33. Kapitel


Der Sieg

Haben nicht viele von uns in diesem mühseligen Leben manchmal gedacht, daß es leichter sei, zu sterben, als zu leben?

Als Tom seinem Peiniger gegenüberstand und seine Drohungen hörte und in innerster Seele gefaßt war, daß sein Stündlein gekommen sei, war ihm das Herz von Mut geschwollen, und er dachte, er könnte Folterqual und Feuer und alles ertragen, wenn ihm die Vision Jesu und des Himmels nur einen Schritt weiter davonwinkte; aber als der Peiniger fort und die Aufregung des Augenblicks vergangen war, kehrte der Schmerz seiner zerschlagenen und müden Glieder und das Gefühl seines gänzlich versunkenen, hoffnungslosen, verlassenen Zustandes wieder; und der Tag entschwand langsam und mühselig genug.

Lange bevor seine Wunden geheilt waren, bestand Legree darauf, daß er wieder regelmäßig auf dem Felde arbeiten müsse; und dann kam Tag nach Tag voll Schmerz und Mühsal, erschwert durch jede Art von Ungerechtigkeit und Schmach, welche die Bosheit einer gemeinen und tückischen Seele ersinnen konnte. Wer in unseren Umständen Schmerzensprüfungen ausgesetzt gewesen ist, selbst mit allen den Erleichterungen, welche wir meistens dabei genießen, muß wissen, welche Gereiztheit davon hervorgebracht wird. Tom wunderte sich nicht mehr über das mürrische Wesen seiner Kameraden; ja, er fand sogar, daß die ruhige und sonnenheitere Stimmung, die bei ihm gewöhnlich war, durch dieselbe Gereiztheit gar arg beeinträchtigt werde. Er hatte sich mit der Hoffnung geschmeichelt, Muße zum Lesen der Bibel zu finden, aber hier gab es so etwas wie Muße nicht. In der lebhaftesten Zeit der Lese nahm Legree keinen Anstand, alle seine Arbeiter sonntags und wochentags mit gleicher Hast anzutreiben. Warum sollte er auch nicht? Er erntete dadurch mehr Baumwolle und gewann seine Wette; und wenn ein paar Sklaven zugrunde gingen, so konnte er bessere kaufen. Anfangs pflegte Tom einen oder zwei Verse seiner Bibel beim Schimmer des Feuers zu lesen, wenn er von seiner Tagesarbeit nach Hause gekommen war; aber nach der grausamen Züchtigung, die er erlitten, kam er meistens so erschöpft nach Hause, daß ihm der Kopf schwindelte und die Augen vergingen, wenn er zu lesen versuchte, und er sehnte sich zu sehr, sich mit den andern in gänzlicher Erschöpfung auf das Lager hinzustrecken.

Es ist seltsam, daß der religiöse Frieden und das Gottvertrauen, das ihn bisher aufrechterhalten, unter diesen Seelenkämpfen und in dieser verzweifelnden Nacht schwächer wurde. Das dunkelste Problem dieses geheimnisvollen Lebens hatte er beständig vor Augen: zertretene und zugrunde gerichtete Seelen, den Sieg der Bösen und Gott, der dazu schwieg.

Wochen und Monate lang rang Tom in seiner Seele in Nacht und Kummer. Er dachte an Miß Ophelias Brief, an seine Freunde in Kentucky und betete inbrünstig zu Gott, ihm seine Befreiung zu schicken; und dann wartete er Tag für Tag in der unbestimmten Hoffnung, jemand zu seiner Erlösung kommen zu sehen; und als niemand kam, drängte er bittere Gedanken zurück – daß es vergebens sei, Gott zu dienen – daß Gott ihn vergessen habe. Manchmal sah er Cassy; und manchmal, wenn man ihn ins Haus berief, erblickte er flüchtig Emmelines melancholische Gestalt, aber er hatte mit beiden wenig Verkehr, denn er hatte nicht einmal Zeit, mit jemand zu verkehren. Eines Abends saß er ganz niedergeschlagen und zerschmettert bei ein paar verglimmenden Bränden, über denen sein dürftiges Abendessen kochte. Er legte noch ein paar Stücke Reißholz aufs Feuer und versuchte, die Flamme heller zu machen, und zog dann seine zerlesene Bibel aus der Tasche. Da waren alle die angezeichneten Stellen, die seine Seele so oft begeistert hatten – Worte von Patriarchen und Propheten, von Dichtern und Weisen, die von früher Zeit an dem Menschen Mut zugesprochen – Stimmen aus der großen Wolke von Zeugen, die uns auf der Lebensbahn begleitet. Hatte das Wort seine Kraft verloren, oder konnte das geschwächte Auge und der müde Sinn nicht mehr bei der Berührung auf die mächtige Inspiration antworten? Mit einem schweren Seufzer steckte er sie wieder in die Tasche. Ein rohes Lachen weckte ihn; er blickte auf – Legree stand vor ihm.

»Nun, alter Bursche«, sagte er, »wie es scheint, findest du, daß du mit deiner Religion nicht auskommst! Ich dachte gleich, ich würde dir das noch durch deine Wolle einbläuen!«

Der grausame Hohn war schlimmer als Hunger und Kälte und Entblößung. Tom schwieg.

»Du warst ein Tor«, sagte Legree, »denn ich hatte dich zu etwas Gutem bestimmt, als ich dich kaufte. Du hättest dich besser befinden können als Sambo oder Quimbo und gute Zeit gehabt; und anstatt daß du alle Tage oder einen Tag um den andern deine Prügel kriegst, hättest du über alle anderen den Herrn spielen und die Nigger verprügeln können; und gelegentlich hätte ich dir dann auch einmal gut mit Whiskypunsch eingeheizt. Na, meinst du nicht, es wäre besser, du nähmest Vernunft an? Wirf den alten Plunder da ins Feuer und tritt zu meiner Kirche über!«

»Der Herr verhüte das!« sagte Tom voll Inbrunst.

»Du siehst, der Herr wird dir nicht helfen. Wenn er das wollte, so würde er nicht geduldet haben, daß ich dich kaufte! Deine ganze Religion ist nichts als Lug und Trug, Tom. Ich kenne ja die ganze Geschichte. Besser ist’s, du hältst dich zu mir, ich bin etwas und kann etwas tun!«

»Nein, Master«, sagte Tom, »ich halte zu Ihm. Der Herr mag mir helfen oder nicht; aber ich werde an Ihm festhalten und an Ihn glauben bis zuletzt!«

»Dann bist du nur ein noch größerer Narr!« sagte Legree, indem er höhnisch nach ihm spuckte und ihm einen Fußtritt gab. »Tut nichts, ich will schon noch deinen Trotz brechen, darauf kannst du dich verlassen!« Und damit entfernte sich Legree.

Wenn eine schwere Last die Seele bis auf die niedrigste Stufe, wo sie es noch ertragen kann, niederdrückt, so machen Körper und Seele mit jedem Nerv einen sofortigen und verzweifelten Versuch, die Last abzuwerfen; und deshalb geht der tiefste Seelenschmerz oft einer rückkehrenden Flut von Freude und Mut voraus. So war es jetzt bei Tom. Die atheistischen Verhöhnungen seines grausamen Herrn brachten seine schon vorher niedergeschlagene Seele auf den niedrigsten Standpunkt herab, aber obgleich die gläubige Hand immer noch an dem ewigen Felsen festhielt, so tat sie es doch nur noch mit schlaffem verzweifelndem Griff. Tom saß wie ein Betäubter vor dem Feuer. Plötzlich schien alles um ihn zu verbleichen, und es erschien ihm ein Gesicht von einem mit Dornen gekrönten Haupt, zerschlagen und blutend. Tom betrachtete mit Ehrfurchtsschauern und Staunen die majestätische Geduld des Gesichts; die tiefen pathetischen Augen durchzuckten ihn bis ins innerste Herz, seine Seele erwachte, wie er mit einer Flut von Tränen der Rührung die Hände hob und auf die Knie niedersank. Und jetzt veränderte sich allmählich das Gesicht, die spitzen Dornen verwandelten sich in eine Strahlenkrone und in unfaßbarem Glanze sah er dasselbe Gesicht sich voller Erbarmen über ihn neigen und eine Stimme sagen: »Wer überwindet, dem will ich geben, mit mir auf einem Stuhl zu sitzen, wie ich überwunden habe, und bin gesessen mit meinem Vater auf seinem Stuhl.«

Wie lange Tom dagelegen, wußte er nicht. Als er wieder zu sich kam, war das Feuer verloschen, seine Kleider waren naß von kaltem Tau; aber die schreckliche Seelenkrisis war vorbei, und in der Freude, die ihn erfüllte, fühlte er Hunger, Kälte, Erniedrigung, getäuschte Hoffnung nicht länger. Aus seiner tiefsten Seele sagte er sich in jener Stunde von jeder Hoffnung im Leben los und brachte seinen eigenen Willen als gehorsames Opfer dem Unendlichen dar.

Allen fiel die Veränderung Toms auf. Heiterkeit und Munterkeit schien ihm wieder zurückzukehren, und eine Ruhe, welche keine Beleidigung und keine Schmach stören konnte, schien sich seiner bemächtigt zu haben.

»Was, zum Teufel, ist in Tom gefahren?« sagte Legree zu Sambo. »Vor einer kleinen Weile noch ließ er das Maul hängen, und jetzt ist er so munter wie ein Heimchen.«

»Weiß nicht, Master, will vielleicht fortlaufen.«

»Möchte ihn das schon versuchen sehen«, sagte Legree mit einem wilden Grinsen, »nicht wahr, Sambo?«

»Gewiß, gewiß! Ha! Ho!« sagte der schwarze Kobold und stimmte mit kriechender Unterwürfigkeit in das Lachen ein. »Gott, der Spaß, zu sehen, wie er im Schlamme steckenbleibt und durch den Busch bricht und rennt, während die Hunde ihn gepackt haben! Gott, ich lachte damals, wie wir die Molly fingen, bis zum Platzen. Ich dachte, sie würden sie zerreißen, ehe ich sie losbringen konnte. Sie trägt die Narben von dem Spaß immer noch.«

»Und wird sie wohl mit ins Grab nehmen«, sagte Legree. »Aber hab‘ ein scharfes Auge auf ihn, Sambo! Wenn der Nigger so was im Sinne hat, so hoffe ich, du wirst ihn erwischen.«

»Das kann Master mir überlassen!« sagte Sambo. »Ich will ihn schon haschen! Ho, ho, ho!«

Dieses Gespräch fand statt, als Legree aufs Pferd stieg, um nach der benachbarten Stadt zu reiten. Als er des Nachts zurückkehrte, kam er auf den Gedanken, nach den Baracken zu reiten, um zu sehen, ob alles sicher sei.

Es war eine herrliche Mondscheinnacht, und die Schatten der zierlich gestalteten Chinabäume zeichneten sich in seinen Umrissen auf dem Rasen unten ab, und in der Luft herrschte die heitere Stille, welche zu stören fast gottlos erschien. Legree befand sich noch in einiger Entfernung von den Baracken, als er eine Stimme singen hörte. Das war hier etwas Ungewöhnliches, und er hielt sein Pferd an, um zu lauschen. Eine wohltönende Tenorstimme sang:

»Und ist mir dann mein Anspruch klar
Auf Himmelsherrlichkeit,
So sag ich Fahrwohl jeder Furcht,
Vergesse jedes Leid.«

»So!« brummte Legree vor sich hin. »So denkt er also? Wie mir diese verwünschten Methodistenlieder verhaßt sind! Heda! Du Nigger!« rief er, wie er Tom erkannte, und drohte ihm mit der Reitpeitsche. »Wie kannst du solchen Lärm machen, wenn du im Bett liegen solltest? Halt dein altes schwarzes Maul und mach, daß du hineinkommst.«

»Ja, Master«, sagte Tom mit bereitwilliger Heiterkeit, wie er aufstand, um hineinzugehen.

Legree erbitterte Toms offenbar glückliche Stimmung über die Maßen, und er ritt an ihn heran und bearbeitete ihm tüchtig Kopf und Rücken.

»Da, du Hund«, sagte er, »sieh zu, ob du dich auch jetzt noch so wohl befindest.«

Aber die Schläge trafen jetzt nur den äußeren Menschen und nicht wie früher das Herz. Tom stand vollkommen unterwürfig da; und doch konnte es sich Legree nicht verhehlen, daß er seine Macht über seinen Sklaven, er wußte selbst nicht, wie, verloren hatte. Und wie Tom in seiner Hütte verschwand, und er sich plötzlich mit seinem Pferd umdrehte, schoß durch seine Seele einer jener lebhaften Strahlen, welche oft Blitze des Gewissens in die dunkle und lasterhafte Seele senden. Er erkannte recht gut, daß Gott zwischen ihm und seinem Opfer stand, und er lästerte ihn. Dieser unterwürfige und schweigende Mann, den weder Hohn noch Drohungen, noch Schläge und Mißhandlungen aus dem Gleichgewicht bringen konnten, rief eine Stimme in ihm wach, gleich der, welche einstmals sein Herr und Meister in dem Besessenen erweckte und welche sagte: Ach Jesu, Du Sohn Gottes, was haben wir mit Dir zu schaffen? Bist Du hergekommen, um uns zu quälen, ehe denn es Zeit ist?

Toms ganze Seele strömte über von Teilnahme und Mitleid für die armen Unglücklichen, in deren Mitte er lebte. Ihm schien es, als ob seine Lebenssorgen nun vorüber wären, und als ob er aus dem wunderbaren Schatz von Frieden und Freude, der ihm von oben geschenkt worden, etwas zur Erleichterung ihrer Leiden spenden müsse. Es ist wahr, die Gelegenheiten waren selten, aber auf dem Weg nach dem Felde und wieder zurück fanden sich für ihn Veranlassungen, den Müden, den Mutlosen und den Verzweifelnden eine helfende Hand zu reichen. Die armen, niedergedrückten, entmenschten Geschöpfe konnten dies anfangs kaum begreifen; aber als er Woche nach Woche und Monat nach Monat damit fortfuhr, fingen Saiten, die lange stumm geblieben waren, in ihren erstarrten Herzen zu klingen an. Allmählich und unmerklich gewann der sonderbare, stille, geduldige Mann, der bereit war, jedermanns Bürde zu tragen und niemands Hilfe suchte – der vor allen zurücktrat und zuletzt kam, und am wenigsten nahm, aber der erste war, sein Scherflein mit jedem, der es bedürfte, zu teilen – der Mann, der in kalten Nächten seine zerrissene Decke hingab, um einer in Fieberfrost zitternden Frau einige Erleichterung zu verschaffen, und der auf dem Felde die Körbe der Schwächeren füllte trotz der schrecklichen Gefahr, sein eigenes Maß nicht voll zu machen – und der, obgleich mit unermüdlicher Grausamkeit von ihrem gemeinsamen Tyrannen verfolgt, doch nie auf ihn schimpfte oder fluchte – dieser Mann begann endlich eine sonderbare Gewalt über sie zu gewinnen; und als die Zeit des großen Arbeitsdranges vorüber war und sie wieder ihren Sonntag für sich hatten, drängten sich viele um ihn, um ihn von Jesus erzählen zu hören. Sie wären gern an einem besonderen Platze zusammengekommen, um zu hören und zu beten und zu singen; aber Legree wollte das nicht gestatten und trieb solche Versammlungen mehr als einmal mit Flüchen und gräßlichen Verwünschungen auseinander, so daß die gesegnete Botschaft von Mund zu Mund wandern mußte. Aber wer kann die kindliche Freude beschreiben, mit der einige dieser armen Verstoßenen, deren Leben eine freudenlose Wanderung nach einem dunklen unbekannten Ziele ist, von einem barmherzigen Erlöser und einer himmlischen Heimat hörten?

Die arme Mulattin, deren einfachen Glauben der Sturm von Grausamkeit und Unrecht, den sie hatte erdulden müssen, fast erdrückt und vernichtet hatte, fühlte ihre Seele erhoben von den Hymnen und Stellen der Heiligen Schrift, welche dieser demütige Missionar von Zeit zu Zeit, wenn sie von dem Felde kamen oder aufs Feld gingen, in die Ohren flüsterte; und selbst das halbwahnwitzige Gemüt Cassys fühlte sich durch seine einfache und unaufdringliche Einwirkung beruhigt und besänftigt.

Von den zerschmetternden Qualen ihres Lebens zum Wahnsinn und zur Verzweiflung angestachelt, hatte Cassy in ihrer Seele oft an eine Stunde der Vergeltung gedacht, wo ihre Hand an ihrem Bedrücker alle Ungerechtigkeit und Grausamkeit rächen sollte, deren Zeugin sie gewesen oder die sie selbst hatte leiden müssen.

Eines Nachts, als in Toms Hütte alles in Schlaf gesunken war, erweckte ihn plötzlich der Anblick ihres Gesichts, das zu dem als Fenster dienenden Loch zwischen den Balken hereinschaute. Sie winkte ihm mit einer stummen Gebärde, herauszukommen.

Tom trat vor die Tür hinaus. Es war zwischen ein und zwei Uhr nachts heller, ruhiger, heiliger Mondschein. Wie das Licht des Mondes auf Cassys große schwarze Augen fiel, bemerkte Tom, daß in ihnen eine wilde und eigentümliche Flamme glühte, sehr verschieden von ihrer gewöhnlichen, starren Verzweiflung.

»Kommt, Vater Tom«, sagte sie und ergriff mit ihrer kleinen Hand seinen Arm und zog ihn mit einer Kraft an sich heran, als ob die Hand von Stahl wäre. »Kommt, ich habe Euch etwas zu sagen.«

»Was gibt’s, Miß Cassy?«

»Tom, hättet Ihr Eure Freiheit gern?«

»Sie wird mir werden, wenn es Gott gefällt, Missis«, sagte Tom.

»Ja, aber Ihr könnt schon heute nacht frei werden«, sagte Cassy mit plötzlicher Energie. »Kommt.«

Tom zögerte.

»Kommt!« flüsterte sie ihm zu und starrte ihn mit ihren schwarzen Augen an. »Kommt mit mir! Er schläft – er schläft fest. Ich habe genug in seinen Branntwein getan, daß er nicht so bald erwacht; ich wollte, ich hätte mehr gehabt, dann hätte ich Euch nicht gebraucht. Aber kommt, die Hintertür ist nicht verschlossen; dort findet Ihr ein Beil, ich habe es hingestellt – die Tür seines Zimmers ist offen; ich will Euch den Weg zeigen. Ich würde es selbst tun, aber mein Arm ist zu schwach dazu. Kommt mit mir!«

»Nicht für zehntausend Welten, Missis«, sagte Tom fest, indem er stehen blieb und sie aufhielt, wie sie fort wollte.

»Aber denkt an alle diese armen Geschöpfe«, sagte Cassy. »Wir können sie alle freilassen und uns in die Sümpfe flüchten, und eine Insel finden und für uns leben; ich habe gehört, daß das welchen geglückt ist. Jedes Leben ist besser als dieses!«

»Nein!« sagte Tom fest. »Nein! Gutes kommt nie aus dem Bösen. Lieber wollte ich mir die rechte Hand abhacken!«

»Dann tue ich es allein«, sagte Cassy und wendete sich zum Gehen.

»O Miß Cassy«, sagte Tom und warf sich ihr in den Weg, »um des guten Herrn willen, der für Euch gestorben ist, verkauft nicht auf diese Weise Eure unsterbliche Seele dem Teufel! Daraus kann nur Böses werden. Der Herr hat uns nicht berufen zum Zorn. Wir müssen dulden und seine Stunde erwarten.«

»Warten!« sagte Cassy. »Habe ich nicht gewartet – gewartet, bis mir der Kopf schwindelte und das Herz vertrocknet ist? Wie hat er mich gepeinigt? Wie hat er Hunderte von armen Geschöpfen gepeinigt? Preßt er nicht aus Euch das Herzblut heraus? Ich bin berufen! Sie rufen mich! Seine Zeit ist gekommen, und ich muß sein Herzblut haben.«

»Nein, nein, nein!« sagte Tom und hielt ihre kleinen Hände fest, die sich mit krampfhafter Heftigkeit zusammenballten. »Nein, arme, verirrte Seele, das dürft Ihr nicht tun! Der gute gesegnete Herr hat kein anderes Blut vergossen, als sein eigenes, und das vergoß er für uns, als wir seine Feinde waren. Herr, hilf uns seinen Schritten folgen und unsere Feinde lieben.«

»Lieben!« sagte Cassy mit wildem Blick. »Solche Feinde lieben, das ist dem Menschen nicht gegeben.«

»Das ist wohl wahr, Missis«, sagte Tom mit einem Blick zum Himmel, »aber Er gibt es uns, und das ist der Sieg. Wenn wir bei allem und für alles lieben und beten können, so ist der Kampf vorüber und der Sieg gekommen – Ehre sei Gott in der Höhe!«

Die tiefste Inbrunst Toms, seine sanfte Stimme und seine Tränen fielen wie Tau auf das verzweifelte, stürmisch bewegte Gemüt der Unglücklichen. Das unheimliche Feuer in ihrem Auge wurde sanfter; sie senkte den Blick, und Tom konnte fühlen, wie die Muskeln ihrer Hand erschlafften, als sie sagte:

»Habe ich Euch nicht gesagt, daß mich böse Geister verfolgten? Ach, Vater Tom, ich kann nicht beten! Ich wollte, ich könnte es. Ich habe nicht gebetet, seitdem meine Kinder verkauft wurden! Was Ihr sagt, muß recht sein – ich weiß, es muß recht sein; aber wenn ich zu beten versuche, kann ich nur hassen und verwünschen. Ich kann nicht beten.«

»Arme Seele!« sagte Tom voll Mitleid. »Der Satanas begehrte Euer, daß er Euch möchte sichten, wie den Weizen. Ich bete zu dem Herrn für Euch. O Miß Cassy, wendet Euch dem guten Herrn Jesus zu. Er ist gekommen, um die Betrübten zu stärken und die, welche klagen, zu trösten.«

Cassy stand stumm da, während große schwere Tränen aus ihren zu Boden gesenkten Augen flossen.

»Miß Cassy«, sagte Tom zögernd, nachdem er sie einen Augenblick schweigend betrachtet hatte, »wenn Ihr nur fort von hier kommen könntet – wenn es möglich wäre – so würde ich Euch und Emmeline raten, zu entfliehen; d. h. wenn Ihr’s ohne Blutschuld tun könntet – nicht anders.«

»Würdet Ihr’s mit uns versuchen, Vater Tom?«

»Nein«, sagte Tom, »es war eine Zeit, wo ich’s getan hätte, aber der Herr hat mir eine Arbeit unter diesen armen Leuten aufgetragen, und ich will bei ihnen bleiben und mein Kreuz mit ihnen tragen bis ans Ende. Mit Euch ist es anders; für Euch ist es ein Fallstrick – es ist mehr, als Ihr tragen könnt, und es ist besser, Ihr entflieht, wenn Ihr könnt.«

»Ich kenne keinen Weg, als durch das Grab«, sagte Cassy. »Jedes vierfüßige Tier und jeder Vogel kann irgendwo ein Obdach finden, selbst die Schlangen und Alligatoren haben eine Stelle, wo sie ruhen können; aber für uns gibt es keine Stätte. Bis in die finstersten Sümpfe verfolgen uns ihre Hunde und spüren uns auf. Jeder Mann und jegliche Sache ist gegen uns, selbst die Tiere nehmen gegen uns Partei, und wohin sollen wir uns wenden?«

Tom stand schweigend da; endlich sprach er: »Er, welcher Daniel aus der Löwengrube rettete, der die Männer in dem feurigen Ofen errettete – Er, der auf dem Meere wandelte und dem Winde Schweigen gebot – Er lebt noch; und ich habe den Glauben, zu vertrauen, daß Er Euch erlösen kann. Versucht es, und ich will mit meiner ganzen Kraft für Euch beten.«

Welches wunderbare Gesetz der Seele bewirkt es, daß ein lange übersehener und wie ein nutzloser Stein mit Füßen getretener Gedanke plötzlich als ein entdeckter Diamant in einem neuen Lichte strahlt! Cassy hatte schon manche Stunde alle möglichen oder wahrscheinlichen Fluchtpläne überlegt und sie alle als hoffnungslos und unausführbar aufgegeben; aber in diesem Augenblick blitzte ihr ein Plan durch den Geist, der so einfach und in allen seinen Einzelheiten ausführbar war, daß er auf der Stelle neue Hoffnung erweckte.

»Vater Tom! Ich werde es versuchen!« rief sie plötzlich.

»Amen!« sagte Tom. »Der Herr helfe Euch!«

22. Kapitel


Das Letzte auf Erden

Die Statuetten und Bilder in Evas Zimmer waren mit weißen Tüchern verhüllt, und nur leises Atemholen und gedämpfte Schritte hörte man dort, und das Licht stahl sich feierlich durch die teilweise geschlossenen Fenster.

Das Bett war weiß verhangen, und unter der ruhenden Engelsgestalt lag ein schlummerndes Kind, schlummernd, um nie wieder zu erwachen.

Für solche, wie du bist, geliebte Eva, gibt es keinen Tod! Weder die Nacht noch den Schatten des Todes; nur ein so glänzendes Verschwimmen, wie wenn der Morgenstern im goldenen Frühlicht aufgeht. Dein ist der Sieg ohne die Schlacht – die Krone ohne den Kampf.

So dachte St. Clare, als er mit übereinandergeschlagenen Armen vor der Leiche stand und sie betrachtete. Ach! Wer wagt zu sagen, was er dachte? Denn von der Stunde an, wo Stimmen im Sterbezimmer gesagt hatten: »Sie ist verschieden«, war alles um ihn ein wüster Nebel gewesen, eine schwere Dämmerung des Schmerzes. Er hatte Stimmen an sein Ohr schlagen hören; er war gefragt worden und hatte geantwortet; sie hatten ihn gefragt, wann das Begräbnis sei, und wo sie begraben werden solle; und er hatte ungeduldig geantwortet, daß ihm das einerlei sei.

Adolf und Rosa hatten das Sterbezimmer eingerichtet; so leichtfertig, launenhaft und kindisch sie auch im allgemeinen waren, so waren sie doch weichherzig und voller Gefühl.

Es standen immer noch Blumen im Zimmer – alle weiß, zart und wohlriechend, mit zierlichen, trauernden Blättern. Auf Evas kleinem mit einer weißen Decke überzogenen Tischchen stand ihre Lieblingsvase mit einer einzigen weißen Moosrosenknospe. Die Falten der Draperien und der Vorhänge hatten Adolf und Rosa mit dem feinen Blick, der ihrer Rasse eigentümlich ist, geordnet und wieder geordnet. Selbst jetzt, wo St. Clare nachdenklich dastand, kam die kleine Rosa mit einem Korbe weißer Blumen mit vorsichtigem leisem Schritt in das Zimmer. Sie trat zurück, als sie St. Clare erblickte, und blieb ehrerbietig stehen; aber da sie sah, daß er sie nicht bemerkte, kam sie näher, um die Leiche zu schmücken. St. Clare sah sie, wie in einem Traume, während sie zwischen die zarten Händchen einen schönen Capjasmin steckte und mit bewunderungswürdigem Geschmack andere Blumen rund um das ganze Lager anbrachte.

Die Tür ging wieder auf, und Topsy mit vom Weinen geschwollenen Augen erschien, etwas unter der Schürze versteckt haltend. Rosa machte eine rasche abwehrende Gebärde, aber jene trat einen Schritt ins Zimmer herein.

»Du mußt hinaus«, sagte Rosa mit scharfem bestimmtem Flüstern: »Du hast hier nichts zu suchen.«

»O bitte, laß mich! Ich habe eine Blume mitgebracht – eine so hübsche Blume!« sagte Topsy und hielt eine halb aufgeblühte Teerosenknospe empor. »Laß mich nur die einzige hinlegen.«

»Marsch fort!« sagte Rosa noch entschiedener.

»Sie soll bleiben!« sagte St. Clare plötzlich mit dem Fuße stampfend. »Sie soll hereinkommen.«

Rosa entfernte sich rasch, und Topsy trat ans Bett und legte ihre Blume zu Füßen der Leiche, dann warf sie sich plötzlich mit einem Schrei wilder Verzweiflung neben dem Bett nieder und weinte und stöhnte laut.

Miß Ophelia kam in das Zimmer geeilt und versuchte, sie aufzuheben und zu beruhigen; aber vergebens.

»O Miß Eva! O Miß Eva! Ich wollte, ich wäre auch tot – ja gewiß!« Es lag eine wilde herzzerreißende Verzweiflung in diesem Aufschrei; das Blut schoß in St. Clares weißes marmorgleiches Gesicht, und die ersten Tränen, die er seit Evas Tode geweint, standen ihm in den Augen.

»Steh auf, Kind!« sagte Miß Ophelia mit sanfterer Stimme: »Weine nicht so. Miß Eva ist im Himmel; sie ist ein Engel geworden.«

»Aber ich kann sie nicht sehen!« sagte Topsy. »Ich werde sie nie wieder sehen!« und sie fing wieder an zu schluchzen.

