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895. Nacht

Er war von ihrer Schönheit so ergriffen, dass er
besinnungslos zur Erde fiel, denn die Liebe zu ihr hatte sich ganz seiner Seele
bemächtigt. Als er wieder zu sich selbst kam, blieb er darunter sitzen, und man
vermochte ihn nicht von dieser Stelle wegzubringen.

Als sein Vater nach einigen Tagen zu ihm kam, fand er ihn
ganz blass und mager. Dieser, der die Ursache dieser Veränderung nicht wusste,
glaubte, er wäre krank, und schickte deshalb nach den ärzten, um ihn zu
heilen. Da diese indessen es nicht vermochten, so sagte er zu einem seiner
Getreuen: „Wenn Du herausbringst, was meinem Sohn fehlt, so sollst Du bei
mir zur größten Gunst gelangen.“ Jener begab sich hierauf zum Sohn, und
benahm sich so geschmeidig gegen ihn, dass er erfuhr, sein ganzes übel komme
von jenem Bildnis her. Als er den König davon unterrichtet hatte, versetzte
dieser den Sohn in ein anderes Haus, welchem er zugleich die Bestimmung gab,
alle Fremden, die irgend an seinen Hof kamen, aufzunehmen. Jeden, der sich nur
dort einfand, befragte der König über dieses Gemälde, doch keiner konnte ihm
davon Kunde geben, bis eines Tages ein Mann ankam, welcher beim Anblick dieses
Gemäldes ausrief: „Bei Gott, das hat mein Bruder gemacht!“ Der König
ließ ihn sogleich näher ausfragen und sich nach dem Wohnort seines Bruders
erkundigen. Der Fremde antwortete: „Wir sind zwei Brüder. Der eine von uns
ging nach Indien, wo er die Tochter des Königs sah, in die er sich heftig
verliebte. Als er nun Indien verließ, machte er ein Gelübde, dass er in jedem
Land, welches er betreten würde, sie malen würde, und das Gemälde, welches
sich in Deinem Schloss befindet, ist das wohl getroffene Bildnis dieser
Prinzessin. Ich suche meinen Bruder auf, und hin auf meiner Reise ihm schon sehr
lange auf der Spur.“

Als der Sohn des Königs dies vernahm, rief er aus:
„Ich muss nach Indien reisen, und diese Fürstin sehen.“ Auch begab er
sich bald darauf auf den Weg, nachdem er unermesslich kostbare Geschenke
mitgenommen hatte. Nach vielen Beschwerlichkeiten erreichte er Indien, erhielt
die Erlaubnis, vor dem König zu erscheinen, und hielt um die Hand seiner
Tochter an. Der König erwiderte, dass er ihn sehr gern zum Eidam haben würde,
wenn man es nur wagen dürfte, dieses vor seiner Tochter zu erwähnen, weil sie
einen unüberwindlichen Hass gegen alle Männer habe.

Der Königssohn ließ in Folge dieser Antwort seine Zelte
unter den Fenstern des königlichen Schlosses aufschlagen, und nach einigen
Tagen war er so glücklich, eine der Lieblingssklavinnen der Prinzessin zu
sehen. Er beschenkte sie sehr reichlich, und sagte ihr die Ursache seiner Reise,
indem er sie bat, das möglichste für ihn zu tun. Sie aber sagte ihm ganz
offen, dass sie es nicht unternehmen würde, das mindeste für ihn zu tun, ja,
dass er selbst bei seinem Vorhaben sich großen Gefahren aussetzte. Diese
Nachricht betrübte ihn so sehr, dass er gefährlich krank wurde, und da er
nicht unterließ, den Sklavinnen der Prinzessin kostbare Geschenke auszuteilen,
so nahm sein mitgebrachtes Vermögen so schnell ab, dass er zuletzt seine
Dienerschaft nicht mehr bezahlen konnte, weshalb einer nach dem anderen ihn
verließ. In dieser Not sagte er zu einem, in den er das größte Vertrauen
setzte, dass er in sein Vaterland zurückkehren, und mit größeren Schätzen
wiederkommen wolle. Dieser fand denn auch diesen Plan sehr passend.

