Kapitel 12.

Kapitel 12.

»Ich habe wieder Mut gefaßt,« sprach E. 23, unter dem Schutz des Treibens auf dem Bahnsteig. »Hunger und Angst verwirrten mich, sonst hätte ich an solche Rettung denken müssen. Ich hatte Recht. Sie sind auf der Jagd nach mir. Du hast mein Leben gerettet.«

Ein Trupp gelb behoster punjabischer Polizisten unter Führung eines schwitzenden, hastigen jungen Engländers, teilte die um die Wagen sich drängende Menge. Hinterher schritt bedächtig, unauffällig wie eine Katze, eine kleine, fette Person, die aussah, wie ein Advokaten-Schreiber.

»Schau, der junge Sahib liest von dem Papier ab. Meine Personal-Beschreibung ist in seiner Hand,« sagte E. 23. »Sie gehen von Wagen zu Wagen wie Fischer, die einen Teich mit dem Netz ausfischen.«

Als die Prozession ihre Abteilung erreichte, zählte E. 23. seine Perlen mit beständigem Schaukeln seines Oberkörpers, während Kim ihn verspottete, daß er in der Trunkenheil seine geringelte Feuerzange, das Abzeichen des Saddhu, verloren habe. Der Lama, tief in Betrachtung versunken, starrte vor sich hin und der Bauer, verstohlen blinzelnd, suchte seine Sachen zusammen.

»Nichts hier als ein Haufen heiliger Bagage,« sagte der Engländer mit lauter Stimme und schritt weiter unter einem unzufriedenen Gemurmel; denn eingeborene Polizei bedeutet für den Eingeborenen Erpressung.

»Die Schwierigkeit nun,« flüsterte E. 23, »liegt darin, eine Drahtung zu senden, um den Ort anzugeben, wo ich den Brief, den zu finden ich ausgeschickt wurde, verborgen habe. In dieser Verkleidung kann ich nicht auf das Telegraphenamt gehen.«

»Ist es nicht genug, daß ich Deinen Kopf gerettet habe?«

»Nicht wenn die Arbeit unvollendet bleibt. Hat der Arzt kranker Perlen Dir niemals so gesprochen? Da kommt ein anderer Sahib! Ah!«

Dies war ein ziemlich großer Distrikt-Polizei-Inspektor, von gelblicher Gesichtsfarbe – begürtet, behelmt, mit blanken Sporen und allem sonstigen Zubehör, der seinen dunklen Schnurrbart zwirbelte. »Was für Narren sind diese Sahibs von der Polizei!« sagte Kim belustigt.

E. 23. blickte flüchtig unter seinen Lidern hervor. »Gut bemerkt,« murmelte er mit gänzlich veränderter Stimme. »Ich will einmal Wasser trinken. Bewahre mir meinen Platz auf.«

Er stolperte hinaus, dem Engländer fast in die Arme und wurde in plumpem Urdu deshalb ausgescholten.

»Tum mut? Bist Du betrunken? Du mußt nicht um Dich stoßen, als gehörte die Delhi-Station Dir allein, mein Freund.«

E. 23., ohne eine Miene zu verziehen, antwortete mit einem Strom der schmutzigsten Schimpfwörter, was Kim natürlicher Weise sehr belustigte, es erinnerte ihn an die Trommlerjungen und Barackenfeger in Umballa in der schrecklichen Zeit seines ersten Schulunterrichts.

»Mein gutes Närrchen, Mickle – jao!« kauderwelschte der Engländer. »Geh zurück in Deinen Wagen.« Schritt für Schritt, ehrerbietig rückwärts gehend, kletterte der gelbe Saddhu in seinen Wagen und mit gedämpfter Stimme verfluchte er den Polizei-Inspektor bis in die fernste Nachkommenschaft, fluchte beim Stein der Königin – hier sprang Kim beinahe empor – fluchte bei dem Schreiben unter dem Königin-Stein und bei einer Sammlung von Göttern von ganz fremden Namen.

»Ich verstehe nicht, was Du sagst,« – der Engländer wurde rot vor Zorn – »aber es muß ein Stück der verdammtesten Frechheit sein. Marsch da, heraus mit Dir!«

E. 23. schien nicht zu verstehen und zeigte mit ernster Miene seine Fahrkarte vor, die der Engländer ihm ärgerlich aus der Hand riß.

»Oh, zoolum! Welche Gewalttätigkeit!« grollte der Jat aus seinem Winkel. »Noch dazu für so einen kleinen Spaß.« Er hatte bei des Saddhus Zungenfertigkeit gelächelt. »Deine Zaubermittel tun heute keine gute Wirkung, Heiliger.«

Der Saddhu folgte dem Mann von der Polizei, bittend und schmeichelnd. Der große Haufe der Reisenden, mit Bündeln und Kindern beschäftigt, hatte diesen Vorfall nicht beachtet. Kim schlüpfte hinter dem Saddhu hinaus, denn es war ihm durch den Kopf geschossen, daß er vor drei Jahren, nahe bei Umballa, Zeuge war, wie dieser selbe dumme jähzornige Sahib derbe Anzüglichkeiten gegen eine alte Dame vorbrachte.

