Odysseus bei den Phäaken

Die Jungfrau war schon in dem Palast ihres Vaters angekommen, als Odysseus den heiligen Hain verließ und gleichfalls den Weg nach der Stadt einschlug. Athene entzog ihm auch jetzt ihre Hilfe nicht. Daß kein mutwilliger Phäake den wehrlosen Wanderer kränken konnte, verbreitete sie, für ihn selbst unbemerkt, rings um ihn her Nacht, und ganz nahe vor den Toren wollte sie es doch nicht lassen, ihm in sichtbarer Gestalt als ein junges Phäakenmädchen, den Wasserkrug an der Hand, zu begegnen. »Töchterchen«, redete der Held sie an, »willst du mir nicht den Weg zur Wohnung des Königes Alkinoos zeigen? Ich bin ein verirrter Fremdling, komme aus fernen Landen und kenne hier niemand.« »Recht gerne, guter Mann«, sagte die Göttin in Mädchengestalt; »mein ehrlicher Vater wohnt ganz nahe dabei. Aber geh nur ganz stille mit mir: die Leute sind hier den Fremden nicht sonderlich gewogen; das kecke Leben zur See macht sie trotzig.« Unter diesen Worten ging Athene schnell voran, und Odysseus folgte, aber kein Phäake wurde ihn gewahr. Gemächlich konnte er den Hafen, die Schiffe, die getürmten Mauern der Stadt anstaunen; endlich sprach Athene: »Dies ist, fremder Vater, das Haus des Alkinoos, wandle nur getrost hinein; dem mutigen Manne gelingt alles! Doch eins laß mich dir sagen: Suche vor allen Dingen die Königin auf. Sie heißt Arete und ist die Nichte ihres eigenen Gemahls. Der vorige König nämlich, Nausithoos, ein Sohn Poseidons und der Periböa, der Tochter des Gigantenbeherrschers Eurymedon, hinterließ zwei Söhne, unsern König, Alkinoos, und einen andern, Rhexenor. Der letztere lebte nicht lange und hinterließ eine einzige Tochter; und dies ist unsere Königin Arete. Alkinoos ehrt sie, wie nur irgendein Weib auf der Erde geehrt werden kann, und ebenso verehrt sie auch alles Volk, denn sie ist voll Verstandes und Geistes und weiß selbst Männerzwiste mit ihrer Weisheit zu entscheiden. Wenn du sie gewinnen kannst, so sei getrost.«

So sprach die verstellte Göttin und enteilte. Odysseus stand stille, in Betrachtung des herrlichen Palastes versunken. Das hochragende Haus strahlte wie die Sonne. Tief hinein von der Schwelle erstreckten sich nach beiden Seiten Wände von gediegenem Erz, mit Simsen aus bläulichem Stahl. Die innere Wohnung verschloß eine goldene Pforte; die Pfosten, auf eherner Grundlage ruhend, waren von Silber mit goldenem Kranze, der Ring an der Pforte war von Gold; goldene und silberne Hunde, ein Werk Hephaistos‘, standen rechts und links, wie Wächter der Königswohnung, aufgepflanzt. Als er in den Saal gekommen war, sah er ringsum Sessel mit feingewirkten Teppichen bedeckt, auf welchen die Fürsten der Phäaken beim Königsmahle zu sitzen pflegten; denn dieses Volk liebte beständig Speise und Trank. Auf hohen Gestellen standen goldene Bildsäulen, Jünglinge vorstellend, mit brennenden Fackeln in der ausgestreckten Hand, welche beim nächtlichen Schmause den Gästen leuchteten. Fünfzig Dienerinnen waren durch den Palast des Königes verbreitet; die einen mahlten auf der Handmühle Getreide, die andern woben, noch andere wirbelten sitzend die Spindel. Die Weiber sind dort so gute Weberinnen wie die Männer Schiffsleute. Außerhalb des Hofes breitete sich ein Garten aus, eine Hufe ins Gevierte, mit einer Ringmauer umgeben und mit Bäumen voll der saftigsten Birnen, Feigen und Granaten, Oliven und Äpfel bepflanzt; diese trugen Sommer und Winter, denn immer wehte warme Westluft im Phäakenlande, so daß zu gleicher Zeit an den einen Bäumen Blüten prangten, an den andern Früchte hingen. Daneben streckte sich auf ebenem Boden eine Weinpflanzung hin, wo ein Teil der Trauben im Sonnenstrahle kochte, andere der Winzer schon schnitt, wieder andere erst als Herlinge aus der Blüte schwollen und noch andere sich allmählich färbten. Am andern Ende des Gartens dehnten sich schön geordnete Beete voll duftender Blumen; auch flossen in dem Raume zwei Quellen; die eine durchschlängelte den Garten, die andere quoll unter der Schwelle des Hofes am hohen Palaste selbst; und aus ihr schöpften sich die Bürger ihr Wasser.

