtlichkeit. Der Glockenturm des Kreuzschiffes, die zwei Hauptthürme waren für ihn gleichsam drei große Vogelkäfige, deren Sänger, von ihm großgezogen, nur für ihn sangen. Und dabei waren es dieselben Glocken, die ihn taub gemacht hatten; aber Mütter lieben oft das Kind am meisten, das ihnen die größten Leiden verursacht hat.

Freilich war ihre Stimme die einzige, welche er noch hören konnte. In dieser Beziehung war die große Glocke seine Heißgeliebte. Sie war es, der er in dieser Familie von kreischenden Töchtern den Vorzug gab, wenn sie an Festtagen um ihn hin- und hersprang. Diese große Glocke hieß Marie. Sie befand sich allein im südlichen Thurme mit ihrer Schwester Jacqueline, einer Glocke von geringerem Umfange, die in einem kleinern Stuhle ihr zur Seite hing. Diese Jacqueline war so nach dem Namen der Gattin Jean Montagu’s genannt worden, welcher die Glocke der Kirche geschenkt hatte; was aber nicht verhindert hatte, daß er später ohne Kopf in Montfaucon 81 figuriren sollte. Im zweiten Thurme befanden sich sechs andere Glocken, und die sechs kleinsten Glocken endlich hingen auf dem Thurme des Kreuzarmes zusammen mit der hölzernen Glocke, welche man nur vom Nachmittage des Gründonnerstages an bis zum Morgen des Osterheiligabends läutete. Quasimodo hatte also fünfzehn Glocken in seinem Serail, aber die große Marie war seine Favorite.

Man kann sich an den Tagen feierlichen Geläutes keinen Begriff von Quasimodo’s Freude machen. In dem Augenblicke, wo ihm der Archidiaconus die Einwilligung gegeben und zugerufen hatte: »Hinauf«, eilte er die Wendeltreppe zum Thurme schneller hinauf, als ein anderer sie hätte herabsteigen können. Ganz athemlos trat er in das luftige Gelaß der großen Glocke ein; er betrachtete sie einen Augenblick lang mit Andacht und Liebe; dann redete er sie freundlich an, streichelte sie mit der Hand wie ein gutes Pferd, das einen weiten Ritt machen soll. Er beklagte sie wegen der Mühe, die sie haben sollte. Nach diesen ersten Liebkosungen rief er den Gehilfen, die in einem tiefern Stockwerke des Thurmes standen, zu, anzufangen. Diese hingen sich an die Seile, die Gangspille kreischte und die ungeheure Metallkapsel bewegte sich langsam. Quasimodo folgte ihr, am ganzen Körper zitternd, mit seinen Blicken. Der erste Anschlag des Klöppels an die erzene Wand ließ das Gerüst, auf welches er gestiegen war, erzittern. Quasimodo erbebte mit der Glocke.