»Nun ist’s gut,« flüsterte der Saddhu Kim zu, eingeklemmt in dem rufenden, schreienden Gedränge, einen persischen Windhund vor seinen Füßen und einen Käfig voll kreischender Falken, in Obhut eines Rajput-Falkoniers, im Rücken. »Jetzt ist er hin, um Nachricht über den Brief zu geben, den ich verbarg. Man sagte mir, er wäre in Peshawur. Ich hätte aber wissen können, daß er – wie das Krokodil – immer in einer anderen Furt ist, als wo man ihn sucht. Aus der augenblicklichen Gefahr hat er mich gerettet, aber mein Leben danke ich Dir.«

»Ist er denn auch einer von Uns?« Kim duckte sich durch unter der fettigen Armhöhle eines Kameltreibers von Mewar und prallte gegen einen Trupp schwatzender Sikh-Matronen.

»Nicht weniger als der Größte. Wir haben beide Glück. Ich werde ihm berichten, was Du getan hast. Ich bin sicher unter seinem Schutz.«

Er arbeitete sich durch das Gedränge, das die Wagen belagerte, hindurch und hockte sich nieder auf der Bank, nahe dem Telegraphen-Büro.

»Gehe zurück, damit Dein Platz Dir nicht genommen wird! Trage keine Sorge um das Werk, Bruder, oder um mein Leben. Du hast mir Zeit zum Aufatmen verschafft, und Strickland Sahib hat mich an Land gezogen. Wir werden noch zusammen in dem Spiel arbeiten. Fahrwohl!«

Kim eilte nach seinem Magen, verwirrt, wie trunken. Es wurmte ihn, daß ihm der Schlüssel zu den Geheimnissen um ihn her fehlte.

»Ich bin nur ein Anfänger in dem Spiel, das ist sicher,« flüsterte er, seinen Sitz in dem gedrängt vollen Abteil einnehmend. »Ich hätte mich nicht in Sicherheit bringen können, wie der Saddhu tat. Er wußte, daß es am dunkelsten unter der Lampe ist. Ich hätte nicht daran gedacht, unter Flüchen Enthüllungen zu machen … und wie geschickt war der Sahib! Aber dennoch … ich habe einem das Leben gerettet … wo ist der Kamboh geblieben, Heiliger?«

»Eine Furcht packte ihn,« erwiderte der Lama, mit einem Hauch von sanfter Malize. »Er sah Dich in einem Augenblinzeln den Mahratta zu einem Saddhu umwandeln, um ihn vor Unheil zu schützen. Das erschreckte ihn. Dann sah er den Saddhu geradezu in die Hände der Polizei fallen – alles Wirkung Deiner Kunst. Da raffte er seinen Sohn auf und floh, denn, sagte er, Du habest einen friedlichen Handelsmann in einen Schreihals verwandelt, der unflätige Reden den Sahibs gegenüber führte, und er fürchtete ein ähnliches Schicksal. Wo ist der Saddhu?«

»Bei der Polizei,« sagte Kim, «… aber ich rettete doch des Kambohs Kind.«

Der Lama schnupfte ruhig.

»Ach, Chela, sieh wie betört Du bist! Das Kind des Kamboh heiltest Du, um Verdienst zu erwerben. Bei dem Mahratta aber wandtest Du Zauberworte an, mit stolzem Tun – ich beobachtete Dich – und ließest Deine Blicke seitwärts schweifen, um einen alten Mann und einen törichten Bauer in Erstaunen zu setzen, daher Angst und Argwohn.«

Kim beherrschte sich mit einer Anstrengung über sein Alter hinaus. Wie jeden jungen Burschen, verdroß es ihn, gescholten oder falsch beurteilt zu werden; er befand sich aber jetzt in einer Klemme. Der Zug rollte aus Delhi in die Nacht hinein.

»Gewiß ist,« murmelte er, »daß ich Unrecht tat, wenn ich Dich gekränkt habe.«

»Es ist mehr, Chela. Du hast eine Tat in die Welt entsendet, und wie die Kreise eines in den Teich geworfenen Steines sich weiter und weiter verbreiten, so die Folgen Deiner Tat, Du kannst nicht wissen, wie weit.«

Dies nicht zu wissen war gut für Kims Eitelkeit wie für des Lamas Seelenfrieden, wenn wir bedenken, daß eben in Simla eine abgekürzte Drahtung die Ankunft von E. 23. zu Delhi meldete und was noch wichtiger: den Verbleib eines Briefes den zu – entwenden E. 23 beauftragt war. Zufällig hatte auch gerade ein übereifriger Polizist einen höchst ergrimmten Baumwoll-Makler aus Ajmir, unter Beschuldigung eines in einem fernen südlichen Staat begangenen Mordes, verhaftet, der sich auf dem Bahnsteig in Delhi vor einem Mr. Strickland verteidigte, indes E. 23. auf Seitenwegen dahintrollle, bis in das verschlossene Herz der Stadt Delhi. Innerhalb zweier Stunden erreichten mehrere Telegramme den zornigen Minister eines südlichen Staates, die meldeten, daß jede Spur eines verwundeten Mahratta verloren sei; und zur selben Zeit, als der gemächlich fahrende Zug bei Saharunpore hielt, schlug die letzte Bewegung des Steines, den Kim geworfen, gegen die Stufen einer Moschee im fernen Roum – wo sie einen frommen Mann im Gebet störte.