Alle standen einen Augenblick lang schweigend da.

»Sie sagte, sie hätte mich lieb«, sagte Topsy – »das hat sie gesagt! O Gott, o Gott! Ich habe nun niemanden mehr – niemanden!«

»Das ist nur zu wahr«, sagte St. Clare; »aber bitte«, sagte er zu Miß Ophelia, »versuche du, ob du das arme Geschöpf nicht trösten kannst.«

»Ich wollte, ich wäre gar nicht geboren«, sagte Topsy. »Es lag mir gar nichts daran, auf die Welt zu kommen; und ich sehe gar keinen Nutzen dabei.«

Miß Ophelia hob sie sanft, aber fest vom Boden auf und nahm sie mit in ihr Zimmer; aber bis sie dort waren, fielen ihr ein paar Tränen aus den Augen.

»Topsy, du armes Kind«, sagte sie, als sie dieselbe in ihr Zimmer führte, »verzweifle nicht! Ich kann dich lieben, obgleich ich nicht bin, wie das geliebte, selige Kind. Ich hoffe, ich habe durch sie ein wenig von der Liebe unseres Heilands gelernt. Ich kann dich liebhaben; ich werde dich lieben und versuchen, dir beizustehen, daß du eine gute Christin wirst.«

Miß Ophelias Stimme sagte mehr, als ihre Worte, und mehr noch als diese sagten die ehrlichen Tränen, welche aus ihren Augen strömten. Von dieser Stunde an erlangte sie einen Einfluß auf das Gemüt des verlassenen Kindes, den sie nie wieder verlor.

»O meine Eva, deren kurze Spanne Zeit auf dieser Erde so viel Gutes bewirkt hat«, dachte St. Clare, »welche Rechenschaft werde ich von meinen vielen Jahren abzulegen haben?«

Eine Weile lang hörte man leises Geflüster und Schritte in dem Zimmer, wie einer nach dem andern hereinschlich, um die Leiche zu sehen; und dann kam der kleine Sarg; und dann war das Begräbnis, und Wagen fuhren vor der Tür vor und Freunde kamen und setzten sich nieder; und man sah weiße Schärpen und Bänder und Kreppschleifen und Trauernde in schwarzem Krepp; und es wurden Worte aus der Bibel gelesen und Gebete gesprochen; und St. Clare lebte und ging herum und bewegte sich wie einer, der jede seiner Tränen vergossen hat. Bis zuletzt erblickte er nur einen Gegenstand, den goldenen Lockenkopf im Sarge; aber dann sah er, wie das Tuch darüber gebreitet und der Deckel des Sarges verschlossen wurde; und er ging mit, als sie ihn neben die andern stellten, bis zu einem kleinen Fleck hinten im Garten, und dort neben der Moosbank, wo sie und Tom so oft miteinander gesprochen und gesungen und gelesen hatten, war das kleine Grab. St. Clare stand neben demselben – schaute mit leerem Blick hinab; er sah, wie sie den kleinen Sarg hinunterließen; er hörte undeutlich die feierlichen Worte: »Ich bin die Auferstehung und das Leben; wer an mich glaubt, der wird nicht sterben, sondern das ewige Leben haben«, und wie die Erde darauf geworfen wurde und das kleine Grab ausfüllte, konnte er es nicht für wahr halten, daß sie seine Eva hier vor seinen Augen verscharrten.

Und so war es auch nicht! – Nicht Eva, sondern nur den schwachen Keim der strahlenden unsterblichen Gestalt, in der sie noch erscheinen wird an dem Tage Christi unseres Herrn.

Und sie waren alle fort, und die Leidtragenden kehrten alle zurück nach dem Hause, das sie nicht mehr sehen sollte; und aus Maries Zimmer war das Licht ausgesperrt, und sie lag auf dem Bett und schluchzte und stöhnte in unbezwinglichem Schmerz und rief jeden Augenblick nach allen ihren Dienstboten. Natürlich hatten diese keine Zeit zu weinen – wozu auch? Der Schmerz war ihr Schmerz, und sie war fest überzeugt, daß niemand auf Erden ihn so wie sie fühlte oder fühlen könnte und wollte.

»St. Clare vergoß keine Träne«, sagte sie: »Er sympathisierte nicht im mindesten mit ihr; es sei wirklich wunderbar, zu denken, wie hartherzig und gefühllos er sein müsse, da er doch jedenfalls wisse, wie sie leide.« So sehr sind die Menschen die Sklaven ihrer Augen und Ohren, daß viele von den Dienstboten wirklich glaubten, Missis leide bei weitem am meisten bei dieser Gelegenheit, vorzüglich, da Marie jetzt Anfälle von hysterischen Krämpfen bekam und nach dem Arzt schickte und erklärte, sie liege im Sterben; und das Laufen und Rennen und das Herbeischleppen von Wärmflaschen und das Warmmachen von Flanell und das Reiben und der allgemeine Lärm, den diese Anfälle verursachten, waren eine wahre Zerstreuung.

Tom jedoch hatte ein Gefühl in seinem Herzen, das ihn zu seinem Herrn hinzog. Er folgte ihm, traurig und sehnsüchtig, wohin er ging; und wenn er ihn so blaß und ruhig in Evas Zimmer über ihrer aufgeschlagenen kleinen Bibel sitzen sah, obgleich er keinen Buchstaben oder kein Wort darin erkannte, da sah Tom in diesem ruhigen, starren, tränenlosen Auge größeren Schmerz als in allem Seufzen und Jammern Mariens.

In wenigen Tagen kehrte die Familie St. Clare wieder nach der Stadt zurück, denn Augustin verlangte in der Ruhelosigkeit des Schmerzes nach einer anderen Umgebung, um seinen Gedanken eine andere Richtung zu geben. So verließen sie denn Haus und Garten mit dem kleinen Grabe und begaben sich wieder nach New Orleans, und St. Clare bewegte sich geschäftig auf den Straßen und war bestrebt, die Kluft in seinem Herzen mit Eile und Rührigkeit und Ortsveränderungen auszufüllen; und Leute, die ihn auf der Straße sahen oder ihm in dem Café begegneten, erfuhren den Verlust, den er erlitten, nur durch den Flor um seinen Hut, denn er lächelte und spaßte und las die Zeitungen und unterhielt sich über Politik und besorgte Geschäftsangelegenheiten; und wer konnte wissen, daß diese ganze lächelnde Außenseite nur eine hohle Schale um ein Herz sei, das ein dunkles und stilles Grab war.

»Mr. St. Clare ist ein eigener Mann«, sagte Marie zu Miß Ophelia in klagendem Tone. »Ich glaubte immer, wenn er etwas auf der Welt liebte, so sei es unsere teuere Eva, aber er scheint sie sehr leicht zu vergessen. Ich kann ihn nie dazu bringen, von ihr zu sprechen. Ich glaubte wahrhaftig, er würde mehr Gefühl zeigen!«

»Stille Wasser sind oft die tiefsten, habe ich immer sagen hören«, sagte Miß Ophelia orakelhaft.

»Ach, das glaube ich gar nicht; das ist alles nur Rederei. Wenn Leute Gefühl haben, so werden sie es zeigen – sie können nicht anders; aber es ist immer ein großes Unglück, viel Gefühl zu besitzen. Ich wollte lieber, ich hätte eine Natur, wie St. Clare. Meine Gefühle nagen mir so am Herzen!«

»Aber gewiß, Missis, Master St. Clare wird so mager wie ein Schatten. Sie sagen, er esse gar nichts«, sagte Mammy. »Ich weiß, daß er Miß Eva nicht vergißt; das kann niemand – das liebe gesegnete Wesen!« setzte sie hinzu und wischte sich die Augen.

»Nun, jedenfalls nimmt er gar keine Rücksicht auf mich«, sagte Marie; »er hat mir kein Wort der Teilnahme gesagt, und er muß doch wissen, wieviel mehr eine Mutter fühlt, als es einem Manne je möglich ist.«

»Das Herz kennt seine eigene Bitterkeit«, sagte Miß Ophelia mit Ernst.

»Das denke ich eben auch. Ich weiß recht gut, was ich fühle – kein anderer Mensch scheint es zu wissen. Eva erriet es manchmal, aber sie ist nicht mehr!« Und Marie legte sich zurück in ihrem Sofa und schluchzte trostlos.

Marie war eine von den unglücklich konstituierten Sterblichen, in deren Augen alles, was für immer verloren ist, einen Wert annimmt, den es nie hatte, solange sie im Besitz desselben waren. Was sie besaß, schien sie nur zu besitzen, um Fehler darin zu finden; aber sowie es nicht mehr vorhanden war, so legte sie einen ungemessenen Wert darauf.

Zu gleicher Zeit mit diesem Gespräch in der Wohnstube fand ein anderes in der Bibliothek St. Clares statt.

Tom, der seinem Herrn beständig voller Unruhe Schritt für Schritt nachging, hatte ihn einige Stunden vorher in die Bibliothek gehen sehen; und nachdem er vergeblich gewartet hatte, ob er wieder herausgehen werde, beschloß er, sich etwas darin zu tun zu machen. Er trat leise ein. St. Clare lag auf einem Sofa am hinteren Ende des Zimmers. Er lag auf seinem Gesicht, und Evas Bibel lag aufgeschlagen nicht weit von ihm. Tom ging zu ihm hin und blieb vor dem Sofa stehen. Er zögert, und während er noch zögerte, erhob sich St. Clare plötzlich. Das ehrliche Gesicht so voller Schmerz und mit einem so flehenden Ausdruck von Liebe und Teilnahme fiel seinem Herrn auf. Er legte seine Hand auf die Toms und beugte sich mit dem Kopfe darüber.

»Ach, Tom, die ganze Welt ist so leer, wie ein hohles Ei.«

»Ich weiß es, Master – ich weiß es«, sagte Tom. »Aber ach, wenn Master nur hinaufsehen wollte – hinauf, wo unsere liebe Miß Eva ist – hinauf zu dem lieben Herrn Jesus!«

»Ach, Tom! Ich blicke hinauf; aber das Schlimmste ist, daß ich gar nichts oben sehe. Ich wollte, ich könnte was sehen.«

Tom seufzte schwer.

»Es scheint Kindern und armen ehrlichen Burschen, wie du bist, gegeben zu sein, zu sehen, was wir nicht sehen«, sagte St. Clare. »Woher kommt das?«

»Du hast solches verborgen vor den Weisen und Klugen, und hast’s offenbart den Unmündigen«, sagte Tom halblaut vor sich hin; »ja, Vater, also war es wohlgefällig vor Dir.«

»Tom, ich glaube nicht – ich kann nicht glauben; ich habe mir das Zweifeln angewöhnt«, sagte St. Clare. »Ich möchte dieser Bibel glauben, und ich kann nicht.«

»Guter Master, beten Sie zu dem guten Gott: Ich glaube, lieber Herr, hilf meinem Unglauben!«

»Wer weiß etwas von etwas?« sagte St. Clare zu sich selbst, während seine Augen träumerisch herumschweiften. »War alle diese schöne Liebe und Treue nur eine von den ewig wechselnden Phasen menschlichen Gefühls, die auf nichts Wirklichem beruhen und mit dem letzten Atemzuge vergehen? Und gibt es keine Eva mehr – keinen Himmel – keinen Christus – nichts?«

»Ach, lieber Master, wohl gibt es noch etwas! Ich weiß es; ich bin davon überzeugt«, sagte Tom und sank auf die Knie. »Lieber, lieber Master, glauben Sie!«

»Woher weißt du, daß es einen Christus gibt, Tom? Du hast nie den Herrn gesehen.«

»Ich habe ihn in meiner Seele gefühlt, Master – fühle ihn jetzt! O, Master, als man mich wegverkaufte von meiner Alten und den Kindern, war ich fast ebenso verzweifelt. Es war mir, als wäre nichts mehr übrig auf der Welt; und dann stand der gute Herr bei mir und sprach: ›Fürchte dich nicht, Tom!‹ und er bringt Licht und Freude in die Seele des Armen und macht, daß alles Friede wird; und ich fühle mich so glücklich und liebe jedermann und bin bereit des Herrn zu sein, und des Herrn Willen geschehen zu lassen und dorthin zu gehen, wohin mich der Herr sendet. Ich weiß, daß das nicht von mir kommen konnte, denn ich war ein armes unglückliches Menschenkind; es kam von dem Herrn; und ich weiß, daß er es auch für Master tun wird.«

Tom sprach mit halb erstickter Stimme. St. Clare legte den Kopf auf seine Schulter und drückte die harte, treue, schwarze Hand.

»Ich würde beten, Tom, wenn jemand da wäre, wenn ich bete; aber es ist mir stets, als spräche ich in die leere Luft. Aber bete du, Tom, und zeige mir, wie ich beten soll.«

Toms Herz war voll; er schüttete es im Gebete aus, wie Wasser, das ein Damm lange zurückgehalten hat. Eine Sache war klar genug: Tom glaubte, es höre ihn jemand, mochte jemand da sein oder nicht. Ja, St. Clare fühlte sich selbst auf der Flut seines Glaubens und Gefühls fast bis an die Tore des Himmels getragen, den er sich so lebendig vorzustellen schien. Es schien ihn Eva näherzubringen.

»Ich danke dir, guter Tom«, sagte St. Clare, als Tom aufstand. »Ich höre dich gern, Tom; aber jetzt geh und laß mich allein; ein andermal wollen wir mehr davon sprechen.«

Tom verließ schweigend das Zimmer.

23. Kapitel


Wieder vereint

Woche nach Woche schwand im Hause St. Clares dahin, und die Wellen des Lebens nahmen wieder ihre ehemalige Glätte an der Stelle an, wo die kleine Barke untergesunken war. Denn wie gebieterisch, wie gleichgültig, wie rücksichtslos gegen alle unsere Empfindungen sich der harte kalte einförmige Lauf täglicher Wirklichkeiten fortbewegt! Noch müssen wir essen und trinken und schlafen und wieder erwachen – noch feilschen, kaufen, verkaufen, Frage stellen und beantworten – mit einem Worte, tausend Schatten verfolgen, obgleich alles Interesse an ihnen erstorben ist; die kalte mechanische Gewohnheit des Lebens ist geblieben, nachdem alle lebendige Teilnahme dafür vorüber ist.

Alle Interessen und Hoffnungen von St. Clares Leben waren unbewußt mit diesem Kinde verwachsen gewesen. Nur für Eva verwaltete er sein Vermögen; nur für Eva richtete er seine Zeit ein; und das oder jenes für Eva zu tun – für sie zu kaufen, zu verbessern, zu verändern oder anzuordnen – war so lange seine Gewohnheit gewesen, daß jetzt, wo sie nicht mehr war, nichts mehr für ihn zu denken oder zu tun zu sein schien. Allerdings gab es noch ein andres Leben, ein Leben, welches, wenn man einmal daran glaubt, wie ein feierliches bedeutsames Zeichen vor den sonst bedeutungslosen Ziffern der Zeit steht und ihnen einen geheimen und ungezählten Wert verleiht. St. Clare wußte dies recht gut, und oft in mancher trüben Stunde hörte er diese zarte Kinderstimme aus dem Himmel herab ihm zurufen und sah die kleine Hand ihm den Weg des Lebens weisen; aber eine schwere Erstarrung des Schmerzes lag auf ihm – er konnte sich nicht erheben. Er war eine von den Naturen, welche religiöse Gegenstände nach eigenen Wahrnehmungen und Ahnungen besser und klarer fassen können, als mancher methodische und praktische Christ. Die Gabe, die feineren Schattierungen und Beziehungen sittlicher Verhältnisse zu würdigen und zu fühlen, scheint oft denen eigen zu sein, die ihr Leben in leichtsinniger Mißachtung derselben verbringen. Daher sprechen Moore, Byron, Goethe oft Worte, die das echte religiöse Gefühl wahrer ausdrücken, als Leute, deren ganzes Leben davon beherrscht ist. In solchen Geistern ist Mißachtung der Religion ein noch schrecklicherer Verrat – eine noch größere Todsünde.

St. Clare hatte nie den Anspruch gemacht, sich von religiösen Verpflichtungen beherrschen zu lassen; und eine gewisse Feinheit des Gefühls rief in ihm eine solche instinktmäßige Ansicht über die Ausdehnung der Forderungen des Christentums hervor, daß er sich schon im voraus vor dem Umfang scheute, den, wie er fühlte, die Forderungen seines Gewissens annehmen würden, wenn er sich ihnen einmal fügte, denn so inkonsequent ist die Menschennatur, vorzüglich im Idealen, daß etwas gar nicht zu unternehmen oft besser erscheint, als etwas zu unternehmen und das vorgesteckte Ziel nicht zu erreichen.

Dennoch war St. Clare in vielen Hinsichten ein anderer Mensch. Er las Evas Bibel ehrlich und mit Ernst; er dachte weniger leichtsinnig und praktischer über seine Verhältnisse zu seinen Dienstboten, und es genügte, ihn sehr unzufrieden mit seinem früheren und gegenwärtigen Benehmen zu machen; und etwas tat er bald nach seiner Rückkehr nach New Orleans: Er begann nämlich die nötigen gesetzlichen Schritte zu Toms Freilassung, die, sobald nur die notwendigen Formalitäten beendigt werden konnten, stattfinden sollte.

Unterdessen schloß er sich jeden Tag mehr an Tom an. In der ganzen weiten Welt schien ihn nichts so sehr an Eva zu erinnern; und er wollte ihn beständig um sich haben, und so zurückhaltend und unnahbar er hinsichtlich seiner tieferen Gefühle war, dachte er doch fast laut mit Tom. Auch würde sich niemand darüber gewundert haben, wenn er gesehen hätte, mit welchem Ausdruck von Liebe und Hingebung Tom fortwährend seinem jungen Herrn folgte.

»Nun, Tom«, sagte St. Clare eines Tages, als er die gesetzlichen Formalitäten zu seiner Freilassung begonnen hatte, »ich werde dich zum freien Manne machen; also packe deinen Koffer und mache dich fertig, nach Kentucky abzureisen.«

Der plötzliche Freudenschimmer, der über Toms Gesicht flog, wie er die Hände zum Himmel erhob, sein innig gefühltes: »Der Herr sei gepriesen!« überraschte St. Clare fast unangenehm; es gefiel ihm nicht, daß Tom so bereitwillig war, ihn zu verlassen.

»Du hast es hier nicht so sehr schlecht gehabt, daß du so entzückt darüber zu sein brauchst, Tom«, sagte er trocken.

»Nein, nein, Master! Das ist’s nicht – es ist weil ich ein freier Mann bin! Darüber freue ich mich so sehr.«

»Aber Tom, meinst du nicht, daß du dich für deinen Teil besser befunden hast, als wenn du frei wärst?«

»Nein gewiß nicht, Master St. Clare«, sagte Tom mit plötzlicher Energie. »Nein, gewiß nicht!«

»Aber Tom, du hättest unmöglich durch deine Arbeit solche Kleider und solche Kost verdienen können, wie du immer bei mir hast!«

»Das weiß ich alles, Master St. Clare; Master ist zu gut gewesen; aber Master, lieber hätte ich schlechte Kleider, schlechte Wohnung und alles schlecht, und es wäre mein eigen, als wenn ich alles vom Besten hätte, und es gehörte einem andern! Das wollte ich, Master; ich glaube, es ist Menschennatur, Master!«

»Das mag es sein, Tom, und du wirst in einem oder ein paar Monaten fortgehen und mich verlassen«, setzte er etwas mißvergnügt hinzu; »wiewohl kein Sterblicher weiß, warum du es anders machen solltest«, sagte er in heiterem Tone; und er stand auf und ging im Zimmer auf und ab.

»Nicht, so lange Master unglücklich ist«, sagte Tom. »Ich bleibe bei Master, solange er mich braucht – so lange ich von Nutzen sein kann.«

»Nicht, solange ich unglücklich bin, Tom!« sagte St. Clare und sah traurig zum Fenster hinaus. »Und wann werde ich nicht mehr unglücklich sein?«

»Wenn Master St. Clare ein Christ ist«, sagte Tom.

»Und gedenkst du wirklich zu bleiben, bis es dazu kommt?« sagte St. Clare halb lächelnd, als er sich vom Fenster umdrehte und seine Hand auf Toms Schulter legte. »Ach, Tom, du einfältiger törichter Bursche! So lange mag ich dich nicht behalten. Geh heim zu deiner Frau und deinen Kindern und grüße sie alle von mir.«

»Ich vertraue, daß der Tag kommen wird«, sagte Tom voll Ernst und mit Tränen in den Augen; »der Herr hat Arbeit für Master.«

»Arbeit?« sagte St. Clare. »Nun laß einmal hören, Tom, was für eine Arbeit das ist, sprich!«

»Nun, sogar einem armen Burschen, wie mir, ist eine Arbeit aufgegeben vom Herrn; und Master St. Clare, der gelehrt und reich ist und viele Freunde hat – wieviel könnte er für den Herrn tun?«

»Tom, du scheinst zu denken, daß der Herr sehr viel für sich zu tun verlangt«, sagt St. Clare lächelnd.

»Wir tun für den Herrn, wenn wir seinen Geschöpfen etwas tun«, sagte Tom.

»Gute Theologie, Tom, besser als die, welche Dr. B. predigt, das will ich beschwören«, sagte St. Clare.

Das Gespräch wurde hier durch die Anmeldung von Besuch unterbrochen. Marie St. Clare fühlte den Verlust Evas so tief, wie sie nur überhaupt etwas fühlen konnte; und da sie eine Frau war, die eine große Fähigkeit besaß, alle anderen unglücklich zu machen, wenn sie sich unglücklich fühlte, so hatten die Dienstboten und ihre unmittelbare Umgebung noch viel stärkeren Grund, den Verlust ihrer jungen Herrin zu beklagen, deren gewinnende Weise und sanftes Vorbitten sie oft vor den tyrannischen und selbstsüchtigen Forderungen ihrer Mutter geschützt hatten. Die arme alte Mammy besonders, deren Herz von allen natürlichen Familienbanden getrennt, sich an diesem einen schönen Wesen getröstet hatte, fühlte, daß ihr das Herz fast gebrochen war. Sie weinte Tag und Nacht, und das Übermaß des Schmerzes machte sie weniger geschickt und gewandt, ihre Herrin zu bedienen, als gewöhnlich, was auf ihr unbeschütztes Haupt ein beständiges Unwetter von Scheltworten herabzog.

Miß Ophelia fühlte den Verlust; aber in ihrem guten und ehrlichen Herzen trug er Frucht für das ewige Leben. Sie war sanfter und milder, und obgleich in jeder Pflicht so eifrig wie früher, tat sie doch jetzt alles in einer stilleren und demütigeren Art, wie eine, die nicht vergebens mit ihrem Herzen zu Rate gegangen ist. Sie gab sich mehr Mühe, Topsy zu unterrichten – legte hauptsächlich die Bibel zugrunde – schauderte nicht länger vor ihrer Berührung zurück und zeigte keinen schlecht unterdrückten Ekel mehr, weil sie keinen fühlte. Sie betrachtete sie nun in dem milden Lichte, das Eva zuerst ihren Augen gezeigt hatte, und sah in ihr nur eine unsterbliche Kreatur, die Gott ihr überschickt hatte, sie zur Herrlichkeit und zur Tugend zu führen. Topsy wurde nicht auf einmal eine Heilige; aber das Leben und der Tod Evas brachten eine merkwürdige Veränderung in ihr hervor. Die verhärtete Gleichgültigkeit war verschwunden, es war jetzt Gefühl, Hoffnung, Verlangen und ein Streben nach dem Guten vorhanden – ein unregelmäßiges, oft unterbrochenes, aber stets erneutes Streben. Eines Tages, als Miß Ophelia nach Topsy geschickt hatte, trat diese herein und schob etwas hastig in den Busen.

»Was hast du da wieder, du Satanskind? Du hast gewiß wieder was gestohlen«, sagte die herrische kleine Rosa, die sie gerufen hatte, und packte sie zugleich derb am Arme.

»Gehen Sie nur, Miß Rosa!« sagte Topsy und riß sich von ihr los. »Das geht Sie nichts an!«

»Nur nicht so frech!« sagte Rosa. »Ich sah, wie du was verstecktest – ich kenne deine Streiche«, und Rosa packte sie wieder beim Arm und versuchte in ihren Busen zu greifen, während Topsy ganz wütend strampelte und tapfer für ihr gutes Recht focht. Der Lärm und die Verwirrung des Gefechts führten Miß Ophelia und St. Clare herbei.

»Sie hat was gestohlen!« sagte Rosa.

»Nein, das ist nicht wahr«, schrie Topsy, vor Leidenschaft schluchzend.

»Gib es her, was es auch ist!« sagte Miß Ophelia sanft. Topsy zauderte, aber auf einen zweiten Befehl zog sie aus ihrem Busen ein in den Fuß eines ihrer alten Strümpfe gewickeltes Päckchen hervor.

Miß Ophelia machte es auf. Ein kleines Buch lag darin, ein Geschenk Evas an Topsy mit einem einzigen Bibelvers für jeden Tag des Jahres, und in einem Papier die Haarlocke, welche Eva ihr an dem denkwürdigen Tage gegeben, wo sie ihren letzten Abschied genommen.

St. Clare war sehr gerührt von dem Anblick; das kleine Buch war in einen langen Streifen schwarzen Flor, von den Trauerkleidern gerissen, gewickelt.

»Warum hast du das um das Buch gewickelt?« sagte St. Clare und zeigte ihr den Flor.

»Weil – weil – weil es von Miß Eva war. Ach, nehmen Sie mir es nicht weg, bitte!« sagte sie; und sie setzte sich auf den Boden, zog die Schürze über den Kopf und schluchzte krampfhaft.

Es war eine seltsame Mischung von Rührendem und Lächerlichem – der kleine alte Strumpf – der schwarze Flor – das Buch mit den Bibelversen – die blonde, weiche Locke – und Topsys trostloser Schmerz.

St. Clare lächelte, aber es standen ihm Tränen in den Augen, als er sagte:

»Sei ruhig – weine nicht; – du sollst es wiederhaben!« und er wickelte es wieder zusammen und warf es ihr in den Schoß. Dann zog er Miß Ophelia mit sich in das Zimmer.

»Ich glaube wirklich, du kannst etwas aus dem Mädchen machen«, sagte er, indem er mit dem Daumen über die Achsel wies. »Ein Gemüt, das einem wahren Schmerze zugänglich ist, ist des Guten fähig; du mußt versuchen, etwas aus ihr zu machen.«

»Das Kind hat sich sehr gebessert«, sagte Miß Ophelia. »Ich setze große Hoffnung auf sie; aber, Augustin«, sagte sie und legte die Hand auf seinen Arm, »eines muß ich dich fragen, wem soll das Kind gehören? – Dir oder mir?«

»Nun, ich habe es dir ja geschenkt«, sagte Augustin.

»Aber nicht in gesetzlicher Form, ich will sie nach gesetzlicher Form besitzen«, sagte Miß Ophelia.

»Hui! Cousine«, sagte Augustin. »Was wird die Abolitionistengesellschaft davon denken? Sie wird wegen deines Falles einen allgemeinen Fasttag ausschreiben, wenn du eine Sklavenbesitzerin bist!«

»Ach, Unsinn! Ich will sie als Eigentum haben, damit ich ein Recht habe, sie mit nach den freien Staaten zu nehmen, und ihr die Freiheit zu geben, damit nicht alles umsonst ist, was ich an ihr tue.«

»Ach, Cousine, was ist das für ein schreckliches Ding, Böses tun, damit Gutes daraus komme! Ich kann meine Billigung nicht dazu geben.«

»Ich will nicht scherzen, sondern verständig mit dir reden«, sagte Miß Ophelia. »Es nutzt gar nichts zu versuchen, aus diesem Kinde ein christliches Kind zu machen, wenn ich sie nicht vor den Zufälligkeiten und dem Unglück der Sklaverei rette; und wenn du sie mir wirklich lassen willst, so mußt du mir eine Schenkungsurkunde oder ein anderes gerichtliches Papier geben.«

»Nun gut, du sollst’s haben«, sagte St. Clare; und er setzte sich hin und schlug eine Zeitung auseinander, um sie zu lesen.

»Aber es muß gleich geschehen«, sagte Miß Ophelia.

»Wozu diese Eile?«

»Weil jetzt die einzige rechte Zeit ist, etwas zu tun. Komm nur her. Hier ist Papier, Feder und Tinte, schreib mir die Urkunde.«

St. Clare hatte, wie die meisten Menschen von seinem Charakter, einen herzlichen Widerwillen gegen sofortiges Handeln überhaupt; und deshalb war ihm Miß Ophelias bestimmte Forderung ziemlich unangenehm.

»Aber wozu denn eigentlich?« sagte er.

