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993. Nacht

Kaum hatte sie ausgeredet, als der weibliche Wesir mit dem
Kadi und den Zeugen ankam, nebst einer großen Anzahl ehrwürdiger Frauen, deren
Haare lang herunterhingen, die aber übrigens sehr anständig gekleidet waren.
Sie befahl derselben, den Heiratskontrakt aufzusetzen und als dies geschehen
war, begann ein großes, prächtiges Fest.

Von nun an lebte der junge Mann mit ihr als Gatte sehr
glücklich. Sieben Jahre hatte er bereits als Herrscher dieser Inseln und als
Gatte der liebenwürdigsten aller Frauen zugebracht, nicht ohne bisweilen den
inneren Drang zu fühlen, sich von den Geheimnissen, die über diesem Haus
schwebten, zu unterrichten, als er einst die Abwesenheit der Königin benutzte,
und in der Hoffnung, es würde ihr verborgen bleiben, sich der verbotenen Türe
näherte und sie öffnete. Aber in demselben Augenblick stürzte sich aus der
soeben geöffneten Tür derselbe Vogel heraus, der ihn auf die Insel gebracht
hatte, nahm ihn mit sich fort und setzte ihn auf dieselbe Insel, von der er ihn
geraubt hatte, wieder nieder. Hier verließ er ihn, und der Unglückliche sah
sich zu seinem Erstaunen am Eingang derjenigen Höhle, durch die er gekommen
war. Durch diese begab er sich nun wieder zurück in sein voriges Haus, und
dachte hier an seine verlorene Glückseligkeit und Ruhe mit Bedauern zurück.
Noch immer konnte er die süße Hoffnung nicht aufgeben, einst mit seiner Gattin
wieder vereinigt zu werden, allein diese Hoffnung wurde ihm nach einigen Monaten
völlig geraubt, da er eine Stimme vernahm, die ihm deutlich zurief:

„Das verlorne und verscherzte Glück
kehrt im Leben nicht zurück.“

Hier begann zugleich ein Trauern und Wehklagen, welches
ihm deutlich anzeigte, dass die Greise ein gleiches Schicksal mit ihm, und
dieselbe Ursache zum Weinen und Wehklagen gehabt haben mussten. Nun zog er
Trauerkleider an, bewohnte das Gemach des letzten Greises, widmete sich vierzig
Jahre der Reue, enthielt sich aller guten Speisen und Getränke und nie lachte
er mehr bis zum letzten Hauch seines Lebens.

„Du siehst also, o König!“, fuhr nun der Wesir
fort, „dass eine übereilte Tat nie lobenswürdig ist, sondern stets Reue
nach sich zieht. Daher hüte Dich, Deinen Sohn zu töten und nimm dieses gütig
als eine Warnung auf.“ Der König beschloss auch wirklich, die Hinrichtung
seines Sohnes bis auf den anderen Tag zu verschieben.

Beim Anbruch der sechsten Nacht aber trat die Frau zum
König herein, warf sich ihm zu Füßen und hatte einen Dolch in der Hand.
„O Fürst!“, rief sie aus, „wenn Du mir nicht Gerechtigkeit
verschaffst gegen die Beleidigungen Deines Sohnes, so schwöre ich bei Deinem
Haupt, dass ich mich mit diesem Dolch umbringen werde. Deine Minister sprechen
Dir immer von der List der Weiber vor, aber ich versichere Dir, die Männer sind
listiger als die Frauen, und was unter anderen dem Sohn des Königs und der
Kaufmannsfrau begegnet ist, soll Dir dies beweisen.“ – „Was ist das
für eine Geschichte?“, fragte sie der König hierauf, und sie hub nun
folgendermaßen an.