Der Lama verrichtete das seine in umständlicher Weise neben einem taufeuchten Obstspalier nahe dem Bahnsteig, beglückt durch den klaren Sonnenschein und die Gegenwart seines Schülers. »Wir wollen diese Dinge hinter uns lassen,« sprach er, auf die eherne Maschine und die glitzernden Schienen weisend. »Das Rütteln des Zuges, obwohl er ein wundervolles Ding ist, hat meine Knochen zu Wasser gemacht. Von jetzt an wollen wir freie Luft versuchen.«

»Laß uns nach dem Haufe der Kulu-Frau gehen.«

Kim schritt heiter aus unter seinen Bündeln. Am frühen Morgen ist der Weg nach Saharunpore rein und duftig. Er gedachte der Morgen zu St. Xavier, und dies verdoppelte sein schon dreifach verdoppeltes Vergnügen.

»Woher denn diese frische Hast? Verständige Menschen laufen nicht wie junge Hühnchen in der Sonne herum. Wir haben Hunderte und Hunderte von Kos gemacht, und bis jetzt war ich kaum einen Augenblick mit Dir allein. Wie kannst Du Belehrung empfangen im wüsten Gedränge? Wie ich, überschwemmt von Flut von Worten, über den Weg meditieren?«

»Ihre Zunge ist also nicht kürzer geworden mit den Jahren?« Der Schüler lächelte.

»So wenig wie ihre Begier nach Zaubermitteln. Ich entsinne mich, als ich einst von dem Rad des Lebens redete« – der Lama tappte auf seiner Brust herum nach der letzten Kopie – »da fragte sie nur nach den Teufeln, die Kinder belagern. Sie soll Verdienst erwerben, indem sie für unsern Unterhalt sorgt – in einer kurzen Weile – bei späterer Gelegenheit – langsam, langsam. Jetzt wollen wir gemächlich wandern und achten auf die Kette der Dinge. Die Suche ist sicher.«

So wanderten sie mit Muße unter und zwischen den blütevollen Fruchtgärten – auf der Straße von Aminabad, Sahaigunge, Akrola bei der Furt und Klein-Phulesa – die Linie der Sewaliks im Norden und hinter ihnen wieder die Schneegipfel.

Nach langem, süßem Schlaf unter den glänzenden Sternen folgte die herrliche, ruhige Wanderung durch erwachende Dörfer; die Bettelschale wurde schweigend vorgehalten, die Blicke aber schweiften, trotz des Gesetzes, nach dem Himmelsgewölbe oben.

Dann wieder fand Kim seinen Meister unter einem Mango oder im leichteren Schatten eines weißen Doon (Gummibaum, Siris), und sie aßen und tranken in Ruhe. Am die Mittagsmahlzeit, nach kurzen Wanderungen und Gesprächen, schliefen sie und traten erfrischt, bei kühleren Lüften, wieder in die Welt. Die Nacht fand sie auf dem Wege in neues Gebiet, auf ein Dorf zugehend, das in der flachen Marsch weit hinaus sichtbar wurde.

Da erzählten sie ihre Geschichten – eine neue jeden Abend, soweit es Kim betraf – und da wurden sie willkommen geheißen von dem Priester oder dem Dorfältesten, nach dem Brauch des gastfreundlichen Ostens. Wenn die Schatten kürzer wurden und der Lama sich schwerer auf Kim stützte, wurde das Rad des Lebens hervorgeholt, unter rein abgewischten Steinen glatt gelegt und Kreis auf Kreis mit einem Strohhalm nachgewiesen. Zier saßen die Götter in der Höhe – und sie waren Träume von Träumen. Hier war unser Himmel und die Welt der Halbgötter – Reiter, die zwischen den Bergen kämpften. Hier waren die Torturen, den Tieren zugefügt – Seelen, welche die Leiter emporsteigen und niedersteigen, deren Wege man nicht durchkreuzen soll. Hier waren die Höllen, die heißen und die Kalten, der Aufenthalt der gequälten Geister. Möge der Chela studieren die Leiden, die aus Unmäßigkeit entstehen – geschwollener Magen und brennende Eingeweide. Gehorsam, mit gebeugtem Haupt und flinkem, braunem Finger dem Zeigenden folgend, studierte der Chela. Als sie aber an die Menschenwelt kamen, die geschäftig und nutzlos gerade über den Höllen ist, wurde seine Aufmerksamkeit abgelenkt, denn draußen am Wege drehte sich das Rad selbst, warm, lebendig, essend, trinkend, feilschend, heiratend, zankend. Oft nahm der Lama die lebenden Bilder zum Gegenstand seines Textes und forderte Kim auf, zu beachten, wie das Fleisch tausend und tausend Gestalten annimmt, begehrenswerte und verabscheuenswerte, nach Menschenschätzung, aber in Wahrheit nach beiden Richtungen nichts bedeutend? und wie der dumme Geist, sklavisch gebunden an Eber, Taube und Schlange, lüstern nach Betelnuß, einem neuen Joch Ochsen, nach Weibern und der Gunst der Könige, verurteilt ist, dem Körper zu folgen durch alle die Himmel und alle die Höllen und den Weg immer von neuem wieder zu machen. Zuweilen lauschte ein Mann oder eine Frau dem Ritual – es war nichts anderes – und warf, wenn die große, gelbe Karte ausgebreitet lag, eine Blume oder eine Hand voll Kouris (Zahlmuscheln) auf den Rand derselben. Es befriedigte diese Demütigen, einem Heiligen begegnet zu sein, der bewegt werden könnte, sie in sein Gebet einzuschließen.