»Hurtig,« schrie er, in ein unsinniges Gelächter ausbrechend. Währenddem nahm die Bewegung der Baßglocke zu, und in dem Maße, wie sie im immer weiteren Winkel dahinflog, wurde auch Quasimodo’s Auge immer glühender und flammender. Endlich begann der volle Schwung der Glocke; der ganze Thurm zitterte: Holzwerk, Bleidachung, Quadersteine, alles zitterte zugleich von den Grundpfeilern an bis zu den Kreuzblättern des Helmdaches. Quasimodo schäumte jetzt vor Aufregung; er lief, er kam zurück, er zitterte mit dem Thurme von Kopf bis zu Füßen. Die hinstürmende und rasende Glocke zeigte abwechselnd den beiden Thurmwänden ihren metallenen Schlund, aus dem jenes Orkanwehen hervorging, das man vier Meilen weit vernimmt. Quasimodo stellte sich vor diesen weiten Rachen; er kauerte sich nieder, erhob sich wieder beim Rückschlage der Glocke, athmete das betäubende Getös ein, sah bald in die Tiefe auf den Platz hinunter, auf dem es, zweihundert Fuß unter seinen Füßen, von Menschen wimmelte, bald auf die ungeheure erzene Zunge, die ihm von Secunde zu Secunde ins Ohr heulte. Das war für ihn die einzige Sprache, die er hörte, der einzige Laut, der für ihn die allgemeine Stille unterbrach. Hier machte er sich breit wie ein Vogel in den Strahlen der Sonne. Plötzlich packte ihn die Raserei der Glocke; sein Aussehen wurde befremdlich; er erwartete die vorbeifliegende Glocke, wie die Spinne auf die Fliege lauert, und warf sich plötzlich mit Ungestüm auf sie. So über dem Abgrunde schwebend, mit dem schrecklichen Fluge der Glocke hin- und hergeworfen, packte er das eherne Ungeheuer an den Ohrzapfen, drückte es mit seinen beiden Knieen, spornte es mit seinen Hacken und verdoppelte mit dem vollen Stoße und dem ganzen Gewichte seines Leibes die Raserei des Geläutes. Während der Thurm bebte, schrie er und knirschte mit den Zähnen, seine rothen Haare sträubten sich, seine Brust hob sich mit dem Geräusche eines Blasebalgs, sein Auge sprühte Flammen, das Glockenungethüm tobte laut schnaubend unter ihm; und das war jetzt nicht mehr die große Glocke von Notre-Dame und auch nicht Quasimodo: das war ein Traumbild, ein Wirbel, ein Sturm, der Koller eines Pferdes beim Entstehen eines Geräusches, ein Geist, der sich an einen dahinfliegenden Sattelsitz angeklammert, ein sonderbarer Centaur, der halb Mensch, halb Glocke ist, eine Art furchtbarer Astolph auf einem seltsamen, lebenden Hippogryphen von Erz durch die Luft geführt.

Die Anwesenheit dieses außergewöhnlichen Geschöpfes ließ in der ganzen Kirche einen eigentümlichen Lebenshauch sich verbreiten. Es schien, wenigstens um mit dem übertrieben-abergläubischen Vorstellungen der Menge zu reden, als ob eine geheimnisvolle Ausströmung von ihm ausginge, welche alle Steine von Notre-Dame belebte und die tiefen Furchen der alten Kirche zucken ließe. Es war genügend, ihn dort zu wissen, um zu glauben, daß man die Tausende von Statuen der Galerien und der Thore leben und sich bewegen sähe. Und in der That erschien die Kathedrale unter seinen Händen als ein gelehriges und gehorsames Geschöpf; sie war seines Willens gewärtig, um Ihre gewaltige Stimme zu erheben; sie war von Quasimodo« wie von einem Hausgeiste in Besitz genommen und erfüllt. Man hätte sagen können, daß er dem Ungeheuern Gebäude Leben eingehaucht. Er war in der That dort überall, er vervielfältigte sich an allen Punkten des Baudenkmales. Bald sah man mit Schrecken auf der höchsten Höhe eines der Thürme einen wunderlichen Zwerg, welcher kletterte, sich schlängelte, auf allen Vieren kroch, auswärts über dem Abgrunde herabstieg, von Vorsprung zu Vorsprung sprang und das Innere des Leibes einer in Stein gemeißelten Gorgone durchsuchte: es war Quasimodo, welcher Rabennester ausnahm. Bald stieß man in einem finstern Winkel der Kirche auf eine lebende Chimäre, die finster brütend niederkauerte: es war Quasimodo in Nachdenken versunken. Bald bemerkte man unter einem Thurme ein ungeheures Haupt und ein Bündel wirrer Gliedmaßen, welche sich wüthend am Ende eines Seiles schaukelten: es war Quasimodo, der die Vesper oder das Angelus 82 läutete. Oft sah man nachts an dem durchbrochenen, schwachen Geländer, welches die Thürme umkränzt und die Verlängerung des Seitenschiffes hinter dem Chore einfaßt, eine scheußliche Gestalt: auch das war der Bucklige von Notre-Dame. In diesem Augenblicke nahm, wie die Nachbarn erzählten, die ganze Kirche etwas Phantastisches, Uebernatürliches, Schreckliches an; Augen und Mäuler der Figuren öffneten sich hier und da; man hörte die Hunde heulen, die Schlangen- und Drachenfiguren zischen, welche mit vorgerecktem Halse und offenem Rachen Tag und Nacht rings um die ungeheure Kathedrale wachen. Und wenn es in einer Nacht des Weihnachtsfestes war, während die große Glocke zu röcheln schien und die Gläubigen zur lichterglänzenden Mitternachtsmesse rief, hatte die dunkle Façade ein derartiges Aussehen angenommen, daß man hätte glauben mögen, das große Portal verschlänge die Menschenmenge und die Rosette blicke sie wie ein Auge an. Und alles das kam von Quasimodo her. In Aegypten hätte man ihn für den Gott dieses Tempels gehalten; im Mittelalter hielt man ihn für den bösen Geist desselben: er war seine Seele.

