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238. Nacht

„Herr, die Prinzessin Badur und der Prinz
Kamaralsaman standen am folgenden Morgen, sobald es Tag war, auf. Aber die
Prinzessin zog nicht mehr den Königsstaat, sondern ein Frauenkleid an. Als sie
angekleidet war, schickte sie das Oberhaupt der Verschnittenen zum König
Armanos, ihrem Schwäher, und ließ ihn bitten, sich in ihr Zimmer zu bemühen.

Als der König Armanos hinkam, war er sehr überrascht,
eine Frau zu sehen, die ihm unbekannt war, und bei ihr den Großschatzmeister,
dem es nicht Zustand, den inneren Palast zu betreten, so wenig als irgend einem
anderen Herrn des Hofes. Er setzte sich, und fragte nach dem König.

„Herr,“ erwiderte die Prinzessin, „gestern
war ich König, heute bin ich nur die Prinzessin von China, Gemahlin des
wirklichen Prinzen Kamaralsaman, des Königs Schachsamans Sohns. Wenn Euer
Majestät geruht, mit Geduld unsere Geschichte anzuhören, so hoffe ich, ihr
werdet mich nicht verdammen, euch durch eine so verzeihliche List getäuscht zu
haben.“

Der König Armanos gab ihr Gehör, und vernahm ihre
Geschichte mit Erstaunen von Anfang bis zu Ende.

„Herr,“ fügte die Prinzessin am Schluss hinzu,
„obwohl in unserer Religion die Frauen sich wenig nach der Freiheit der
Männer, mehrere Frauen zu nehmen, bequemen, so will ich gleichwohl, wenn Euer
Majestät in die Vermählung der Prinzessin Haïat-al-nefus, eurer Tochter, mit
dem Prinzen Kamaralsaman willigt, ihr herzlich gern den Rang und Stand einer
Königin abtreten, der ihr mit Recht gebührt, und mich mit dem zweiten Rang
begnügen. Ja, wenn dieser Vorzug ihr auch nicht gebührte, so würde ich doch
nicht unterlassen, ihr denselben einzuräumen, zum schuldigen Dank, dass sie
mein Geheimnis so edelmütig bewahrt hat. Will Euer Majestät es auf ihre
Einwilligung ankommen lassen, so habe ich sie schon darauf vorbereitet, und bin
gewiss, dass sie sehr zufrieden sein wird.“

Der König hörte die Rede der Prinzessin Badur mit
Bewunderung an. Als sie geendigt hatte, wandte er sich zum Prinzen Kamaralsaman,
und sprach: „Mein Sohn, da die Prinzessin Badur, eure Gemahlin, die ich
bisher durch eine Täuschung, über welche ich mich nicht beklagen kann, für
meinen Schwiegersohn hielt, mich versichert, dass sie gern euer Bett mit meiner
Tochter teilen will, so wünsche ich nur noch zu wissen, ob ihr auch sie
heiraten und die Krone annehmen wollt, welche die Prinzessin Badur ihr Leben
lang zu tragen verdiente, wenn sie nicht vorzöge, dieselbe euch zu Liebe
niederzulegen.“

„Herr,“ antwortete der Prinz Kamaralsaman,
„wie groß meine Sehnsucht ist, meinen Vater wieder zu sehen, so sind jedoch
meine Verpflichtungen gegen Euer Majestät und die Prinzessin Haïat-al-nefus so
stark, dass ich euch nichts abschlagen kann.“

Kamaralsaman wurde also als König ausgerufen, an
demselben Tag mit großer Pracht vermählt, und war durch die Schönheit, den
Geist und die Liebe der Prinzessin Haïat-al-nefus sehr befriedigt.

In der Folge lebten die beiden Königinnen fortwährend in
derselben Freundschaft und Eintracht, wie zuvor, und waren sehr zufrieden mit
der Gleichheit, die Kamaralsaman gegen sie beobachtete, indem er abwechselnd
sein Bett mit ihnen teilte.

Sie gebaren ihm in demselben Jahr jede einen Sohn, fast zu
gleicher Zeit. Die Geburt der beiden Prinzen wurde mit großen Freudenfesten
gefeiert.

Kamaralsaman gab dem ältesten, den die Königin Badur
geboren hatte, den Namen Amgiad1),
und den von der Königin Haïat-al-nefus geborenen Sohn nannte er Assad2).