»Heile sie, wenn sie krank find,« sprach der Lama, als Kims Tatendrang wieder erwachte. »Heile sie, wenn sie Fieber haben, aber niemals wende Zaubermittel an. Gedenke dessen, was den Mahratta befiel.«

»So wäre alles Tun vom Übel?« erwiderte Kim, unter einem großen Baum an der Kreuzung der Straße nach Doon liegend und den kleinen Ameisen zuschauend, die ihm über die Hand liefen.

»Sich der Tat zu enthalten, ist wohlgetan – ausgenommen, sie werde getan, um Verdienst zu erwerben.«

»Hinter den Toren des Wissens lehrte man uns, sich der Tat Zu enthalten, sei eines Sahib unwürdig.«

»Freund der ganzen Welt,« der Lama blickte Kim gerade ins Gesicht – »ich bin ein alter Mann, der sich an Bildern erfreut, wie Kinder tun. Für die, die dem Wege folgen, gibt es weder Schwarz noch Weiß, weder Hind noch Bhotiyal. Wir alle sind Seelen, die Erlösung suchen. Welche Weisheit Du auch bei den Sahibs erlernt haben magst – wenn wir meinen Strom erreichen, wirst Du von allem Wahn befreit werden – an meiner Seite. Hai! meine Knochen ächzen nach dem Strome, wie sie ächzten in dem Eisenbahnzug; aber mein Geist sitzt über den Knochen und wartet. Die Suche ist sicher.«

»Ich habe verstanden. Darf ich eine Frage stellen?«

Der Lama neigte sein stattliches Haupt.

»Drei Jahre lang habe ich Dein Brot gegessen – Du weißt es – Heiliger, woher kam –?«

»Es ist viel Reichtum, wie Menschen es nennen, in Bhotiyal,« erwiderte gelassen der Lama. »Daheim an meinem eigenen Platz genieße ich das Wahnbild der Ehre. Ich fordere, was ich brauche. Mit den Rechnungen habe ich nichts zu tun. Das ist Sache des Klosters – Ai! die schwarzen, hohen Sitze in dem Kloster und die Novizen, alle in Reihe und Glied.«

Und er erzählte, mit dem Finger im Staube zeichnend, von dem großartigen, prachtvollen Ritual in den mit Schutzdächern gegen Lawinen versehenen Kathedralen; von Prozessionen und Teufelstänzen, von der Verwandlung von Mönchen und Nonnen in Schweine, von heiligen Städten, die fünfzehnlausend Fuß hoch in der Luft schweben, von Intriguen zwischen Kloster und Kloster, von Stimmen zwischen den Hügeln und von der geheimnisvollen Fata morgana, die auf dem weißen Schnee tanzt. Er sprach selbst von Lhassa und von dem Talai Lama, den er gesehen und angebetet hatte.

Jeder lange Tag, der dahinschwand, ward zu einer Barrière, die Kim von seiner Rasse und seiner Muttersprache absonderte. Allmählich fing er an, wieder im Dialekt zu denken und zu träumen. Mechanisch folgte er den vorgeschriebenen Formen beim Essen und Trinken, wie der Lama sie beobachtete. Die Gedanken des allen Mannes wandten sich mehr und mehr seinem Kloster zu, wie seine Blicke dem ewigen Schnee. Sein Fluß machte ihm nur wenig Sorge noch. Ab und zu nur blickte er lange, lange Zeit nach einem Gebüsch oder einem Zweig, erwartend, wie er sagte, daß die Erde sich spalte und die Segnung offenbare; aber er war befriedigt durch die Nähe seines Schülers und erfreut durch den warmen Wind, der von der Doon (Ebene oder Hochebene) her weht. Hier waren nicht Ceylon, nicht Buddh Gaya oder Bombay, auch nicht grasüberwachsene Ruinen, über welche er vor zwei Jahren, so schien es, gestolpert war. Er sprach von diesen Plätzen wie ein Gelehrter, ohne Ruhmsucht, wie ein Sucher, der in Demut wandelt, wie ein alter Mann, weise und maßvoll, das Wissen beleuchtend durch hellen, inneren Einblick. Nach und nach, in unzusammenhängender Weise, jede Geschichte durch einen Vorgang am Wege hervorgerufen, erzählte er von seinen Wanderungen aufwärts und abwärts in Indien, und Kim, der ihn geliebt hatte, ohne zu wissen warum, wußte jetzt, warum er ihn liebte. So waren sie glückselig beieinander, enthielten sich, wie vorgeschrieben, böser Worte und begieriger Wünsche, aßen mäßig, lagen nicht auf weichen Betten und trugen keine reichen Gewänder. Ihr Magen zeigte ihnen die Zeit an, und das Volk gab ihnen zu essen. Sie waren Herren in den Dörfern Aminabao, Sahaigunge, Akrola an der Furt und Phulesa, wo Kim seelenlosen Weibern einen Segen erteilte.