Unter diesem Umstande ist Notre-Dame für diejenigen, welche wissen, daß Quasimodo gelebt hat, heute verlassen, entseelt, todt. Man fühlt, daß hier etwas verschwunden ist. Dieser ungeheure Leib ist verlassen; er ist ein Skelett; der Geist ist entwichen, man sieht seinen Platz, aber das ist alles. Sie ist jetzt einem Schädel ähnlich, in dem sich noch die Höhlen für die Augen befinden, aus denen aber kein Blick mehr strahlt.

  1. [Lateinisch: Der Hüter eines Riesenthieres, noch schrecklicher selbst. Anm. d. Uebers.]
  2. [ Lateinisch: Ein boshafter Knabe ist stark. – Thomas Hobbes, englischer Philosoph (1588–1679)« Anm. d. Uebers.]
  3. [Name des mittelalterlichen Richtplatzes in der Nähe von Paris. Anm. d. Autors.]
  4. [ Lateinisch: Der Engelsgruß, Gebet zur heiligen Jungfrau. Anm. d. Uebers.]

2. Claude Frollo.

Claude Frollo war in Wahrheit keine gewöhnliche Persönlichkeit.

Er gehörte zu einer jener mittleren Familien, die man unterschiedslos in der albernen Ausdrucksweise des vorigen Jahrhunderts vornehmen Bürgerstand oder kleinen Adel nannte. Diese Familie hatte von den Brüdern Paclet das Lehen Tirechappe geerbt, welches dem Bischofe von Paris unterstellt war und dessen einundzwanzig Häuser im dreizehnten Jahrhunderte den Gegenstand so vieler Sachwalterkämpfe vor dem Officialgerichte 75 gebildet hatten. Als Besitzer dieses Lehens war Claude Frollo einer der »siebenmal einundzwanzig Lehnsherren«, welche in Paris und seinen Vorstädten Grundzins beanspruchten; und in dieser Eigenschaft hat man zwischen dem Hotel Tancarville, das Meister Franz Le-Rez gehörte, und dem Collegium Tours lange Zeit seinen Namen in dem Archive eingetragen sehen können, das in Saint-Martin-des-Champs in Verwahrung sich befand.

Claude Frollo war von Kindheit an von seinen Eltern zum geistlichen Stande bestimmt worden. Man hatte ihn im Lateinlesen unterrichtet; er war angehalten worden, die Augen niederzuschlagen und leise zu sprechen. Noch ganz Kind hatte ihn sein Vater in das Collegium Torchi im Universitätsviertel eingesperrt. Hier war er über dem Meßbuche und dem Lexikon herangewachsen.

