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128. Nacht

Der Arzt und seine Frau beratschlagten miteinander über
das Mittel, sich während der Nacht von dem Leichnam zu befreien. Der Arzt
mochte hin und her sinnen, so viel er wollte, er fand keine List, um sich aus
seiner Verlegenheit zu ziehen, aber seine erfindungsreichere Frau sagte:
„Mir fällt etwas ein, wir wollen den Leichnam auf das Dach1)
unserer Wohnung tragen, und ihn in den Schornstein unseres Nachbars, des
Muselmanns werfen.“

Dieser Muselmann war einer der Lieferanten des Sultans,
und hatte öl, Butter und alle Arten von Fett zu liefern. Er hatte ein
Vorratshaus bei seiner Wohnung, worin die Ratten und Mäuse großen Schaden
anrichteten.

Da der jüdische Arzt den Vorschlag gebilligt hatte, so
nahmen seine Frau und er den Buckligen, trugen ihn auf das Dach ihres Hauses,
und nachdem sie ihm unter die Achseln Stricke gezogen hatten, ließen sie ihn
durch den Schornstein so sanft in das Zimmer des Lieferanten herab, dass er an
die Mauer gelehnt auf seinen Füßen, wie lebend, stehen blieb. Als sie
fühlten, dass er unten war, zogen sie die Stricke hinauf, und ließen ihn in
der beschriebenen Stellung.

Kaum waren sie wieder in ihrem Zimmer, als der Lieferant
in das seinige trat. Er kam von einem Hochzeitmahl heim, zu welchem er diesen
Abend war geladen gewesen, und hatte eine Laterne in der Hand. Er war nicht
wenig erstaunt, bei ihrem Licht einen Mann in seinem Kamin aufrecht stehen zu
sehen; da er aber von Natur mutig war und sich einbildete, dass es ein Dieb
wäre, so ergriff er einen großen Stock, und sagte, indem er gerade auf den
Buckligen losging: Ich bildete mir ein, dass es die Ratten und Mäuse wären,
die meine Butter und mein Fett fressen, und du bist’s, der zum Kamin
herunterkommt, um mich zu bestehlen. Ich glaube jedoch nicht, dass dir noch
jemals die Lust anwandeln wird, wieder zu kommen.“

Nach diesen Worten schlug er nach ihm und gab ihm mehrere
Stockschläge. Der Leichnam fiel auf die Nase und der Lieferant verdoppelte
seine Schläge. Da er aber endlich bemerkte, dass der Körper, den er schlug,
bewegungslos war, so hielt er inne, um ihn zu betrachten. Als er nun sah, dass
es ein Leichnam ist, folgt die Furcht dem Zorn. „Was habe ich Elender
getan?“, sagte er. „Einen Menschen erschlagen! Ach, ich habe meine
Rache viel zu weit getrieben! Großer Gott, wenn du dich meiner nicht erbarmst,
so ist’s um mein Leben geschehen. Tausendmal verflucht sei das öl und das Fett,
wodurch ich zu einer so verbrecherischen Handlung veranlasst worden bin.“

Er blieb blass und entstellt. Er glaubte schon die Diener
der Gerechtigkeit zu sehen, die ihn zu Tode schleppten, und er wusste nicht, was
er anfangen sollte …


1)
In fast allen Städten des Orients sind die Dächer der Häuser terrassenförmig
und miteinander zusammenhängend. Die Bewohner schlafen oft auf ihnen während
der Sommernächte.