Neuigkeiten reisen schnell in Indien, und nur zu bald schlürfte durch das Ährengelände ein weißbärtiger Diener, ein magerer, trockener Oorya, der einen Korb mit Früchten – Kabul-Trauben und goldene Orangen – trug und sie bat, seiner Herrin, die traurig in ihrem Gemüt sei, weil der Lama sie so lange vernachlässigte, die Ehre ihrer Gegenwart zu schenken.

»Nun entsinne ich mich« – der Lama sprach, als sei ihm die ganze Sache fremd gewesen. – »Sie ist tugendhaft – aber eine ungeordnete Schwätzerin.«

Kim saß auf der Kante eines Futtertroges und erzählte den Kindern des Dorfschmiedes Märchen.

»Sie will nur wieder um einen Sohn mehr für ihre Tochter betteln,« sagte er. »Ich kenne sie. Lasse sie Verdienst erwerben. Sage ihr, wir würden kommen.«

Sie wanderten durch die Felder, elf Meilen in zwei Tagen, und wurden am Ziele mit Aufmerksamkeiten überschüttet.

Die alte Dame hielt auf Gastfreundschaft nach altem Brauch und zwang ihren Schwiegersohn, der unter dem Pantoffel stand, die Mittel dafür herzugeben. Und um Frieden zu haben, borgte er das Geld. Das Alter hatte weder ihre Junge noch ihr Gedächtnis geschwächt, und von einem diskret vergitterten oberen Fenster, in Hörweite von einem Dutzend Dienern, rief sie Kim Schmeicheleien entgegen, die ein europäisches Auditorium in reines Entsetzen gestürzt haben würden.

»Ja, Du bist noch immer der schamlose Bettelbube vom Parao,« schrillte sie. »Ich habe Dich nicht vergessen. Wasche Dich und iß. Der Vater von meiner Tochter Sohn ist ein wenig ausgegangen, und wir armen Frauen gelten nichts und sind stumm.«

Dies zu beweisen, überschüttete sie den ganzen Haushalt mit einem schonungslosen Wortschwall, bis Speise und Trank zur Stelle war, und am Abend, dem dampfdurchräucherten Abend, der sich kupfer- und türkisfarbig über die Felder breitete, beliebte es ihr, ihren Palankin bei rauchigem Fackellicht in den unsauberen Hof tragen zu lassen, und da, hinter nicht zu fest geschlossenen Vorhängen, schwatzte sie.

»Wäre der Heilige allein gekommen, würde ich ihn ganz anders empfangen haben; aber mit diesem Schelm – wer kann da vorsichtig genug sein?«

»Maharanee,« sagte Kim, wie immer den pomphaftesten Titel anwendend, »ist es meine Schuld, daß kein anderer als ein Sahib – ein Sahib von der Polizei – die Maharanee, deren Gesicht er sah, nannte–«

»Chitt! Das war auf der Pilgerfahrt. Wenn wir reisen – Du kennst das Sprichwort –«

»Nannte die Maharanee eine Herzbrecherin, eine Spenderin des Entzückens?«

»Das noch zu wissen! Wahrhaftig. Das tat er. Das war zur Zeit der Blüte meiner Schönheit.« Sie schüttelte sich, wie ein Papagei sich behaglich schüttelt über einem Zuckerstückchen. »Nun erzähle mir von Deinem Gehen und Kommen – so viel, als man ohne sich zu schämen anhören kann. Wieviele Mädchen und wessen Weiber hangen an Deinen Augenwimpern? Du kommst von Benares? Ich wollte dieses Jahr wieder dorthin, aber meine Tochter – wir haben nur zwei Söhne. Phaïï! Das ist die Wirkung dieser niedrigen Ebene. In Kulu sind die Männer Elefanten. Aber ich wollte Deinen Heiligen bitten – tritt beiseile, Schelm – wollte bitten um einen Zauber gegen beklagenswerte Kolik mit Blähungen, die meiner Tochter Ältesten in Mango-Zeilen befallt. Vor zwei Jahren gab er mir ein mächtiges Zaubermittel.«

»Oh, Heiliger!« rief Kim, unendlich belustigt durch des Lamas klägliches Gesicht.

»Es ist wahr. Ich gab ihr eins für Blähungen.«

»Für Zähne – Zähne – Zähne,« fuhr die alte Dame dazwischen.