»Ich will die Sache sicher abgemacht haben«, sagte Miß Ophelia. »Du kannst sterben oder fallieren, und dann wird Topsy mit zur Auktion gebracht, und ich kann nichts dagegen tun.«

»Wahrhaftig, du bist recht vorsichtig. Freilich, da ich in der Hand eines Yankees bin, muß ich wohl nachgeben«, und St. Clare schrieb rasch eine Schenkungsurkunde, was, da er mit den gesetzlichen Formen vertraut war, ihm sehr leicht wurde, und schrieb seinen Namen mit großen krakeligen Buchstaben, die mit einem gewaltigen Zuge schlossen, darunter.

»Nun hast du es schwarz auf weiß, Miß Vermont«, sagte er, wie er es ihr übergab.

»Ein braver Junge«, sagte Miß Ophelia lächelnd. »Aber muß nicht auch noch ein Zeuge unterschreiben?«

»Auch das noch – richtig. Marie«, sagte er, indem er die Tür des Zimmers seiner Frau öffnete. »Marie, Cousine Ophelia will deine Unterschrift haben; hier schreib deinen Namen einmal hier drunter.«

»Was ist das?« sagte Marie, wie sie das Papier überlas. »Lächerlich! Ich dachte, die Cousine wäre zu fromm für so schreckliche Sachen«, sagte sie, während sie gleichgültig ihren Namen unterschrieb; »aber wenn sie Geschmack an diesem Stück Ware findet, so steht es ihr gern zu Diensten.«

»So, nun ist sie dein, mit Leib und Seele«, sagte St. Clare und reichte ihr das Papier hin.

»Sie gehört mir nicht mehr, als früher«, sagte Miß Ophelia. »Niemand als Gott hat ein Recht, sie mir zu geben; aber ich kann sie nun beschützen.«

»Nun, so ist sie durch eine juristische Fiktion dein Eigentum«, sagte St. Clare, wie er wieder in die Wohnstube zurückkehrte und die Zeitungen nahm.

Miß Ophelia, die selten lange in Mariens Gesellschaft blieb, folgte ihm, nachdem sie vorher das Papier sorgfältig aufgehoben hatte.

»Augustin«, sagte sie plötzlich, als sie mit Stricken beschäftigt dasaß, »hast du im Falle deines Todes irgendwie Vorsorge für deine Sklaven getroffen?«

»Nein«, sagte St. Clare, während er weiter las.

»Dann kann sich deine ganze Nachsicht gegen sie am Ende als eine sehr große Grausamkeit erweisen.« St. Clare hatte das schon selbst oft gedacht, aber er antwortete nachlässig:

»Nun, ich denke gelegentlich Vorsorge zu treffen.«

»Wann?« sagte Miß Ophelia.

»Oh, einen dieser Tage.«

»Aber wenn du vorher stirbst?«

»Cousine, was hast du nur?« sagte St. Clare, indem er die Zeitung hinlegte und sie ansah. »Meinst du, ich zeige Symptome des gelben Fiebers oder Cholera, daß du mit solchem Eifer an Anordnungen nach meinem Tode denkst?«

»Inmitten des Lebens sind wir im Tode«, sagte Miß Ophelia.

St. Clare stand auf, legte die Zeitung hin und ging ruhig nach der Tür, die auf die Veranda führte, um eine Unterhaltung abzubrechen, die ihm nicht angenehm war. Mechanisch wiederholte er das letzte Wort: – »Tod!« – und wie er sich gegen das Geländer lehnte und dem funkelnden Wasser zusah, wie es im Springbrunnen emporstieg und wieder herunterfiel, und wie er in einem dampfenden und blendenden Nebel die Blumen und Bäume und Vasen des Hofes sah, wiederholte er abermals das mystische Wort, das jedem Munde so geläufig und doch von so grauenhafter Macht ist: »Tod! Seltsam, daß es ein solches Wort gibt«, sagte er, »und eine solche Sache und daß wir sie je vergessen; daß ein Mensch heute lebendig, warm und schön, voll von Hoffnungen, Wünschen und Bedürfnissen ist, und morgen fort ist, gänzlich und auf immer!«

Es war ein warmer goldener Abend; und wie er nach dem anderen Ende der Veranda ging, sah er Tom, der voll Eifer in seiner Bibel las, mit dem Finger jedem einzelnen Worte folgte, und sie mit ernstem Gesichte halblaut vor sich hin flüsterte.

»Soll ich dir vorlesen, Tom?« sagte St. Clare und setzte sich achtlos neben ihn.

»Wenn es Master gefällig ist«, sagte Tom dankbar, »Master macht es mir viel deutlicher.«

St. Clare nahm das Buch und blickte hinein und begann eine der Stellen zu lesen, welche Tom mit starken Strichen am Rande bezeichnet hatte. Sie lautete:

»Wenn aber des Menschen Sohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle heiligen Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Stuhl seiner Herrlichkeit. Und werden vor ihm alle Völker versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, gleich als ein Hirte die Schafe von den Böcken scheidet.« St. Clare las weiter mit lebendigem Tone, bis er zu den letzten Versen kam.

»Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Gehet hin von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln. Ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mich nicht gespeiset. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mich nicht getränkt. Ich bin ein Gast gewesen, und ihr habt mich nicht beherberget. Ich bin nackend gewesen, und ihr habt mich nicht bekleidet. Ich bin krank und gefangen gewesen, und ihr habt mich nicht besuchet. Dann werden sie ihm auch antworten und sagen: Herr, Herr, wann haben wir Dich gesehen hungrig oder durstig, oder einen Gast, oder nackend, oder krank, oder gefangen, und haben Dir nicht gedienet? Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich ich sage euch, was ihr nicht getan einem unter diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan.«

Auf St. Clare schien die letzte Stelle großen Eindruck zu machen, denn er las sie zweimal; das zweite Mal langsam, als ob er sich die Worte überlegte.

»Tom«, sagte er, »diese Leute, welche so harte Strafe erleiden, scheinen genauso gelebt zu haben, wie ich – gut, ruhig und achtungswert, ohne sich zu bekümmern, wie viele ihrer Brüder hungerten oder dursteten oder krank oder gefangen waren.«

Tom gab keine Antwort.

St. Clare stand auf und ging gedankenvoll in der Veranda auf und ab, wobei er alles andere außer seinen Gedanken zu vergessen schien; so vertieft war er in sie, daß ihn Tom zweimal erinnern mußte, daß man zum Tee geklingelt habe, ehe er seine Aufmerksamkeit erregen konnte.

St. Clare war während der ganzen Teezeit zerstreut und gedankenvoll. Nach dem Tee nahmen er, Marie und Miß Ophelia von dem Salon Besitz.

»Ich las diesen Nachmittag Tom das Kapitel im Matthäus vor, welches das Gericht beschreibt, und es hat einen großen Eindruck auf mich gemacht. Man hätte meinen sollen, man müßte denen, die aus dem Himmel gestoßen werden, als Grund schreckliche Verbrechen schuld geben; aber nein – sie werden verdammt, weil sie nichts positiv Gutes getan, als ob das jedes mögliche Böse in sich schlösse.«

»Vielleicht«, sagte Miß Ophelia, »kann eine Person, welche nichts Gutes tut, nicht umhin Böses zu tun.«

»Und was«, sagte St. Clare und sprach gedankenvoll, aber mit tiefem Gefühl, »was wird zu einem gesagt werden, den sein Herz, seine Erziehung und die Bedürfnisse der Gesellschaft vergebens zu einem edlen Ziele aufgefordert haben, der als träumerischer und unparteiischer Zuschauer der Kämpfe, der Leiden und der Sünden der Menschheit dagestanden hat, während er hätte ein Arbeiter sein sollen?«

»Ich würde sagen«, sagte Miß Ophelia, »daß er bereuen und jetzt anfangen sollte.«

»Immer praktisch und auf das Ziel los«, sagte St. Clare, und ein Lächeln erhellte den Ernst seines Gesichts. »Du lassest mir nie Zeit zu allgemeinen Betrachtungen, Cousine, du lenkst mich immer bestimmt auf die wirkliche Gegenwart hin; du hast eine Art von ewigem Jetzt in deinem Sinne.«

»Jetzt ist die einzige Zeit, mit der wir etwas zu tun haben«, sagte Miß Ophelia.

»Arme kleine Eva – armes Kind«, sagte St. Clare. »Sie hatte sich in ihrer einfachen Kinderseele ein gutes Werk für mich vorgenommen.«

Es war das erste Mal seit Evas Tode, wo er eine so ausführliche Äußerung über sie tat, und während er sprach, unterdrückte er offenbar sehr starke Empfindungen.

»Meine Ansicht vom Christentum ist von der Art«, setzte er hinzu, »daß ich glaube, kein Mann kann sich aufrichtig dazu bekennen, ohne sich mit dem ganzen Gewicht seines Ichs gegen das ungeheure System der Ungerechtigkeit zu wenden, welches unserer ganzen Gesellschaft zugrunde liegt; und wenn nötig, sich selbst im Kampf zu opfern. Das heißt, ich meine, daß ich nicht anders Christ sein könnte, obgleich ich gewiß sehr viel aufgeklärte und christliche Leute kennengelernt habe, denen so etwas nicht einfällt; und ich gestehe, daß die Gleichgültigkeit von religiösen Leuten über diesen Gegenstand, ihr Mangel an Gefühl für Unrecht, welches mich mit Entsetzen erfüllte, in mir mehr Skepsis als alles andere erzeugt hat.«

»Wenn du alles das wußtest, warum hast du nicht danach gehandelt?« sagte Miß Ophelia.

»O, weil ich nur dasjenige Streben nach dem Guten besitze, welches darin besteht, auf dem Sofa zu liegen und die Kirche und die Geistlichkeit zu verwünschen, weil sie nicht Märtyrer und Bekenner sind. Du weißt ja, daß jedermann leicht sagen kann, wie andere Märtyrer sein sollten.«

»Nun, willst du es aber jetzt anders machen?« sagte Miß Ophelia.

»Gott allein kennt die Zukunft«, sagte St. Clare. »Ich habe mehr Mut als früher, weil ich alles verloren habe; und der, welcher nichts zu verlieren hat, kann sich allen Gefahren aussetzen.«

»Und was gedenkst du nun zu tun?«

»Meine Pflicht gegen die Niedrigen und Armen, hoffe ich, sobald ich sie entdecken kann«, sagte St. Clare, »und ich werde dabei bei meinen eigenen Leuten anfangen, für die ich noch nichts getan habe; und vielleicht zeigt es sich in einer späteren Zukunft, daß ich etwas für eine ganze Klasse tun kann, etwas, um mein Vaterland von der Schmach der falschen Lage, in welcher es sich allen anderen zivilisierten Nationen gegenüber befindet, zu befreien.«

»Hältst du es für möglich, daß eine Nation jemals ihre Sklaven freiwillig freiläßt?« sagte Miß Ophelia.

»Das weiß ich nicht«, sagte St. Clare. »Wir leben in einer Zeit großer Taten. Heroismus und Uneigennützigkeit zeigen sich hie und da auf Erden. Der ungarische Adel hat Millionen von Leibeigenen mit einem unermeßlichen pekuniären Verlust freigegeben; und vielleicht finden sich auch unter uns edle Geister, welche Ehre und Gerechtigkeit nicht nach Dollar und Cent abschätzen.«

»Ich glaube das kaum«, sagte Miß Ophelia.

»Aber nehmen wir einmal an, wir entschlössen uns morgen zur Emanzipation der Sklaven, wer würde diese Millionen erziehen und ihnen den Gebrauch der Freiheit lehren? Sie würden sich unter uns nie bestreben, was Ordentliches zu werden. Die Wahrheit ist, wir selbst sind zu träge und unpraktisch, um ihnen einen besonderen Begriff von dem Fleiße und der Energie zu geben, durch welche sie allein zu Menschen werden können. Sie werden nach dem Norden gehen müssen, wo die Arbeit Mode – allgemeine Gewohnheit ist; und jetzt sage mir einmal, besitzen eure nördlichen Staaten christliche Philanthropie genug, um sich ihrer Erziehung und Ausbildung zu unterziehen? Ihr schickt viele tausend Dollar nach fremden Missionen; aber würdet ihr’s ertragen können, wenn man die Heiden in eure Städte und Dörfer schickte und euch zumutete, eure Zeit, eure Gedanken und euer Geld aufzuwenden, um sie auf einen christlichen Standpunkt zu erheben? Das möchte ich wissen. Würdet ihr sie erziehen, wenn wir sie freiließen? Wie viele Familien in deiner Stadt würden einen Neger oder eine Negerin nehmen, sie unterrichten, Nachsicht mit ihnen haben und versuchen, sie zu Christen zu machen? Wie viele Kaufleute würden Adolf nehmen, wenn ich ihn zu einem Commis zu machen wünschte, oder wieviel Handwerker, wenn ich ihn ein Handwerk lernen lassen wollte? Wenn ich Jane und Rosa in eine Schule schicken wollte, wie viele Schulen in den nördlichen Staaten würden bereit sein, sie aufzunehmen? Wie viele Familien würden sie in Kost nehmen? Und dennoch sind sie so weiß, wie manche Frau im Norden oder im Süden. Du siehst, Cousine, ich verlange bloß Gerechtigkeit für uns. Wir sind in einer schlimmen Lage. Wir sind die augenfälligeren Tyrannen des Negers; aber die unchristlichen Vorurteile des Nordens sind ein fast ebenso harter Tyrann.«

»Das muß ich allerdings zugeben, Cousin«, sagte Miß Ophelia. »Ich war ganz in demselben Falle, bis ich sah, daß es meine Pflicht war, es zu überwinden; aber ich habe das Vertrauen, daß ich es überwunden habe, und ich weiß, es gibt viele gute Leute im Norden, denen in dieser Sache nur ihre Pflicht gelehrt zu werden braucht, und sie tun dieselbe. Es wäre gewiß eine größere Selbstverleugnung, Heiden in unsere Mitte aufzunehmen, als Missionare unter sie zu schicken; aber ich glaube, wir würden es tun.«

»Du würdest es tun, das weiß ich«, sagte St. Clare. »Ich möchte sehen, was du nicht tun würdest, wenn du es für deine Pflicht hieltest!«

»Nun, ich bin nicht ungewöhnlich gut«, sagte Miß Ophelia. »Andere würden dasselbe tun, wenn sie die Dinge so ansehen, wie ich. Ich gedenke, Topsy mit nach Hause zu nehmen, wenn ich wieder zurückkehre. Wahrscheinlich werden sich unsere Leute im Anfang wundern; aber ich glaube, sie werden sich daran gewöhnen, die Sache so anzusehen wie ich. Außerdem weiß ich, daß es im Norden viele Leute gibt, welche das tun, was du verlangst.«

»Ja, aber sie befinden sich in der Minderheit; und wenn wir in einem nur halbwegs großartigen Maßstabe zu emanzipieren anfingen, würden wir bald von euch hören.«

St. Clare ging noch einige Minuten im Zimmer auf und ab und sagte dann:

»Ich werde ein paar Augenblicke in das Kaffeehaus gehen und hören, was es Neues gibt.«

Er nahm seinen Hut und verließ das Zimmer.

Tom folgte ihm auf den Gang bis zum Hofe hinaus und fragte, ob er ihn begleiten solle.

»Nein, Tom«, sagte St. Clare. »Ich werde in der Stunde zurück sein.«

Tom setzte sich unter die Veranda. Es war eine schöne mondhelle Nacht, und er sah den funkelnden Strahl des Springbrunnens steigen und fallen, und hörte seinem Geplätscher zu. Tom dachte an seine Heimat und daß er bald ein freier Mann und imstande sein werde, nach Belieben nach Hause zurückzukehren. Er dachte, wie er arbeiten würde, um seine Frau und seine Kinder loszukaufen. Er befühlte mit einer Art Freude die Muskeln seiner kräftigen Arme, wie er bedachte, daß sie nun bald sein Eigentum sein würden, und wieviel sie würden arbeiten können, um seine Familie frei zu machen. Dann dachte er an seinen edlen jungen Herrn, und daran schloß sich von selbst das gewöhnliche Gebet, das er stets für ihn zum Himmel geschickt hatte; und dann lenkten sich seine Gedanken auf die schöne Eva, die nun unter den Engeln sein mußte, und er dachte daran, bis er das freundliche Gesicht und das goldene Haar fast durch die funkelnden Tropfen des Springbrunnens zu schauen glaubte. Und mit solchen Gedanken beschäftigt, schlummerte er ein und träumte, sie käme auf ihn zugesprungen, wie er sie sonst immer gesehen, das Haar mit einem Jasminkranz geschmückt, mit heiterem Gesicht und freudestrahlenden Augen; aber wie er so auf sie blickte, schien sie sich vom Boden zu erheben, ihre Wangen nahmen eine bleichere Farbe an – ihre Augen hatten einen tiefen göttlichen Glanz, eine goldene Glorie schien ihr Haupt zu umgeben – und sie entschwand seinen Blicken; und Tom erwachte von einem lauten Klopfen und dem Schall vieler Stimmen vor der Haustür.

Er eilte zu öffnen; und mit gedämpfter Stimme und schwerem Tritt brachten mehrere Männer auf einer Tragbahre einen in einen Mantel gehüllten Körper herein. Das Licht der Lampe fiel voll auf das Gesicht; und Tom stieß einen wilden Schrei des Staunens und der Verzweiflung aus, der durch alle Galerien schallte, wie die Männer mit ihrer Bürde nach der offenen Tür des Salons gingen, wo Miß Ophelia noch immer mit Stricken beschäftigt saß.

St. Clare war in ein Kaffeehaus getreten, um die Abendzeitung zu lesen. Während er las, erhob sich in demselben Zimmer ein Zank zwischen zwei Herren, die beide halb berauscht waren. St. Clare und ein paar andere von den Gästen bemühten sich, sie auseinander zu bringen, und St. Clare empfing dabei einen tödlichen Stoß mit einem Bowiemesser, welches er einem von den Streitenden entreißen wollte.

Das ganze Haus erschallte von Weinen und Klagen, Geschrei und Jammer. Tom und Miß Ophelia schienen allein einige Fassung zu behalten; denn Marie lag in heftigen Krämpfen in ihrem Zimmer. Unter Miß Ophelias Leitung wurde eins der Sofas im Salon hastig zurechtgemacht, und der blutende Körper darauf gelegt. St. Clare war aus Schmerz und Blutverlust in Ohnmacht gefallen; aber da Miß Ophelia Stärkungsmittel anwendete, kam er wieder zu sich, schlug die Augen auf, sah sie starr an, blickte sich ernst im Zimmer um, ließ die Augen trauervoll über jeden Gegenstand schweifen, bis sie endlich auf dem Bilde seiner Mutter haftenblieben.

Der Arzt kam jetzt an und untersuchte den Verwundeten. Schon an dem Ausdrucke seines Gesichts ließ sich erkennen, daß keine Hoffnung mehr sei; aber er verband die Wunde, und er und Miß Ophelia und Tom waren in möglichster Fassung damit beschäftigt, während die erschrockenen Dienstboten, die sich um die Türen und Fenster der Veranda drängten, laut weinten und jammerten.

»Nun müssen auch alle diese Leute fort«, sagte der Arzt; »es hängt alles davon ab, daß Ruhe um ihn herrscht.«

St. Clare schlug die Augen auf und heftete einen starren Blick auf die jammernden Wesen, die Miß Ophelia und der Arzt zu bewegen suchten, das Zimmer zu verlassen. »Die armen Geschöpfe!« sagte er, und ein Ausdruck bitteren Selbstvorwurfs trübte sein Antlitz. Adolf weigerte sich unbedingt, zu gehen. Der Schreck hatte ihn aller Geistesgegenwart beraubt; er warf sich auf den Fußboden und nichts konnte ihn überreden aufzustehen. Die übrigen fügten sich Miß Ophelias dringenden Vorstellungen, daß ihres Herrn Rettung von ihrer Ruhe und ihrem Gehorsam abhänge.

St. Clare sprach nur wenig; er lag mit geschlossenen Augen da, aber es war klar, daß er mit schmerzlichen Gedanken kämpfte. Nach einer Weile reichte er seine Hand Tom, der neben ihm kniete, und sagte zu ihm:

»Tom! Armer Bursche!«

»Was ist, Master?« sagte Tom dringlich.

»Ich sterbe!« sagte St. Clare und drückte ihm die Hand. »Bete!«

»Wenn Sie einen Geistlichen wünschen –« sagte der Arzt.

Und St. Clare schüttelte hastig den Kopf und sagte noch einmal zu Tom: »Bete!«

Und Tom betete mit seiner ganzen Seele und seiner ganzen Kraft für die Seele, die im Verscheiden lag, für die Seele, die so starr und traurig aus diesen großen melancholischen blauen Augen heraussah. Es war buchstäblich ein Gebet, das mit lautem Jammern und Weinen sich an Gott wendete. Als Tom aufhörte, ergriff St. Clare seine Hand und sah ihn mit ernstem Blick an, aber sprach nicht. Er schloß die Augen, hielt aber die Hand immer noch fest, denn an den Toren der Ewigkeit fassen sich die schwarze und die weiße Hand mit gleicher Wärme. Dann murmelte er vor sich hin.

»Er phantasiert«, sagte der Arzt.

»Nein! Er erkennt endlich die Wahrheit!« sagte St. Clare mit Energie. »Endlich! Endlich!«

Die Anstrengung des Sprechens erschöpfte ihn. Die zunehmende Blässe des Todes verbreitete sich über sein Antlitz; aber mit ihm kam, wie von den Fittichen eines barmherzigen Engels herab, ein schöner Ausdruck des Friedens, wie bei einem müden Kinde, welches schläft.

So lag er einige Augenblicke da. Sie sahen, daß die mächtige Hand des Todes auf ihm ruhte. Unmittelbar vor dem Verscheiden öffnete er die Augen mit einem plötzlichen Erglänzen, wie vor Freude des Wiedererkennens, und sagte: »Mutter!« und dann war er tot!

24. Kapitel


Die Schutzlosen

Wir hören oft von dem Schmerz der Negersklaven bei dem Verlust eines guten Herrn und mit gutem Grunde, denn kein Geschöpf auf Gottes Erde kommt in eine so vollkommene schutzlose und unglückliche Lage als ein Sklave unter diesen Umständen.

Ein Kind, das seinen Vater verliert, hat noch den Schutz seiner Verwandten und des Gesetzes; es ist etwas und kann etwas tun – es hat anerkannte Rechte und eine anerkannte Stellung; der Sklave aber nicht. In den Augen des Gesetzes ist er in jeder Hinsicht so vollkommen rechtlos, wie ein Ballen Ware. Die einzige mögliche Anerkennung eines seiner Gefühle und Bedürfnisse als menschliches und unsterbliches Wesen kann nur von dem souveränen und unverantwortlichen Willen seines Herrn ausgehen; und wenn dieser Herr stirbt, so bleibt ihm nichts übrig.

Die Zahl der Menschen, welche eine ganz unverantwortliche Macht mit Menschlichkeit und Edelmut zu gebrauchen wissen, ist klein. Das weiß jeder, und der Sklave weiß es am besten von allen, deshalb fühlt er auch, daß er die Aussicht hat, zehn schlechte und tyrannische Herren gegen einen nachsichtigen und gütigen zu finden. Daher ist die Trauer um einen gütigen Herrn laut und lang, wie es ganz natürlich ist.

Als St. Clare ausgeatmet hatte, erfaßte Schrecken und Bestürzung seinen ganzen Haushalt. Er war ihnen entrissen worden in einem Augenblick, in der Blüte und Kraft seiner Jugend! Jedes Zimmer und jeder Gang des Hauses widerhallte von dem Schluchzen und Geschrei der Verzweiflung.

Marie, deren Nervensystem durch die langwierige Gewohnheit weichlichen Genusses geschwächt war, hatte der Gewalt der Erschütterung nichts entgegenzusetzen und fiel zu der Zeit, wo ihr Gatte seinen letzten Atemzug tat, aus einer Ohnmacht in die andere; und der, mit dem sie durch das heilige Band der Ehe verknüpft war, schied von ihr auf immer, ohne ihr ein einziges Abschiedswort sagen zu können.

Mit charakteristischer Stärke und Selbstbeherrschung hatte Miß Ophelia bis zuletzt bei ihrer Verwandten ausgehalten. Sie war ganz Auge, ganz Ohr, ganz Aufmerksamkeit, tat alles von dem wenigen, was getan werden konnte, und stimmte mit ganzem Herzen in das inbrünstige Gebet ein, welches der arme Sklave für die Seele seines sterbenden Herrn zu Gott geschickt hatte.

Als sie ihn zur letzten Ruhe bereiteten, fanden sie auf seiner Brust eine kleine einfache Kapsel mit einem Miniaturbild. Es stellte ein schönes und edles weibliches Gesicht dar; und auf der Rückseite lag unter einem Glase eine dunkle Haarlocke. Sie legten das Kleinod wieder auf den nicht mehr von Leben erfüllten Busen – Staub auf Staub – armselige, traurige Reliquien früherer Träume, welche einstmals dieses kalte Herz so warm schlagen machten!

Toms ganze Seele war von Gedanken an die Ewigkeit erfüllt; und während er um die Leiche zu tun hatte, dachte er nicht ein einziges Mal daran, daß der plötzliche Schlag ihn in hoffnungslose Sklaverei zurückgestoßen hatte. Er fühlte keine Besorgnis um seinen Herrn, denn in jener Stunde, wo er sein Gebet in den Busen seines himmlischen Vaters ausgeschüttet, hatte er im Innersten seines Herzens eine Antwort der Ruhe und Gewißheit vernommen. In den Tiefen seiner eigenen liebereichen Natur fühlte er sich imstande, etwas von der Fülle göttlicher Liebe zu gewahren, denn ein altes Orakel sagt: »Wer in Liebe wohnet, wohnet in Gott und Gott in ihm.« Tom hoffte und vertraute, und Friede herrschte in ihm.

Aber das Leichenbegräbnis ging mit seinem prunkenden Aufzug von schwarzem Krepp und Gebeten und feierlichen Gesichtern vorüber, und die kalten schmutzigen Wellen des Alltagslebens fluteten zurück; und wieder ertönte die ewige zudringliche Frage: »Was soll nun geschehen?«

Die Frage drängte sich Marie auf, wie sie in weiten Morgenkleidern angetan, und umgeben von ängstlich besorgten Dienstboten in einem großen Lehnstuhl saß und Proben von Krepp und Bombassin besichtigte. Sie drängte sich Miß Ophelia auf, welche an die Heimkehr nach ihrer nördlichen Heimat zu denken anfing. Sie drängte sich mit stummem Schrecken den Dienstboten auf, die recht gut den gefühllosen tyrannischen Charakter der Herrin, in deren Gewalt sie sich jetzt befanden, kannten. Alle wußten recht gut, daß die Nachsicht, mit der sie behandelt worden waren, nicht von ihrer Herrin, sondern von ihrem Herrn herstammte; und daß jetzt, wo er nicht mehr war, jeder Schutz vor jeder tyrannischen Züchtigung fehlte, auf welchen eine durch Leiden verbitterte Launenhaftigkeit fallen konnte. Etwa vierzehn Tage nach dem Begräbnis hörte Miß Ophelia, die in ihrem Zimmer beschäftigt war, ein leises Klopfen an der Tür. Sie öffnete, und vor ihr stand Rosa, das hübsche Quadronmädchen, von dem wir schon öfter gesprochen, mit ungeordnetem Haar, und die Augen vom Weinen geschwollen.

»Ach, Miß Feely«, sagte sie und fiel vor ihr auf die Knie und faßte ihren Saum des Kleides, »bitte, bitte, verwenden Sie sich für mich! Bitten Sie für mich vor! Sie will mich auspeitschen lassen – sehen Sie nur!« und sie reichte Miß Ophelia ein Papier hin.

Es war eine Anweisung in Maries zierlicher und eleganter Handschrift an den Besitzer einer Auspeitschungsanstalt, der Überbringerin fünfzehn Streiche zu geben.

»Was hast du getan?« sagte Miß Ophelia.

»Sie wissen, Miß Feely, ich bin so heftig; es ist recht schlecht von mir. Ich probierte Miß Maries Kleid an, und sie schlug mich ins Gesicht, und ich brach heraus, ehe ich mir es überlegte und war unartig; und sie sagte mir, sie wolle es mir schon zeigen, und ein für allemal lehren, nicht den Kopf so hoch zu tragen wie früher; und sie schrieb diesen Zettel und befahl mir, ihn hinzutragen. Lieber wollte ich mich geradezu totschlagen lassen.«

Miß Ophelia stand da mit dem Papier in der Hand und überlegte, was zu tun sei.