Nachdem Odysseus alle die Herrlichkeiten eine gute Weile bewundert, betrat er den Palast und eilte nach dem Saale des Königes. Hier waren die vornehmen Phäaken zu einem Schmause versammelt. Weil aber der Tag sich neigte, gedachten sie des Schlafes und spendeten eben am Schlusse des Mahles dem Hermes ein Trankopfer. Odysseus durchwandelte noch in Nebel gehüllt ihre Reihen, bis er vor dem Königspaar angelangt war. Da zerfloß auf Athenes Wink das Dunkel um ihn her; er warf sich vor der Königin Arete schutzflehend nieder, umfing ihre Knie und rief: »O Arete, Rhexenors hohe Tochter, flehend liege ich vor dir und deinem Gemahl! Mögen die Götter euch Heil und Leben schenken, so gewiß ihr mir, dem Verirrten, Wiederkehr in die Heimat bereitet! Denn ferne von den Meinigen streife ich schon lange in der Verbannung umher.« So sprach der Held und setzte sich am Herd in die Asche nieder, neben dem brennenden Feuer. Die Phäaken schwiegen alle bei dem unerwarteten Anblicke staunend, bis endlich der graue, welterfahrene Held Echeneos, der Älteste unter den Gästen, das Schweigen brach und vor der Versammlung, zu dem Könige gewendet, also begann: »Fürwahr, Alkinoos, es ziemt sich nicht, daß irgendwo auf der Erde ein Fremdling in der Asche sitze. Gewiß denken meine Mitgäste wie ich und erwarten nur deinen Befehl. Laß darum den Fremden auf einem der schmucken Sessel gleich uns Platz nehmen und erhebe ihn aus dem Staub! Die Herolde sollen neuen Wein mischen, daß wir dem Zeus, dem Beschirmer des Gastrechts, auch noch ein Trankopfer bringen; und die Schaffnerin mag den neuen Gast mit Speise und Trank laben!«

Diese Rede gefiel dem guten König; er nahm den Helden selbst bei der Hand, erhub ihn und führte ihn zu einem Sessel an seiner eigenen Seite, indem der Liebling des Königes selbst, sein Sohn Laodamas, ihm Platz machen mußte. Auch sonst geschah alles, wie Echeneos geraten, und Odysseus schmauste geehrt in der Mitte der Helden. Als das Opfer dem Zeus dargebracht war, erhub sich die Versammlung, und der König lud alle Gäste auf den andern Tag zu einem gleichen Freudenmahle ein. Dem Fremdling aber, ohne auch nur nach seinem Namen und Geschlechte zu fragen, versprach er nach gastlicher Beherbergung sichere Entsendung nach der Heimat. Als er jedoch den Helden, den Athene noch immer mit einem Schimmer überirdischer Hoheit umgeben hatte, näher betrachtete, da setzte er noch hinzu: »Solltest du aber einer der Unsterblichen sein, welche ja manchmal in sichtbarer Gestalt die Menschen bei ihren Festen besuchen: – dann freilich bedarfst du unserer Beihilfe nicht, und es ist an uns, dich um deinen Schutz zu bitten.«

»Denke doch das nicht in deinem Herzen«, antwortete Odysseus dem Könige beschämt; »gleiche ich doch an Wuchs und Gestalt nicht den unsterblichen Göttern, sondern bin ein Sterblicher, wie ihr alle es seid. Ja, wenn ihr einen Menschen kennet, der euch auf Erden der unglückseligste deucht, so nehme ich es mit seiner Trübsal auf! Und so dachte ich denn auch jetzt an nichts anders, als meinen Hunger an eurem Tisch zu stillen, und ihr konntet auch daran wohl sehen, daß ich ein recht armer, sterblicher Mensch bin.«