Geschichte von dem Sohn des Königs und
der Kaufmannsfrau

Ein Kaufmann hatte eine sehr schöne Frau, war aber dabei
außerordentlich eifersüchtig. Aus Furcht, sie möchte irgend jemandem
gefallen, ließ er sie nicht in der Stadt wohnen, sondern gab ihr ein einzeln
liegendes Schloss ein, welches er außerhalb der Stadt besaß, und welches, da
es ganz vom Weg abgelegen war, von niemandem besucht wurde. Er nahm übrigens
noch andere Vorsichtsmaßregeln, indem er eine hohe Mauer um dasselbe ziehen und
die Pforten mit festen Schlössern versehen ließ. So oft er sich nun in die
Stadt begab, verschloss er alles genau und nahm die Schlüssel mit sich.

Eines Tages ging der Sohn des Königs aus, um sich
außerhalb der Stadt zu zerstreuen. Die um das Schloss neu aufgeführte Mauer
erregte seine Aufmerksamkeit und er begab sich nahe heran, um es zu betrachten.
Da wurde er denn die Frau des Kaufmanns an einem Fenster gewahr und ihre
Schönheit betäubte ihn ganz. Er versuchte mit ihr zu sprechen, allein die
weite Entfernung machte es unmöglich. Er suchte ins Schloss zu kommen, allein
auch dies gelang ihm nicht. Da rief er seinem Diener, der mit ihm war, und
befahl ihm, ihm sein Schreibzeug zu geben. Dieser überreichte es ihm und er
schrieb nun einen Brief, den er an einen Pfeil befestigte und so in das Schloss
abschoss. Die Frau suchte sogleich den Pfeil auf und fand das daran befestigte
Briefchen. Sie las es und sah darin, dass er von ihrer Schönheit gerührt war
und die größte Sehnsucht fühlte, sie kennen zu lernen. Sie säumte nun nicht,
diesen Brief zu beantworten. Sie schrieb ihm: Dass sie nicht minder wünsche,
ihn kennen zu lernen, und dass sie seine Sehnsucht teile. Diesen Brief warf sie
ihm sodann, mit einem Stein beschwert, über die Mauer. Als der Prinz diesen
Brief gelesen und daraus ersehen hatte, dass er geliebt werde, befestigte er den
Schlüssel eines Kastens an einen anderen Pfeil, schoss ihn in das Schloss ab
und ging dann nach einem freundlichen Abschiedsgruß von dannen. Die Frau ging
sofort wieder nach dem Pfeil hin, fand aber diesmal bloß einen Schlüssel daran
befestigt, den sie gleichwohl aufhob, mit sich nahm und aufbewahrte.