»Ja, sehen Sie, Miß Feely«, sagte Rosa, »ich kümmerte mich um das Auspeitschen nicht so viel, wenn Miß Marie oder Sie es besorgten; aber von einem Manne sich auspeitschen lassen, und von einem so schrecklichen Manne! – Denken Sie nur die Schande, Miß Feely!«

Miß Ophelia wußte recht gut, daß es allgemeiner Brauch war, Frauen und junge Mädchen in die Auspeitschungsanstalt zu schicken, wo sie von den gemeinsten Kerlen – Kerle, die schlecht genug sind, um daraus ein Gewerbe zu machen – die roheste Entblößung und schmachvollste Züchtigung erdulden. Sie hatte es vorher gewußt, aber sie hatte es sich noch nie recht vorgestellt, bis sie die zarte Gestalt Rosas vor Schmerz krampfhaft erzittern sah.

Ihr ganzes ehrliches Frauenblut, das kräftige, neuengländische Freiheitsblut schoß ihr ins Gesicht und klopfte zornig in ihrem entrüsteten Herzen; aber mit ihrer gewöhnlichen Klugheit und Selbstbeherrschung bezwang sie sich, zerknitterte das Papier in der Hand und sagte bloß zu Rosa: »Setze dich, Kind, während ich zu deiner Herrin gehe.«

»Schändlich! Gräßlich! Unbegreiflich!« sagte sie zu sich selbst, als sie durch den Salon ging.

Als sie in Mariens Zimmer trat, saß diese in ihrem Lehnstuhl und Mammy kämmte ihr die Haare aus; Jane saß vor ihr auf dem Fußboden und rieb ihr die Füße.

»Wie befinden Sie sich heute, Cousine?« sagte Miß Ophelia.

Ein tiefer Seufzer und ein Schließen der Augen war die einzige Antwort für einen Augenblick; und dann sprach Marie: »O, ich weiß nicht, Cousine, ich glaube, so gut, wie ich mich jemals befinden werde!« und Marie trocknete sich die Augen mit einem Batisttaschentuch, das mit einer zollbreiten Kante von tiefstem Schwarz eingefaßt war.

»Ich komme«, sagte Miß Ophelia mit einem kurzen trockenen Husten, wie man ihn gewöhnlich anwendet, um einen schwierigen Gegenstand einzuleiten, »ich komme, um mit Ihnen wegen Rosa zu sprechen.«

Mariens Augen öffneten sich jetzt weit genug, und ihre blassen Wangen röteten sich, wie sie kurz antwortete: »Nun, was ist mit ihr?«

»Ihr Fehler tut ihr recht sehr leid.«

»Wirklich? Er wird ihr noch mehr leid tun, ehe ich mit ihr fertig bin! Ich habe die Unverschämtheit dieser Dirne lange genug ertragen; und jetzt will ich sie demütigen – sie soll vor mir im Staube kriechen!«

»Aber können Sie sie nicht auf eine andere Weise bestrafen, die nicht so beschimpfend wäre?«

»Ich will sie beschimpfen, das beabsichtige ich eben. Sie hat sich ihr ganzes Leben lang auf ihr Zartgefühl und ihr gutes Aussehen und ihr feines Benehmen etwas eingebildet, daß sie ganz vergißt, wer sie ist; und ich will ihr eine Lehre geben, die sie wieder auf ihren rechten Standpunkt herunterbringt, das will ich meinen!«

»Aber bedenken Sie, Cousine, wenn Sie Zart- und Schamgefühl in einem jungen Mädchen vernichten, so verderben Sie dasselbe sehr rasch!«

»Zartgefühl!« sagte Marie mit spöttischem Lachen, »ein schöner Ausdruck für solche Geschöpfe! Ich will ihr zeigen, daß sie mit all ihrem Vornehmtun nicht besser ist als die zerlumpteste Straßendirne! Sie soll nicht mehr vornehm tun vor mir.«

»Sie werden diese Hartherzigkeit vor Gott zu verantworten haben!« sagte Miß Ophelia.

»Hartherzigkeit! Ich möchte wissen, wo die Hartherzigkeit wäre? Ich habe nur 15 Streiche befohlen und ihm geschrieben, er solle nicht so stark schlagen. Gewiß ist da nichts Hartherziges dabei!«

»Nichts Hartherziges!« sagte Miß Ophelia. »Gewiß würde jedes Mädchen lieber den Tod erleiden!«

»Das mag Ihnen so vorkommen, aber derartige Geschöpfe kennen solche Empfindungen nicht und gewöhnen sich daran; nur auf diese Weise lassen sie sich in Zucht erhalten. Läßt man sie nur einmal erst fühlen, daß sie sich mit ihrem Zartgefühl und Ähnlichem zieren dürfen, so nehmen sie sich alles mögliche heraus, wie es meine Dienstboten jetzt immer gemacht haben. Ich habe jetzt angefangen, sie zum Gehorsam zu bringen; und sie mögen es sich alle gesagt sein lassen, daß ich eine so gut auspeitschen lasse wie die andere, wenn sie sich nicht in acht nehmen!« sagte Marie und sah mit entschiedenem Blicke um sich.

Jane hing bei dieser Drohung eingeschüchtert den Kopf, denn es war ihr, als wäre es ganz insbesondere auf sie gemünzt. Miß Ophelia saß für einen Augenblick da, als ob sie ein explosives Pulver verschluckt hätte und auf dem Punkt stände, zu platzen. Aber sie sah bald die gänzliche Nutzlosigkeit ein, mit einer solchen Natur zu streiten, behielt entschlossen den Mund zu und verließ das Zimmer.

Es war ein schmerzliches Geschäft, Rosa zu sagen, daß nichts für sie habe geschehen können; und kurz darauf kam einer von den männlichen Dienstboten mit der Botschaft, daß Missis ihm befohlen habe, Rosa nach dem Auspeitschungshause zu bringen, wohin sie trotz allen ihren Tränen und Bitten geschleppt wurde.

Ein paar Tage später stand Tom nachdenklich unter dem Balkon, als Adolf zu ihm trat, der seit dem Tode seines Herrn sich ganz niedergebeugt und untröstlich gezeigt hatte. Adolf wußte, daß ihn Marie nie hatte leiden können; aber solange sein Herr lebte, hatte er wenig darauf geachtet. Jetzt, wo er nicht mehr war, war er in täglicher Furcht und täglichem Zittern herumgegangen, ohne zu wissen, was der nächste Tag bringen werde. Marie hatte mehrere Beratungen mit ihrem Advokaten gehabt. Nachdem man sich auch mit St. Clares Bruder besprochen, faßte man den Entschluß, das Haus und alle Sklaven zu verkaufen. Nur diejenigen, welche ihr persönliches Eigentum waren, wollte Marie behalten und sie mit auf die Plantage ihres Vaters nehmen.

»Weißt du, Tom, daß wir alle verkauft werden sollen?« sagte Adolf.

»Woher weißt du das?« sagte Tom.

»Ich versteckte mich hinter dem Vorhang, als Missis mit dem Advokaten sich besprach. In wenigen Tagen werden wir alle in die Auktion gegeben, Tom!«

»Des Herrn Wille geschehe!« sagte Tom, indem er die Arme übereinanderschlug und schwer seufzte.

»Wir werden nie wieder einen solchen Herrn bekommen«, sagte Adolf besorgt. »Aber lieber will ich mich verkaufen lassen, als in Missis‘ Besitz kommen.«

Tom wendete sich weg; sein Herz war voll. Die Hoffnung auf Freiheit, der Gedanke an Weib und Kinder in der Ferne erhoben sich vor seiner geduldigen Seele, wie vor den Augen des Schiffers, der fast im Hafen Schiffbruch leidet, der Kirchturm und die geliebten Dächer sich über dem Kamm einer schwarzen Woge erheben, nur, um ihm ein letztes Lebewohl zu sagen. Er drückte die Arme fest auf seine Brust, zwang die bitteren Tränen zurück und versuchte zu beten. Die arme, alte Seele hatte ein so sonderbares unerklärliches Vorurteil zugunsten der Freiheit, daß es ein harter Kampf für ihn war; und je mehr er sagte: »Dein Wille geschehe!« desto schlimmer wurde es ihm zumute.

Er suchte Miß Ophelia auf, die seit Evas Tode ihn stets mit ausgezeichneter und achtungsvoller Güte behandelt hatte.

»Miß Feely«, sagte er, »Master St. Clare versprach mir meine Freiheit. Er sagte mir, er hätte die nötigen vorbereitenden Schritte getan; und wenn jetzt vielleicht Miß Feely so gut sein wollte, mit Missis darüber zu sprechen, würde sie die Sache zu Ende bringen, da es Master St. Clares Wunsch war.«

»Ich will für dich sprechen, Tom, und mein Bestes tun«, sagte Miß Ophelia, »aber wenn es von Mrs. St. Clare abhängt, so kann ich nicht viel für dich hoffen. Dennoch will ich es versuchen.«

Dieser Zwischenfall ereignete sich wenige Tage nach dem mit Rosa, als Miß Ophelia schon Vorbereitungen zur Rückkehr in die Heimat traf.

Nach ernstlichem Nachdenken sagte sie sich, daß sie vielleicht bei ihrer früheren Verhandlung mit Marie zu unbedacht und warm in ihren Ausdrücken gewesen; und sie beschloß daher, jetzt zu versuchen, ihren Eifer zu mäßigen, und so versöhnlich als möglich zu sein. So nahm denn die gute Seele ihr Strickzeug und begab sich nach Mariens Zimmer, erfüllt von dem Entschluß, so angenehm als möglich zu sein und Toms Sache mit der ganzen diplomatischen Gewandtheit, die sie aufbieten könnte, zu verhandeln.

Sie fand Marie in ihrer ganzen Länge auf einem Sofa liegend, auf der einen Seite von Kissen unterstützt, während Jane, die eine Runde durch alle Läden gemacht hatte, ihr Proben von verschiedenen leichten schwarzen Stoffen vorlegte.

»Das würde wohl das beste sein«, sagte Marie und wählte eins aus; »ich weiß nur nicht, ob es eigentlich zur Trauer paßt.«

»O gewiß, Missis«, beteuerte Jane mit Eifer, »Missis General Derbennon trug ganz dasselbe nach dem Tode des Generals vorigen Sommer; es nimmt sich reizend aus.«

»Was meinen Sie dazu?« sagte Marie zu Miß Ophelia.

»Das ist Gewohnheitssache, sollte ich meinen«, sagte Miß Ophelia. »Sie können das besser beurteilen als ich.«

»Die Sache ist eigentlich die«, sagte Marie, »daß ich kein einziges Kleid mehr habe, das ich tragen kann, und da ich den Haushalt auflösen und nächste Woche abreisen will, so muß ich mich zu etwas entschließen.«

»Wollen Sie schon so bald abreisen?«

»Ja. St. Clares Bruder hat geschrieben, und er und der Advokat gaben den Rat, die Sklaven und das Möblement zu versteigern und das Haus der Obhut unseres Advokaten zu übergeben.«

»Über eine Sache wünschte ich mit Ihnen zu sprechen«, sagte Miß Ophelia. »Augustin versprach Tom die Freiheit und hat die vorbereitenden Schritte bei Gericht schon getan. Ich hoffe, Sie werden Ihren Einfluß anwenden, um die Sache vollends zum Abschluß zu bringen.«

»Das werde ich ganz und gar nicht tun«, sagte Marie kurz. »Tom ist einer unserer wertvollsten Sklaven, und es ist uns in keiner Weise zuzumuten. Übrigens, wozu will er frei sein? Er befindet sich in seiner gegenwärtigen Lage viel besser.«

»Aber er wünscht es sehr dringend, und sein Herr hat es ihm versprochen«, sagte Miß Ophelia.

»Ich glaube wohl, daß er sich die Freiheit wünscht«, sagte Marie, »sie wünschen sie alle, weil sie unzufriedene Geschöpfe sind, die stets nach dem verlangen, was sie nicht haben. Nun bin ich aus Grundsatz gegen jede Freilassung. Solange ein Neger unter der Obhut eines Herrn bleibt, führt er sich gut auf und bleibt ein achtbarer Mensch; aber sowie man ihn freigibt, wird er faul und will nicht arbeiten und gewöhnt sich das Trinken an und sinkt immer tiefer, bis er nichts mehr nutz ist. Ich habe es hundertmal versuchen sehen. Die Freiheit tut ihnen nicht gut.«

»Aber Tom ist solide, fleißig und fromm.«

»O, das brauchen Sie mir nicht zu sagen! Ich habe schon Hunderte von der Art gesehen. Er wird sich gut genug aufführen, solange er unter Aufsicht bleibt, weiter ist’s nichts.«

»Aber dann bedenken Sie«, sagte Miß Ophelia, »wenn Sie ihn in die Auktion schicken, wie leicht er dann einen schlechten Herrn bekommen kann.«

»Ach, das ist alles Rederei!« sagte Marie. »Es kommt nicht einmal unter Hunderten vor, daß ein guter Sklave einen schlechten Herrn bekommt; die meisten Herren sind gut, trotz allen Redens. Ich bin hier im Süden aufgewachsen und habe mein ganzes Leben hier zugebracht, und es ist mir kein Herr vorgekommen, der nicht seine Sklaven gut behandelt hätte, ganz so gut, als sie es verdienen. Ich habe darüber nicht die geringsten Besorgnisse.«

»Aber ich weiß«, sagte Miß Ophelia mit Energie, »daß es einer von Ihres Gatten letzten Wünschen war, daß Tom seine Freilassung erlange; es war eine der Versprechungen, die er unserer guten Eva auf ihrem Sterbebette gab, und ich sollte meinen, Sie könnten sich nicht für ermächtigt halten, sie zu mißachten.«

Marie bedeckte bei diesen Erinnerungen ihr Gesicht mit dem Taschentuche und fing an, mit großer Heftigkeit zu schluchzen und ihr Riechfläschchen zu gebrauchen.

»Alles sucht mich zu verletzen!« sagte sie. »Jedermann ist so rücksichtslos! Ich hätte von Ihnen nicht erwartet, daß Sie mich auf diese Weise an all mein Unglück erinnern würden; es ist so rücksichtslos! Aber niemand behandelt mich mit Rücksicht! – Meine Prüfungen sind so eigentümlich! Es ist so hart, daß mir meine einzige Tochter genommen werden mußte! – Und ein Gatte, der so vortrefflich für mich paßte – und ich bin so schwer zufriedenzustellen! Und Sie scheinen so wenig für mich zu fühlen und bringen es mir auf eine so leichtsinnige Weise in Erinnerung, während Sie doch wissen, wie sehr es mich angreift! Ich glaube wohl, daß Sie es gut meinen, aber es ist sehr, sehr rücksichtslos!« Und Marie schluchzte und schnappte nach Luft und befahl Mammy, das Fenster zu öffnen und ihr das Kampferfläschchen zu bringen und ihr die Stirn zu besprengen und das Kleid aufzuhefteln; und in der daraus entstehenden allgemeinen Verwirrung flüchtete Miß Ophelia in ihr Zimmer zurück.

Sie sah auf den ersten Blick, daß es zu nichts nützen werde, noch weiter ein Wort zu verlieren, denn Marie besaß eine ganz unbeschränkte Fähigkeit für hysterische Anfälle; und sie fand es nach diesem ersten Versuch stets angemessen, einen zu bekommen, wenn ihres Gatten oder Evas Wünsche in bezug auf die Dienerschaft zur Sprache kamen. Miß Ophelia tat daher das nächste beste, was sie für Tom tun konnte; sie schrieb für ihn einen Brief an Mrs. Shelby, in welchem sie seine Drangsale auseinandersetzte und dringlich bat, ihm zu helfen.

Den Tag darauf wurden Tom und Adolf und ungefähr ein halb Dutzend andere Sklaven nach dem Sklavenspeicher gebracht, um hier zur Verfügung des Händlers zu bleiben, der eine Partie zur Versteigerung zusammenbrachte.

25. Kapitel


Der Sklavenspeicher

Ein Sklavenspeicher? Vielleicht beschwören sich meine Leser schreckliche Vorstellungen von einem solchen Orte herauf. Aber nein, heutzutage haben die Menschen die Kunst gelernt, mit Bildung und Anstand zu sündigen, so daß die Augen und Empfindungen achtbarer Gesellschaft nicht verletzt werden. Menschenware steht hoch im Kurs und wird daher gut gefüttert, sorgfältig rein gehalten und rücksichtsvoll gepflegt, damit sie wohlbehäbig und kräftig und von Gesundheit glänzend zum Verkauf komme. Ein Sklavenspeicher in New Orleans ist ein Haus, das von außen vielen anderen reinlich gehaltenen nicht sehr unähnlich sieht und wo man jeden Tag unter einer Art Schuppen vor der Tür Reihen von Männern und Weibern stehen sehen kann, welche der Ware, die drinnen verkauft wird, als Schild dienen.

Ein oder zwei Tage nach der Unterredung zwischen Marie und Miß Ophelia wurden Tom, Adolf und ungefähr ein halb Dutzend andere von den Negern St. Clares der zärtlichen Obhut Mr. Skeggs‘ übergeben, des Eigentümers eines Sklavenspeichers, um den Tag darauf versteigert zu werden.

Tom hatte einen ziemlich anständigen Koffer von Kleidern bei sich, wie die meisten seiner Kameraden. Man brachte sie für die Nacht in einem langen Saale unter, wo viele andere Neger von jedem Alter, jeder Größe und jeder Farbenschattierung versammelt waren und aus deren Mitte brüllendes Gelächter und gedankenlose Lust erschallten.

»Aha! So ist’s recht! Immer munter, Bursche – immer munter!« sagte Mr. Skeggs, der Aufseher. »Meine Leute sind immer so lustig! Schön, schön, Sambo!« sagte er beifällig zu einem wohlbeleibten Neger, der den andern niedrige Hanswurstiaden vormachte, welche das laute Gelächter verursachten.

Wie sich leicht denken läßt, war Tom nicht in der Laune, an dieser Unterhaltung teilzunehmen; und er setzte daher seinen Koffer so weit als möglich von der lärmenden Gruppe hin, nahm darauf Platz und lehnte das Gesicht gegen die Wand.

Die Händler mit Menschenware geben sich gewissenhaft und systematisch Mühe, sie in einer lärmenden Heiterkeit zu erhalten, um dadurch alles Nachdenken zu ersticken und sie gegen ihre Lage unempfindlich zu machen. Das ganze Abrichtungssystem, nach welchem man den Neger von dem Augenblick an, wo er auf dem nördlichen Markte verkauft wird, bis zu seiner Ankunft im Süden behandelt, zielt darauf hinaus, sein Gefühl zu verhärten, ihn gedankenlos zu machen und zu vertieren.

Der Sklavenhändler sammelt seinen Transport in Virginien oder Kentucky und treibt ihn nach einem passend gelegenen, gesunden Orte – oft einen Badeort – um ihn zu mästen. Dort werden alle täglich reichlich gefüttert, und weil manche leicht schwermütig werden, so wird ihnen gewöhnlich beständig auf der Violine vorgespielt, und sie müssen täglich tanzen; und wer nicht lustig ist, in wessen Seele Gedanken an Frau oder Kind oder Familie zu stark sind, um ihm zu erlauben, heiter zu sein, der gilt für einen verstockten und gefährlichen Menschen und muß alle Mißhandlungen erdulden, welche die Bosheit eines gänzlich unverantwortlichen und verstockten Menschen ersinnen kann. Munter, gewandt und von heiterem Aussehen zu sein, vorzüglich vor Zuschauern, das wird ihnen beständig eingeprägt, teils durch die Hoffnung, dadurch einen guten Herrn zu erlangen, teils durch die Furcht vor den Mißhandlungen, mit denen sich der Sklavenhändler für den Ausfall von Gewinn rächt, wenn sie unverkauft bleiben.

»Was macht der Nigger hier?« sagte Sambo und trat zu Tom heran, als Mr. Skeggs den Saal verlassen hatte. Sambo war ein kohlschwarzer Neger, sehr groß und stark, sehr lebhaft, von geläufiger Zunge, und ein Meister in Hanswurstiaden und Gesichterschneiden.

»Was tust du hier?« sagte Sambo und stieß Tom freundschaftlich in die Seite. »Denkst wohl gar nach, he?«

»Ich soll morgen mit versteigert werden!« sagte Tom ruhig.

»Versteigert werden! – Ha! Ha! Jungens, ist das nicht ’n Spaß? Ich wollt‘, ’s ginge mir auch so! – Sage euch, wie ich sie zu lachen machen wollte! Aber was ist das – die ganze Partie kommt wohl morgen dran?« sagte Sambo und legte seine Hand ungeniert auf Adolfs Schulter.

»Bitte, laßt mich in Frieden!« sagte Adolf stolz und richtete sich mit größtem Widerwillen gerade in die Höhe.

»Seht nur mal her, ihr Burschen! Das ist einer von den weißen Niggern – von der milchweißen Sorte, und parfümiert!« sagte er, indem er zu Adolf herantrat und ihn anroch. »O Gott! Der paßte gut für einen Tabaksladen, sie könnten ihn zum Parfümieren des Schnupftabaks gebrauchen! Gott, er würde für einen ganzen Laden allein ausreichen, ha, ha!«

»Bleibt mir vom Leibe, sage ich Euch!« sagte Adolf voller Wut.

»O Gott, wie eklig wir sind – wir weißen Nigger. Seht uns mal an!« und Sambo karikierte auf groteske Weise Adolfs Benehmen. »Das nenne ich mir Feinheit und Grazie. Wir sind in einer guten Familie gewesen, sollte ich meinen.«

»Ja«, sagte Adolf, »ich hatte einen Herrn, der euch alle als alten Plunder hätte kaufen können.«

»Hui, was wir für Gentlemen sind!« sagte Sambo.

»Ich gehöre der Familie St. Clare«, sagte Adolf mit Stolz.

»Ei, was Ihr nicht sagt! Ich will des Henkers sein, wenn sie nicht froh sind, Euch los zu sein. Ich vermute, Ihr kommt mit einer Partie zersprungener Teekannen und ähnlicher Sachen zur Auktion!« sagte Sambo mit höhnischem Lachen.

Von diesem Hohne zur höchsten Wut gereizt, stürzte Adolf fluchend und rechts und links um sich schlagend auf Sambo los. Die übrigen lachten und brüllten, und der Aufruhr brachte den Aufseher an die Tür.

»Was gibt’s da, ihr Burschen? Ruhe, Ruhe!« sagte er und schwang eine große Peitsche.

Alle entflohen nach verschiedenen Richtungen mit Ausnahme Sambos, der im Vertrauen auf die Gunst, in welcher er als privilegierter Spaßvogel bei dem Aufseher stand, seinen Platz behauptete und sich mit drolligem Grinsen duckte, sooft jener nach ihm schlug.

»Ach, Master, wir sind’s nicht – wir sind ganz gesetzt – es sind die neuen Leute; das sind die ärgsten – lassen uns gar nicht in Ruhe!«

Der Aufseher wandte sich nun gegen Tom und Adolf, teilte, ohne weiter zu fragen, ein paar Püffe und Hiebe unter sie aus, ließ den allgemeinen Befehl für alle zurück, sich gut aufzuführen und sich schlafen zu legen, und verließ den Saal wieder.

Unter einem prächtigen Kuppelgewölbe bewegten sich Menschen aller Nationen auf dem marmornen Fußboden hin und her. Auf allen Seiten des kreisrunden Umgangs befanden sich kleine Bühnen oder Stände für Redner und Auktionatoren. Zwei derselben, die einander gegenüberstanden, waren jetzt von glänzenden und talentvollen Herren besetzt, die in untermischtem Englisch-Französisch voll Begeisterung die Gebote der Kenner auf ihre verschiedenen Waren steigerten. Eine dritte Bühne auf der anderen Seite war noch unbesetzt, aber schon von einer Gruppe umgeben, welche auf den Beginn der Auktion wartete. Hier erkennen wir sogleich die Dienerschaft des St. Clareschen Hauses, Tom, Adolf und die andern. Verschiedene Zuschauer, von denen jedoch vielleicht nicht alle zu kaufen gedenken, sammelten sich um die Gruppe, betasteten und untersuchten die einzelnen und besprachen ihre verschiedenen Vorzüge und ihr Aussehen mit derselben Ungeniertheit, mit der sich eine Gruppe Jockeys über ein Pferd unterhält.

»Hallo, Alf! Was bringt dich hierher?« sagte ein junger Stutzer, indem er einem modisch gekleideten jungen Manne, der Adolf durch ein Augenglas betrachtete, auf die Achsel schlug.

»Ach, ich brauche einen Kammerdiener und höre, daß St. Clares Leute verkauft werden sollen. Ich dachte, ich wollte mir einmal seine Burschen ansehen.«

»Mich soll keiner dabei ertappen, einen von St. Clares Leuten zu kaufen! Sind alles verzogene Nigger ohne Ausnahme! Unverschämt, wie der Teufel!« sagte der andere.

»Davor fürchte ich mich nicht!« sagte der erste. »Wenn ich sie bekomme, will ich ihnen schon die Manieren austreiben! Sie sollen bald sehen, daß sie es mit einer andern Art Herrn zu tun haben, als Monsieur St. Clare war. Auf mein Wort, ich werde den Burschen kaufen. Sein Aussehen gefällt mir.«

»Du wirst finden, daß dein ganzes Vermögen nicht auslangt, ihn zu erhalten. Er ist ganz verwünscht verschwenderisch.«

»Ja, aber Mylord wird finden, daß er bei mir nicht verschwenderisch sein kann. Man schickt ihn ein paarmal in die Calabuse und läßt ihn tüchtig durchdreschen! Ich sage dir, das bringt ihm einen Begriff von seiner Stellung bei! O, ich will ihn schon in die Schule nehmen, von oben und unten – das sage ich dir! Ich kaufe ihn, das ist abgemacht.«

Tom hatte sich mit banger Unruhe unter der Menge der ihn umdrängenden Gesichter nach einem umgesehen, den er gern hätte Master nennen mögen. Er sah eine Unmasse Männer, große, starke, brummende; kleine, zirpende, vertrocknete; dürre, harte Männer mit langen Gesichtern und jede mögliche Abart von stumpfen und alltäglich aussehenden, die ihre Mitmenschen auflesen, wie man Späne aufliest, und sie mit demselben Gleichmut ins Feuer oder in einen Korb werfen, wie es ihnen paßt; aber er sah keinen St. Clare. Kurze Zeit vor Anfang der Versteigerung drängte sich ein kurzer, breiter und kräftig gebauter Mann in einem karierten Hemde, das vorn auf der Brust offen war, mit ziemlich schmutzigen und abgetragenen Beinkleidern durch die Umstehenden mit einem Eifer, welcher verriet, daß er in Geschäften kam. Er trat sogleich an die Gruppe heran und fing an, sie systematisch zu untersuchen. Von dem Augenblicke an, wo Tom ihn kommen sah, fühlte er eine sofortige Regung des Abscheus gegen ihn, der mit jedem seiner Schritte zunahm. Obgleich nicht groß, besaß er offenbar eine riesenmäßige Kraft. Sein runder Stierkopf, seine großen hellgrauen Augen mit den zottigen, sandgelben Augenbrauen und das grobe, starre und von der Sonne gebleichte Haar waren, wie man gestehen muß, keine sehr einnehmenden Züge; der breite gemeine Mund steckte voll Tabak, dessen Saft er von Zeit zu Zeit mit großer Sicherheit und Explosionskraft ausspritzte; die Hände waren sehr groß, stark behaart, sonnenverbrannt, sommersprossig und sehr schmutzig und mit langen ekelhaft unreinlich gehaltenen Nägeln versehen. Dieser Mann nahm eine sehr ungenierte persönliche Untersuchung der Partie vor; er faßte Tom bei der Kinnlade und riß ihm den Mund auf, um seine Zähne zu sehen; ließ ihn den Ärmel aufstreifen, um seine Muskeln zu zeigen; drehte ihn um und ließ ihn springen und laufen.

»Wo bist du her?« fragte er nach dieser Untersuchung.

»Aus Kentucky, Master«, sagte Tom und sah sich um, als suche er einen Erlöser.

»Was hast du dort gemacht?«

»Habe Masters Farm verwaltet«, sagte Tom.

»Ziemlich wahrscheinlich das!« sagte der andere kurz, während er weiterging. Einen Augenblick blieb er vor Adolf stehen, dann aber spuckte er eine Ladung Tabakssaft auf seine sorgfältig gewichsten Stiefel, ließ ein verächtliches »Hm!« vernehmen und ging weiter.

Adolf wurde für einen anständigen Preis dem jungen Herrn zugeschlagen, der vorhin die Absicht ihn zu kaufen geäußert hatte; und die anderen Sklaven St. Clares fielen verschiedenen Käufern zuteil.

»Nun kommst du dran, Bursche!« sagte der Auktionator zu Tom.

Tom trat auf den Block und warf ein paar bange, besorgte Blicke um sich; alles schien sich zu einem allgemeinen wirren Lärm zu vermischen; das geläufige Lobpreisen des Auktionators in Französisch und Englisch, die lebendig wetteifernden französischen und englischen Angebote, und kaum nach einen Augenblick ertönte der letzte Hammerschlag, und der klar akzentuierte Drucker auf der letzten Silbe des Wortes Dollar, wie der Auktionator den Verkaufspreis ausrief und Tom übergab. – Er hatte einen Herrn!