Als die Gäste den Saal verlassen hatten und das Königspaar allein mit dem Fremdlinge im Saale zurückgeblieben war, betrachtete Arete die schön gewirkten Kleider des Mannes, Mantel und Leibrock, erkannte darin ihr eigenes Gewebe und sprach: »Zuerst muß ich dich nun doch fragen, o Fremdling, woher und wer du bist und wer dir diese Gewande gegeben hat. Sagtest du nicht, daß du auf dem Meere umherirrend hierhergekommen seiest?« Odysseus antwortete hierauf mit einer getreuen Erzählung seiner Abenteuer auf Ogygia bei Kalypso und seiner traurigen letzten Fahrt und verschwieg zuletzt auch die Begegnung Nausikaas und ihren Edelmut nicht.

»Nun, das ist schon recht von meiner Tochter gehandelt«, sprach, als die Erzählung zu Ende war, lächelnd Alkinoos, »aber eine Pflicht hat sie doch vergessen; dich sogleich mit den Dienerinnen selbst in unser Haus zu führen!« »Hüte dich, o König«, antwortete Odysseus, »deine treffliche Tochter deswegen zu tadeln. War sie doch bereit, so zu handeln, wie du meinst, aber ich selbst weigerte mich aus Blödigkeit; denn ich fürchtete, du könntest ein Ärgernis daran nehmen; wir Menschenkinder sind alle so gar argwöhnisch!« »Nun, ich bin ohne Ursache nicht zum Jähzorn geneigt«, antwortete ihm der König; »indessen ist Ordnung in allen Dingen gut. Aber wenn doch die Götter es fügen wollten, daß ein Mann wie du meine Tochter zur Gemahlin begehrte, wie gerne wollte ich dir Haus und Besitzungen gewähren, wenn du bei uns bliebest! Doch mit Zwang will ich niemand bei mir halten, und morgen noch sollst du freies Geleite von mir bekommen; ich gebe dir Schiff und Ruderer, wohin du fahren willst, und wäre deine Heimat so weit als die entfernteste Insel, nach welcher wir Schiffahrt treiben!«

Odysseus vernahm dieses Versprechen mit innigem Danke, verabschiedete sich von seinen königlichen Wirten und erholte sich auf weichem Nachtlager von allen erduldeten Mühseligkeiten.

Am andern Morgen in aller Frühe berief der König Alkinoos das Volk zu einer Versammlung auf den Marktplatz der Stadt; sein Gast mußte ihn dorthin begleiten, da setzten sich beide nebeneinander auf zwei schön behauene Steine. Inzwischen durchwandelte die Göttin Athene, in einen Herold verwandelt, die Straßen der Stadt und trieb die Häupter des Volkes an, der Versammlung beizuwohnen. Endlich füllten sich die Gänge und Sitze des Marktes mit den zusammenströmenden Bürgern. Alle schauten mit Bewunderung auf den Sohn des Laërtes, dem Athene, seine Beschirmerin, immer noch eine überirdische Hoheit in Wuchs und Gestalt verliehen hatte. Alsdann empfahl der König in einer feierlichen Rede dem Volke den Fremdling und ermunterte dasselbe, ihm ein gutes Ruderschiff mit zweiundfünfzig phäakischen Jünglingen zur Verfügung zu stellen. Zugleich lud er die anwesenden Häupter des Volkes zu einem Festmahle, das dem Fremden zu Ehren gegeben werden sollte, in seinen Palast ein und befahl auch, den Demodokos zu berufen, den göttlichen Sänger, dem Apollo die Gabe des Liedes verliehen hatte und der mit seinem begeisterten Gesange das Herz der Gäste erfreuen sollte.