»Heile sie, wenn sie krank sind,« wiederholte Kim mit Wohlbehagen, »aber niemals brauche Zaubermittel. Gedenke, was den Mahratta befiel.«

»Vor zwei Jahren war es; sie ermüdete mich mit unaufhörlichen Bitten.« Der Lama stöhnte, wie der ungerechte Richter vor ihm gestöhnt haben mag. »So geschieht es – merke es Dir, mein Chela – daß selbst diejenigen, die dem Weg folgen wollen, beiseile geschleudert werden durch müßige Frauen. Drei volle Tage, als das Kind krank war, redete sie auf mich ein.«

»Arre! und zu wem sonst sollte ich reden? Des Knaben Mutter wußte nichts; und der Vater – in den Nächten des kalten Wetters war es – »Betet zu den Göttern,« sprach der und, fürwahr, drehte sich um und schnarchte.«

»Ich gab ihr den Zauber. Was soll ein aller Mann tun?«

»Sich der Tat zu enthalten, ist wohlgetan – nur wenn wir Verdienst erwerben wollen –«

»Oh, Chela, wenn Du mich verlassest, bin ich ganz allein.«

»Die Milchzähne bekam er jedenfalls leicht«, sagte die alte Dame. »Aber ein Priester ist wie der andere.«

Kim hustete strenge. So jung er war, verdroß ihn ihr unhöfliches Geschwätz. »Den Weisen unnütz zu belästigen, heißt Unheil heraufbeschwören.«

»Ein sprechender ›Mynah‹ ist in den Ställen, der genau den Ton des Familienpriesters nachahmt,« – der Stoß kam mit dem wohlbekannten Schütteln des juwelenbedeckten Zeigefingers. »Möglich, daß ich nicht ehrerbietig gegen meine Gäste war, aber wenn Ihr ihn gesehen hättet, wie er die Fäuste in den Leib drückte, der wie ein halb ausgewachsener Kürbis war, und schrie: »Hier sitzt der Schmerz!« so würdet Ihr mir verzeihen. Ich bin schon halb Willens, die Arzenei von dem Hakim (gelehrter Arzt) zu nehmen. Er verkauft sie billig, und sicherlich, ihn macht sie so fett wie Shivs eigenen Ochsen. Er versagt keine Heilmittel, aber ich war ängstlich für das Kind wegen der ungünstigen Farbe der Flaschen.«

Der Lama war unter Schutz dieses Monologs verschwunden in der Richtung nach dem für ihn bereiteten Raum.

»Du hast ihn geängstigt, so scheint es,« sagte Kim.

»O nein. Er ist ermüdet, und ich vergaß, daß ich eine Großmutter bin. (Nur eine Großmutter sollte ein Kind überwachen. Mütter sind zum Gebären gut.) Morgen, wenn er sieht, wie meiner Tochter Sohn gewachsen ist, wird er mir den Zauber schreiben. Dann mag er auch die Medikamente des neuen Hakim beurteilen.«

»Wer ist der Hakim, Maharanee?«

»Ein Wanderer, wie Du bist, aber ein sehr anständiger Bengale von Dacca – ein Meister der Medizin. Er befreite mich von einer Beklemmung nach Fleischgenuß durch eine kleine Pille, die wie ein losgelassener Teufel wühlte. Er reist jetzt umher und verkauft Präparate von großem Wert. Er hat selbst Papiere, in Angrezi (Englisch) gedruckt, die bezeugen, was er bewirkt hat bei schwachrückigen Männern und schlaffen Weibern. Vier Tage ist er hier, aber da er hörte, daß Ihr kommen würdet, (Hakims und Priester sind Schlangen und Tiger in der ganzen Welt), hat er sich, glaube ich, versteckt.«

Während sie Atem schöpfte nach diesem Ausbruch, murmelte der alte Diener, der gerade ungescholten an der Grenze des Fackellichtes saß: »Dieses Haus ist ein Stall für Charlatans und – Priester. Laß den Knaben aufhören, Mangoes zu essen … aber wer kann eine Großmutter zur Vernunft bringen?« Er erhob die Stimme und meldete respektvoll: »Sahiba, der Hakim schläft nach seinem Mahl. Er ist in dem Raum hinter dem Taubenschlag.« Kim fuhr auf wie ein Terrier auf dem Anstand. Einen Bengalen, der in Calcutta studiert hatte und ein Verkäufer wertvoller Medikamente war, aus der Fassung zu bringen und an Unverschämtheit zu überbieten, schien ihm ein köstlicher Spaß. Es ziemte sich nicht, daß der Lama und zufällig auch er selbst zurückgesetzt würde wegen so eines. Er kannte die sonderbaren Inserate in Misch-Masch-Englisch auf den hinteren Seiten der einheimischen Blätter. Die Jungen in St. Xavier brachten sie verstohlener Weise mit, um sich mit ihren Kameraden darüber lustig zu machen. Die Sprache der dankbaren Patienten, die ihre Krankheitssymptome aufzählten, ist höchst einfach und ergötzlich. Der Oorya, nicht unwillig, einen Schmarotzer gegen den anderen auszutauschen, schlich sich fort nach dem Taubenschlag.