Er war übrigens ein trübsinniges, stilles und ernstes Kind, das eifrig studirte und schnell begriff; er schrie nie laut in den Erholungsstunden, mischte sich kaum in die lärmenden Gelage der Rue du Fouarre, wußte nicht, was man unter »dare alapas et capillos lanicare« 76 verstand und hatte keine Rolle in jener Meuterei vom Jahre 1463 gespielt, welche die Annalisten allen Ernstes unter dem Titel »Sechste Unruhe im Universitätsviertel« aufzeichnen. Es begegnete ihm selten, daß er die armen Schüler von Montaigu wegen der »Kappenmäntelchen«, von denen sie ihren Namen erhielten, oder die Freischüler des Collegiums Dormans wegen ihrer glattgeschorenen Tonsur und wegen ihres dreitheiligen Ueberrockes aus dunkelblauem, hellblauen und violetten Tuche ( »azurini coloris et bruni«), wie die Urkunde des Cardinals Des-Quatre-Couronnes sagte, verspottete. Dagegen war er unablässig in den höhern und niedern Schulen der Straße Saint-Jean-de-Beauvais zu finden. Der erste Student, welchen der Abt von Saint-Pierre-de-Val, sobald er seine Vorlesung über das kanonische Recht begann, immer dem Katheder gegenüber an einer Säule der Schule Sanct-Vendregesile lehnen sah, war Claude Frollo, mit seinem Tintenfaß aus Horn versehen, an der Feder kauend, auf seinem abgeschabten Knie kritzelnd und im Winter in die Finger hauchend. Der erste Hörer, welchen Herr Miles von Isliers, der Doctor des kanonischen Rechtes, jeden Montag Morgen und ganz außer Athem bei der Oeffnung der Thüren der Schule Chef-Saint-Denis ankommen sah, war Claude Frollo. Daher hätte der junge Gelehrte von sechzehn Jahren in der theologischen Geheimlehre einem Kirchenvater, in der kanonischen Theologie einem Conciliumsvater und in der scholastischen Theologie einem Doctor der Sorbonne die Spitze bieten können. Nachdem er mit der Theologie zu Ende war, warf er sich auf das kanonische Recht. Vom »Magister Sententiarum« war er auf die »Capitularien Karls des Großen« gerathen; und nach und nach hatte er in seinem Wissenshunger Decretalien um Decretalien verschlungen: so diejenigen des Theodorus, Bischofs von Hispalis, wie diejenigen des Bouchardus, Bischofs von Worms, und diejenigen von Yves, des Bischofs von Chartres, dann die Decretaliensammlung des Gratian, welche nach den Capitularien Karls des Großen an die Reihe kam; dann die Sammlung Gregors des Neunten, endlich das Sendschreiben »Super specula« von Honorius dem Dritten. Er machte sich jene lange und stürmische Periode des bürgerlichen und kanonischen Rechtes in Ringen und Arbeit im Chaos des Mittelalters klar und vertraut, – jene Periode, welche der Bischof Theodorus im Jahre 618 eröffnet und welche 1227 der Papst Gregor abschließt. Sobald das kanonische Recht verdauet war, warf er sich auf die Medicin, auf die freien Künste. Er studirte Kräuterkunde und Salbenkunde; er wurde erfahren in der Behandlung von Fiebern und Quetschungen, von Verwundungen und Geschwüren. Jacob von Espars hätte ihn als Physicus, Richard Hellain als Chirurg zugelassen. Er durchlief gleichmäßig alle Grade der Licentiatenwürde, der Lehrfähigkeit und der Doctorwürde in den Künsten. Er studirte Sprachen: das Lateinische, Griechische und Hebräische, – ein dreifaches Heiligthum, zu dem damals nur sehr wenige Zutritt hatten. Was das Wissen anbetrifft, so war er von einem wahren Fieber besessen, zu erwerben und Schätze aufzuhäufen. Im Alter von achtzehn Jahren hatte er die vier Facultäten durchlaufen; es schien dem jungen Manne, als ob das Leben nur einen einzigen Zweck hätte: das Wissen.

Es war um diese Zeit ohngefähr, als in Folge des übermäßig heißen Sommers vom Jahre 1466 jene große Pest ausbrach, welche mehr als vierzigtausend Menschen im Gerichtsbezirke von Paris hinwegraffte, und unter anderem auch, wie Johann von Troyes sagt, »Meister Arnoul, den Sterndeuter des Königs, der ein sehr guter Mann war, gescheidt und drollig dazu«. Im Universitätsviertel verbreitete sich das Gerücht, daß die Straße Tirechappe ganz besonders von der Krankheit heimgesucht worden wäre. Dort nun wohnten, inmitten ihres Lehens, die Eltern Claude’s. Der junge Student eilte ganz erschrocken nach dem väterlichen Hause. Als er dort eintrat, waren Vater und Mutter in der Nacht vorher gestorben. Ein ganz kleiner Bruder, der in den Windeln lag, lebte noch und schrie verlassen in seiner Wiege. Das war alles, was dem Claude von seiner Familie übrig blieb; der junge Mann nahm das Kind in seinen Arm und ging nachdenklich von dannen. Bis dahin hatte er nur in seiner Wissenschaft gelebt, er fing nun an im Dasein zu leben.