Geschichte
der Prinzen Amgiad und Assad

Die beiden Prinzen wurden mit großer Sorgfalt erzogen,
und als sie zu reiferen Jahren kamen, hatten sie beide dieselben Hofmeister und
dieselben Lehrer in den Wissenschaften und schönen Künsten, worin Kamaralsaman
sie unterrichten lassen wollte, und dieselben Lehrmeister in allen übungen. Die
innige Freundschaft zwischen beiden von ihrer Kindheit an, erzeugte diese
übereinstimmung des Geschmacks und der Studien, die sich stets vermehrte.

In der Tat, als sie zu dem Alter kamen, dass jeder ein
besonderes Haus haben sollte, waren sie so innig verbunden, dass sie den König
Kamaralsaman, ihren Vater baten, ihnen nur ein Haus für sie beide zu
bewilligen. Sie erhielten es, und so hatten sie dieselben Hausbeamten, dieselben
Bedienten, denselben Marstall, dasselbe Wohnzimmer und denselben Tisch.

Allmählich hatte Kamaralsaman so großes Vertrauen auf
ihre Tüchtigkeit und Geradheit, dass er, als sie das Alter von achtzehn Jahren
erreicht hatten, keinen Anstand nahm, ihnen abwechselnd den Vorsitz im Staatsrat
zu übertragen, so oft er Jagden von mehreren Tagen anstellte.

Da die beiden Prinzen gleich schön und wohl gebildet
waren, so hatten von ihrer Kindheit an die beiden Königinnen eine unglaubliche
Zärtlichkeit für sie, dergestalt zwar, dass die Königin Badur mehr Zuneigung
für Assad, den Sohn der Königin Haïat-al-nefus, empfand, als für ihren
eigenen Sohn Amgiad, und die Königin Haïat-al-nefus wiederum mehr für Amgiad,
als für Assad, ihren Sohn.

Die Königinnen hielten anfangs diese Zuneigung für eine
Folge ihrer eigenen gegenseitigen Freundschaft. Aber in dem Maße als die
Prinzen älter wurden, ward daraus unbemerkt eine heftige Liebe, und dies stieg
bald zur glühendsten Leidenschaft, als die beiden Prinzen ihren Augen in einer
Anmut erschienen, welche ihre Verblendung vollendete. Die ganze Abscheulichkeit
ihrer Leidenschaft war ihnen bewusst, und sie strengten alle Kraft an, ihr zu
widerstehen. Aber die Vertraulichkeit, mit welcher sie die Jünglinge täglich
sahen, und die Gewohnheit, von der sie sich nicht mehr losreißen konnten, sie
von ihrer Kindheit an zu bewundern und ihnen zu liebkosen, entzündeten ihre
Liebe zu einem Grade, dass sie Schlaf und Esslust verloren. Zu ihrem Unglück,
und zum Unglück der Prinzen selber, hatten diese, an ihre Zärtlichkeit
gewöhnt, nicht den geringsten Verdacht von dieser abscheulichen Flamme.

Da die beiden Königinnen einander kein Geheimnis aus
ihrer Leidenschaft gemacht, jedoch nicht die Schamlosigkeit hatten, sie
mündlich dem Prinzen, welchen jede von ihnen besonders liebte, zu erklären, so
kamen sie überein, es schriftlich zu tun. Zur Ausführung dieses unseligen
Vorsatzes benutzten sie die Abwesenheit des Königs Kamaralsaman auf einer drei-
oder viertägigen Jagd.

Am Tag der Abreise des Königs hatte Amgiad den Vorsitz im
Rat, und hielt Gericht bis zwei oder drei Uhr Nachmittags. Als er nach der
Sitzung in den Palast zurückkam, zog ein Verschnittener ihn beiseite und
überreichte ihm einen Zettel von der Königin Haïat-al-nefus. Amgiad nahm und
las ihn mit Entsetzen. „Wie, Verräter,“ sagt er hierauf zu dem
Verschnittenen, indem er den Säbel zog, „ist das die Treue, welche du
deinem Herrn und König schuldig bist?“ Und mit diesen Worten hieb er ihm
den Kopf ab.

