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406. Nacht

Während der Abwesenheit des Inders hätte die Prinzessin
von Bengalen, die sich in der Gewalt eines unwürdigen Entführers sah, dessen
Gewalttätigkeit sie fürchtete, sich gern geflüchtet und einen Zufluchtsort
aufgesucht, doch da sie am Morgen bei ihrer Ankunft im Lustschloss nur einen
sehr leichten Imbiss zu sich genommen hatte, so fühlte sie sich, als sie ihren
Plan ausführen wollte, so schwach, dass sie genötigt war, ihn aufzugeben und
sich auf keine weitere Hilfe als auf ihren Mut zu verlassen, doch mit dem festen
Entschluss, lieber den Tod zu erleiden, als sich einer Untreue gegen den Prinzen
von Persien schuldig zu machen. Darum ließ sie sich vom Inder zum Essen nicht
zweimal nötigen, sondern aß mit und bekam davon so viel Kraft, um dem Inder
auf seine unverschämten Reden, die er am Schluss der Mahlzeit zu führen
anfing, mutig zu antworten. Da sie sah, dass der Inder nach einigen Drohungen
sich anschickte, ihr Gewalt anzutun, stand sie auf, um Widerstand zu leisten,
und stieß ein heftiges Geschrei aus. Dies Geschrei lockte augenblicklich einen
Trupp Reiter herbei, die sie und den Inder umringten.

Es war der Sultan des Königreichs Kaschmir, der, mit
seinem Gefolge von der Jagd zurückkehrend, zum Glück für die Prinzessin
gerade an diesem Ort vorüber ritt, und der auf den vernommenen Lärm
herbeigeeilt war. Er wandte sich an den Inder mit der Frage, wer er sei, und was
für Ansprüche er an die Schöne mache, die er da vor sich sähe. Der Inder
antwortete unbesonnener Weise, es sei seine Frau, und der Streit, den er mit ihr
habe, gehe niemanden weiter etwas an.

Die Prinzessin, welche weder den Rang noch den Stand
dessen kannte, der so zur glücklichen Stunde zu ihrer Befreiung erschien,
strafte den Inder Lügen und sagte:

„Gnädiger Herr, wer ihr auch sein mögt, den der
Himmel mir zu meiner Rettung sendet, habt Mitleid mit einer Prinzessin, und
glaubt diesem Betrüger nicht. Gott behüte, dass ich je die Frau eines elenden
und verächtlichen Inders werden sollte. Es ist ein abscheulicher Zauberer, der
mich heute dem Prinzen von Persien, dem ich zur Gemahlin bestimmt war, geraubt
und mich auf diesem Zauberpferd, welches ihr da seht, hierher geführt
hat.“

Die Prinzessin von Bengalen bedurfte nicht erst vieler
Worte, um den Sultan von Kaschmir zu überzeugen, dass sie die Wahrheit rede.
Ihre Schönheit, die Würde ihres ganzen Wesens, ihre Tränen, sprachen für
sie. Sie wollte noch weiter sprechen, allein der Sultan von Kaschmir, der über
die Unverschämtheit des Inders mit Recht ergrimmte, ließ ohne weiter auf sie
zu hören, ihn auf der Stelle umbringen, und befahl, dass ihm der Kopf abgehauen
werden solle. Dieser Befehl wurde um so leichter vollzogen, da der Inder, der
diesen Raub gleich bei seinem Heraustritt aus dem Gefängnis begangen, keine
Verteidigungswaffen bei sich hatte.

Die Prinzessin von Bengalen war kaum von den
Nachstellungen des Inders befreit, so geriet sie auch schon in andere, die für
sie nicht minder betrübend waren. Der Sultan ließ ihr sogleich ein Pferd
geben, führte sie nach seinem Palast, räumte ihr darin das prachtvollste
Zimmer nach dem seinigen ein, und gab ihr eine große Anzahl von Sklavinnen zur
Bedienung, so wie auch Verschnittene zu ihrer Bewachung. Er führte sie in
dieses Zimmer, und sagte dort zu ihr, ohne ihr Zeit zu lassen, ihm für diese
großen Verpflichtungen zu danken:

„Prinzessin, ich zweifle nicht, dass ihr Ruhe nötig
haben werdet. Ich lasse euch daher jetzt ungestört, um sie zu genießen. Morgen
werdet ihr vielleicht eher im Stande sein, mir das Nähere über euer seltsames
Abenteuer zu erzählen.“ Mit diesen Worten entfernte er sich.