Dieses Unglück wurde ein Wendepunkt im Leben Claude’s. Verwaist, als der Aelteste und als Haupt seiner Familie in einem Alter von neunzehn Jahren, fühlte er sich schonungslos von den Träumereien der Schule zur Wirklichkeit dieser Welt zurückgerufen. Damals faßte er, von Mitleiden bewegt, leidenschaftliche Liebe und Hingabe für dieses Kind, seinen Bruder: – etwas Sonderbares und Köstliches um eine menschliche Neigung für ihn, der bis jetzt nur Bücher geliebt hatte.

Diese Neigung zeigte sich in einer eigenthümlichen Stärke: in einem so jungen Herzen erschien sie wie eine erste Liebe. Von Kindheit an von seinen Eltern, die er kaum gekannt hatte, getrennt, in ein Kloster gesperrt und hinter seinen Büchern wie festgemauert, begierig vor allem zu studiren und zu lernen, bis dahin ausschließlich auf seinen Geist bedacht, der sich in der Wissenschaft erweiterte, bedacht auf seine Einbildungskraft, die unter den Studien erstarkte, hatte der arme Student noch keine Zeit gehabt, die Stelle zu fühlen, wo sein Herz schlug. Dieser junge, vater- und mutterlose Bruder, dieses kleine Kind, welches ihm plötzlich vom Himmel in die Arme fiel, machte einen neuen Menschen aus ihm. Er erkannte, daß es noch etwas Anderes in der Welt gäbe, als die Forschungen der Sorbonne und die Verse Homers; daß der Mensch der Neigungen bedürfe; daß das Leben ohne Zärtlichkeit und ohne Liebe nur ein gefühlloses, kreischendes und aufreibendes Räderwerk sei. Nur bildete er sich ein, – denn er war im Alter, wo die Täuschungen nur durch andere Täuschungen ersetzt werden – daß die Bande des Blutes und der Familie die allein nothwendigen wären, und daß einen kleinen Bruder zu lieben hinreichend wäre, um ein ganzes Dasein auszufüllen. Er überließ sich also der Liebe zu seinem kleinen Johann mit der Leidenschaft eines schon tiefen, glühenden und festen Gemüthes. Dieses arme, schwache, hübsche, blonde, rothbackige und gelockte Geschöpf, diese Waise ohne andern Beistand als den einer Waise, bewegte ihn bis in den tiefsten Grund der Seele, und als ernster Denker, wie er war, begann er über Johann mit grenzenlosem Mitleiden nachzudenken. Er machte sich Sorge und Kummer um ihn, wie um etwas sehr Gebrechliches, etwas, das ihm sehr ans Herz gelegt war. Er wurde dem Kinde mehr als ein Bruder: er wurde ihm eine Mutter.

Der kleine Johann hatte seine Mutter verloren, als er noch an der Brust lag; Claude that ihn zu einer Amme. Außer dem Lehen von Tirechappe hatte er auch das Lehensgut Le-Moulin von seinem Vater als Erbe erhalten, das zum Quadratthurme Gentilly zu Lehen ging: es war eine Mühle auf einem Hügel beim Schlosse Winchestre (Bicêtre). Hier lebte die Müllerin, welche ein hübsches Kind säugte; es war nicht weit vom Universitätsviertel. Claude brachte ihr selbst seinen kleinen Johann.

