Project Description

546. Nacht

Mit Anbruch des Tages machte der Einsiedler sich mit Asem
auf den Weg, und nachdem sie eine steile Anhöhe mit Mühe überstiegen hatten,
gelangten sie an ein Gebäude, welches einer Festung ähnlich sah. Sie traten in
einen Hof, in dessen Mitte eine riesengroßes Erzbild stand. Mehrere Röhren
gingen davon aus und ergossen sich in ein weites Marmorbecken. Dieses Wunder war
ein Werk der Geister.

Der Einsiedler zündete Feuer an, warf einiges
Räucherwerk hinein, und sprach mehrere für Asem unverständliche Worte aus.
Kaum hatte er seine Beschwörungen beendigt, als die Wolken sich schwärzten,
ein heftiger Sturm sich erhub, bleiche Blitze die Wolken zerrissen, und
Donnerschläge in dem ganzen Gebirge widerhallten.

Asem, lebhaft erschüttert, betrachtete schweigend, was um
ihn vorging, der Sturm machte jedoch weniger Eindruck auf sein Gemüt, als das
Geheul und das entsetzliche Getöse, welches sich mitten in dem Becken hören
ließ, das alsbald mit schäumenden Wogen bedeckt war. Das Ungewitter
besänftigte sich endlich, das Getöse schweig, und der Greis wandte sich zu
Asem mit den Worten:

„Geh jetzt hinaus und betrachte das Meer, welches Dir
undurchschiffbar erschien.“

Asem stieg wieder auf den Gipfel des Berges und blickte
neugierig nach dem Meer hin: Sein Erstaunen konnte nicht größer sein, als er
nicht die geringste Spur mehr von demselben erblickte. Vergeblich suchte er noch
ein überbleibsel dieses Meeres, dessen Unermesslichkeit ihn zuvor so erschreckt
hatte.

„Fahre fort, mein Sohn,“ sprach der Weise zu
ihm, „Dein Vertrauen auf Gott allein zu setzen, und verfolge das Ziel
Deiner Reise.“

Mit diesen Worten verschwand der Einsiedler vor Asems
Blicken. Asem setzte nun seinen Weg fort, und erreichte endlich die Inseln Waak
al Waak. Bezaubernd erschien ihm dieses Land. üppige Wiesen und schattige
Bäume boten sich seine Blicken dar. Er wandelte lange durch reizende Gebüsche,
deren Schweigen nur durch den wohllautigen Gesang der Vögel unterbrochen wurde.
Es war eben Sonnenaufgang, und unter den Wundern, welche er hier erblickte, war
auch ein Baum ähnlich einer Tränenweide, an welchem, anstatt der Früchte,
schöne Jungfrauen hingen, die ausriefen: „Gepriesen sei Gott, unser
Schöpfer, und Urheber der Inseln Waak al Waak!“ Damit tropften sie von dem
Baum, und erstarben.1)

Beim Anblick dieses Wunders wurde Asem ganz verwirrt, und
er rief aus: „Beim Himmel, dies ist eine wundervolle Erscheinung!“

Als er sich wieder erholt hatte, wandelte er fürder durch
die Haine, und bewunderte die Werke des Allmächtigen bis Sonnenuntergang. Da
setzte er sich nieder, um auszuruhen.

Eine alte Frau kam endlich auf ihn zu: Verwundert über
den Anblick eines Mannes, fragte sie ihn, woher er käme und was er wollte.
„Habt Vertrauen zu mir,“ sprach sie zu ihm, „ich werde alles tun,
was von mir abhängt, um Euch zu befriedigen.“

Asem, durch so verbindliche Worte ermuntert, erzählte der
Alten einen Teil seiner Geschichte und den Beweggrund seiner Reise. Sie schien
innig gerührt von seinen Worten; und nachdem sie einige Augenblicke nachgedacht
hatte, versprach sie ihm behilflich zu sein, um zu seiner Gattin zu gelangen,
welche Gefahr auch damit verknüpft wäre.

Beide kamen endlich an das Tor der Hauptstadt, und die
Alte benutzte die Dunkelheit der Nacht, Asem hinein zu führen, und verbarg ihn
in ihrem eigenen Haus. Sie empfahl ihm ausdrücklich, es nicht zu verlassen,
denn der bloße Anblick eines Mannes könnte das ganze Land in Aufruhr bringen,
und das weibliche Volk in Unruhe versetzen.


1) In
Richardsons arabischer Grammatik steht folgende Stelle aus dem Geographen Ib’n
Tophail, der zugleich als Naturkundiger, der Plinius des Morgenlandes genannt
werden kann:
Unsere frommen Vorfahren (Gott habe sie selig!) erzählen, dass unter den
indischen Inseln ein Eiland gerade unter der Mittagslinie ist, auf welchem
Menschen ohne Vater und Mutter geboren werden, und wo ein Baum Frauen als
Früchte trägt.“
Die noch in dem bekannten Reim: „Sachsen, wo die Mädel auf den Bäumen
wachsen,“ ausgedrückte alte Stammsage, wonach die Sachsen aus den
Harzfelsen im grünen Wald an einem Brunnen, und die Deutschen überhaupt aus
den Bäumen hervor gewachsen sind: Die in allen Mythologien, besonders auch in
der Nordischen vorkommende Menschenschöpfung aus Steinen und Bäumen.