Man schob ihn vom Blocke; der untersetzte Mann mit dem Stierkopfe packte ihn an der Schulter, stieß ihn auf die eine Seite und herrschte ihn mit rauher Stimme an: »Da bleibst du stehen!«

Tom konnte kaum zur Besinnung kommen. Aber immer noch ging die Auktion lärmend weiter, und bald englische, bald französische Gebote erschallten. Der Bürger tut noch einige Gebote, indem er verächtlich seinen Gegner mißt; aber der Stierkopf hat Hartnäckigkeit und verborgene Länge des Geldbeutels vor ihm voraus, und der Wettstreit dauert nur noch einen Augenblick; der Hammer schlägt zu – das Mädchen gehört ihm mit Leib und Seele, wenn Gott ihr nicht hilft!

Ihr Herr ist Master Legree, der Besitzer einer Baumwoll-Plantage am Red River. Sie wird unter dieselbe Partie mit Tom und zwei andern geschoben und weinend fortgetrieben.

Dem Herrn mit dem wohlwollenden Gesicht tut es leid; aber dann geschieht ja dasselbe jeden Tag! Man sieht bei diesen Versteigerungen beständig Mädchen und Mütter weinen. Dem ist nicht abzuhelfen usw.; und er nimmt seinen Kauf in einer anderen Richtung mit sich fort.

Zwei Tage später remittiert der Advokat der christlichen Firma B. u. Comp. New York das erlöste Geld. Auf der Rückseite der Tratte mögen sie die Worte des großen Zahlmeisters schreiben, welcher dereinst Rechenschaft von ihnen fordern wird, wenn er nach dem Blute fragt, wird er nicht den Notschrei des Niedrigen vergessen.

26. Kapitel


Die Überfahrt

Auf dem hinteren Verdeck eines kleinen schlechten Bootes auf dem Red River saß Tom mit Fesseln an den Händen und an den Füßen und einer schweren Last als Fesseln auf dem Herzen. Alles war von seinem Himmel verschwunden, Mond und Sterne; alles war an ihm vorbeigegangen, wie die Bäume und Ufer, an denen er jetzt vorüberfuhr, um nie wieder zurückzukehren. Die Heimat in Kentucky mit Frau und Kindern und der nachsichtigen Herrschaft; das Haus St. Clares mit seiner Verfeinerung und seinem Glanze; das goldene Lockenköpfchen Evas mit den heiligen Augen; der stolze, heitere, schöne, scheinbar so achtlose und doch stets gütige St. Clare; Stunden voll Ruhe und gern gewährter Muße. – Alles vorüber! Und was ist an dessen Statt geblieben?

Es ist eine der schlimmsten Seiten der Sklaverei, daß der von Natur teilnehmende und sich leicht anschließende Neger, nachdem er in einer gebildeten Familie den Geschmack und die Empfindungen, die daselbst vorherrschen, angenommen hat, demungeachtet der Knecht und Sklave des Gemeinsten und Rohesten werden kann – gerade wie ein Stuhl oder ein Tisch, der früher einen prächtigen Salon schmückte, zuletzt zerstoßen und abgenutzt in die Schenkstube einer gemeinen Kneipe oder einer liederlichen Spelunke kommt. Der große Unterschied ist, daß der Tisch und der Stuhl nicht fühlen können und daß der Mensch fühlt; denn selbst ein Gerichtsbefehl, daß er vor dem Gesetze als persönliches Eigentum genommen und geachtet werden soll, kann nicht seine Seele mit ihrer eigenen kleinen Welt von Erinnerungen, Hoffnungen, Befürchtungen und Wünschen auslöschen.

Mr. Simon Legree, Toms Herr, hatte an verschiedenen Orten in New Orleans acht Sklaven gekauft und sie, paarweise zusammengefesselt, nach dem guten Dampfer Pirat getrieben, der im Begriff eine Fahrt nach dem Red River anzutreten am Levée lag.

Als das Boot in Bewegung war, trat er mit der wichtigen Miene, die ihn stets auszeichnete, zu den Sklaven, um sie zu besichtigen.

Er blieb zuerst vor Tom stehen, den man für die Auktion in seinen besten Tuchanzug mit wohl gestärktem Leinen und blanken Stiefeln gekleidet hatte, und sprach zu ihm: »Steh auf!«

Tom stand auf.

»Nimm das Halstuch ab!« Und als Tom, von seinen Fesseln behindert, damit nicht recht zuwegekommen konnte, kam er ihm zu Hilfe, indem er es ihm mit ziemlich unsanfter Hand vom Halse riß und in die Tasche steckte.

Legree nahm jetzt Toms Koffer vor, den er schon vorher umgewühlt hatte, nahm ein Paar alte Beinkleider und einen zerrissenen Rock heraus, in welchem Tom seine Stallarbeit verrichtet hatte, und sagte, indem er Tom von den Handschellen befreite und auf einen Winkel hinter den Kisten wies.

»Geh dort in den Winkel und zieh die Sachen an.«

Tom gehorchte und kehrte in wenigen Augenblicken zurück.

»Zieh deine Stiefel aus«, sagte Mr. Legree.

Tom tat, wie ihm geheißen.

»Da, zieh diese an!« sagte der andere und warf ihm ein Paar grobe, derbe Schuhe hin, wie sie Sklaven meistens tragen.

Tom hatte bei seinem eiligen Kleidertausche nicht vergessen, seine geliebte Bibel in die Tasche zu stecken. Es war ein Glück für ihn, denn als Mr. Legree Tom die Handschellen wieder angelegt hatte, fing er eine gründliche Untersuchung seiner Taschen an. Er zog ein seidenes Taschentuch heraus und steckte es in seine Tasche. Verschiedene Tändeleien, welche Tom hauptsächlich aufbewahrte, weil sie Eva gern hatte, betrachtete er mit verächtlichem Grunzen und warf sie über die Achseln in den Fluß.

Nun fiel ihm Toms Methodistengesangbuch, das dieser in der Eile vergessen hatte, in die Hand und er blätterte darin.

»Hm! Ein Frommer, wie ich sehe! Na, wie heißt du da? Du bist Mitglied der Kirche, nicht wahr?«

»Ja, Master«, sagte Tom fest.

»Na, das wollen wir dir schon vertreiben. Ich leide keinen betenden und singenden Nigger auf meiner Plantage, bedenk das wohl. Überhaupt hörst du«, sagte er, indem er mit dem Fuße stampfte und aus seinen grauen Augen einen wütenden Blick auf Tom schoß, »ich bin jetzt deine Kirche! Du verstehst mich – du hast zu tun und zu lassen, was ich befehle.«

Ein Etwas in dem schweigenden Schwarzen antwortete »Nein!« und als ob eine unsichtbare Stimme sie wiederholte, vernahm er die Worte eines alten prophetischen Spruches, den ihm Eva oft vorgelesen hatte: »Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöset. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du bist mein!«

Aber Simon Legree hörte keine Stimme. Diese Stimme wird er niemals hören. Er warf nur noch einen wilden Blick auf Toms niedergeschlagenes Gesicht und ging weiter. Er nahm Toms Koffer, der eine sehr hübsche und reichliche Garderobe enthielt, mit nach dem Vorderteile des Bootes, wo bald die ganze Mannschaft sich darum versammelte. Unter vielem Lachen auf Kosten der Nigger, welche feine Herren zu sein beanspruchten, waren die verschiedenen Artikel bald verkauft, und zuletzt kam der leere Koffer zur Versteigerung. Es kam ihnen allen wie ein ganz vortrefflicher Spaß vor, vorzüglich wie sie sahen, wie Tom mit traurigen Blicken seinen Sachen folgte, wie sie dahin und dorthin verteilt wurden; und die Versteigerung des Koffers war das Drolligste von allem und gab Anlaß zu zahllosen witzigen Reden.

So wie dies Geschäftchen abgemacht war, trat Simon wieder zu seinem Eigentum.

»Du siehst, Tom, du bist nun dein Extragepäck losgeworden. Nimm die Kleider da gar sorgfältig in acht. Es wird ziemlich lange dauern, ehe du neue bekommst. Ich suche was drin, Nigger wirtschaftlich zu machen – ein Anzug muß auf meiner Plantage ein ganzes Jahr ausreichen.

Jetzt hört mich einmal alle an«, sagte er und trat ein oder zwei Schritte zurück – »seht mich an – seht mir ins Auge – gerade ins Auge«, sagte er und stampfte bei jeder Pause mit dem Fuße.

Wie durch Verzauberung heftete sich jetzt jeder Blick auf das funkelnde, grünlich graue Auge Simons.

»Seht ihr diese Faust?« sagte er, indem er seine graue schwere Hand zusammenballte, daß sie etwa wie ein Schmiedehammer aussah, »fühle einmal«, sagte er und ließ sie auf Toms Hand fallen. »Seht mal diese Knochen an! Ich sage euch, diese Faust ist so hart geworden wie Eisen vom Niederschlagen von Niggern. Hab‘ noch keinen Nigger gekannt, den ich nicht mit einem Hieb zu Boden gebracht hätte«, sagte er und hielt seine Faust Tom so nahe vors Gesicht, daß dieser mit den Augen zuckte und zurücktrat. »Ich halte keine von euern verwünschten Aufsehern; ich bin selber mein Sklavenaufseher; und ich sage euch, ’s ist eine Aufsicht bei mir. Jeder von euch muß seine Sache bis auf den letzten Punkt verrichten; rasch – gleich – den Augenblick, wo ich spreche. Das ist die Art, mit mir auszukommen. Ihr findet keinen weichen Fleck in mir, nirgends. Also nehmt euch in acht, denn ich kenne kein Erbarmen!«

Die Frauen hielten unwillkürlich den Atem an, und der ganze Transport saß mit niedergeschlagenen demütigen Gesichtern da; Simon aber drehte sich auf dem Absätze um und ging nach der Bar des Bootes, um ein Glas zu trinken.

»So springe ich mit meinen Niggern um«, sagte er zu einem feinaussehenden Manne, der während der Rede neben ihm gestanden hatte, »’s ist mein System, gleich stark anzufangen, damit sie wissen, was sie zu erwarten haben.«

»So!« sagte der Unbekannte, welcher den andern mit der Neugier eines Naturforschers, der ein selten zu findendes Exemplar besichtigt, betrachtete.

»Jawohl. Ich bin keiner von den Gentlemanpflanzern mit weißen, zarten Fingern, die sich von einem verdammten alten Schuft von Aufseher betrügen lassen! Fühlen Sie nur einmal meine Knöchel an; sehen Sie meine Faust. Ich sage Ihnen, Herr, das Fleisch ist hart wie Stein geworden, bloß vom Negerprügeln – fühlen Sie nur einmal.«

Der Unbekannte betastete die dargebotene Faust und sagte einfach:

»Sie ist hart genug, und ich vermute«, setzte er hinzu, »die Gewohnheit hat Ihr Herz ebenso gemacht.«

»Nun, das könnte ich wohl sagen«, sagte Simon mit einem herzlichen Lachen. »Ich rechne, ich habe so wenig Weiches in mir, als sonst was Lebendiges. Sage Ihnen, mich bringt niemand herum! Mich erweichen die Nigger nie mit Jammern oder guten Worten – das ist Faktum.«

»Sie haben da einen schönen Transport.«

»Gewiß«, sagte Simon. »Da ist der Tom; sie sagten mir, er wäre was ganz Ungewöhnliches. Ich habe ein bißchen viel für ihn bezahlt, weil ich eine Art Aufseher aus ihm machen will; wenn ihm nur erst die Grillen aus dem Kopfe getrieben sind, die er gelernt hat, weil er behandelt worden ist, wie Nigger nie behandelt werden sollten, wird er sich prächtig machen! Mit der gelben Frau dort hat man mich übers Ohr gehauen. Ich glaube fast, sie ist kränklich; aber ich werde es schon aus ihr herauskriegen, was sie wert ist – ein oder zwei Jahre kann sie aushalten. Ich bin nicht fürs Schonen der Nigger. Verbrauchen und mehr kaufen ist meine Regel; macht weniger Mühe, und ich bin überzeugt, es kommt am Ende billiger«, und Simon nippte sein Glas aus.

»Und wie lange halten sie gewöhnlich aus?« fragte der Unbekannte.

»Das weiß ich nicht, kommt ganz auf ihre Konstitution an. Kräftige Kerle halten es sechs oder sieben Jahre aus, schwächliche werden in zwei oder drei Jahren alle. Als ich zuerst anfing, habe ich mir schreckliche Mühe mit ihnen gegeben, damit sie lange aushielten – habe an ihnen gedoktert, wenn sie krank waren, und ihnen Kleider und Decken gegeben, und was sonst noch, um anständig für ihr Wohlbefinden zu sorgen; aber es hat gar nichts genutzt; ich habe nur Geld verloren und schreckliche Mühe dabei gehabt. Jetzt aber, sage ich Ihnen, müssen sie dran, mögen sie krank oder gesund sein. Wenn ein Nigger stirbt, kaufe ich einen andern; und ich finde, daß ich in jeder Hinsicht billiger und bequemer dabei weggekommen bin.«

Der Unbekannte entfernte sich und setzte sich neben einen Herrn, der mit einiger Unruhe dem Gespräch zugehört hatte. »Sie dürfen diesen Kerl nicht als ein Muster der Pflanzer des Südens betrachten«, sagte er.

»Das möchte ich hoffen«, sagte der junge Mann mit Nachdruck.

»Er ist ein gemeiner, niederiger, brutaler Kerl!« sagte der andere.

»Und dennoch erlauben ihm die Gesetze, jede Anzahl menschlicher Wesen mit seinem unumschränkten Willen zu beherrschen, ohne daß sie einen Schatten von Schutz haben, und so schlecht er ist, so können Sie doch nicht leugnen, daß es viele der Art gibt.«

»Aber es gibt auf der anderen Seite auch viele rücksichtsvolle und menschliche Personen unter den Pflanzern.«

»Zugegeben«, sagte der junge Mann; »aber nach meiner Meinung sind gerade diese rücksichtsvollen und menschlichen Leute für die Roheiten und die Mißhandlungen, welchen diese Armen ausgesetzt sind, verantwortlich, weil ohne ihre Billigung und ihren Einfluß das ganze System keine Stunde bestehen bleiben könnte. Wenn es keine anderen Pflanzer gäbe, als solche«, sagte er, indem er mit dem Finger auf Legree deutete, der ihnen den Rücken zugekehrt hatte, »so ginge das ganze System zugrunde, wie ein Mühlstein. Nur ihre Achtbarkeit und Menschlichkeit beschönigt und beschützt seine Roheit.«

»Sie haben jedenfalls eine hohe Meinung von meiner Gutmütigkeit«, sagte der Pflanzer lächelnd, »aber ich rate Ihnen, nicht so laut zu sprechen, da sich Leute an Bord des Bootes befinden, die nicht ganz so duldsam gegen Meinungen sein möchten wie ich. Es ist besser, Sie warten, bis ich auf meiner Plantage bin, und dann können Sie uns alle ausschimpfen, soviel Sie Lust haben.«

Der junge Mann wurde rot und lächelte, und beide vertieften sich bald in eine Partie Trictrac.

Das Boot ruderte weiter – beladen mit seiner Kummerlast – der roten, schlammigen, wirbelnden Strömung entgegen, durch die eckiggewundenen Krümmungen des Red River; und traurige Augen blickten müde auf die steilen Ufer von rotem Ton, wie sie in der Einförmigkeit vorüberglitten.

Endlich hielt das Boot bei einer kleinen Stadt an, und Legree stieg mit seinem Sklaventransport ans Land.

27. Kapitel


Düstere Bilder

Müde hinter einem roh gezimmerten Wagen her und auf einem schlimmen Wege schleppten sich Tom und seine Leidensgefährten weiter.

Im Wagen saß Simon Legree, und die beiden Frauen, immer noch zusammengeschlossen, waren mit einigem Gepäck in dem hinteren Teile desselben untergebracht. Die ganze Gesellschaft reiste nach Legrees Plantage, die noch eine gute Strecke entfernt lag.

Es war ein wilder einsamer Weg, der sich jetzt durch öde Nadelholzhaiden wand, wo der Wind trauervoll stöhnte und dann über lange Knüppeldämme durch ausgedehnte Zypressensümpfe, wo die melancholischen Bäume aus dem schlammigen moorigen Boden emporstiegen, mit langen Trauerkränzen von schwarzem Moos behangen, während man hier und da die ekelerregende Mokkasinschlange zwischen abgebrochenen Baumstümpfen und sturmgeknickten Ästen, die hier und da im Wasser faulten, hindurchgleiten sah.

Der Wagen fuhr schließlich auf einem grasbewachsenen Kiesweg durch eine schöne Allee von Chinabäumen, deren anmutige Gestalt und immergrünes Laub das einzige zu sein schien, dem Vernachlässigung nicht schaden konnte – gleich edlen Geistern, die so tief in der Tugend wurzeln, daß sie unter einer entmutigenden und verfallenen Umgebung nur um so kräftiger gedeihen.

Das Haus war geräumig und schön gewesen. Die Bauart war, wie man sie im Süden sehr häufig findet; um das ganze Haus lief eine breite Veranda von zwei Stockwerken, auf welche sich alle äußeren Türen öffneten, und das unterste Stockwerk hatte gemauerte Pfeiler.

Aber alles sah wüst und ungemütlich aus; einige Fenster waren mit Brettern vernagelt oder hatten zerbrochene Scheiben oder Läden, die nur noch an einem Haspen hingen – alles verriet gröbliche Vernachlässigung und Unbehaglichkeit.

Bretterstücke, Stroh, alte verrottete Fäser und Kisten standen und lagen überall herum, und drei oder vier grimmig aussehende Hunde kamen, von dem Rollen der Wagenräder aufmerksam gemacht, herausgestürzt und ließen sich nur mit Mühe von den zerlumpten Dienstboten, die ihnen folgten, abhalten, Tom und seine Gefährten anzupacken.

»Ihr seht, was ihr zu erwarten habt!« sagte Legree, indem er die Hunde mit grimmiger Genugtuung liebkoste und sich zu Tom und seinen Gefährten wendete. »Ihr seht, was ihr zu erwarten habt, wenn ihr versucht fortzulaufen. Diese Hunde hier sind abgerichtet, Nigger aufzuspüren; und sie würden ebenso gern einen von euch zerreißen als ihr Abendbrot fressen. Also nehmt euch in acht! Heda, Sambo!« sagte er zu einem zerlumpten Kerl mit einem Hut ohne Rand, der ihn mit kriechendem Eifer begrüßte. »Wie ist’s gegangen?«

»Vortrefflich, Master.«

»Quimbo«, sagte Legree zu einem anderen, der sich angelegentlich bemühte, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, »du hast doch getan, wie ich dir gesagt habe?«

»Ei und ob, Master.«

Diese beiden Farbigen waren die beiden ersten Sklaven der Plantage. Legree hatte sie ebenso systematisch zur Wildheit und Roheit erzogen wie seine Bulldoggen, und durch lange Übung in Härte und Grausamkeit ihren ganzen Charakter auf dieselbe Tiefe der Befähigung herabgebracht. Man findet gewöhnlich, und man hat davon eine schwere Anklage gegen den Charakter der Rasse hergenommen, daß der schwarze Sklavenaufseher stets tyrannischer und grausamer ist als der weiße. Man sagt damit weiter nichts, als daß der Geist des Negers mehr herabgedrückt und erniedrigt worden ist als der des Weißen. Es ist bei dieser Rasse nicht mehr der Fall als bei jeder anderen unterdrückten Rasse auf der ganzen Welt. Der Sklave ist stets ein Tyrann, wenn ihm die Möglichkeit dazu gegeben wird.

Legree regierte, wie manche Herrscher, von denen wir in der Geschichte lesen, seine Plantage durch eine Art Gleichgewicht der Kräfte. Sambo und Quimbo haßten einander aufs herzlichste; die Plantagenarbeiter ohne Ausnahme haßten die beiden ebenso aufrichtig; und indem er stets die eine Partei gegen die andere benutzte, war er ziemlich sicher, stets von einer derselben alles zu erfahren, was auf seiner Besitzung vorging.

Niemand kann ganz ohne geselligen Verkehr leben, und Legree munterte seine zwei schwarzen Satelliten zu einer Art gemeinen Vertraulichkeit auf, die jedoch jeden Augenblick den einen oder den andern in Ungelegenheit bringen konnte, denn bei der leisesten Reizung war einer von beiden stets bereit, auf einen Wink der Rache seines Herrn gegen den andern als Werkzeug zu dienen.

Wie sie jetzt neben Legree standen, erschienen sie als ein passender Beweis der Behauptung, daß vertierte Menschen noch tiefer stehen als die Tiere selbst. Ihre gemeinen, finsteren, mürrischen Züge; ihre großen Augen, die einander neidisch anglotzten; der rauhe, halb tierische Kehlton ihrer Sprache und die zerrissenen, im Winde flatternden Kleider standen in vortrefflicher Harmonie mit dem gemeinen und abstoßenden Charakter der ganzen Umgebung.

»Hier, Sambo«, sagte Legree, »bring diese Burschen hier in die Baracken; und hier habe ich auch ein Mädchen für dich mitgebracht«, sagte er, indem er eine Mulattin namens Emmeline losschloß und sie jenem hinschob, »ich hatte dir ja versprochen, eine mitzubringen.«

21. Kapitel


Der Tod

Die trügerische Kraft, welche Eva eine kurze Zeitlang aufrechterhalten hatte, schwand jetzt rasch dahin; seltener und immer seltener hörte man ihre leichten Schritte in der Veranda, und immer öfter lag sie auf einer kleinen Chaiselongue am offenen Fenster, die großen tiefen Augen auf die wogenden Wasser des Sees geheftet.

Einmal gegen Mitte eines Nachmittags, wie sie so ruhte, die Bibel halb offen vor sich und die kleinen Finger gleichgültig zwischen den Blättern, hörte sie plötzlich ihrer Mutter Stimme scheltend in der Veranda.

»Nun was gibt’s schon wieder, du Balg? Was für eine neue Teufelei? Du hast Blumen abgerissen, nicht wahr?« und Eva hörte einen derben Schlag schallen.

»Ach, Missis, sie sind für Miß Eva«, hörte sie eine Stimme sagen, die sie als die Topsys erkannte.

»Für Miß Eva! Eine hübsche Entschuldigung! Du glaubst wohl, sie verlangt nach deinen Blumen, du nichtsnutziger Niggerbalg! Marsch fort mit dir!« In einem Augenblick war Eva aufgestanden und in der Veranda.

»Ach bitte, meine Mutter! Ich hätte die Blumen gern, bitte, gib sie mir, ich brauche sie noch!«

»Aber Eva, dein ganzes Zimmer ist ja schon voll.«

»Ich kann nicht zu viel haben«, sagte Eva. »Topsy, bring‘ sie mir her.«

Topsy, die mürrisch und mit gesenktem Kopfe dagestanden hatte, kam zu ihr heran und überreichte ihr die Blumen. Sie tat es mit einem zögernden und verschämten Blick, der ihrer gewöhnlichen koboldartigen Keckheit und Lebhaftigkeit ganz fremd war.

»Es ist ein schöner Strauß!« sagte Eva und betrachtete ihn.

Er war etwas eigentümlich – ein glänzendscharlachrotes Geranium und eine einzige weiße Camellie mit ihren glänzenden Blättern. Bei der Zusammenstellung war offenbar Rücksicht auf den Farbengegensatz genommen und die Anordnung jedes Blattes sorgfältig studiert.

Man sah, daß es Topsy Freude machte, als Eva sagte: »Topsy, du verstehst Blumen sehr hübsch zusammenzustellen. Hier in dieser Vase habe ich keine Blumen«, sagte sie. »Ich wünschte, du besorgtest mir jeden Tag einen Strauß dafür.«

»Nun, das ist doch wunderlich!« sagte Marie. »Was in aller Welt willst du damit anfangen?«

»Laß nur gut sein, Mama; es ist dir ganz gleich, ob es Topsy tut oder nicht – nicht wahr?«

»Natürlich, wenn es dir nur gefällt, liebes Kind! Topsy, du hörst, was deine junge Herrin sagt; vergiß nicht, es zu tun.«

Topsy knickste und schlug die Augen nieder; und wie sie sich wegwandte, sah Eva eine große Träne ihre schwarze Wange herabrinnen. »Du siehst, Mama, ich wußte, daß die arme Topsy etwas für mich tun wollte«, sagte Eva zu ihrer Mutter.

»Ach Unsinn! Sie tut es nur aus Lust am Unrechten. Sie weiß, daß sie keine Blume abpflücken soll – so tut sie’s gerade; das ist die ganze Geschichte. Aber wenn du willst, daß sie welche pflücken soll, so mag es so sein.«

»Mama«, sagte Eva, »ich möchte mir mein Haar schneiden lassen.« –

»Wozu?« sagte Marie.

»Mama, ich möchte es meinen Freunden zum Andenken schenken, solange ich es ihnen noch selbst geben kann. Willst du nicht Tantchen bitten, mir die Haare zu schneiden?«

Marie erhob ihre Stimme und rief Miß Ophelia aus dem anderen Zimmer herbei.

Das Kind erhob sich halb vom Kissen, wie sie eintrat, schüttelte ihre goldenen Locken herunter und sagte fast scherzend: »Komm, Tantchen, schere die Lämmer!«

»Was gibt’s hier?« sagte St. Clare, der eben mit verschiedenen Früchten eintrat, die er für sie geholt hatte.

»Papa, Tantchen soll mir ein paar von meinen Locken wegschneiden; ich habe zu viel und sie machen mir den Kopf warm. Und dann möchte ich auch einige verschenken.«

Miß Ophelia kam mit der Schere.

»Nimm dich in acht, daß du sie nicht verdirbst«, sagte der Vater; »schneide sie unten darunter hinweg, daß man es nicht sieht. Evas Locken sind mein Stolz.«

»O Papa!« sagte Eva traurig.

»Ja, und sie sollen hübsch bleiben für unsere Reise nach deines Onkels Plantage, um Vetter Henrique zu besuchen«, sagte St. Clare in scherzendem Tone.

»Ich werde niemals hinkommen, Papa, ich gehe in ein besseres Haus. Ach glaube es mir! Siehst du nicht, Papa, daß ich jeden Tag schwächer werde?«

»Warum bestehst du darauf, daß wir so etwas Schreckliches glauben sollen, Eva!« sagte ihr Vater.

»Nur weil es wahr ist, Papa; und wenn du es jetzt glaubst – wirst du vielleicht darüber auch so empfinden lernen wie ich.«

St. Clare preßte die Lippen zusammen und betrachtete mit düsteren Blicken die langen schönen Locken, welche Miß Ophelia, sowie sie abgeschnitten waren, einzeln nebeneinander auf des Kindes Schoß legte. Eva hielt sie in die Höhe, betrachtete sie ernst, wickelte sie um ihre dünnen Finger und blickte von Zeit zu Zeit besorgt ihren Vater an.

»Es ist ganz, wie ich’s geahnt habe«, sagte Marie; »das eben hat Tag für Tag an meiner Gesundheit genagt und bringt mich ins Grab hinab, ohne daß sich jemand darum kümmert. Ich habe dies lange vorausgesehen. St. Clare, du wirst es auch noch einsehen, daß ich recht hatte.«

»Was dir natürlich großen Trost gewähren wird!« sagte St. Clare in einem trockenen bitteren Tone.

Marie streckte sich auf ein Sofa und bedeckte ihr Gesicht mit einem Batisttaschentuch.

Evas klares blaues Auge schweifte sinnend von dem einen zum andern. Es war der ruhige, begreifende Blick einer Seele, die der irdischen Bande schon halb erledigt ist; es war offenbar, daß sie den Unterschied zwischen beiden sah, fühlte und würdigte.

Sie winkte ihrem Vater mit der Hand. Er kam und setzte sich neben sie.

»Papa, meine Kraft nimmt jeden Tag ab, und ich weiß, daß ich scheiden muß. Ich habe einige Sachen zu sagen und zu tun, die ich noch tun muß; und du hörst so ungern von mir ein Wort über diesen Gegenstand. Aber es muß geschehen; es läßt sich nicht vermeiden. Erlaube mir, daß ich es jetzt sagen darf.«

»Mein Kind, sprich«, sagte St. Clare und bedeckte mit der einen Hand die Augen und hielt mit der andern Evas Hand fest.

»Dann bitte ich dich, alle unsere Leute zusammenzurufen. Ich habe ihnen einige Dinge zu sagen, die ich ihnen sagen muß«, sagte Eva.

»Es soll geschehen!« sagte St. Clare in einem Tone gezwungener Fassung.

Miß Ophelia schickte einen Boten ab, und bald waren sämtliche Dienstboten im Zimmer versammelt.