Nach dieser Tat ging Amgiad, außer sich vor Zorn, zu der
Königin Badur, seiner Mutter. Mit einer Miene, die genügend seinen Unwillen
ausdrückte, zeigte er ihr den Brief, und unterrichtete sie von dessen Inhalt,
nachdem er ihr gesagt hatte, von wem er käme.

Anstatt ihn anzuhören, geriet die Königin Badur selber
in Zorn. „Mein Sohn,“ erwiderte sie, „was du mir da sagst, ist
eine Verleumdung und Erdichtung: Die Königin Haïat-al-nefus ist viel zu
vernünftig. Ich finde es sehr verwegen von dir, mit solcher Unverschämtheit
von ihr zu mir zu sprechen.“

Der Prinz entrüstete sich bei diesen Worten gegen die
Königin, seine Mutter, und rief aus: „Ihr seid alle, die eine noch
schändlicher als die andere! Wenn mich die Ehrfurcht nicht zurückhielte,
welche ich dem König, meinem Vater, schuldig bin, so sollte dies der letzte Tag
für Haïat-al-nefus sein.“

Die Königin Badur konnte aus dem Beispiel ihres Sohnes
Amgiad wohl ermessen, dass der Prinz Assad, der nicht minder tugendhaft war, die
ähnliche Erklärung, die sie ihm zu machen vor hatte, nicht günstiger
aufnehmen würde. Das verhinderte sie jedoch nicht, in einem so abscheulichen
Vorsatz zu beharren, und sie schrieb ihm am folgenden Morgen ebenfalls einen
Brief, welchen sie einer Alten, die Zutritt im Palast hatte, anvertraute.

Die Alte nahm auch die Gelegenheit wahr, dem Prinzen Assad
beim Ausgang aus dem Rat, worin er an seinem Tag den Vorsitz gehabt hatte, den
Zettel zu übergeben. Der Prinz nahm ihn, und las, und ließ sich vom Zorn
dergestalt hinreißen, dass er, ohne sich die Mühe zu geben zu Ende zu lesen,
seinen Säbel zog und die Alte bestrafte, wie sie es verdiente. Er rannte nach
dem Zimmer der Königin Haïat-al-nefus, seiner Mutter, mit dem Brief in der
Hand. Er wollte ihr denselben zeigen: Aber sie ließ ihm nicht Zeit dazu, ja ihn
nicht einmal zu Worte kommen. „Ich weiß, was du mir sagen willst,“
rief sie aus, „und du bist ebenso unverschämt, als dein Bruder Amgiad.
Hebe dich weg, und komm mir nie mehr vor die Augen.“

Assad stand bestürzt bei diesen Worten, deren er sich
nicht versehen hatte, und sie versetzten in in einen Zorn, welchen er schon auf
unselige Weise zu äußern im Begriff war. Aber er hielt sich zurück, und ging
weg, ohne ein Wort zu erwidern, aus Furcht, etwas seiner edlen Seele unwürdiges
zu sagen. Da der Prinz Amgiad so bescheiden gewesen war, ihm nichts von dem am
vorigen Tag empfangenen Brief zu sagen, er nun aber aus den Worten seiner Mutter
ersah, dass sie nicht minder schuldig war, als die Königin Badur, so ging er zu
ihm, machte ihm freundschaftliche Vorwürfe über sein Schweigen, und er mischte
seinen Schmerz mit dem seinigen.

Die beiden Königinnen, voll Verzweiflung, in ihren beiden
Söhnen eine Tugend gefunden zu haben, welche sie selber hätte zur Besinnung
bringen sollen, entsagten allen natürlichen Gefühlen, und trachteten vereint,
sie zu verderben. Sie bildeten ihren Frauen ein, dass jene ihnen hätten Gewalt
antun wollen, sie stellten sich auch ganz so an durch Weinen und Schreien und
Verwünschungen, die sie gegen sie ausstießen, und legten sich beide in ein
Bett, als wenn der Widerstand, den sie ihnen entgegen gesetzt haben wollten, sie
aufs äußerste gebracht hätte …

„Aber Herr,“ sagte hier Scheherasade, „der
Tag bricht an und legt mir Stillschweigen auf.“ Sie schwieg, und in der
folgenden Nacht setzte sie dieselbe Geschichte fort, und sprach zu dem Sultan
von Indien:


1)
Amgiad bedeutet sehr ruhmvoll.
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2)
Assad bedeutet sehr glücklich.
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