Die Reise wurde auch sogleich mit den noch übrigen
Getreuen angetreten. Da aber der Weg sehr lang war, so hatte er bald alles
verzehrt, und seine Reisegefährten starben bis auf einen, und auch dieser wurde
ihm einige Tage darauf durch einen Löwen geraubt. Da musste nun der Königssohn
allein weiter wandeln, welches ihn so angriff, dass ihm die Füße geschwollen.
Endlich gelangte er nach Sagestan, fast nackt und halb verhungert. Nur noch ein
einziger Edelstein bleib ihm übrig, welchen er einem Ausrufer übergab, um ihn
zu verkaufen. Dieser übernahm die Sache, und führte ihn zu einem Juwelier,
welcher ihn fragte, wie er zu dem Besitz dieses kostbaren Kleinods gekommen sei.
Er erzählte diesem nun seine Geschichte, und dass er der Sohn eines Königs
wäre. über diese Unglücksfälle erstaunt, zahlte ihm der Juwelier tausend
Goldstücke, und machte sich anheischig, den Königssohn auf sein Verlangen
während seiner Reise zu begleiten.

Als sie an den Grenzen des Landes seines Vaters ankamen,
da erkannten ihn die Leute, überhäuften ihn mit Ehrenbezeigungen, und ließen
den König sogleich von der Ankunft seines Sohnes benachrichtigen. Dieser kam
ihnen eilig entgegen, und behandelte den Juwelier mit der größten
Auszeichnung.

Nach einem kurzen Aufenthalt begab sich der Sohn des
Königs wieder in das Land der schönen Königstochter zurück. Der Juwelier
begleitete ihn dahin. Unterwegs wurden sie von Räubern angefallen, welche der
junge Prinz auf das tapferste bekämpfte. Endlich aber unterlag er, und wurde
getötet. Da begrub ihn der Juwelier, baute ein Denkmal auf sein Grab, und
kehrte dann traurig in sein Vaterland zurück, ohne jemanden von diesem Vorfall
etwas zu sagen.

Was nun die Tochter des Königs von Indien betrifft, um
derentwillen der Prinz sein Leben eingebüßt hatte, so hatte sie die Zelte
bemerkt, und die Schönheit des Prinzen bewundert. „Was ist aus diesen
Leuten geworden?“, rief sie eines Tages, als sie die Zelte nicht mehr
bemerkte, „und wer waren sie?“ – „Es waren,“ sagte die
Sklavin, „die Diener und die Begleitung des Sohnes des Königs von Persien,
der wegen Dir so viele Beschwerlichkeiten auf seiner Reise erfahren hat, und den
Du nicht annehmen wolltest.“ – „Wehe Dir,“ rief die Prinzessin
aus, „warum hast du mir nicht gleich alles so umständlich erzählt?“
– „Ich fürchtete mich vor Deinem Zorn,“ war die Antwort der Sklavin.

Die Prinzessin ging hierauf zu ihrem Vater, und bat ihn um
die Erlaubnis, dem Prinzen folgen zu dürfen. „Denn bei Gott,“ fügte
sie hinzu, „ich muss ihn nun aufsuchen, wie er mich aufgesucht hat. Sonst
würde ich nicht gerecht gegen ihn sein.“ Sie bereitete sich nun zur Reise
vor, und gelangte endlich mit vielen Schätzen durch die Wüste bis nach
Sagestan. Hier ließ sie einen Juwelier kommen, um sich ein Geschmeide machen zu
lassen. Dieser erkannte sie sogleich, denn der Königssohn hatte ihm von ihr
erzählt, und sie ihm genau beschrieben. Als er sich nach dem Zweck ihrer Reise
erkundigt, und sie ihm alles mitgeteilt hatte, schlug er sich ins Gesicht,
zerriss sich die Kleider, streute Erde auf sein Haupt, und weinte bitterlich.
„Weshalb tust Du dieses,“ fragte ihn die Prinzessin. –
„Ach,“ erwiderte er, „ich war sein Gefährte, als er auf der
Rückreise zu Dir war. Da überfielen ihn Räuber, und töteten ihn.“

Die Prinzessin wurde durch diese Nachricht in die tiefste
Betrübnis versetzt, und ohne sich aufzuhalten, reiste sie sogleich zu seinen
Eltern, welche sie von dem Schicksal ihres Sohnes benachrichtigte, und ihnen
seine Grabstätte anzeigte. Sie begaben sich nun alle zusammen dahin, und
beweinten laut seinen Verlust. Die Prinzessin aber hielt sich einen ganzen Monat
an seinem Grab auf, und ließ Maler kommen, die ihr Bildnis neben das des
Königssohnes malen mussten. Sie schrieb hierauf ihre Geschichte, und die
Unglücksfälle, die sie betroffen hatten, auf, und legte sie nebst den
Bildnissen in die Grabstätte, worauf sie sich insgesamt fortbegaben.