Eva lag in ihre Kissen zurückgesunken, das Haar hing ihr lose ums Gesicht, ihre roten Wangen stachen peinlich von der blendenden Weiße ihrer Gesichtsfarbe und ihren abgemagerten Zügen ab, und ihre großen, geisterhaften Augen hefteten sich auf jeden einzelnen mit tiefem Ernste. Eine plötzliche Bewegung hatte alle Dienstboten ergriffen. Das durchgeistigte Gesicht, die langen Haarlocken, die abgeschnitten neben ihr lagen, ihres Vaters abgewendetes Gesicht und Maries Schluchzen rührten auf der Stelle die Empfindungen einer gefühlvollen und allen Eindrücken leicht zugänglichen Rasse; und wie sie eintraten, blickte einer den andern an, seufzte und schüttelte den Kopf. Es herrschte ein tiefes Schweigen, wie bei einem Begräbnis.

Eva richtete sich empor und blickte lange und ernst jeden einzelnen an. Alle sahen traurig und bekümmert aus. Viele von den Frauen verhüllten ihr Gesicht mit der Schürze.

»Ich habe nach euch schicken lassen, meine lieben Freunde, weil ich euch liebhabe. Ich habe euch alle lieb; und ich habe euch etwas zu sagen, was ihr nie vergessen dürft: Ich werde euch bald verlassen. In wenigen Wochen werdet ihr mich nicht mehr sehen. –«

Hier wurde das Kind unterbrochen von dem lauten Stöhnen, Schluchzen und Klagen aller Anwesenden, welches seine schwache Stimme übertönte. Sie wartete einen Augenblick, und dann sagte sie mit einem Tone, der dem Schluchzen aller ein Ende machte:

»Wenn ihr mich liebhabt, dürft ihr mich nicht so unterbrechen. Hört, was ich euch zu sagen habe. Ich will mit euch von euren Seelen sprechen. Viele von euch, fürchte ich, sind sehr leichtsinnig. Ihr denkt nur an diese Welt. Aber ich will euch lehren, nicht zu vergessen, daß es eine schönere Welt gibt, wo Christus ist. Ich gehe hin, und ihr könnt auch hinkommen; sie ist für euch so gut wie für mich. Aber wenn ihr hinkommen wollt, so dürft ihr nicht ein träges, leichtfertiges, gedankenloses Leben führen; ihr müßt Christen sein. Ihr müßt bedenken, daß jeder von euch ein Engel werden und ewig bleiben kann. Wenn ihr Christen sein wollt, so wird Christus euch helfen. Ihr müßt zu ihm beten; ihr müßt lesen.«

Das Kind hielt inne, sah sie voll Mitleid an, und sagte betrübt:

»Ach Gott! Ihr könnt nicht lesen. Ihr Armen«, und sie verbarg ihr Gesicht in den Kissen und schluchzte, während mancher erstickte Seufzer von denjenigen, zu denen sie gesprochen und die auf dem Flur knieten, ihr nachhallte.

»Es tut nichts«, sagte sie, indem sie ihr Gesicht erhob und hell durch ihre Tränen lächelte, »ich habe für euch gebetet, und ich weiß, daß Christus euch helfen wird, wenn ihr auch nicht lesen könnt. Versucht alle so gut zu sein, wie ihr könnt; betet jeden Tag; bittet ihn, euch zu helfen, und laßt euch die Bibel, sooft es geht, vorlesen; und ich hoffe, euch alle im Himmel wiederzusehen.«

Ein Amen erklang halblaut von den Lippen Toms und Mammys und einiger Älteren, welche der Methodistengemeinde angehörten. Die Jüngeren und Gedankenloseren waren für den Augenblick ganz überwältigt, schluchzten laut und ließen den Kopf auf die Knie sinken.

»Ich weiß, daß ihr mich alle liebhabt«, sagte Eva.

»Ja, o ja! Gewiß. Gott segne Sie!« ertönte es von allen als Antwort.

»Ja, ich weiß es wohl. Keine einzige Person ist unter euch, die nicht stets freundlich gegen mich gewesen ist; und ich möchte euch etwas geben, das euch an mich erinnert, wenn ihr es betrachtet. Ich will euch jedem eine Locke von meinem Haar schenken; und wenn ihr sie anseht, so denkt, daß ich euch geliebt habe und in den Himmel gegangen bin und daß ich euch alle dort wiederzusehen hoffe.«

Es ist unmöglich, den Anblick zu beschreiben, wie sie sich mit Tränen und Schluchzen um die kleine Eva drängten und aus ihrer Hand die Locke annahmen, die ihnen als ihr letztes Liebeszeichen erschien. Sie sanken auf die Knie nieder; sie schluchzten und beteten und küßten den Saum ihres Kleides; und von den Lippen der Älteren strömten liebkosende Worte, vermischt mit Gebeten und Segnungen nach der Weise ihrer empfänglichen Rasse.

Sowie einer seine Locke empfangen hatte, gab ihm Miß Ophelia, welche die Wirkung dieser Aufregung auf ihre kleine Patientin fürchtete, ein Zeichen, das Zimmer zu verlassen.

Zuletzt waren alle fort, außer Tom und Mammy.

»Hier, Onkel Tom«, sagte Eva, »ist eine schöne Locke für dich. O Onkel Tom, ich fühle mich so glücklich bei dem Gedanken, daß ich dich im Himmel wiedersehen soll, denn davon bin ich überzeugt; und Mammy – liebe, gute, gute Mammy!« sagte sie und umarmte ihre alte Amme zärtlich. »Ich weiß, du wirst auch hinkommen.«

»Ach, Miß Eva, ich sehe nicht ein, wie ich leben soll ohne Sie – kann’s nicht einsehen!« sagte das treue Geschöpf. »Kommt mir vor, als ob alles auf einmal hier zugrunde ginge!« Und Mammy ließ ihrem wilden Schmerze freien Lauf.

Miß Ophelia schob sie und Tom sanft aus dem Zimmer und dachte, sie wären alle fort, aber als sie sich umdrehte, stand Topsy noch da.

»Wo bist du hergekommen?« sagte sie überrascht.

»Ich war hier«, sagte Topsy und wischte sich die Tränen aus den Augen.

»Ach, Miß Eva! Ich bin ein böses Mädchen gewesen, aber wollen Sie mir nicht auch eine geben?«

»Ja, arme Topsy! Gewiß sollst du auch eine haben. Da – jedesmal, wo du sie ansiehst, denke daran, daß ich dich liebhabe und wünsche, daß du ein gutes Mädchen sein möchtest!«

»Ach Miß Eva, ich versuche es!« beteuerte Topsy angelegentlich. »Aber Gott, es ist so schwer, gut zu sein! ’s kommt mir vor, als wäre ich nicht daran gewöhnt, gar nicht.«

»Jesus weiß es, Topsy; du tust ihm leid, er wird dir helfen.«

Die Schürze vor dem Gesicht, wurde Topsy schweigend von Miß Ophelia aus dem Zimmer gebracht; aber wie sie hinausging, verbarg sie die kostbare Locke an ihrem Busen.

Als alle fort waren, machte Miß Ophelia die Tür zu. Diese würdige Dame hatte während des Auftritts manche Träne aus ihren Augen gewischt, aber Besorgnis über die Folgen, welche eine solche Aufregung bei ihrem jungen Pflegling haben könnte, war das vorherrschende Gefühl in ihrer Brust.

St. Clare hatte die ganze Zeit über in derselben Stellung dagesessen, die Augen mit der Hand zudeckend. Als sie alle hinaus waren, saß er immer noch so da.

»Papa!« sagte Eva sanft und legte ihre Hand auf die seine. Er zuckte zusammen, gab aber keine Antwort.

»Lieber Papa!« sagte Eva.

»Ich kann nicht«, sagte St. Clare und stand auf, »ich kann das nicht tragen! O Gott der Allmächtige behandelt mich sehr grausam!« und St. Clare sprach diese Worte mit einem bitteren Nachdruck.

»Augustin! Hat nicht Gott ein Recht, mit dem, was Sein ist, zu tun nach seinem Willen?« sagte Miß Ophelia.

»Vielleicht, aber das macht die Bürde nicht leichter zu tragen«, sagte er in einer trockenen, harten, tränenlosen Weise, wie er sich wegwandte.

»Papa, du brichst mir das Herz!« sagte Eva, indem sie sich erhob und sich in seine Arme warf. »Du darfst nicht so denken!« und das Kind schluchzte und weinte mit einer Leidenschaft, welche alle beunruhigte und den Gedanken ihres Vaters sofort eine andere Richtung gab.

»Ach Eva – teuerstes Kind! Sei ruhig! Sei ruhig! Es war unrecht von mir; es war gottlos. Ich will denken, was du willst, tun, was du willst, nur gräme dich nicht so, – weine nicht so. Ich will mich in seinen Willen ergeben; es war gottlos, solche Reden zu führen.«

Eva lag bald wie eine müde Taube in den Armen ihres Vaters, und er beugte sich über sie und beschwichtigte sie durch jedes zärtliche Wort, das ihm in den Sinn kam.

Evas Gesundheit nahm von diesem Tage an rasch ab; ihr nahes Ende war nicht länger zu bezweifeln; selbst das zärtlichste Auge konnte nicht mehr blind sein.

Ihr schönes Zimmer war jetzt anerkanntermaßen ein Krankenzimmer; und Miß Ophelia verrichtete Tag und Nacht die Pflichten einer Krankenwärterin – und nie lernten ihre Verwandten ihren Wert besser kennen, als in dieser Eigenschaft.

Onkel Tom war auch sehr oft bei ihr. Eva litt sehr an nervöser Ruhelosigkeit, und es war ihr eine große Erleichterung, wenn sie getragen werden konnte; und es war Toms größte Freude, die kleine schwache Gestalt auf einem Kissen auf dem Arme zu tragen, entweder im Zimmer herum oder draußen in der Veranda, und wenn der erquickende Seewind vom See herüberwehte und das Kind sich frühmorgens am kräftigsten fühlte, trug er sie manchmal unter den Orangenbäumen im Garten umher oder setzte sich mit ihr auf einen ihrer alten Plätze und sang ihr ihre alten Lieblingskirchenlieder vor.

Ihr Vater trug sie auch oft herum; aber er war schwächer, und wenn er müde war, sagte Eva zu ihm:

»Ach, Papa, laß Tom mich tragen. Der Arme! Es macht ihm Freude, und du weißt, er kann jetzt weiter nichts tun, und er möchte doch gern etwas tun!«

»Das möchte ich auch, Eva«, sagte ihr Vater.

»Ja, Papa, aber du kannst alles tun, und bist mir alles. Du liest mir vor – du wachst nachts bei mir – und Tom hat nur dies eine und sein Singen; und ich weiß auch, daß es ihm leichter wird, als dir. Er trägt mich mit solcher Kraft!«

Der Wunsch, etwas zu tun, beschränkte sich nicht bloß auf Tom. Jeder Dienstbote des Hauses legte dasselbe Gefühl an den Tag und tat in seiner Weise, was er konnte.

Das Herz der armen Mammy sehnte sich nach ihrem Liebling; aber sie fand weder bei Tag noch bei Nacht Gelegenheit, da Marie erklärte, ihr Gemütszustand sei von der Art, daß sie keinen Augenblick Ruhe erlangen könne; und natürlich war es gegen ihre Grundsätze, andere ruhen zu lassen. Zwanzigmal des Nachts mußte Mammy aufstehen, um ihr die Füße zu reiben, um ihr den Kopf mit Wasser zu benetzen, um ihr Taschentuch zu suchen, zu sehen, was für ein Lärm in Evas Zimmer sei, einen Vorhang zuzumachen, weil es zu hell, oder ihn zu öffnen, weil es zu dunkel war; und den Tag über, wenn sie gern ihren Liebling ein wenig mit gepflegt hätte, schien Marie ungewöhnlich erfinderisch in Aufträgen zu sein, die sie überall im ganzen Hause oder bei ihr selbst beschäftigten, so daß nur verstohlene Zusammenkünfte und augenblickliches Begegnen möglich war.

»Es ist eine Pflicht für mich«, pflegte sie zu sagen, »gegenwärtig ganz besonders Sorge für mich zu tragen, denn ich bin so schwach und die ganze Sorge der Pflege des geliebten Kindes lastet auf mir.«

»Ich habe immer geglaubt, unsere Cousine hätte dich dieser Mühe überhoben«, sagte St. Clare.

»Du sprichst, wie man es von einem Manne erwartet, St. Clare – gerade als ob eine Mutter der Pflege eines Kindes in einem solchen Zustande überhoben werden könnte; aber es ist ja alles gleich – kein Mensch erkennt jemals, was ich fühle! Ich kann die Sachen nicht vergessen, wie du.«

St. Clare lächelte. Du mußt ihn entschuldigen, Leser. Er konnte nicht anders – denn St. Clare konnte immer noch lächeln. Denn so heiter und ruhig war die Abschiedsreise dieser Kinderseele – so liebliche und duftende Hauche trugen die kleine Barke den himmlischen Küsten zu – daß man sich unmöglich an den Gedanken gewöhnen konnte, daß der Tod im Anzuge sei. Das Kind fühlte keinen Schmerz – nur eine ruhige sanfte Schwäche, die täglich und fast unmerklich zunahm; und Eva war so schön, so voll Liebe und Vertrauen, so glücklich, daß niemand dem besänftigenden Einflusse der Atmosphäre von Unschuld und Frieden, die sie zu umgeben schien, widerstehen konnte. St. Clare fühlte eine wunderbare Ruhe über sich kommen. Es war nicht Hoffnung – die war unmöglich: Es war nicht Resignation; – es war nur ein ruhiges Verweilen bei der Gegenwart, die so schön schien, daß er an gar keine Zukunft zu denken wünschte. Es war jener Seelenfrieden, welchen wir in heiteren Herbstwaldungen fühlen, wenn die helle hektische Röte schon die Bäume färbt und die letzten Blumen noch am Bache verweilen; und wir freuen uns nur um so mehr daran, weil wir wissen, daß bald alles verwelken wird.

Der Freund, der am meisten von Evas Phantasien und Ahnungen wußte, war ihr getreuer Diener Tom. Ihm sagte sie alles, womit sie ihrem Vater nicht das Herz schwermachen wollte. Ihm teilte sie die geheimnisvollen Winke mit, welche die Seele fühlt, wenn die Fäden, mit denen sie am irdischen Leibe hängt, lockerer werden.

Zuletzt wollte Tom nicht mehr in seinem Zimmer schlafen, sondern lag die ganze Nacht in der äußeren Veranda, bereit, auf jeden Wink aufzustehen.

»Onkel Tom, wie bist du zu der Gewohnheit gekommen, überall und irgendwo zu schlafen wie ein Hund?« sagte Miß Ophelia. »Ich dachte, du gehörtest zu den ordentlichen Leuten, welche gern wie gute Christen im Bett liegen?«

»Dazu gehöre ich auch, Miß Feely«, sagte Tom geheimnisvoll. »Aber jetzt –«

»Nun, aber jetzt?«

»Wir dürfen nicht laut sprechen; Master St. Clare will nichts davon hören; aber Miß Feely, Sie wissen, daß jemand wach bleiben muß, bis der Bräutigam kommt.«

»Was meinst du damit, Tom?«

»Sie wissen, es steht in der Schrift: ›Um Mitternacht aber ward ein Geschrei: Siehe, der Bräutigam kommt.« Und das erwarte ich jetzt jede Nacht, Miß Feely, – und ich könnte nicht schlafen, wo ich es nicht hören könnte, keinen Augenblick.«

»Aber Onkel Tom, aus welchem Grunde bist du dieser Meinung?«

»Miß Eva hat es mir gesagt. Der Herr schickt seine Boten in die Seele. Ich muß dabeisein, Miß Feely; denn wenn dieses gesegnete Kind in das Reich eingeht, werden sie das Tor so weit aufmachen, daß wir alle ein paar Strahlen von der himmlischen Herrlichkeit sehen werden, Miß Feely.«

»Onkel Tom, sagte Miß Eva, sie fühle sich heute abend kränker als gewöhnlich?«

»Nein, aber sie sagte mir heute früh, daß sie dem Reiche näher komme – das wird dem Kinde zugeflüstert, Miß Feely. Es sind die Engel – ›Trompetenschall vor Morgengrauen‹«, sagte Tom, indem er eine Stelle aus einem Lieblingskirchenliede anführte.

Dieses Zwiegespräch hatte Miß Ophelia mit Tom eines Abends zwischen zehn und elf Uhr, als sie, nachdem alle ihre Anordnungen getroffen waren, die äußere Tür verriegeln wollte und Tom daneben in der äußeren Veranda liegen fand.

Sie war nicht nervenschwach oder empfindlich, aber seine feierliche aus tiefstem Herzen kommende Weise machte einen großen Eindruck auf sie. Eva war den Nachmittag ungewöhnlich munter und lebhaft gewesen und hatte im Bett aufgesessen und alle ihre kleinen Spielsachen und Kleinodien durchgesehen, und die Freunde genannt, für welche sie dieselben bestimmte; und ihr Benehmen war lebhafter und ihre Stimme natürlicher, als man seit Wochen gewohnt gewesen. Ihr Vater hatte sie des Abends besucht und hatte gesagt, Eva erscheine heute am meisten wie früher, seit ihrer Krankheit; und als er von ihr mit einem Kusse gute Nacht genommen, sagte er zu Miß Ophelia. »Cousine, wir behalten sie vielleicht doch noch; sie befindet sich entschieden besser«, und er entfernte sich mit einem leichteren Herzen, als er seit Wochen gehabt hatte.

Aber um Mitternacht – zu der wunderbaren mystischen Stunde, wo der Schleier zwischen der vergänglichen Gegenwart und der ewigen Zukunft dünner wird – kam der Bote!

Erst hörte man etwas, wie einen raschen Schritt im Krankenzimmer. Es war Miß Ophelia, welche sich entschlossen hatte, die ganze Nacht bei ihrem kleinen Pflegling zu wachen, und die im Wendepunkte der Nacht bemerkt hatte, was erfahrene Krankenwärterinnen eine Veränderung nennen. Die äußere Tür wurde rasch geöffnet, und Tom, der draußen wachte, war in einem Augenblicke auf den Beinen.

»Geh nach dem Arzte, Tom! Verliere keinen Augenblick«, sagte Miß Ophelia; und zugleich ging sie an die Tür von St. Clares Zimmer und klopfte.

»Cousin«, sagte sie, »willst du nicht kommen?«

Diese Worte fielen auf sein Herz wie Erdschollen auf einen Sarg. Warum? In einem Augenblicke war er aufgestanden und im Zimmer, und beugte sich über Eva, die immer noch schlief.

Was sah er, daß das Klopfen seines Herzens stockte? Warum sprachen die beiden kein Wort miteinander? Du weißt es, der Du denselben Ausdruck auf dem Gesicht der Deinem Herzen teuersten Person gesehen hast – diesen unbeschreiblichen hoffnungslosen, nicht mißzuverstehenden Zug, der Dir sagt, daß Dein geliebtes Wesen Dir nicht länger angehört.

Auf dem Antlitz des Kindes war jedoch kein grauenerregender Zug zu erblicken – nur ein seliger und fast erhabener Ausdruck – die überschattende Gegenwart geistiger Naturen, das Herandämmern unsterblichen Lebens in dieser Kinderseele.

Sie standen so still an dem Bette, daß selbst das Ticken der Uhr wie zu laut erschien. In wenigen Minuten kehrte Tom mit dem Arzt zurück. Er trat ein, warf einen Blick auf sie und stand stumm da wie die andern.

»Wann trat diese Veränderung ein?« fragte er leise flüsternd Miß Ophelia.

»Gegen Mitternacht«, war die Antwort.

Von der Ankunft des Arztes geweckt, trat jetzt auch Marie hastig aus dem nächsten Zimmer.

»Augustin! Cousine! – O! Was ist?« fing sie hastig an.

»Still!« sagte St. Clare mit heiserer Stimme. »Sie liegt im Sterben!« Mammy hörte die Worte und eilte fort, um die Dienstboten zu wecken. Bald war das ganze Haus wach – man sah Lichter, hörte Schritte, Gesichter voll angstvoller Erwartung drängten sich in der Veranda und blickten mit tränenvollen Augen durch die Glastüren; aber St. Clare hörte und sagte nichts – er sah nur diesen Ausdruck auf dem Gesicht der Schlummernden.

»Ach, wenn sie nur aufwachte und noch einmal mit mir spräche!« sagte er, und er beugte sich über sie und flüsterte ihr ins Ohr: »Eva, liebe Eva!« Die großen blauen Augen öffneten sich – ein Lächeln flog über ihr Gesicht; sie versuchte den Kopf zu erheben und zu sprechen.

»Kennst du mich, Eva?«

»Lieber Papa«, sagte das Kind mit einer letzten Anstrengung und schlang die Arme um seinen Hals. Einen Augenblick darauf sanken sie erschlafft wieder herunter; und wie St. Clare den Kopf erhob, sah er ein Zucken des Todeskampfes das Gesicht bewegen – sie rang nach Atem und bewegte krampfhaft die kleinen Händchen.

»O Gott, das ist schrecklich«, sagte er, indem er sich in maßlosem Schmerz abwandte und halb bewußtlos Toms Hand drückte. »Ach, mein Tom, das gibt mir den Tod!«

Tom hielt seines Herrn Hände zwischen den seinen; und während Tränen seine dunklen Backen herabströmten, sah er nach Hilfe zu dem hinauf, zu dem er hinaufzublicken gewohnt war.

»Bitte Gott, daß er dem ein Ende machen möge!« sagte St. Clare. »Das zerreißt mir das Herz!«

»O, der Herr sei gepriesen! Es ist vorbei – es ist vorbei, lieber Master!« sagte Tom. »Sehen Sie hin.«

Das Kind lag erschöpft und keuchend auf den Kissen – die großen klaren Augen waren starr emporgerichtet. Ach, was sagten diese Augen, die soviel vom Himmel redeten? Die Erde und ihr Schmerz waren vorüber; aber so feierlich, so geheimnisvoll sah das Gesicht in seinem seligen Glanze aus, daß es selbst das Schluchzen des Schmerzes zum Schweigen brachte. Sie drängten sich in atemlosem Schweigen um sie herum.

»Eva!« flüsterte St. Clare.

Sie hörte nicht.

»O Eva, sage uns, was du siehst! Was siehst du?« sagte ihr Vater.

Ein heiteres, seliges Lächeln flog über ihr Gesicht, und sie sagte mit brechender Stimme:

»O! Liebe – Freude – Frieden!« seufzte sie noch einmal und ging vom Tode ins ewige Leben über!

»Leb wohl, geliebtes Kind! Die strahlenden ewigen Tore haben sich hinter dir geschlossen; wir werden dein liebevolles Antlitz nie wieder sehen. O wehe denen, die deinen Eingang in den Himmel beobachtet haben, wenn sie erwachen und nur den kalten grauen Himmel des Alltagslebens finden, und du hast sie auf ewig verlassen!«

17. Kapitel


Topsy

Eines Morgens, als Ophelia einer ihrer häuslichen Pflichten oblag, rief sie St. Clare unten von der Treppe herauf.

»Komm einmal herunter, Cousine, ich muß dir etwas zeigen.«

»Was gibt’s?« sagte Miß Ophelia, als sie mit der Näherei herunterkam.

»Ich habe dir etwas gekauft – sieh her«, sagte St. Clare, mit diesen Worten schob er ein kleines Negermädchen von acht oder neun Jahren vor. Die Kleine gehörte zu den Schwärzesten ihres Geschlechts; und ihre runden, hellen Augen, glänzend wie Glaskorallen, schweiften mit raschen und ruhigen Blicken über alle Einzelheiten der Umgebung. Den Mund halb geöffnet vor Erstaunen über die Wunder der Stube des neuen Herrn, zeigte sie zwei Reihen weißer glänzender Zähne. Das wollige Haar war in kleine Zöpfchen geflochten, die in jeder Richtung emporstanden. Der Ausdruck des Gesichts war ein seltsames Gemisch von Schlauheit und List, welches als eine Art von Schleier einen Ausdruck kläglichster Ernsthaftigkeit und Feierlichkeit drollig überdeckte. Die Kleine hatte nur ein einziges, schmutziges, zerrissenes Kleidungsstück von Sackleinwand an und stand da mit ehrbar gefalteten Händen. Im ganzen war etwas Seltsames und Koboldartiges in der ganzen Erscheinung – etwas, wie sich Miß Ophelia später ausdrückte, »so Heidnisches«, daß der guten Dame ganz bange dabei wurde; und zu St. Clare gewendet sagte sie:

»Aber Augustin, wozu in aller Welt hast du mir dieses Geschöpf gebracht?«

»Damit du es erziehst und ihm den Weg zeigst, den es gehen soll, natürlich. Die Kleine kam mir wie ein ziemlich drolliges Exemplar von dem Vogelscheuchengeschlecht vor. Na Topsy«, fügte er hinzu und pfiff wie jemand, der die Aufmerksamkeit eines Hundes erregen will, »singe uns ein Lied und zeige uns, wie du tanzen kannst.«

In den schwarzen hellen Augen glitzerte eine Art boshafter Humor, und die Kleine stimmte mit einer klaren, schrillen Stimme eine seltsame Negermelodie an, zu der sie mit Händen und Füßen Takt schlug, sich herumdrehte und in einem wilden phantastischen Takte mit den Händen klatschte und die Knie zusammenschlug und alle ihre Bewegungen mit den seltsamen Kehltönen begleitete, welche die dieser Rasse eigentümliche Musik auszeichnen; und zuletzt kam sie mit ein oder zwei Luftsprüngen und einer langen Schlußkadenz, die so wunderlich und unheimlich klang wie der Pfiff eines Dampfwagens, plötzlich auf den Teppich herab und stand da mit gefalteten Händen und einem höchst scheinheiligen Ausdruck von Demut und Feierlichkeit auf dem Gesicht, zu dem nur die schlauen schielenden Seitenblicke aus den Augenwinkeln nicht recht passen wollten.

Ganz stumm vor Staunen stand Ophelia da.

St. Clare schien mit boshaftem Behagen sich über ihr Erstaunen zu freuen und sagte zu dem Kinde gewendet:

»Topsy, das ist deine neue Herrin. Ich werde dich ihr übergeben; trag Sorge, daß du dich gut aufführst.«

»Ja, Master«, sagte Topsy mit scheinheiligem Ernste, während ihre boshaften Augen funkelten.

»Du mußt dich gut aufführen, Topsy, verstehst du«, sagte St. Clare.

»O ja, Master«, sagte Topsy mit einem anderen funkelnden Blick, während ihre Hände immer noch fromm gefaltet blieben.

»Aber Augustin, was in aller Welt soll das bedeuten?« sagte Ophelia. »Dein Haus ist bereits so voll von diesen kleinen Plagegeistern, daß kein Mensch seinen Fuß wohin setzen kann, ohne auf sie zu treten. Ich stehe früh auf und finde einen hinter der Tür schlafen, und sehe einen schwarzen Kopf unter dem Tisch hervorgucken und einen andern auf dem Strohteller vor der Tür liegen, und sie lungern auf allen Geländern herum und balgen sich auf dem Küchenflur! Wozu in aller Welt bringst du das eine noch her?«

»Du sollst es erziehen – habe ich es dir nicht gesagt? Du predigst immer vom Erziehen. Ich dachte, ich wollte dir ein frisch gefangenes Exemplar schenken, damit du dich an ihm üben und es im Guten und Rechten unterweisen könntest.«

»Ich mag die Kleine nicht, das weiß ich; ich habe ohnedies schon mehr mit ihnen zu tun, als ich wünsche.«

»So seid ihr Christen alle! Ihr stiftet eine Gesellschaft und mietet einen armen Missionar, daß er sein ganzes Leben unter solchen Heiden zubringen soll. Aber den möchte ich sehen von euch, der einen derselben in sein Haus aufnehmen und sich der Arbeit seiner Bekehrung selbst unterziehen möchte! Nein, wenn es dazu kommt, sind sie schmutzig und garstig, und es ist zuviel Plage usw.«

»Augustin, du weißt, daß ich die Sache nicht in diesem Licht ansehe«, sagte Miß Ophelia schon sanfter gestimmt. »Es könnte am Ende doch ein echtes Missionswerk sein«, sagte sie und sah das Kind bereits mit etwas günstigerem Auge an.