Nachdem die Volksversammlung aufgehoben war, rüsteten die Jünglinge, wie ihnen befohlen war, das Schiff, brachten Mast und Segel hinein, hängten die Ruder in lederne Schleifen und spannten die Segeltücher auf. Dann begaben sie sich in den Palast des Königes. Hier waren Hallen, Höfe und Säle schon voll von Geladenen, denn jung und alt hatte sich eingefunden. Zwölf Schafe, acht Schweine und zwei Stiere waren für das Mahl geschlachtet worden, und der liebliche Festschmaus dampfte schon. Auch den Sänger führte der Herold herbei, dem die Muse Gutes und Böses beschert hatte; das Licht der Augen hatte sie ihm genommen, dafür aber das Herz ihm mit lichten Gesängen aufgehellt. Diesem stellte der Führer einen Sessel an der Säule des Saales, mitten unter den Gästen; darauf hängte er über dem Haupte des Sängers die Harfe an einen Nagel und leitete ihm die Hand, daß der Blinde sie finden konnte. Vor ihn hin stellte er einen Tisch mit dem Speisekorb und dem immer vollen Becher, daß er nach Herzenslust trinken möchte. Wie nun das Mahl vorüber war, hub der Sänger sein Lied an aus den schon damals berühmt gewordenen Heldensagen von Troja. Der Inhalt seines Gesanges aber war der Streit zweier Helden, deren Name auf aller Lippen war, des Achill und des Odysseus.

Als unser Held seinen Namen nennen und im Liede feiern hörte, mußte er das Haupt im Gewande verbergen, damit man die Träne nicht gewahr würde, die sich ihm aus den Augen stahl. Sooft der Sänger schwieg, enthüllte er sein Gesicht und griff zum Becher. Wenn aber das Lied von neuem begann, verhüllte er sein Haupt wieder. Keiner bemerkte es als der ihm zunächst sitzende König, der ihn tief aufseufzen hörte. Er hieß daher dem Gesang ein Ende machen und befahl, den Fremdling auch durch Kampfspiele zu ehren. »Unser Gast«, sprach er, »soll auch den Seinigen zu Hause melden können, wie wir Phäaken es im Faustkampf, Ringen, Sprung und Wettlauf allen Sterblichen zuvortun.« So wurde das Mahl aufgehoben, und die Phäaken folgten dem Rufe ihres Königs. Eilend begab sich alles auf den Markt. Dort erhoben sich eine Menge edler Jünglinge, darunter auch drei Söhne des Alkinoos selbst, Laodamas, Halios und Klytoneos. Diese drei maßen sich zuerst miteinander im Wettlauf, auf einer Sandbahn, die sich vor ihnen weithin erstreckte. Auf ihr flogen sie nach einem gegebenen Zeichen stürmend dahin und durchstäubten das Gefilde; Klytoneos war es, der den andern es bald zuvortat und das Ziel als Sieger erreichte. Dann wurde der Ringkampf versucht; in diesem siegte der junge Held Euryalos; darauf kamen die Springer: hier zeigte sich der Phäake Amphialos als den Überlegenen; im Scheibenschwingen gewann es Elatreus, endlich im Faustkampfe Laodamas, der Königssohn.

Dieser erhob sich jetzt in der Versammlung der Jünglinge und sprach: »Freunde, wir sollten doch auch erforschen, ob der Fremdling etwas von unsern Kämpfen versteht. Gestalt, Schenkel und Füße versprechen nichts Schlechtes, seine Arme sind nervicht, sein Nacken ist voll Kraft, sein Wuchs ist mächtig. Und scheint er gleich von Gram und Elend gebrochen, so mangelt es ihm doch nicht an Jugendstärke!« »Du hast recht«, sprach jetzt Euryalos; »darum gehe hin, o Fürst, und fordre ihn selbst zum Wettstreite auf!« Laodamas tat dieses mit freundlichen, höflichen Worten.