Von jetzt an, und da er fühlte, daß er eine Bürde trage, nahm er das Leben sehr ernst. Der Gedanke an seinen kleinen Bruder wurde nicht nur seine Erheiterung, sondern auch der Zweck bei seinen Studien. Er beschloß, sich ganz und voll einer Zukunft zu weihen, für die er vor Gott verantwortlich wurde, niemals eine Gattin, ein anderes Kind zu besitzen als seinen Bruder und dessen Glück und Loos. Er gab sich nun mehr als sonst seinem geistlichen Berufe hin. Sein Verdienst, seine Gelehrsamkeit, sein Stand als unmittelbarer Lehnsmann des Bischofs von Paris öffneten ihm die Pforten der Kirche ganz weit. Im Alter von zwanzig Jahren war er in Folge besonderer Dispensation des Heiligen Stuhles Priester und versah als der jüngste unter den Kaplänen von Notre-Dame den Dienst an dem Altare, der wegen der Messe, die da spät abends gelesen wird, altare pigrorum 77 genannt wird. Dabei, und weil er mehr als vordem sich in seine geliebten Bücher versenkte, die er nur verließ, um auf ein Stündchen nach dem Lehnsgute Le-Moulin zu eilen, hatte ihm diese für sein Alter so seltene Mischung von Gelehrsamkeit und Charakterfestigkeit rasch die Achtung und Bewunderung seines Klosters erworben. Vom Kloster war sein Ruf als Gelehrter ins Volk gedrungen, wo, wie es damals häufig der Fall war, er sich ein wenig in den eines Zauberers verkehrt hatte.

Gerade in dem Augenblicke nun, wo er, am Sonntage Quasimodo, von der Messe zurückkehrte, die für die Spätkommenden an dem für sie bestimmten Altare, neben der ins Schiff führenden Thüre des hohen Chores, rechts, beim Bilde der heiligen Jungfrau, celebrirt wurde, war seine Aufmerksamkeit durch die Gruppe kreischender Weiber erregt worden, die sich um das Lager der Findelkinder zusammengedrängt hatten.

Er hatte sich dem unglücklichen kleinen Geschöpfe genähert, das in jenem Augenblicke gerade so verabscheut und bedrohet war.

Diese drängende Gefahr, diese Häßlichkeit, diese Hilfslosigkeit, der Gedanke an seinen kleinen Bruder, die Idee, die ihm plötzlich durch den Kopf fuhr, daß, wenn er stürbe, er, sein theurer kleiner Johann, wohl auch so erbärmlich auf dem Brette der Findelkinder ausgesetzt werden könnte – alles das war ihm auf einmal zu Herzen gegangen: ein tiefes Mitleid hatte sich in ihm geregt, und er hatte das Kind davongetragen.

Als er das Kind aus dem Sacke herauszog, fand er es in der That sehr mißgestaltet. Der arme kleine Teufel hatte eine große Warze über dem linken Auge, den Kopf an den Schultern, ein krummes Rückgrat, ein hervorragendes, Brustbein, krumme Beine, aber er erschien lebenskräftig; und wiewohl es unmöglich war, zu verstehen, welche Sprache er lallte, so verkündigte sein Schreien doch eine gewisse Stärke und Gesundheit zugleich. Das Mitleiden Claude’s wuchs beim Anblick dieser Häßlichkeit; und er gelobte sich in seinem Herzen, dieses Kind aus Liebe zu seinem Bruder zu erziehen, damit, seien in Zukunft die Fehler des kleinen Johann welche sie wollten, diese an jenem geübte Barmherzigkeit zu seinem Besten ausschlagen möchte. Es war das eine Art Anlage guter Werke, die er auf das Haupt seines jungen Bruders hin bewerkstelligte; es war eine Ladung guter Handlungen, die er für ihn zum voraus ansammeln wollte, für den Fall, daß der kleine Schelm eines Tages mit dieser Münze knapp dran sein sollte, – der einzigen, die als Brückengeld zum Paradiese angenommen wird.

Er taufte sein Adoptivkind und nannte es »Quasimodo«, 78 sei es, daß er damit nun den Tag bezeichnen wollte, an welchem er es gefunden, sei es, daß er mit diesem Namen das arme kleine Geschöpf als im gewissen Grade krüppelhaft und fast noch nicht geformt charakterisiren wollte. In Wahrheit war der einäugige, bucklige, krummbeinige Quasimodo kaum mehr als ein »Ungefähr« von Menschen.

  1. [Geistlicher Gerichtshof.]
  2. [Lateinisch: Ohrfeigen austheilen und raufen. Anm. d. Uebers.]
  3. [Lateinisch: Der Altar der Trägen. Anm. d. Uebers.]
  4. [ Lateinisch: Das Beinahe, Ungefähr. Anm. d. Uebers.]