Der Prinz wandte sich daheim an einen der Wesire seines
Vaters, erzählte ihm aufrichtig, was ihm begegnet war, dass er diese Frau sehr
liebe und von ihr wieder geliebt werde, dass es ihm aber nicht möglich wäre,
zu ihr ins Schloss zu gelangen. „Was kann ich da für Dich tun?“,
fragte hierauf der Wesir. – „Ich bitte Dich,“ erwiderte der Prinz,
„Du mögest mich in einen großen Kasten tun, ihn mit diesem Schloss, (das
er ihm zugleich überreichte) verschließen, und ihn dem Kaufmann auf sein
Schloss in Verwahrung geben, unter dem Vorwand, er enthalte Schätze und
Kostbarkeiten, die Du in Sicherheit bringen wolltest.“ Der Wesir versprach
es ihm und der Prinz schickte ihm nun den Kasten, stieg zugleich in denselben
hinein und der Wesir verschloss ihn sodann mit dem Schloss, dessen Schlüssel
der Prinz der Frau zugeschlossen hatte. Er wurde nunmehr auf ein Kamel geladen
und in Begleitung des Wesirs nach dem Schloss des Kaufmanns gebracht. Dieser,
über einen so hohen Besuch hoch erstaunt und erfreut, eilte dem Wesir entgegen,
versicherte ihn, dass es ein Tag des Glücks für ihn sei, ihn bei sich zu sehen
und erkundigte sich nach der Ursache seines Besuches. Der Wesir antwortete, dass
er ihm hiermit einen Kasten in Verwahrung geben wolle, und er bäte ihn, diesen
so lange bei sich zu behalten, bis er ihn selbst abholen würde. Der Kaufmann
willigte gern ein und nahm den Kasten auf sein Schloss. Der Wesir entfernte sich
hierauf und der Kaufmann, der ebenfalls in der Stadt Geschäfte hatte, verließ
das Schloss, nachdem er es wohl verschlossen hatte. Nun ging die Frau zu dem
Kasten, öffnete ihn mit dem Schlüssel, den sie bei sich hatte, und der Prinz
stieg heraus. Sie legte nun sogleich ihre kostbarsten Kleider an und leistete
ihm Gesellschaft. So oft sie indessen die Ankunft ihres Mannes wahrnahm, verbarg
sie ihn jedes Mal wieder in den Kasten. Eines Tages verlangte der König seinen
Sohn zu sehen. Da begab sich der Wesir eiligst zum Kaufmann, der sich in der
Stadt befand, und verlangte von ihm seinen Kasten. Sie gingen beide sofort auf
das Schloss. Da es aber zur ungewöhnlichen Zeit und der Kaufmann sehr eilig
war, hatte die Frau kaum Zeit den Prinzen in den Kasten zu bringen. Nur zur Not
konnte sie das Schloss vorlegen, als ihr Mann auch schon eintrat. Eben wollte er
den Kasten fort schieben, als der Deckel aufsprang und er zu seinem größten
Erstaunen den Sohn des Königs darin liegen erblickte. Er hieß diesen nun
sogleich aufstehen, führte ihn zu dem Wesir und überzeugte sich zu seiner
tiefen Betrübnis, das er überlistet worden war, und dass alle seine Vorsicht
ihm nichts genutzt hatte. Darauf verstieß er sofort seine Frau und beschloss,
sich nie wieder zu verheiraten.

„Hier siehst Du also, o König!“, setzte die
Frau hinzu, „wie listig die Männer sind, wenn es darauf ankommt, etwas
durchzusetzen. Derselbe Fall ist es auch mit Deinem Sohn, daher bitte ich Dich,
verschaffe mir Gerechtigkeit gegen ihn.“ Da der König die Frau nun sehr
liebte, so befahl er auch sogleich, dass sein Sohn getötet werden solle.

Als indessen der sechste Tag angebrochen war und der
sechste Wesir diesen Befehl vernommen hatte, begab er sich zum König, und warf
sich ihm zu Füßen und sprach: „O Herr! Ich bitte um Aufschub für Deinen
Sohn, denn der Trug gleicht dem Rauch, er kann wohl auf einen Augenblick die
Wahrheit verdunkeln, diese indessen steht unveränderlich fest und ihr Licht
dringt früh oder spät durch den Dunst der Lüge. Weißt Du nicht, dass sogar
in dem heiligen Buch des erhabenen Gottes geschrieben steht, dass die List der
Weiber groß ist? Ich kann es Dir beweisen, und zwar durch folgende

Geschichte
des Mannes, der da wünschte die Nacht Al Kader
1)

kennen zu lernen 2)

„Du siehst also,“ fuhr der Wesir fort, „wie
töricht man tut, sich nach den Wünschen der Weiber zu richten. Hüte Dich
also, Deinen einzigen Sohn, der Dein Andenken nach Dir erhalten wird, hinrichten
zu lassen.“ Diese Betrachtung bewog den König, den Tod seines Sohnes
abermals aufzuschieben.


1) Kader
heißt soviel wie: Ehre und Würde, aber auch soviel wie: Vorherbestimmung. In
dieser Nacht ist der Koran dem Propheten Mohammed vom Himmel herab gesendet
worden. Auch glauben Mohammedaner, dass in dieser Nacht die Schicksale der
Menschen festgestellt worden sind.