»Ja,« sagte Kim ziemlich verächtlich, »ihr Warenvorrat ist ein wenig gefärbtes Wasser und viel Unverschämtheit. Ihre Beute sind heruntergekommene Könige und überfutterte Bengalen. Ihren Hauptnutzen beziehen sie von Kindern, die nicht geboren werden.«

Die alte Dame schüttelte sich vor Lachen. »Sei nicht neidisch. Zauber ist besser, he? Ich habe dem nie widersprochen. Sieh, daß der Heilige mir am Morgen einen guten Zauber schreibt.«

»Nur Unwissende widersprechen,« brummte eine schwerfällige, fette Stimme in der Dunkelheit, und eine Gestalt kam herbei und hockte nieder. »Nur Unwissende leugnen den Wert von Arzeneimitteln.«

»Eine Ratte fand ein Stück Turmeric. Sprach sie: Ich will einen Spezereiladen eröffnen,« gab Kim zurück.

Die Schlacht war nun hübsch eingeleitet, und die alte Dame richtete sich steif auf, um zuzuhören.

»Des Priesters Sohn weiß den Namen seiner Amme und den dreier Gottheiten. Sprach er: Hört mich, oder ich verfluche Euch bei drei Millionen Göttern.« Zweifellos, dieser Unsichtbare hatte einige Pfeile in seinem Köcher. Er fuhr fort: »Ich bin nur ein Lehrer des Alphabet. Ich habe alle Weisheit von den Sahibs gelernt.«

»Die Sahibs werden nie alt. Sie tanzen und spielen wie Kinder, wenn sie Großväter sind. Eine starkrückige Brut,« piepste die Stimme im Innern des Palankins.

»Ich habe auch unsere Medikamente für Kopfhautausschlag bei hitzigen, heftigen Männern; Siná, wohl gemischt, wenn der Mond in dem rechten Haus steht: gelbe Erde habe ich – Arplan von China, die einem Manne seine Jugend wiedergibt, zur Verwunderung seines Hauswesens; Safran von Kashmir und den besten Salep von Kabul. Viele Menschen starben, bevor –«

»Das glaube ich sicher,« sagte Kim.

»Sie kannten den Wert meiner Heilmittel. Ich gebe meinen Kranken nicht nur die Tinte, mit der ein Zauber geschrieben ist, sondern heiße und reinigende Arzeneien, die über das Übel herfallen und mit ihm ringen.«

»Sehr mächtig tun sie das,« seufzte die alte Dame.

Die Stimme ließ eine endlose Geschichte vom Stapel laufen von Schiffbruch und Unglück, verziert mit vielen Protesten gegen die Regierung. »Nur mein Schicksal, das alles übersteigt, ist schuld, daß ich nicht im Dienst der Regierung angestellt bin. Ich habe einen akademischen Grad von der großen Schule zu Kalkutta – wohin vielleicht der Sohn dieses Hauses gehen wird.«

»Gewiß soll er das. Wenn unseres Nachbars Balg in wenigen Jahren ein F. A. werden konnte, (Magister der philosophischen Fakultät),« – sie brauchte die englische Bezeichnung, die sie oft gehört – »wie viel leichter werden so kluge Kinder, wie ich kenne, Preise davontragen im reichen Kalkutta.«

»Noch niemals,« sprach die Stimme, »habe ich solche Kinder gesehen, die in günstiger Stunde geboren, für ein langes Leben ausersehen, zu beneiden wären – wäre nur nicht die Kolik, die, wenn sie zu schwarzer Cholera wird – sie – ach! fortraffen kann, wie Tauben.«

»Hai mai!« rief die alte Dame, »Kinder zu loben, ist gefährlich, sonst würde ich gern zuhören. Das Haus da hinten ist aber jetzt unbehütet, und bei dieser weichen Luft merken die Menschen leicht, daß sie Männer und Frauen sind, man weiß das … Der Kinder Vater ist fort und ich muß Chowkedar (Wächter) sein in meinen alten Tagen. Up! Up! Hebt den Palankin

auf. Der Hakim und der junge Priester müssen es unter sich ausmachen, ob Zauber oder Medizin besser wirkt. Ho! faules Volk, schafft Tabak her für die Gäste und – tragt mich rund herum um die Heimstätte!«

Der Palankin rollte fort, von zerstreuten Fackeln und einer Herde von Hunden begleitet. Zwanzig Dörfer umher kannten die Sahiba – ihre Schwächen, ihre Zunge und ihre große Mildtätigkeit. Zwanzig Dörfer betrogen sie, nach unsterblichem Brauch, aber keiner würde unter ihrer Gerichtsbarkeit gestohlen oder geraubt haben, gelte es, was es wolle. Nichtsdestoweniger tat sie sich auf ihre peinlich genaue Aufsicht viel zu gut; den Lärm, der daher gemacht wurde, konnte man halbwegs nach Mussoorie hören.

Kim war zurückhaltend, wie ein Prophet, der einem andern begegnet. Der Hakim, noch am Boden hockend, schob mit wohlwollendem Fuß ihm seine Pfeife hin, und Kim zog an dem guten Kraut. Die herumbummelnden Zuschauer erwarteten eine ernsthafte, fachgemäße Debatte und vielleicht Freimedizin.