Doch Odysseus erwiderte: »Verlanget ihr das von mir, mich zu kränken, ihr Jünglinge? Die Trübsal nagt an mir, und keine Lust zum Wettkampfe bewegt mein Herz! Ich habe genug gestrebt und geduldet, und jetzt verlangt mich nach nichts anderem als nach der Heimkehr in mein Vaterland!« Laodamas antwortete ihm unwillig: »Fürwahr, Fremdling, du gebärdest dich nicht wie ein Mann, der sich aufs Kämpfen versteht; du magst wohl ein Schiffshauptmann und zugleich Kaufherr sein, so ein Warenmäkler; als ein Held erscheinst du nicht.« Odysseus runzelte bei diesem Worte die Stirne und sprach: »Das ist keine feine Rede, mein Freund, und du erscheinst als ein recht trotziger Knabe. Verleihen doch die Götter nicht einem und demselben Manne die Gaben der Schönheit und Anmut und das Geschenk der Beredsamkeit und der Weisheit; mancher ist von unansehnlicher Gestalt, aber seinen Worten ist ein Reiz verliehen, daß alle, die sie hören, davon entzückt werden; und auch ein solcher ragt in der Volksversammlung hervor, und man ehrt ihn wie einen Unsterblichen. Dagegen sieht oft einer aus wie ein Gott, und an seinen Worten ist wenig Witz. Dennoch bin ich kein Neuling im Wettkampfe, und als ich meiner Jugend und meinen Armen noch vertrauen konnte, nahm ich es mit den Tüchtigsten auf. Jetzt haben mich Schlachten und Stürme freilich heruntergebracht. Doch du hast mich herausgefordert, und ich will’s auch so versuchen!«

So sprach Odysseus und erhub sich vom Sitz, ohne den Mantel abzulegen. Er ergriff eine Scheibe, größer, dicker und schwerer als die, nach welchen die Phäakenjünglinge zu langen pflegten, und warf sie kräftig, daß der Stein laut hinsauste; unter seinem Schwunge bückten sich die umstehenden Phäaken, und er flog weit über das Ziel hinaus. Schnell machte Athene, in einen Phäaken verwandelt, das Zeichen, wo der Stein gefallen war, und sprach: »Dein Zeichen soll auch ein Blinder erkennen, Mann, so weit liegt es von allen andern ab! In diesem Kampfe bist du sicher, nie besiegt zu werden!« Odysseus freute sich, daß er einen so guten Freund im Volke gefunden habe, und sprach mit leichterem Herzen: »Nun, ihr Jünglinge, schleudert mir dorthin nach, wie ihr es vermöget! Und ihr, die ihr mich so schwer beleidigt habt, kommt her und versuchst euch mit mir in welchem Kampfe ihr wollet; ich werde keinem ausweichen! Mit jedem will ich kämpfen, nur nicht mit Laodamas, denn wer stritte auch gerne mit dem, der ihn bewirtet? Besonders gut verstehe ich’s, den Bogen zu spannen, und wenn viele Genossen mit mir in die Wette schössen, ich wäre doch der erste, der meinen Mann mit dem Pfeil träfe. Nur einen kenne ich, den Griechen Philoktet; der hat es mir oft zuvorgetan vor Troja, sooft wir uns dort im Schusse übten! Auch mit dem Wurfspieße treffe ich nicht weniger sicher und schieße so weit wie ein anderer mit dem Pfeile. Nur im Wettlaufe, da möchte vielleicht einer es mir zuvortun, selbst unter euch; denn das stürmische Meer hat mir viel Kraft genommen, zumal da ich tagelang ohne Nahrung auf meinem Fahrzeuge saß.«