St. Clare hatte die rechte Seite berührt. Miß Ophelias Gewissenhaftigkeit stand immer auf der Hut. »Aber«, setzte sie hinzu, »ich sehe wahrhaftig nicht ein, wozu du das Kind noch gekauft hast – wir haben schon so viel im Hause, daß sie alle meine Zeit und Kraft in Anspruch nehmen.«

»Nun, komm nur, Cousine«, sagte St. Clare, indem er sie beiseite zog, »ich sollte dich wegen meiner nichtsnutzigen Reden eigentlich um Verzeihung bitten. Im Grunde bist du so gut, daß sie keinen Sinn haben. Die Wahrheit ist, das Kind gehörte einem ewig betrunkenen paar Leuten, die eine gemeine Schenke, an welcher ich jeden Tag vorbeigehe, besitzen; und ich war müde, das Kind schreien und seine Herrschaft es schlagen und ausschimpfen zu hören. Die Kleine sah außerdem munter und drollig aus, als ob sich etwas aus ihr machen ließe; deshalb kaufte ich sie, um sie dir zu schenken. Versuche es nun einmal und gib ihr eine gute orthodoxe, neuengländische Erziehung, und sieh zu, was du aus ihr machen kannst, du weißt, ich habe dazu keine Anlage, aber ich möchte gern, daß du es versuchtest.«

»Nun, ich will tun, was ich kann«, sagte Miß Ophelia, und sie näherte sich ihrem neuen Zögling ziemlich so, wie sich jemand einer schwarzen Spinne nähern würde, vorausgesetzt, daß er wohlwollende Absichten auf sie hätte.

»Sie ist schrecklich schmutzig und halbnackt«, sagte sie.

»Nun, so nimm sie mit hinunter und laß sie von den Leuten reinigen und kleiden.«

Miß Ophelia brachte sie in die Küche hinunter.

»Ich sehe nicht ein, wozu Master Clare noch Nigger braucht«, sagte Dinah, welche den neuen Ankömmling mit keineswegs freundlichen Blicken betrachtete. »Sie mag mir nicht unter die Hände kommen, das weiß ich!«

»Pfui!« sagten Rosa und Jane mit großartiger Verachtung. »Sie mag uns aus dem Wege gehn! Wozu in aller Welt Master noch mehr von diesen gemeinen Niggern braucht!«

»Seid still da! Nicht mehr Nigger als Ihr selber, Miß Rosa«, sagte Dinah, welche sich von dieser letzten Bemerkung beleidigt fühlte. »Ihr scheint Euch gar für Weiße zu halten. Ihr seid keins von beiden – weder weiß noch schwarz. Ich möchte entweder nur das eine oder das andere sein.«

Miß Ophelia mußte bald bemerken, daß sich unter der Dienerschaft niemand fand, der das Reinigen und Ankleiden des neuen Ankömmlings übernehmen wollte. So mußte sie es denn selber tun, wobei ihr Jane widerwilligen Beistand leistete.

Miß Ophelia hatte einen guten Teil praktischer Entschlossenheit, und sie unterzog sich allen den ekelhaften Einzelheiten mit heldenmütiger Gründlichkeit, obgleich, wir müssen es gestehen, mit keiner sehr freundlichen Miene – denn zu mehr als zum bloßen Dulden konnten sie ihre Prinzipien nicht bringen. Als sie auf dem Rücken und den Schultern der Kleinen große Striemen und Narben entdeckte, die unauslöschlichen Zeugen des Systems, unter dem sie bis jetzt aufgewachsen war, da begann ihr Herz Erbarmen mit der Kleinen zu fühlen.

»Sehen Sie nur!« sagte Jane und wies auf die Narben. »Zeigt das nicht, daß sie ein Höllenbraten ist? Sie wird uns schön zu schaffen machen, rechne ich. Ich kann diese Niggerkinder auf den Tod nicht leiden! Sie sind so ekelhaft! Ich möchte nur wissen, wozu es Master gekauft hätte.«

Das Niggerkind hörte alle diese Bemerkungen mit der demütigen und kläglichen Miene an, die ihr Gewohnheit zu sein schien, und betrachtete nur mit einem scharfen und verstohlenen Blick seiner glitzernden Augen den Schmuck, den Jane in den Ohren trug. Als die Kleine endlich dastand, in einen anständigen und nicht zerrissenen Anzug gekleidet und das Haar kurz geschoren, sagte Miß Ophelia mit einiger Befriedigung, daß sie nunmehr wie ein Christenkind aussehe, und fing schon innerlich einige Pläne zu ihrer Erziehung zu überlegen an.

Sie setzte sich vor sie hin und fing an, sie zu examinieren.

»Wie alt bist du, Topsy?«

»Weiß nicht, Missis«, sagte der Kobold mit einem Grinsen, das alle Zähne zeigte.

»Du weißt nicht, wie alt du bist? Hat dir es niemand gesagt? Wer war deine Mutter?«

»Hab‘ nie keine gehabt!« sagte das Kind abermals grinsend.

»Du hast keine Mutter gehabt? Was meinst du damit? Wo bist du geboren?«

»Bin nie nicht geboren!« beteuerte Topsy mit einem so koboldartigen Grinsen, daß Miß Ophelia, wenn sie nervenschwach gewesen wäre, hätte glauben können, sie hätte einen schwarzen Gnomen aus der Unterwelt erwischt; aber Miß Ophelia war nicht nervenschwach, sondern einfach und praktisch und sagte daher mit einiger Strenge:

»Du darfst mir nicht so antworten, Kind, ich spiele nicht mit dir. Sage mir, wo du geboren bist und wer dein Vater und deine Mutter waren.«

»Bin nie nicht geboren«, wiederholte der Kobold noch emphatischer, »hatte nie Vater oder Mutter oder sonst was. Ein Sklavenhändler hat mich aufgezogen mit vielen andern. Alte Tante Sue wartete uns ab.«

Das Kind sprach offenbar die Wahrheit, und Jane sagte mit einem gezierten Lachen:

»Ach Gott, Missis, solche gibt’s in Unmassen. Spekulanten kaufen sie billig, wenn sie ganz klein sind, und ziehen sie zum Verkauf auf.«

»Wie lange bist du bei deiner Herrschaft?«

»Weiß nicht, Missis.«

»Ein Jahr oder mehr oder weniger?«

»Weiß nicht, Missis.«

»Ach Missis, diese gemeinen Nigger können so was nicht sagen; sie wissen nichts von der Zeit«, sagte Jane. »Sie wissen nicht, was ein Jahr ist; sie wissen nicht, wie alt sie sind.«

»Hast du etwas von Gott gehört, Topsy?«

Das Kind machte bei dieser Frage ein ganz verblüfftes Gesicht, grinste aber wie gewöhnlich.

»Weißt du, wer dich erschaffen hat?«

»Niemand, soviel ich weiß«, sagte das Kind mit einem kurzen Lachen.

Der Gedanke schien ihm ganz vorzüglichen Spaß zu machen, denn seine Augen funkelten und es setzte hinzu:

»Ich glaube, ich bin gewachsen. Glaub‘ nicht, daß mich jemand geschaffen hat.«

»Kannst du nähen?« sagte Miß Ophelia, welche ihren Fragen eine mehr praktische Richtung zu geben gedachte.

»Nein, Missis.«

»Was kannst du? – Was hast du bei deiner Herrschaft gemacht?«

»Wasser geholt und Geschirr gewaschen und Messer geputzt und den Leuten aufgewartet.«

»Haben sie dich gut behandelt?«

»Vermute«, sagte das Kind, indem es Miß Ophelia schlau ansah.

Miß Ophelia erhob sich von dieser ermutigenden Prüfung; St. Clare stand hinter ihr auf die Stuhllehne gestützt.

»Du findest hier jungfräulichen Boden, Cousine; pflanze deine eigenen Begriffe hinein – du wirst nicht viel erst aufzuräumen haben.«

Miß Ophelias Begriffe von Erziehung waren, wie alle ihre anderen Begriffe, sehr abgeschlossen und bestimmt und von der Art, wie sie vor einem Jahrhundert in Neuengland vorherrschten und selbst noch in sehr abgelegenen und unverdorbenen Gegenden bestehen, wo keine Eisenbahnen hinkommen. Sie ließen sich so ziemlich in sehr wenige Worte zusammenfassen. Dem Kinde wurde gelehrt, zu gehorchen, wenn man ihm etwas hieß; es wurde ihm der Katechismus, Nähen und Lesen gelehrt; und es bekam Schläge, wenn es log, und obgleich diese Ansichten natürlich durch die über die Erziehungsfrage ausgegossene Flut von Licht weit überholt sind, so ist es doch unbestreitbar, daß unsere Großmütter einige recht verständige Männer und Frauen auf die Weise erzogen haben, wie viele von uns sich erinnern und bezeugen können. Jedenfalls wußte es Miß Ophelia nicht anders und widmete sich daher ihrem heidnischen Zöglinge mit dem möglichsten Fleiße.

Das Kind galt im ganzen Hause als Miß Ophelias Mädchen, und da es vor den Herrschaften in der Küche durchaus keine Gnade fand, so beschloß Miß Ophelia, seinen Wirkungskreis und seinen Unterricht hauptsächlich auf ihr Zimmer zu beschränken. Mit einer Opferbereitwilligkeit, welche einige unserer Leser werden würdigen können, faßte sie den Entschluß, anstatt sich selbst ihr Bett zu machen und selbst ihr Zimmer zu kehren und zu ordnen – was sie bisher getan hatte, alle Hilfsanerbietungen des Hausmädchens entschieden zurückweisend –, sich dem Märtyrertum zu unterwerfen, Topsy in diesen Verrichtungen Unterricht zu erteilen. Aber wehe über diesen Tag! Wenn jemals unser Leser so etwas versucht hat, so wird er die Größe ihres Opfers würdigen können.

Miß Ophelia fing damit an, am ersten Morgen Topsy mit auf ihr Zimmer zu nehmen und einen feierlichen Kursus in der Kunst und den Geheimnissen des Bettmachens zu beginnen.

Topsy, gewaschen und der kleinen geflochtenen Schwänzchen beraubt, die ihres Herzens Freude waren, in einer reinen Kutte und einer gut gestärkten Schürze, steht ehrerbietig vor Miß Ophelia und macht ein so feierliches Gesicht, daß es sich zu einem Leichenbegräbnisse geschickt haben würde.

»Nun, Topsy, werde ich dir zeigen, wie du mein Bett machen mußt. Ich bin sehr eigen mit meinem Bett. Du mußt ganz genau lernen, wie es gemacht werden muß.«

»Ja, Ma’am«, sagte Topsy mit einem tiefen Seufzer und einem Gesicht voll kläglichen Ernstes.

»Also sieh, Topsy, das ist der Saum des Bettuches – das ist die rechte Seite des Bettuchs, und das die linke: Wirst du das behalten?«

»Ja, Ma’am«, sagte Topsy wieder mit einem Seufzer.

»Nun, das Unterbettuch mußt du über das Polsterkissen legen – und es recht hübsch und glatt unter die Matratze stopfen – siehst du?«

»Ja, Ma’am«, sagte Topsy mit tiefer Aufmerksamkeit.

»Aber das obere Bettuch«, sagte Miß Ophelia, »muß so gelegt und fest und glatt unten zu Füßen untergestopft werden – so –, der schmale Saum zu Füßen.«

»Ja, Ma’am«, sagte Topsy wie vorhin; aber wir müssen hinzusetzen, was Miß Ophelia nicht sah, daß während der Zeit, wo ihr die gute Dame in ihrem Lehreifer den Rücken zugekehrt hatte, die junge Schülerin Gelegenheit fand, ein paar Handschuhe und ein Band zu stehlen, welches sie geschickt in ihre Ärmel gleiten ließ, worauf sie wieder mit gehorsam gefalteten Händen dastand wie vorher.

»Nun versuch du es einmal, Topsy«, sagte Miß Ophelia, indem sie die Bettücher wieder entfernte und sich setzte.

Topsy verrichtete das Befohlene mit großer Geschicklichkeit zu Miß Ophelias vollkommener Befriedigung; sie strich die Bettücher glatt, klopfte jede Falte heraus und zeigte bei der ganzen Arbeit einen Ernst und eine Würde, von der sich ihre Lehrerin höchlichst erbaut fühlte. Durch ein unglückliches Versehen guckte jedoch gerade, als sie fertig war, ein Endchen des Bandes aus dem Ärmel heraus, und Miß Ophelia sah es. Auf der Stelle ergriff sie es. »Was ist das? Du böses, schlechtes Kind – das hast du gestohlen!«

Obgleich Ophelia das Band aus Topsys eigenem Ärmel zog, so geriet das Kind doch nicht im mindesten außer Fassung; es sah den Fund nur mit einer Miene der überraschtesten und arglosesten Unschuld an.

»Ob das nicht Miß Feelys Band ist! Wie mag’s nur in meinen Ärmel gekommen sein!«

»Topsy, du böses Mädchen, lüge nicht! Du hast das Band gestohlen!«

»Misses, wahrhaftig, ich hab’s nicht gestohlen; sehe es diese Minute zum allerersten Mal.«

»Topsy«, sagte Miß Ophelia, »weißt du nicht, daß es schlecht ist zu lügen?«

»Ich lüge nie, Miß Feely«, sagte Topsy mit tugendhaftem Ernste. »Es ist die reine Wahrheit, was ich Ihnen gesagt habe, und weiter nichts.«

»Topsy, ich werde dir die Peitsche geben lassen, wenn du so lügst.«

»Ach, Missis, und wenn Sie mich den ganzen Tag peitschen lassen, kann ich nichts anderes sagen«, sagte Topsy und fing an zu flennen. »Ich habe das Band noch mit keinem Auge gesehen, und es muß sich in meinen Ärmel verkrochen haben. Miß Feely hat’s gewiß auf dem Bett liegenlassen, und es ist unter die Bettücher gekommen und so in meinen Ärmel geraten.«

Miß Ophelia war so empört über die freche Lüge, daß sie das Kind faßte und schüttelte. »Sage mir das nicht noch einmal.«

Durch dieses Schütteln fielen die Handschuhe aus dem anderen Ärmel in die Stube.

»Da siehst du?« sagte Miß Ophelia. »Wirst du jetzt noch leugnen, daß du das Band gestohlen hast?«

Topsy bekannte jetzt den Diebstahl der Handschuhe, aber leugnete immer noch hinsichtlich des Bandes.

»Topsy, wenn du alles gestehen willst, sollst du diesmal nicht die Peitsche bekommen«, sagte Miß Ophelia. Auf dieses Versprechen bekannte sich Topsy zum Diebstahle des Bandes und der Handschuhe mit den kläglichsten Bußbeteuerungen.

»Jetzt gestehe es mir nur. Ich weiß, du mußt auch andere Dinge gestohlen haben, seit du hier bist, denn ich habe dich gestern den ganzen Tag frei herumlaufen lassen. Gestehe jetzt, was du genommen hast, und ich will dich nicht schlagen.«

»Ach, Missis! Ich habe Miß Evas rotes Ding genommen, das sie um den Hals trägt.«

»Was? Du böses Kind! Nun, was sonst noch?«

»Rosas Ohrringe – die roten.«

»Geh und bring mir alle beide Sachen gleich die Minute her.«

»Ach Missis, das kann ich nicht – sie sind verbrannt.«

»Verbrannt – was für eine Lüge! Hole sie oder du bekommst die Peitsche.«

Mit lauten Beteuerungen und Tränen und Seufzern erklärte Topsy, daß es ihr unmöglich sei.

»Sie sind verbrannt – rein verbrannt!«

»Warum hast du sie verbrannt?« sagte Miß Ophelia.

»Weil ich ein böses Kind bin. Ich bin schrecklich böse, sagen die Leute. Ich kann nichts dafür.«

In diesem Augenblick kam Eva zufällig ins Zimmer, geschmückt mit dem Korallenhalsband, von dem die Rede war.

»Was, Eva, wo hast du dein Halsband herbekommen?« sagte Miß Ophelia.

»Herbekommen? Ich habe es ja den ganzen Tag umgehabt«, sagte Eva.

»Hattest du es auch gestern immer?«

»Jawohl, und was das Drolligste ist, Tantchen, ich hatte es die ganze Nacht um. Ich vergaß es abzunehmen, als ich zu Bett ging.«

Miß Ophelia wußte nicht, was sie denken sollte, um so mehr, als jetzt auch Rosa ins Zimmer trat, mit einem Körbchen frischgeplätteten Leinenzeugs auf dem Kopfe und den Korallengehängen in den Ohren.

»Ich weiß wahrhaftig nicht, was ich mit einem solchen Kinde machen soll! Wozu, in aller Welt, sagtest du mir, du hättest diese Sachen gestohlen, Topsy?«

»Ach, Missis sagte ja, ich sollte bekennen; und ich wußte nichts anderes«, sagte Topsy und wischte sich die Augen.

»Aber natürlich verlange ich nicht, du solltest mir Dinge bekennen, die du nicht getan hast«, sagte Miß Ophelia, »das ist so gut eine Lüge wie das andere.«

»Ach wirklich?« sagte Topsy mit einer Miene unschuldiger Verwunderung.

»Ja, ’s ist auch kein Funken Wahrheit in diesem Satanskind«, sagte Rosa und sah Topsy mit bösem Gesicht an. »Wenn ich Master St. Clare wäre, wollte ich sie peitschen, daß ihr das Blut vom Rücken liefe; sie sollte es schon kriegen!«

»Nein, nein, Rosa«, sagte Eva mit einer befehlenden Miene, welche das Kind manchmal anzunehmen verstand, »so darfst du nicht sprechen, Rosa. Ich kann das nicht mit anhören.«

»Herrjemine! Miß Eva, Sie sind so gut und verstehen es nicht, wie man mit Niggern umspringen muß. Es gibt kein anderes Mittel, als sie blutig zu schlagen. Darauf verlassen Sie sich.«

»Rosa«, sagte Eva, »still! Kein Wort wieder von dieser Art.« Und das Auge des Kindes flammte auf, und seine Wange rötete sich tiefer. Rosa war in einem Augenblick eingeschüchtert.

»Miß Eva hat das St.-Clare-Blut in ihren Adern, das ist klar. Sie kann wahrhaftig gerade so sprechen wie ihr Papa«, sagte sie, indem sie das Zimmer verließ.

Eva stand da und betrachtete Topsy.

Als Miß Ophelia über Topsys Schlechtigkeit schalt, machte das Kind ein verwundertes und betrübtes Gesicht, sagte aber sanft:

»Arme Topsy, warum stiehlst du? Du sollst es ja jetzt gut hier haben. Gewiß will ich dir lieber etwas von meinen Sachen geben, als daß du stiehlst.«

Es war das erste freundliche Wort, welches das Kind in seinem Leben gehört hatte; und der sanfte Ton und die sanfte Weise berührte seltsam das wilde rohe Herz, und es funkelte etwas wie eine Träne in dem lebhaften runden glitzernden Auge, aber es wurde bald von einem kurzen Lachen und dem gewöhnlichen Grinsen verdrängt. Nein! Das Ohr, das nie etwas anderes als Scheltworte gehört hat, ist merkwürdig ungläubig, wenn es etwas so Himmlisches wie Freundlichkeit vernimmt, und Topsy kam die Anrede nur wie etwas Spaßiges und Unerklärliches vor – sie glaubte nicht daran.

Aber was war mit Topsy anzufangen? Miß Ophelia wußte weder aus noch ein; ihre Erziehungsregeln schienen hier keine Anwendung zu finden. Sie wollte sich Zeit nehmen, darüber nachzudenken; und um Zeit zu gewinnen und im Vertrauen auf eine unbestimmte moralische Heilkraft, die in dunklen Kammern wohnen soll, sperrte Miß Ophelia ihren Zögling ein, bis sie ihre Gedanken über diesen Gegenstand besser geordnet hatte.

»Ich sehe noch nicht ein, wie ich mit dem Kinde auskommen kann ohne Schläge«, sagte Miß Ophelia zu St. Clare.

»Nun, so schlage sie, soviel es dir gefällt, ich gebe dir die unbeschränkteste Vollmacht.«

»Kinder müssen immer Schläge bekommen«, sagte Miß Ophelia. »Ich habe nie gehört, daß sie ohne Schläge erzogen würden.«

»Tu, was du für das Beste hältst«, sagte St. Clare. »Aber nur eins will ich bemerken: Ich habe gesehen, wie man dieses Kind mit dem Schüreisen, mit der Feuerzange oder mit der Kohlenschaufel, und was gerade bei der Hand war, geschlagen hat, daß es zu Boden stürzte; da es also an diese Behandlungsweise gewöhnt ist, so glaube ich, du wirst mit ziemlicher Energie prügeln müssen, um einigen Eindruck hervorzubringen.«

»Was soll ich denn mit dem Kinde beginnen?« sagte Ophelia.

»Du stellst da eine ernsthafte Frage auf«, sagte St. Clare. »Ich wollte, du könntest sie beantworten. Was man mit einem menschlichen Wesen, das nur mit der Peitsche regiert werden kann, anfangen soll, wenn diese nicht mehr anschlägt, das ist etwas, was wir hier unten uns sehr häufig fragen.«

»Ich weiß es nicht, mir ist noch nie ein Kind von dieser Art vorgekommen.«

»Solche Kinder sind bei uns sehr gewöhnlich und auch solche Männer und Weiber. Wie soll man sie in Zucht erhalten?« sagte St. Clare.

»Die Frage ist jedenfalls für mich zu schwer, um sie zu lösen«, sagte Miß Ophelia.

»Und auch für mich«, sagte St. Clare. »Die schrecklichen Grausamkeiten und Schandtaten, die dann und wann ihren Weg in die Zeitungen finden – solche Vorfälle, wie z. B. der mit Prue – woher rühren sie? In vielen Fällen ist es ein allmählicher Verhärtungsprozeß auf beiden Seiten – der Sklavenbesitzer wird allmählich grausamer und grausamer, und der Sklave wird immer verstockter. Schläge und Scheltworte sind wie Laudanum; man muß die Dosis in dem Maße verdoppeln, wie die Gefühle sich abstumpfen. Ich sah dies sehr frühzeitig ein, als ich Sklavenbesitzer geworden war, und ich nahm mir vor, nie anzufangen, weil ich nicht wußte, wo ich aufhören würde, und beschloß, wenigstens meinen eigenen sittlichen Charakter rein zu halten. Infolge davon sind meine Dienstboten wie verzogene Kinder; aber ich halte das für besser, als wenn wir beide zusammen ganz vertiert wären. Du hast viel von unserer großen Verantwortlichkeit für die Erziehung unserer Mitmenschen gesprochen. Ich möchte wirklich wünschen, du versuchtest es mit einem Kinde, welches eine Probe von Tausenden unter uns ist.«

»Euer System ist an solchen Kindern schuld«, sagte Miß Ophelia.

»Ich weiß es, aber sie sind einmal vorhanden – und die Frage ist, was soll mit ihnen geschehen?«

»Nun, ich kann eben nicht sagen, daß ich dir für das Experiment sehr dankbar bin. Aber da es sich als eine Art Pflicht herausstellt, so will ich nicht ermatten und den Versuch fortsetzen und mein Bestes tun«, sagte Miß Ophelia; und von nun an widmete sich Miß Ophelia mit lobenswertem Eifer und Energie ihrem Zögling. Sie richtete regelmäßige Stunden und Beschäftigungen für die Kleine ein und lehrte sie selbst lesen und nähen.

In ersterer Kunst machte das Kind ziemlich rasche Fortschritte. Sie lernte die Buchstaben wie durch Zauberei und war bald imstande, gewöhnliche Schrift zu lesen; aber mit dem Nähen ging es nicht so leicht vonstatten. Die Kleine war so geschmeidig wie eine Katze und so rührig wie ein Äffchen, und die sitzende Beschäftigung des Nähens war ihr ein Greuel; so zerbrach sie die Nadeln, warf sie verstohlen zum Fenster hinaus oder in Mauerritzen; sie verwirrte, zerriß oder beschmutzte ihren Zwirn oder warf wohl auch mit einer listigen Bewegung ein Knäuel ganz weg. Ihre Bewegungen waren fast so schnell wie die eines geübten Taschenspielers, und sie beherrschte ihr Gesicht ebenso vollkommen; und obgleich Miß Ophelia recht gut einsah, daß so viele widrigen Zufälle sich nicht hintereinander ereignen konnten, so konnte sie doch nicht ohne eine Wachsamkeit, welche ihr zu nichts anderem Zeit übrig gelassen hätte, die Arglistige ertappen.

Topsy hatte sich in St. Clares Haus bald einen Ruf erworben. Ihr Talent für jede Art drolliges Gebärdenspiel, Gesichterschneiden und Schauspielern – für Tanzen, Luftspringen, Klettern, Singen, Pfeifen und Nachahmen jeden Tones, der ihr auffiel – schien unerschöpflich zu sein. In ihren Spielstunden lief ihr unfehlbar jedes Kind des Haushalts nach, den Mund weit aufsperrend vor Bewunderung und Staunen – nicht einmal Miß Eva ausgenommen, welche von ihren Koboldstücken ganz entzückt zu sein schien, wie manchmal eine Taube von einer glänzenden Schlange bezaubert wird. Miß Ophelia befürchtete, Eva möchte an Topsys Gesellschaft zuviel Gefallen finden, und bat St. Clare, es ihr zu verbieten.

»Bah! Laß das Kind seinen eigenen Weg gehen«, sagte St. Clare. »Topsy kann ihr nur nützen.«

»Aber ein so verderbtes Kind – befürchtest du nicht, daß es sie etwas Schlechtes lehren könnte?«

»Sie kann ihr nichts Schlechtes lehren; sie könnte es anderen Kindern lehren, aber das Schlechte gleitet von Evas Seele ab wie der Tau von einem Kohlblatt; kein Tropfen dringt ins Innere.«

»Sei nicht zu sicher«, sagte Miß Ophelia. »So viel weiß ich, daß ich nie eins meiner Kinder mit Topsy spielen lassen würde.«

»Nun, deine Kinder brauchen es nicht zu tun«, sagte St. Clare, »aber meine können es; wenn Eva verderbt werden könnte, so wäre sie schon vor Jahren verdorben.«

Anfangs sah sich Topsy von den oberen Dienstboten verabscheut und verachtet; aber sie fanden sehr bald Ursache, ihre Meinung zu ändern. Man entdeckte sehr bald, daß, wer Topsy eine Schmach zufügte, ganz sicher binnen sehr kurzer Zeit von irgendeinem unangenehmen Zufall betroffen wurde; entweder fehlten ein Paar Ohrringe oder sonst ein Lieblingsschmuck, oder man fand ein Kleidungsstück plötzlich ganz und gar verdorben, oder der Schuldige stolperte zufällig in einen Eimer heißes Wasser, oder ein schmutziger Regen von Spülwasser goß ganz unerklärlich auf ihn herab, wenn er in vollem Staate war; und bei allen diesen Gelegenheiten konnte man bei näherer Untersuchung nie den Urheber dieser empfindlichen Neckereien entdecken. Man zitierte Topsy, und sie erschien zu wiederholten Malen vor der Herrschaft zu Gericht; aber immer bestand sie das Verhör mit der erbaulichsten Unschuld und der ernsthaftesten Miene. Kein Mensch in der ganzen Welt zweifelte, wer der Urheber sei; aber es ließ sich auch nicht ein Buchstabe direkten Beweises zur Bekräftigung des Verdachtes auffinden, und Miß Ophelia war zu gerecht, um ohne Beweise sich strengere Maßregeln zu erlauben.

Die Neckereien waren außerdem stets der Zeit so gut angepaßt, daß der Urheber nur noch sicherer der Strafe entging. So wählte derselbe die Zeiten der Rache an Rosa und Jane, den beiden Kammerzofen, regelmäßig, wo, wie es nicht selten geschah, sie bei ihrer Herrin in Ungnade gefallen waren und wo natürlich eine von ihnen erhobene Klage keinen Anklang fand. Kurz, Topsy prägte der Dienerschaft bald ein, es sei klug, sie in Ruhe zu lassen; und man ließ sie nun auch in Ruhe.

In allen Handarbeiten war Topsy gewandt und energisch und lernte alles, was man ihr lehrte, mit wunderbarer Schnelligkeit. Nach wenigen Stunden Unterricht verstand sie Miss Ophelias Zimmer in einer Weise in Ordnung zu bringen, welche selbst diese vielverlangende Dame befriedigte. Menschenhände konnten die Laken nicht glatter ausbreiten, die Kissen nicht sorgfältiger an ihre Stelle legen, das Zimmer nicht vollkommener kehren, abstäuben und ordnen als Topsy, wenn sie Lust hatte – aber sie hatte nicht sehr oft Lust. Wenn Miss Ophelia, nachdem sie drei oder vier Tage sorgfältig und geduldig die Oberaufsicht geführt hatte, sanguinisch genug war, zu glauben, dass Topsy endlich ausgelernt habe und alles ohne Aufsicht verrichten könne, und nun fortging, um sich mit etwas anderem zu beschäftigen, so stellte Topsy ein oder zwei Stunden lang ein wahres Karneval von Verwirrung an. Anstatt das Bett zu machen, zog sie die Kissenüberzüge herunter, fuhr mit ihrem wolligen Kopf unter die Kissen, bis er manchmal auf das Groteskeste mit nach allen Richtungen emporstarrenden Federn verziert war; kletterte die Säulen hinauf und baumelte sich mit den Füßen anhaltend von oben herunter; warf die Bettücher im ganzen Zimmer herum; zog dem Fußkissen Miß Ophelias Nachtkleider an und führte verschiedene theatralische Darstellungen mit dieser Puppe auf; sang und pfiff und schnitt sich Gesichter im Spiegel; mit einem Worte, sie führte eine wahre Teufelskomödie auf.

