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399. Nacht

„Binnen kurzer Zeit war ich so weit von der Erde
entfernt, dass ich keinen Gegenstand mehr zu unterschieden vermochte, und es kam
mir vor, als wäre ich schon so nahe am Himmelsgewölbe, dass ich bereits
fürchtete, ich würde mir den Kopf daran zerstoßen.“

„Bei der reißend schnellen Bewegung, womit ich empor
geführt wurde, war ich lange Zeit wie außer mir und außer Stande, auf die
gegenwärtige Gefahr zu achten, welcher ich in mehr als einer Hinsicht
ausgesetzt war. Ich wollte den Wirbel, den ich anfangs gedreht, wieder
rückwärts drehen, aber ich sah davon nicht die Wirkung, die ich erwartet
hatte. Das Pferd fuhr noch immer fort, mich zum Himmel empor zu tragen und mich
so immer mehr von der Erde zu entfernen. Ich bemerkte endlich einen andern
Wirbel, und drehte ihn, und das Pferd begann nun, anstatt noch mehr zu steigen,
sich zur Erde herabzusenken, und da ich mich sehr bald im Dunkel der Nacht
befand, und es unmöglich war, das Pferd so zu lenken, dass es mich an einen Ort
niedersetzte, wo für mich keine Gefahr vorhanden war, so hielt ich den Zügel
ganz locker und stellte mein Schicksal ganz dem Willen Gottes anheim.“

„Das Pferd erreichte endlich den Boden, ich stieg ab,
untersuchte den Ort, und befand mich auf dem Stufendach dieses Palastes. Ich
bemerkte die Tür zu einer Treppe, welche halb offen stand, ich stieg ohne
Geräusch hinab, und eine offene Tür mit einem matten Lichtschimmer war vor
mir. Ich steckte den Kopf hinein, und da ich schlafende Verschnittene darin sah
und dahinter ein helles Licht, welches durch einen Türvorhang schimmerte, so
gab mir die dringende Not, worin ich mich befand, ungeachtet der unvermeidlichen
Gefahr, die mir bevorstand, wenn die Verschnittenen erwachten, die Kühnheit,
ich möchte sagen die Verwegenheit ein, ganz leise vorwärts zu gehen und den
Türvorhang zu öffnen.“

„Es ist nicht nötig, Prinzessin, euch noch das
übrige zu erzählen. Ihr wisst es ja selber. Es bleibt mir bloß noch übrig,
euch für eure Güte und Großmut zu danken und euch zu bitten, mir anzuzeigen,
wodurch ich euch meine Erkenntlichkeit für eine so große Wohltat dergestalt an
den Tag legen kann, dass ihr damit zufrieden seid. Da ich dem Völkerrecht
zufolge ohnehin bereits euer Sklave bin, und da ich euch also meine Person nicht
mehr anbieten kann, so bleibt mir nur noch mein Herz anzubieten übrig. Doch was
sage ich? Mein Herz gehört mir ja nicht mehr, ihr habt mir es bereits durch
eure bezaubernden Reize entrissen, und anstatt es von euch zurückzuverlangen,
überlasse ich es euch mit Freuden. Erlaubt mir daher, euch zu erklären, dass
ich euch ebenso sehr für die Gebieterin meines Herzens als meines Willens
anerkenne.“

Diese letzten Worte sprach der Prinz mit einem Ton und mit
einer Miene, welche die Prinzessin von Bengalen über die Wirkung, welche ihre
Reize hervorgebracht, keinen Augenblick in Zweifel ließen. Sie nahm übrigens
an der Erklärung des Prinzen, als zu übereilt, keinen Anstoß, und die Röte,
die ihr darüber ins Gesicht stieg, machte sie in den Augen des Prinzen nur noch
schöner und liebenswürdiger.

Als der Prinz von Persien seine Rede geendigt hatte, nahm
die Prinzessin von Bengalen das Wort und sprach:

„Prinz, wenn ihr mir einerseits durch Erzählung der
seltsamen und wunderbaren Dinge, die ich soeben vernommen, viel Vergnügen
gemacht habt, so konnte ich andererseits nicht ohne Entsetzen euch in der
höchsten Region der Luft schwebend denken, und obwohl ich so glücklich bin,
euch gesund und lebend vor mir zu sehen, so habe ich doch nicht eher zu zittern
aufgehört, als bis ihr mir erzähltet, dass das Pferd des Inders euch so
glücklicher Weise auf das Terrassendach meines Palastes niedergesetzt habe.
Dasselbe konnte ja eben so gut an tausend anderen Orten geschehen. Indessen ich
freue mich, dass der Zufall mir den Vorzug und die Gelegenheit gegeben hat, euch
kennen zu lernen. Derselbe Zufall hätte euch leicht anders wohin führen
können, allein nirgends würdet ihr lieber und gerner gesehen sein als
hier.“

„Darum, mein Prinz, würde ich mich für sehr
empfindlich beleidigt halten müssen, wenn ich glauben könnte, dass ihr den
Gedanken, als wärt ihr mein Sklave, im Ernst geäußert hättet, und wenn ich
ihn nicht vielmehr eurer Höflichkeit, als eurer inneren aufrichtigen Gesinnung
zuschreiben müsste. Die Aufnahme, die ihr gestern bei mir fandet, wird euch
hinlänglich gezeigt haben, dass ihr hier ebenso frei seid, als mitten am Hof
von Persien.“

„Was euer Herz betrifft,“ fuhr die Prinzessin
von Bengalen in einem Ton fort, worin eben nichts Zurückweisendes lag, „so
bin ich überzeugt, dass ihr nicht bis jetzt gewartet haben werdet, um darüber
zu verfügen, und dass eure Wahl gewiss nur auf eine solche Prinzessin gefallen
ist, die es verdient. Es würde mir daher sehr leid tun, wenn ich euch Anlass
geben sollte, eine Untreue an ihr zu begehen.“

Der Prinz Firus Schach wollte der Prinzessin beteuern,
dass er mit noch freiem Herzen von Persien hierher gekommen sei. Allein in dem
Augenblick, wo er das Wort nehmen wollte, meldete eine von den Frauen der
Prinzessin, dass das Mittagessen aufgetragen sei.

Diese Unterbrechung befreite den Prinzen und die
Prinzessin von einer Erklärung, die beide auf gleiche Weise in Verlegenheit
gesetzt haben würde, und die sie doch nicht weiter bedurften. Die Prinzessin
von Bengalen war nämlich von der Aufrichtigkeit des Prinzen von Persien
vollkommen überzeugt, und was den Prinzen betrifft, so schloss er, obwohl die
Prinzessin sich nicht weiter erklärt hatte, dennoch aus ihren Worten und aus
dem geneigten Wesen, womit sie ihn angehört hatte, dass er alle Ursache habe,
mit seinem Glück zufrieden zu sein.