Als die Jünglinge dieses vernahmen, verstummten sie alle, nur der König nahm das Wort und sagte: »Wohl hast du uns deine Tüchtigkeit enthüllt, o Fremdling, und hinfort soll dich kein Mensch mehr wegen deiner Stärke tadeln. Wenn du nun daheim bei Gattin und Kindern sitzest, so denk auch an unsre Mannhaftigkeit zurück. Als Faustkämpfer und Ringer zeichnen wir uns freilich nicht aus, aber im Wettlaufe siegen wir, und auf die Schiffahrt verstehen wir uns auch. Schmaus, Saitenspiel, Reigentanz – darin sind wir auch Meister; den schönsten Schmuck, das lindeste Bad, das weichste Lager – die findet man bei uns! Auf denn, ihr Tänzer, ihr Schiffslenker, ihr Läufer, ihr Sänger, zeigt euch vor dem Fremdlinge, daß er zu Hause etwas von euch zu erzählen hat! Und bringet auch die Harfe des Demodokos her!« Sogleich machte sich ein Herold auf und schaffte die Harfe herbei. Neun auserwählte Kampfordner ebneten den Raum für den Tanz und umzirkten die Schaubühne. Ein Spielmann stellte sich mit der Harfe in der Mitte, und der Tanz der blühendsten Jünglinge begann; im schönsten Takte, im raschesten Schwunge hoben sie ihre Füße. Odysseus selbst mußte staunen; er hatte noch nie so behenden und anmutigen Tanz gesehen. Dazu sang der Sänger ein liebliches Lied von den heitersten Geschichten aus dem Leben der Götter. Nachdem der Reigentanz lange genug gedauert, hieß der König seinen Sohn Laodamas und den geschmeidigen Halios den Einzeltanz miteinander aufführen; denn mit ihnen wagte es niemand, sich zu messen. Diese nahmen einen zierlichen Ball zur Hand, und der eine schwang ihn, indem er sich rücklings dazu beugte, hoch in die Luft empor; der andere, in die Höhe springend, fing ihn, ehe er wieder mit den Füßen auf den Boden trat, schwebend in der Luft auf. Dann tanzten sie in leichten, wechselnden Schwenkungen umeinander her, und andere Jünglinge, die im Kreise umherstanden, klatschten mit den Händen dazu. Odysseus wandte sich bewundernd zu dem Könige und sprach: »In der Tat, Alkinoos, du kannst dich der geschicktesten Tänzer auf dem ganzen Erdboden rühmen. In dieser Kunst habt ihr euresgleichen nicht!« Alkinoos tat sich auf dieses Urteil nicht wenig zugute. »Höret ihr’s«, rief er seinen Phäaken zu, »wie der Fremdling über uns urteilt? Er ist doch ein sehr verständiger Mann, und er verdient es wohl, daß wir ihm auch ein ansehnliches Gastgeschenk reichen. Wohlan! zwölf der Fürsten des Landes, und ich selbst der dreizehnte, sollen ihm jeder einen Mantel und einen Leibrock herbeibringen und zudem ein Pfund des köstlichsten Goldes. Das wollen wir ihm zu einer großen Gabe vereint schenken, damit er mit fröhlichem Herzen von uns scheide. Und außerdem soll Euryalos es versuchen, mit freundlichen Worten ihn ganz mit uns auszusöhnen.« Alle Phäaken riefen ihm Beifall zu. Ein Herold ging, die Geschenke zu sammeln. Euryalos nahm sein Schwert mit silbernem Heft und elfenbeinerner Scheide, übergab es dem Gaste und sprach dazu: »Väterchen, haben wir ein kränkendes Wort gegen dich fallen lassen, so sollen es die Winde verwehen! Dir aber mögen die Götter fröhliche Heimfahrt verleihen! Heil und Freude dir! »«Auch dir!« antwortete Odysseus; »möge dich deine Gabe nie reuen!« Mit diesem Wort hängte er sich das schmucke Schwert um die Schulter. Es war um Sonnenuntergang, als die Geschenke ankamen und alle vor der Königin niedergelegt wurden. Sie hieß Alkinoos auch noch eine zierliche Lade für die Gewande herbeischaffen; darein wurden die Gaben gelegt und für Odysseus in den Palast getragen. Dort fügte der König, der sich mit der ganzen Gesellschaft in seine Wohnung begeben hatte, noch andere Gaben an köstlichen Gewanden hinzu und außerdem ein herrliches goldenes Gefäß. Dem Gaste wurde ein Bad bereitet; indessen zeigte ihm die Königin selbst alle die köstlichen Geschenke in der offenen Lade und sprach dazu: »Betrachte dir den Deckel selbst genau und verschließe die Lade, daß dich ja keiner, wenn du etwa schläfst, während der Heimfahrt beraube und die schöne Kiste davontrage!« Odysseus schlug den Deckel sorgfältig ein und verschloß die Lade mit einem vielfach verschlungenen Knoten; dann erquickte er sich im warmen Bade und wollte nun wieder in die Gesellschaft der zu Schmaus und Trunk niedergesessenen Männer zurückkehren. Da fand er vor dem Türpfosten des Saales beim Eingang in denselben die holdselige Jungfrau Nausikaa stehen, welche er seit seinem Einzuge in die Stadt nicht mehr erblickt hatte und welche seither züchtiglich und ferne von den Männerfesten im Frauengemache verschlossen gelebt; nun aber wollte sie zum Abschiede den edlen Gast auch noch einmal begrüßen. Nachdem sie einen langen bewundernden Blick auf die edle Heldengestalt des Mannes geworfen, sprach sie endlich, indem sie den Hineintretenden sanft aufhielt: »Heil dir und Segen, edler Gast! Gedenke meiner auch im Lande deiner Väter, da du mir ja doch dein Leben verdankest!« Gerührt antwortete ihr Odysseus: »Du edle Nausikaa, wenn mich Zeus den Tag meiner Heimkunft erleben läßt, so werde ich dich, meine Retterin, täglich wie eine Gottheit anflehen!« Mit diesen Worten betrat er den Saal wieder und setzte sich an der Seite des Königes nieder. Hier waren die Diener eben damit beschäftigt, das Fleisch zu zerlegen und den Wein aus den großen Mischkrügen in die Becher einzuschenken. Auch der blinde Sänger Demodokos wurde wieder eingeführt und nahm seinen alten Platz an der Mittelsäule des Saales ein. Da winkte Odysseus dem Herold, schnitt vom Rücken des vor ihm liegenden gebratenen Schweines das beste Stück ab, streckte es ihm auf einer Platte hin und sagte: »Herold, reich dem Sänger dieses Fleisch; obgleich ich selbst in der Verbannung bin, so möchte ich ihm doch gerne etwas Liebes erweisen. Stehen doch die Sänger bei dem ganzen Menschengeschlecht in Achtung, weil die Muse selbst sie den Gesang gelehrt hat und mit ihrer Huld über ihnen waltet.« Dankbar empfing der blinde Sänger die Gabe.