Einmal fand Miss Ophelia Topsy mit ihrem besten scharlachroten, chinesischen Kreppschal als Turban um den Kopf gebunden vor dem Spiegel stehen, wo sie im großen Staat ihre Rolle einstudierte; denn Miss Ophelia hatte mit einer bei ihr unerhörten Sorglosigkeit den Schlüssel zum Schranke stecken lassen.

»Topsy!« pflegte sie zu sagen, wenn ihre Geduld zu Ende ging. »Weshalb machst du das nur?«

»Weiß nicht, Missis – ich glaube, weil ich so schlecht bin.«

»Ich weiß nicht, was ich mit dir anfangen soll, Topsy.«

»Ach, Missis, Sie müssen mich schlagen; meine alte Missis schlug mich stets. Ich bin nicht gewohnt zu arbeiten, wenn ich keine Schläge kriege.«

»Aber ich will dich nicht schlagen, Topsy. Du kannst dich gut aufführen, wenn du Lust dazu hast. Warum tust du’s nicht?«

»Ach, Missis, ich bin an Schläge gewöhnt; ich glaube, es muß wohl gut für mich sein.«

Miss Ophelia versuchte das Rezept, und Topsy machte stets einen schrecklichen Lärm und schrie und stöhnte und flehte, obgleich sie eine halbe Stunde später auf einer Ecke des Balkons sitzend gegen eine um sie versammelte Schar von der jungen Brut sich höchst verächtlich über die ganze Sache aussprach.

»Ach Miss Feely und peitschen! – Die kann keine Fliege totschlagen. Sollte sehen, wie alter Master das Fleisch in Fetzen davonfliegen machte; alter Master wusste, wie!«

Topsy war stets sehr stolz auf ihre Sünden und Missetaten, die sie offenbar als etwas ganz besonders Auszeichnendes betrachtete.

»Nun, ihr Nigger«, sagte sie zu ihren Zuhörern, »wisst ihr nicht, dass ihr alle Sünder seid? Ja, ihr seid Sünder, ohne alle Ausnahme. Die Weißen sind auch Sünder – Miss Feely sagt’s; aber ich glaube, Nigger sind die größten aber ach, mit mir könnt ihr’s nicht aufnehmen. Ich bin so schrecklich schlecht, daß niemand mit mir was anfangen kann. Alte Missis mußte immer den halben Tag über mich fluchen. Ich glaube, ich bin das schlechteste Geschöpf der Welt«, und Topsy schlug ein Rad und hockte munter und glänzend auf einen noch höheren Sitz und war offenbar stolz auf die Auszeichnung.

Sonntags war Miss Ophelia sehr eifrig bemüht, Topsy den Katechismus zu lehren. Topsy hatte ein ungewöhnlich gutes Wortgedächtnis und lernte mit einer Schnelligkeit, welche ihre Lehrerin sehr ermutigte.

»Was soll das ihr nützen?« sagte St. Clare.

»Mein Gott, es hat Kindern immer genützt. Alle Kinder müssen das lernen, das weißt du ja selbst«, sagte Miss Ophelia.

»Mögen sie es verstehen oder nicht?« sagte St. Clare.

»Oh, Kinder verstehen es nie, wenn sie es lernen; aber später, wenn sie groß werden, sehen sie es schon ein.«

»Bei mir ist das Verständnis noch nicht gekommen, obgleich ich bezeugen kann, daß du mir es gründlich gelehrt hast.«

»Ach, du zeigtest immer einen guten Kopf, Augustin. Ich setzte damals große Hoffnungen auf dich«, sagte Miß Ophelia.

»Nun, und jetzt nicht mehr?« sagte St. Clare.

»Ich wollte, du wärst so gut, wie du als Knabe warst, Augustin.«

»Das wünsche ich auch, Kusine«, sagte St. Clare. »Nun fang nur an und katechisiere Topsy, vielleicht machst du noch etwas aus ihr.«

Topsy, die während dieses Gesprächs wie eine schwarze Statue mit frommgefalteten Händen dagestanden hatte, begann jetzt auf ein Zeichen Miß Ophelias: »Unsere ersten Eltern, da ihnen ihr freier Wille gelassen war, verloren das Paradies, für das sie geschaffen waren.« Topsys Augen funkelten und sahen ihre Lehrerin fragend an.

»Was gibt’s, Topsy?« sagte Miss Ophelia.

»Ach, Missis, war das Paradies Kentucky?«

»Was für ein Paradies, Topsy?«

»Das Paradies, das ihnen verlorenging. Ich hörte immer Master erzählen, wir wären von Kentucky gekommen.«

St. Clare lachte.

»Du wirst ihr eine Erklärung geben müssen, oder sie macht sich eine«, sagte er. »Sie scheint mir da eine Theorie der Auswanderungen aufzustellen.«

»Ach Augustin, sei still«, sagte Miss Ophelia. »Wie kann ich etwas machen, wenn du beständig lachst?«

»Na, ich will dich nicht weiter stören, auf Ehre«, und St. Clare nahm die Zeitung und setzte sich hin, bis Topsy mit ihrem Hersagen fertig war. Sie bestand recht gut, nur daß sie manchmal einige wichtige Worte ganz wunderlich versetzte und sich auch nicht eines besseren belehren ließ; und St. Clare hatte trotz aller seiner Versprechungen eine boshafte Freude über diese Irrtümer, rief Topsy stets zu sich, wenn er sich einen Spaß machen wollte, und ließ sich von ihr trotz Ophelias Abmahnungen die verdrehte Stelle wiederholen.

»Denkst du denn, ich kann etwas mit dem Kinde ausrichten, wenn du dich auf diese Weise benimmst, Augustin?« pflegte sie zu sagen.

»Du hast recht, es ist zu schlecht, und ich will es nicht wieder tun; aber es macht mir Spaß, die drollige Kleine über diese schweren langen Worte stolpern zu hören.«

»Aber du bestärkst sie nur auf dem falschen Wege!«

»Was schadet das? Ein Wort gilt ihr soviel wie das andere.«

»Du hast mir aufgetragen, ihr den rechten Weg zu zeigen; und du solltest nicht vergessen, daß sie ein vernünftiges Geschöpf ist, und Sorge tragen, daß du keinen schlimmen Einfluß auf sie ausübst.«

»Ja freilich sollte ich das, aber wie Topsy selbst sagt: Ich bin schlecht.«

Auf ziemlich gleiche Weise ging Topsys Erziehung ein oder zwei Jahre lang ihren Gang, und Miß Ophelia quälte sich mit ihr Tag für Tag ab, wie mit einer Art chronischer Krankheit, an deren Schmerzen sie sich mit der Zeit so gewöhnte wie manche Leute an nervösen Glieder- oder Kopfschmerz.

St. Clare machte die Kleine denselben Spaß, wie anderen die Spielereien eines Papageis oder eines Hündchens machen. Wenn Topsy durch ihre Sünden anderwärts in Ungnade fiel, flüchtete sie sich hinter seinen Stuhl, und St. Clare glich für sie stets in einer oder der anderen Weise die Sache aus. Von ihm bekam sie manchen Picayune, für den sie Nüsse oder Kandiszucker kaufte, welche sie mit sorgloser Freigebigkeit unter alle Kinder des Hauses verteilte, denn man mußte Topsy lassen, sie war gutmütig und freigebig und nur boshaft aus Notwehr.

18. Kapitel


Henrique

Um diese Zeit besuchte St. Clares Bruder, Alfred, mit seinem ältesten Sohne, einem Knaben von 12 Jahren, auf ein paar Tage die Familie, die sich während der Sommermonate in der Villa am See Pontchartrain aufhielt.

Es konnte keinen eigentümlicheren und schöneren Anblick geben als diese beiden Zwillingsbrüder. Anstatt Ähnlichkeiten zwischen ihnen zu erschaffen, hatte die Natur sie in jeder Hinsicht zu Gegensätzen gemacht; und doch schien ein geheimnisvolles Band sie zu einer ungewöhnlich innigen Freundschaft zu vereinigen. Sie pflegten Arm in Arm in den Alleen und Gängen des Gartens spazierenzugehen: Augustin mit den blauen Augen und dem goldenen Haar, der ätherisch geschmeidigen Gestalt und lebendigen Zügen und Alfred mit den schwarzen Augen, mit stolzem römischen Profil, den kräftigen Gliedern und dem entschiedenen Wesen. Jeder schimpfte stets über des andern Meinungen und Treiben und konnte sich doch nicht von seiner Gesellschaft losmachen; gerade die Gegensätze in ihrem Charakter schienen sie zu vereinigen.

Henrique, der älteste Sohn Alfreds, war ein herrlicher Knabe mit schwarzen Augen voll Feuer und Leben und schien von dem ersten Augenblick an von der durchgeistigten Anmut seiner Cousine Evangeline ganz bezaubert zu sein.

Eva besaß ein kleines Lieblingspony von schneeweißer Farbe. Es ging so leicht wie eine Wiege und war so sanft wie seine kleine Herrin; und dieses Pony führte jetzt Tom an der Veranda der Rückseite vor, während ein kleiner Mulattenknabe von ungefähr 13 Jahren einen kleinen, schwarzen Araber brachte, den Alfred eben erst mit großen Kosten für Henrique hatte aus Europa kommen lassen.

Henrique hing mit dem Stolz eines Knaben an seinem neuen Eigentum; und wie er an das Pferd trat und dem kleinen Reitknecht die Zügel aus der Hand nahm, musterte er es sorgfältig, und seine Stirn verfinsterte sich.

»Was ist das, Dodo, du fauler Schelm! Du hast heute früh mein Pferd nicht rein gemacht.«

»Ja, Master«, sagte Dodo unterwürfig, »den Staub hat es von selber bekommen.«

»Schlingel, halt’s Maul«, sagte Henrique und erhob heftig die Reitpeitsche. »Wie kannst du zu sprechen wagen?«

Der Knabe war ein hübscher Mulatte mit hellen Augen, gerade so groß wie Henrique, und sein Lockenhaar beschattete eine hohe, kühne Stirn. Er hatte weißes Blut in den Adern, wie man an dem raschen Erröten seiner Wange und dem Funkeln seines Auges, wie er dringend zu sprechen verlangte, sehen konnte.

»Master Henrique! –« fing er an.

Henrique schlug ihn mit der Reitpeitsche über das Gesicht, packte ihn bei dem einen Arme, drückte ihn auf die Knie nieder und prügelte ihn, bis er außer Atem war.

»So, du unverschämter Schlingel! Wirst du nun lernen, mir nicht zu widersprechen, wenn ich mit dir rede? Führe das Pferd zurück in den Stall und mache es ordentlich rein. Ich will dir zeigen, wohin du gehörst!«

»Junger Herr«, sagte Tom, »ich glaube, er wollte sagen, daß das Pferd sich gewälzt hat, wie er es aus dem Stalle brachte; es ist so feurig – und so ist es schmutzig geworden; ich habe selber das Reinemachen besorgt.«

»Schweig, bis man dich fragt!« sagte Henrique, kehrte ihm den Rücken und ging die Stufen hinauf, um mit Eva zu sprechen, die in ihrem Reitkleide auf ihn wartete.

»Liebe Cousine, es tut mir leid, daß du durch dieses dummen Kerls Schuld hast warten müssen«, sagte er. »Wir wollen uns hier auf die Bank setzen, bis sie wiederkommen. Was hast du denn, Cousine? – Du machst ein so ernstes Gesicht.«

»Wie konntest du gegen den armen Dodo so grausam und schlecht sein?« sagte Eva.

»Grausam – schlecht?« sagte der Knabe mit unverstelltem Erstaunen. »Was meinst du damit, liebe Eva?«

»Ich leide nicht, daß du mich liebe Eva nennst, wenn du es so machst«, sagte Eva.

»Liebe Cousine, du kennst Dodo nicht; man kann bloß auf diese Weise mit ihm auskommen, er ist so voller Lügen und Entschuldigungen. Das einzige Mittel ist, ihn gleich niederzuschmettern – ihn nicht den Mund auftun zu lassen, so macht es Papa.«

»Aber Onkel Tom sagt, es sei ein Zufall, und er sagt nie, was nicht wahr ist.«

»Dann ist er ein rarer, alter Nigger!« sagte Henrique. »Dodo lügt mit jedem Worte, das aus seinem Munde kommt.«

»Du schüchterst ihn so ein, daß er lügt, wenn du ihn so behandelst.«

»Was, Eva, du nimmst ja an Dodo ein solches Interesse, daß ich fast eifersüchtig werden könnte.«

»Aber du hast ihn geschlagen, und er verdiente es nicht.«

»Na, dann hält es vor, bis er es verdient und keine Schläge bekommt. Ein paar Hiebe sind bei Dodo nie umsonst – er ist ein wahrer Teufel, sage ich dir; aber ich will ihn nicht wieder in deiner Anwesenheit schlagen, wenn du es nicht gern siehst.«

Eva war noch nicht befriedigt, aber versuchte es vergeblich, ihrem schönen Cousin ihre Empfindungen begreiflich zu machen.

Dodo kehrte bald mit dem Pferde zurück.

»Nun, diesmal hast du es ziemlich gut gemacht, Dodo«, sagte sein Herr mit einer gnädigen Miene. »Komm und halte Miß Evas Pferd, während ich sie in den Sattel hebe.«

Dodo kam und hielt Evas Pony. Sein Gesicht sah bewegt aus; an den Augen bemerkte man, daß er geweint hatte.

Henrique, der sich auf seine Gewandtheit in allen Sachen der Galanterie viel einbildete, hatte bald seine schöne Cousine in den Sattel gehoben und gab ihr nun die Zügel in die Hand.

Aber Eva neigte sich auf die andere Seite des Pferdes, wo Dodo stand, und sagte zu ihm, als er die Zügel losließ: – »Gut gemacht, Dodo! – Ich danke dir!«

Dodo blickte ganz erstaunt zu dem lieblichen jungen Gesicht empor; das Blut schoß ihm in die Wangen und die Tränen in die Augen.

»Hier, Dodo!« sagte sein Herr gebieterisch.

Dodo sprang hinzu und hielt das Pferd, während sein Herr aufstieg.

»Hier hast du eine Picayune, Dodo, kauf dir Kandis dafür«, sagte Henrique.

Und Henrique galoppierte den Gang hinab, hinter Eva her. Dodo blieb stehen und sah den beiden Kindern nach. Das eine hatte ihm Geld gegeben; und das andere etwas, wonach er viel mehr verlangte – ein freundliches Wort in freundlichem Tone gesprochen. Dodo war erst seit wenigen Monaten von seiner Mutter getrennt. Sein Herr hatte ihn in einer Sklavenauktion wegen seines schönen Gesichts als Zugabe zu dem schönen Pony gekauft; und er erhielt jetzt seine Erziehung von den Händen seines jungen Herrn.

Die beiden Brüder St. Clare hatten von einem anderen Teile des Gartens aus das Prügeln mit angesehen.

Augustins Wange rötete sich, aber er bemerkte nur mit seinem gewöhnlich ruhig sarkastischen Tone: »Das könnten wir wohl republikanische Erziehung nennen, Alfred.«

»Henrique ist ein Teufelskerl, wenn sein Blut warm wird«, sagte Alfred leichthin.

»Ich vermute, du betrachtest das als eine ihn belehrende Übung«, sagte Augustin trocken.

»Ich könnte nichts dagegen tun, wenn ich’s nicht täte. Henrique hat ein stürmisches Temperament, das sich gar nicht beherrschen läßt – seine Mutter und ich haben das längst aufgegeben. Aber dieser Dodo ist auch ein wahrer Kobold – und wenn man ihn noch soviel prügelt, es tut ihm nichts.«

»Und damit lernt Henrique den ersten Vers des Republikanerkatechismus: ›Alle Menschen sind frei und gleich geboren!‹«

»Bah!« sagte Alfred. »Das ist so ein Stück von Tom Jeffersons französischer Sentimentalität und Phrasenhaftigkeit. Es ist geradezu lächerlich, das jeden Tag von Mund zu Mund gehen zu hören.«

»Das glaube ich auch«, sagte St. Clare bedeutungsvoll.

»Weil wir deutlich sehen können«, sagte Alfred, »daß nicht alle Menschen frei und gleich geboren sind; sie sind eher alles andere geboren. Ich für meinen Teil halte die Hälfte von dieser republikanischen Rederei für reinen Schwindel. Bloß die Erzogenen, die Intelligenten, die Reichen, die Gebildeten sollten gleiche Rechte haben, nicht die Kanaille.«

»Wenn du die Kanaille bei dieser Meinung erhalten kannst«, sagte Augustin. »In Frankreich kam einmal die Reihe an sie.«

»Natürlich muß man sie unten halten, konsequent und fest, wie ich’s tun würde«, sagte Alfred und setzte den Fuß fest auf den Boden, als ob er auf etwas stände.

»Es gibt einen schrecklichen Sturz, wenn sie sich erheben«, sagte Augustin, »– zum Beispiel in St. Domingo.«

»Bah!« sagte Alfred. »Das wollen wir schon hierzulande verhüten. Wir müssen uns nur gegen dieses Geschwätz von Erziehen und Erheben wahren, das man jetzt im Lande herumträgt; die untere Klasse darf nicht erzogen werden.«

»Das läßt sich nicht mehr hindern«, sagte Augustin. »Erziehung wollen sie haben, und es fragt sich nur noch wie. Unser System erzieht sie in Barbarei und Roheit. Wir zerreißen alle humanisierenden Bande und machen sie zu rohen Bestien; und wenn sie die Oberhand bekommen, werden sie sich als solche zeigen.«

Alfred sagte:

»Sie sollen nie die Oberhand bekommen.«

»Das ist recht«, sagte St. Clare. »Nimm doppelte Dampfkraft, nagele das Sicherheitsventil zu und setze dich drauf und sieh zu, wo du landen wirst.«

»Nun, wir werden ja sehen«, sagte Alfred. »Ich fürchte mich nicht, mich auf das Sicherheitsventil zu setzen, solange der Dampfkessel stark und die Maschinerie in Ordnung ist.«

»Der Adel unter Ludwig XVI. dachte geradeso; und Österreich und Pius IX. denken heute noch so; und an einem schönen Morgen könnt ihr alle in die Höhe fliegen, um euch in der Luft zu begegnen, wenn die Kessel springen.«

»Dies declarabit«, sagte Alfred lachend.

»Ich sage dir«, sagte Augustin, »wenn sich etwas mit der Macht eines göttlichen Gesetzes in unserer Zeit offenbart, so ist es die Prophezeiung, daß sich die Massen erheben und die unteren Klassen die oberen werden sollen.«

»Das ist eine von deinen republikanischen Redereien, Augustin! Warum bist du nie als Agitator aufgetreten? Du müßtest einen vortrefflichen Volksversammlungsredner abgeben! Nun, ich hoffe, ich bin tot, ehe das tausendjährige Reich deiner schmierigen Massen anfängt.«

»Schmierig oder nicht schmierig, sie werden euch beherrschen, wenn ihre Zeit kommt«, sagte Augustin; »und sie werden gerade solche Herrscher sein, wie ihr aus ihnen macht. Der französische Adel wollte das Volk sansculottes haben, und sie hatten ihre Sanscülottherrscher nach Herzensgründen. Die Haytier –«

»Ach laß, Augustin, als ob wir von diesem abscheulichen, verächtlichen Hayti nicht schon gehört hätten! Die Haytier waren keine Angelsachsen; wenn sie das gewesen wären, würde die Geschichte wohl anders lauten. Die angelsächsische Rasse ist der herrschende Stamm der Welt und ist bestimmt, es zu bleiben.«

»Nun, bei unseren Sklaven findet sich eine ziemlich starke Beimischung des angelsächsischen Blutes«, sagte Augustin. »Viele von ihnen haben nur noch so viel vom Afrikaner, daß unsere berechnete Festigkeit und Voraussicht eine Art tropischer Wärme und Leidenschaft bekommt. Wenn je die San-Domingo-Stunde schlägt, so wird angelsächsisches Blut in erster Reihe stehen. Söhne weißer Väter, in deren Adern unser ganzer Stolz brennt, werden sich nicht immer kaufen und verkaufen lassen. Sie werden aufstehen und den Stamm ihrer Mutter mit sich zum Aufstand bewegen.«

»Dummes Zeug! – Unsinn!«

»Nun, wir haben ein altes Wort, welches sagt: Wie es in den Tagen Noah war, so soll es wieder sein; sie aßen, sie tranken, sie pflanzten, sie bauten und ahnten nichts, bis die Flut kam und sie hinwegriß.«

»Im ganzen, Augustin, glaube ich, du hast das rechte Talent für einen Wanderprediger. Mach dir keine Sorge um uns! Der Besitz ist unser Recht. Wir haben die Macht. Diese Sklavenrasse«, sagte er und trat fest auf den Boden, »ist unten und soll unten bleiben! Wir haben Energie genug, selbst unser Pulver zu hüten.«

»Söhne, die wie dein Henrique erzogen sind, werden prächtige Wächter über eure Pulvermagazine abgeben«, sagte Augustin, »so voll Ruhe und Selbstbeherrschung! Das Sprichwort sagt: Wer sich nicht selbst beherrschen kann, kann auch nicht über andere herrschen.«

»Es ist da ein wunder Fleck«, sagte Alfred gedankenvoll, »leugnen läßt sich nicht, daß bei unserem System die Kinder sehr schwer zu erziehen sind. Es gibt den Leidenschaften, die in unserem Klima ohnedies schon heftig genug sind, viel zu viel Spielraum. Was macht mir der Henrique für Sorge! Der Knabe hat ein edles und warmes Herz, aber er ist ein wahrer Sprühteufel, wenn er in Aufregung kommt. Ich glaube, ich werde ihn nach dem Norden auf die Schule schicken, wo der Gehorsam mehr Mode ist und wo er sich mehr mit seinesgleichen und weniger mit Dienstboten abgibt.«

»Da das Kindererziehen die Hauptarbeit des Menschengeschlechts ist«, sagte Augustin, »so sollte ich meinen, es wäre von Wichtigkeit, wenn unser System einen nachteiligen Einfluß darauf hat.«

»Nun, auf der einen Seite«, sagte Alfred, »auf der anderen Vorteil. Die Knaben werden dadurch mannhaft und mutvoll; und selbst die Laster einer niederen Rasse tragen dazu bei, die entgegengesetzten Tugenden in ihnen zu kräftigen. Ich glaube zum Beispiel, daß Henrique ein feineres Gefühl für die Schönheit der Wahrheit hat, weil er im Lügen und Betrügen das allgemeine Merkmal der Sklaverei sieht.«

»Allerdings eine sehr christliche Ansicht von der Sache!« sagte Augustin.

»Sie ist wahr, mag sie christlich sein oder nicht; und sie ist ziemlich christlich, wie die meisten andern Sachen in der Welt«, sagte Alfred.

»Das mag sein«, sagte St. Clare.

»Na, was hilft das Reden, Augustin. Ich glaube, wir haben dieselbe Sache schon fünfhundertmal besprochen. Was meinst du zu einer Partie Trictrac?«

Die beiden Brüder gingen die Verandastufen hinauf und saßen bald an einem leichten Bambustisch vor einem Brettspiel. Wie sie ihre Steine aufsetzten, sagte Alfred:

»Das muß ich gestehen, Augustin, wenn ich so wie du dächte, würde ich etwas tun.«

»Das glaube ich wohl – du bist einer von den Leuten, die was tun! Aber was?«

»Nun, deinen Dienstboten eine höhere Stellung geben, als Beispiel«, sagte Alfred mit einem halbspöttischen Lächeln.

»Du könntest ebensogut den Berg Ätna über sie setzen und ihnen heißen, darunter aufzustehen, als mir zu heißen, ich soll meinen Dienstboten unter der ganzen auf ihnen lastenden Masse der Gesellschaft eine höhere Stellung geben. Ein einzelner kann nichts gegen die Gesamttätigkeit der Allgemeinheit ausrichten. Wenn Erziehung etwas bewirken soll, so muß sie eine Staatseinrichtung sein, oder es müssen genug darüber einig sein, um die andern mit fortzureißen.«

»Du wirfst an«, sagte Alfred, und die Brüder waren bald ganz vom Spiele in Anspruch genommen und hörten nichts mehr, bis man die Pferde unter der Veranda trampeln hörte.

»Da kommen die Kinder«, sagte Augustin und stand auf. »Sieh einmal her, Alfred! Hast du jemals etwas so Schönes gesehen?« Und es war in der Tat ein schöner Anblick. Henrique mit seiner kühnen Stirn und den dunklen glänzenden Locken und glühenden Wangen lachte fröhlich, wie er sich zu seiner schönen Cousine hinüberbeugte, während sie angeritten kamen. Sie trug ein blaues Reitkleid mit einer Mütze von derselben Farbe. Die Bewegung hatte ihre Wangen lebhafter gefärbt und hob die Wirkungen ihrer merkwürdig durchsichtigen Haut und ihres goldenen Haares noch mehr hervor.

»O Himmel! Welch blendende Schönheit«, sagte Alfred. »Meinst du nicht auch, Augustin, daß sie mit der Zeit viel Herzweh verursachen wird?«

»Gewiß, nur zu wahr – Gott weiß es, ich fürchte es!« sagte St. Clare mit einem Tone plötzlicher Bitterkeit, wie er hinuntereilte, um sie vom Pferde zu heben.

»Liebste Eva! Bist du erschöpft?« fragte er, da sie seit einiger Zeit an Husten und Schwäche litt.

»Nein, Papa«, sagte das Kind, aber ihr kurzes keuchendes Atmen beunruhigte den Vater.

»Wie konntest du so schnell reiten, liebstes Kind? Du weißt, es taugt dir nichts.«

»Ich fühlte mich so wohl, Papa, und es gefiel mir so sehr, daß ich gar nicht daran dachte.«

St. Clare trug sie in seinen Armen in die Stube und legte sie aufs Sofa.

»Henrique, du mußt Eva in acht nehmen«, sagte er. »Du darfst nicht so schnell mit ihr reiten.«

»Ich will sie unter meine Obhut nehmen«, sagte Henrique mit einem fürsorglichen Ton in seiner Stimme, nahm neben dem Sofa Platz und ergriff Evas Hand.

Eva hatte sich bald erholt. Ihr Vater und Onkel begannen wieder ihr Spiel, und die Kinder waren sich allein überlassen.

»Weißt du, Eva, daß es mir sehr leid tut, daß Papa nur zwei Tage hierbleiben will – und dann soll ich dich so lange Zeit gar nicht sehen! Wenn ich bei dir bliebe, würde ich versuchen gut zu sein und freundlich gegen Dodo. Ich habe gar nicht die Absicht, Dodo schlecht zu behandeln; aber du weißt, ich bin so hitzig von Natur. Übrigens behandle ich ihn eigentlich nicht so schlecht. Ich gebe ihm dann und wann eine Picayune, und er ist immer gut gekleidet, wie du siehst. Im ganzen glaube ich doch, daß sich Dodo ziemlich wohl befindet.«

»Was würdest du von deinem Befinden halten, wenn du niemand um dich hättest, der dich liebte?«

»Natürlich würde ich sagen, es ist schlecht.«

»Und du hast Dodo von allen Freunden, die er hatte, getrennt, und er hat nun kein Geschöpf, das ihn liebhat. Niemand kann unter solchen Verhältnissen gut sein.«

»Nun, ich kann nicht dafür, soviel ich’s verstehe. Ich kann ihm seine Mutter nicht schaffen, und ich selber kann ihn nicht lieben und ein anderer auch nicht, soviel ich weiß.«

»Warum kannst du ihn nicht lieben?« sagte Eva.

»Dodo lieben? Das wirst du doch nicht von mir verlangen! Gern haben mag ich ihn wohl, aber man hat doch seine Dienstboten nicht lieb.«

»Ich aber habe sie lieb.«

»Wie seltsam!«

»Sagt nicht die Bibel, daß wir alle Menschen lieben müssen!«

»Ach die Bibel! Gewiß steht vieles von der Art drin, aber niemand denkt daran, es zu tun, das weißt du ja Eva – niemand tut danach.«

Eva sprach nicht, sie schaute eine Weile gedankenvoll vor sich hin.

»Jedenfalls, lieber Cousin«, sagte sie, »habe den armen Dodo lieb. Und sei freundlich mit ihm um meinetwillen.«

»Um deinetwillen, liebe Cousine, könnte ich alles liebhaben, denn ich glaube wirklich, du bist das liebenswürdigste Wesen auf der Welt!« Und Henrique sprach mit einer Innigkeit, welche sein schönes Gesicht erröten machte. Eva nahm das Kompliment mit vollkommener Einfachheit auf, ohne eine Miene zu verziehen, und sagte bloß: »Es freut mich, daß du so denkst, lieber Henrique! Ich hoffe, du wirst es nicht vergessen.«