Project Description

617. Nacht

Geschichte
des Prinzen von Sind und der Fatime

Vor einigen Jahrhunderten hatte ein Sultan von Sind einen
Sohn von einer Beischläferin, der sich gegen die Sultanin so roh benahm, dass
diese aus Betrübnis darüber in Gefahr kam, ihre Gesundheit zu verlieren. Ihre
Lieblingssklavin, welche das bemerkte, beschloss, durch eine List den Prinzen zu
entfernen. Sie riet ihrer Gebieterin, ihm, wenn er sie wieder beleidigte, zu
sagen, dass er nicht eher seinem Rang ganz angemessen erscheinen könnte, als
bis er von Fatime, der Tochter eines Sultans namens Emir-Ben-Naoman, geliebt
würde. Die Königin befolgte den Rat ihrer Dienerin, und der Prinz beschloss,
in das Land der Prinzessin zu reisen und sie zur Ehe zu verlangen. Als er
demnach die Einwilligung des Sultans, seines Vaters, herhalten hatte, reiste er
mit einem seinem Rang angemessenen Gefolge ab. Nach einiger Zeit gelangte er in
eine Wüste, die mit einer großen Wolke von Heuschrecken bedeckt war, welche
aus Mangel an Nahrung ganz erschöpft niederfielen. Ihre Not bedauernd, befahl
er, ihnen Nahrung hinzuwerfen, welche sie genossen und davonflogen. Einige Tage
nach diesem Vorfall erreichte er einen dichten Wald, der voll von Elefanten und
anderen wilden Tieren war. Da sie aber nicht versuchten, ihn anzufallen, und
sich in einem ausgehungerten Zustand befanden, so befahl er, einige seiner
Lasttiere zu schlachten und sie den wilden Tieren vorzuwerfen. Als diese sich
gesättigt hatten, entfernten sie sich und gaben, soviel es ihre tierische Natur
erlaubte, ihre Dankbarkeit zu erkennen. In einiger Entfernung von diesem Wald
begegnete der Prinz einem ehrwürdigen Greis, den er nach dem Weg in die Staaten
des Emir-Ben-Naoman fragte, und von dem er erfuhr, dass er ihnen ziemlich nahe
wäre, aber nur über eine Kette hoher, steiler und kaum übersteigbarer Gebirge
von Eisenstein dahin gelangen könnte, und dass er, wenn er diese Schwierigkeit
auch wirklich besiegte, doch vergebens trachten würde, die Prinzessin zu
gewinnen. Als der Prinz nach dem Warum fragte, fuhr der Greis fort: „Sultan
Emir-Ben-Naoman hat beschlossen, dass seine Tochter niemand zuteil werden solle,
der nicht drei ihm auferlegte Dinge vollbringt, und diese Dinge sind so
schwierig, dass Menschenkräfte dazu nicht hinreichen. auch haben schon viele
unglückliche Prinzen ihre Köpfe bei dem Versuch verloren; denn wer das
Auferlegte nicht vollbringt, wird sogleich getötet: Lass Dir also wohlmeinend
raten und gib eine so fruchtlose Unternehmung auf.“ Der Prinz, statt auf
die Ermahnung des Greises zu hören, beschloss, seinen Weg fortzusetzen, und tat
es, nachdem er jenen um seinen Segen und seine Fürbitte bei Gott gebeten hatte.
Als er nun in die Gebirgspässe gelangt war, erblickte er weite Höhlen, in
denen Geister große Massen von Eisenstein von den Felsmassen losbrachen. Der
Prinz bewirtete sie festlich, und sie zeigten ihm zum Dank den besten Weg über
das Gebirge. Er kam endlich vor der Hauptstadt des Emir-Ben-Naoman an, zu dem er
einen Abgesandten schickte, der ihn um die Erlaubnis bat, dass der Prinz auf der
Ebene ein Lager aufschlagen und um die schöne Prinzessin werben dürfte. Der
Sultan willigte ein und lud den Prinzen in den Palast, woselbst er abends in
einen Hof geführt wurde, in welchem ein großes Gefäß stand, das mehrere
Arten von Getreide untereinander gemengt enthielt, welche der Prinz – und das war
seine erste Arbeit, um die Prinzessin zu gewinnen – voneinander sondern und in
einzelne Haufen legen sollte, wobei ihm mit dem Verlust seines Kopfes gedroht
wurde, wenn er die Sonderung nicht vor Sonnenaufgang vollbrächte. Da es nun zu
spät war, seinen Vorsatz aufzugeben, so vertraute der Prinz der Vorsehung, und
als die Pforten des Hofes hinter ihm geschlossen wurden, betete er zu Allah und
fing an, das Getreide zu sondern; da er aber die Unmöglichkeit sah, die Arbeit
in der vorgeschriebenen Zeit zu vollbringen, so wurde er gegen Mitternacht
kleinmütig und gab seine fruchtlose Arbeit auf, indem er den verzweifelten
Entschluss fasste, sich auf den Tod gefasst zu machen. Während er nun um
Standhaftigkeit in seinen letzten Augenblicken betete, hörte man eine Stimme,
die laut ausrief: „Tröste Dich und empfange die Belohnung Deiner Güte
gegen hungrige Insekten.“ Sogleich verdunkelte sich der Himmel wie durch
dicke Wolken, die in den Hof herab fielen und aus Myriaden von Heuschrecken
bestanden, welche, um das Gefäß herumschwärmend, in wenigen Minuten die
Sonderung in mehrere Haufen vollbrachten und sodann davonflogen. Der Prinz war
über diese Vollbringung der Arbeit durch die dankbaren Heuschrecken vor Freuden
außer sich, und nachdem er Allah und dem Propheten für diese Errettung aus der
Todesnot gedankt hatte, überließ er sich der Ruhe, überzeugt, dass ihm auch
für die anderen beiden noch zu vollbringenden Arbeiten ein höherer Beistand
nicht fehlen würde. Groß war das Erstaunen des Sultans Emir-Ben-Naoman, als
er, am Morgen in den Hof kommend, sein vermeintliches Schlachtopfer in tiefen
Schlaf versunken und das Getreide in zierliche kuppelförmige Haufen gesondert
fand. Der erwachende Prinz begrüßte ihn und bat ihn, ihm zu sagen, welche
Arbeit er nun zu vollbringen hätte. Aber der Sultan verwies ihn auf den Abend,
bis zu welchem er ihn im Palast durch ein prächtiges Fest unterhielt, und sein
verhärtetes Herz wurde von dem edlen Wesen und Benehmen seines Gastes so
erweicht, dass er ihm die Vollbringung auch der andern beiden wünschte, damit
er sein Schwiegersohn werden könnte. Auch die Prinzessin, welche so neugierig
war, ihn durch die Fenstergitter zu beschauen, hatte sein Anblick so
eingenommen, dass sie für sein Gelingen betete.