Nach dem Mahle wandte sich Odysseus noch einmal an Demodokos: »Ich preise dich vor andern Sterblichen, lieber Sänger«, sprach er zu ihm, »daß dich Apollo oder die Muse so schöne Lieder gelehret hat! Wie lebendig und genau du das Schicksal der griechischen Helden zu schildern verstehst, als hättest du alles mit angesehen und mit angehört! Fahre nun fort und sing uns auch noch die schöne Mär vom hölzernen Rosse und was Odysseus dabei getan hat!« Der Sänger gehorchte freudig, und alles lauschte seinem Gesange. Als der Held so seine Taten preisen hörte, mußte er wieder heimlich weinen, und nur Alkinoos bemerkte es. Er gebot daher dem Sänger Stillschweigen und sprach im Kreise der Phäaken: »Besser ist’s, die Harfe ruhet nun; denn wahrlich, ihr Freunde, nicht jedermann zur Lust singt der Sänger jene Märe. Seit wir am Mahle sitzen und das Lied ertönt, hört unser schwermütiger Gast nicht auf, seinem Grame nachzuhängen, und wir streben vergebens, ihn zu erheitern. Und doch muß einem fühlenden Mann ein Gast so lieb sein wie ein Bruder. Nun denn, Fremdling, so sag uns redlich, wer sind deine Eltern, welches ist dein Vaterland? Einen Namen führt doch jeder Mensch, sei er von edler oder von geringer Abkunft. Dein Land müssen wir ohnedem wissen und deine Geburtsstadt, wenn dich meine Phäaken heimbringen sollen. Weiter brauchen sie nichts; sie bedürfen auch der Piloten nicht: haben sie nur den Namen des Orts, so finden sie die Fahrt durch Nacht und Nebel!«

Auf diese freundliche Rede erwiderte der Held ebenso liebreich: »Glaube doch ja nicht, edler König, daß euer Sänger mich nicht ergötze! Vielmehr ist es eine Wonne, einem solchen zuzuhören, wenn er seine göttergleiche Stimme vernehmen läßt; und ich weiß mir nichts Angenehmeres, als wenn ein ganzes Volk bei festlicher Freude horchend am Munde eines Sängers hängt, während die Gäste in langen Reihen sitzen, vor jedem sein Tisch voll Brots und Fleisches steht und der Schenk fleißig mit dem Kruge bei den Bechern kreist! Ihr aber wünschet meine Leiden von mir zu vernehmen, ihr lieben Gastfreunde; da werde ich noch tiefer in Kummer und Gram versinken. Denn wo soll ich anfangen und womit enden? – Doch höret vor allen Dingen mein Geschlecht und mein Vaterland!«