»Vor Unwissenden von Medizin zu reden, ist ebenso verlorene Mühe, als einem Pfau das Singen beizubringen,« sagte der Hakim.

»Zu viel Höflichkeit ist oft Unhöflichkeit,« erwiderte Kim.

»Hu! Ich habe ein Geschwür am Bein,« rief ein Küchenjunge. »Sieh es Dir an.«

»Geht! Macht Euch fort!« sagte der Hakim. »Ist das hier Sitte, geehrte Gäste zu belästigen? Ihr drängt Euch zusammen wie Büffel.«

»Wenn die Sahiba das wüßte,« – begann Kim.

»Ahi! Ahi! Kommt fort. Die sind Fleisch für unsere Herrin. Wenn die Kolik ihres jungen Shaitans (Teufel) kuriert ist, dürfen wir armes Volk vielleicht –«

»Die Herrin futterte Dein Weib, als Du dem Geldverleiher den Kopf zerschmettert hattest und im Gefängnis saßest. Wer sagt etwas gegen die Herrin?« Der alte Diener drehte heftig den weißen Schnurrbart unter dem jungen Mondlicht. »Ich bin verantwortlich für die Ehre dieses Hauses. Geht!« Und er trieb die Leute vor sich her.

Sagte der Hakim, kaum die Lippen bewegend: »Wie befinden Sie sich, Mr. O’Hara? Es freut mich höchlichst, Sie wiederzusehen.«

Kims Hand preßte den Pfeifenstiel. Irgendwo auf der freien Heerstraße würde ihn diese Begegnung nicht so in Erstaunen gesetzt haben, aber hier, in diesem ruhigen Stauwasser des Lebens, war er nicht auf Hurree Babu gefaßt. Es verdroß ihn auch, daß er übertölpelt war.

»Aha! Ich sagte es Euch in Lucknow – resurgam – ich werde wieder erscheinen, und Ihr werdet mich nicht erkennen. Wie viel wettetet Ihr doch – he?«

Er kaute nachlässig Cardamom-Samen, atmete aber unruhig.

»Aber, Babuji, was führte Euch her?«

»Ah! Das ist die Frage, wie Shakespeare sagt. Ich kam, um Euch zu gratulieren zu Eurer außerordentlich wirksamen Leistung in Delhi. Oah! Ich sage Euch, wir alle sind stolz auf Euch. Es war sehr flott und geschickt. Unser gemeinschaftlicher Freund – er ist mein alter Freund. Er ist in einigen verdammt kritischen Lagen gewesen. Jetzt ist er wohl wieder in ähnlichen. Er erzählte es mir; ich erzählte es Mr. Lurgan, und der ist erfreut, daß Ihr so flott graduiert. Das ganze Departement ist erfreut.«

Zum ersten Male durchschauerte Kim die stolze Freude an einem Lob der Obrigkeit, (es konnte aber auch eine bestrickende Falle sein) einem bestrickenden Lob von seinesgleichen, einer Würdigung von seinen Kollegen. Die Welt bietet nichts, was sich mit dieser Freude messen könnte. Aber, rief der Orientale in ihm: Babus reisen nicht, um Komplimente auszurichten.

»Erzähle Deine Geschichte, Babu,« sprach er ernsthaft.

»Oah, es ist nichts. Nur, daß ich in Simla war, als die Drahtung eintraf, bezüglich dessen, was unser gemeinschaftlicher Freund verborgen hatte, und der alte Creighton –« er sah Kim an, um zu beobachten, welchen Eindruck dieses Stück Dreistigkeit machen würde.

»Der Oberst Sahib,« korrigierte der Schüler aus St. Xavier.

»Natürlich. Er fand mich gerade nicht stark beschäftigt, und ich mußte nach Chitor, um den abscheulichen Brief zu holen. Ich liebe den Süden nicht – zu viel Eisenbahnfahrt; aber ich bezog gute Reisevergütung. Ha! Ha! Ich treffe auf dem Rückweg unseren gemeinschaftlichen Freund in Delhi. Er liegt jetzt still und sagt, Saddhu-Verkleidung gefällt ihm besonders. Nun, da höre ich, was Ihr getan, so gut, so geschickt in der dringenden Gefahr des Augenblicks. Ich sage unserem gemeinschaftlichen Freund: Er trägt die Butter von der Semmel davon, beim Zeus! Es war großartig. Ich komme, um Euch das zu sagen.«

»Hm!«

Die Frösche waren laut in den Gräben und der Mond am Untergehen. Irgend ein müßiger Diener war herausgekommen, um sich mit der Nacht zu unterhalten und eine Trommel zu schlagen. Kims nächste Frage war im Dialekt.

»Wie konntest Du uns folgen?«

»Oah! Das war nichts. Ich weiß von unserem gemeinschaftlichen Freund, Ihr geht nach Saharunpore. So komme ich her. Rote Lamas sind keine gefährlichen Personen. Ich kaufe mir meinen Arzneikasten, und ich bin sehr guter Arzt, wirklich. Ich gehe nach Akrola an der Furt, und ich höre alles über Euch, und ich rede hier, und ich rede dort. Alles gemeine Volk weiß, was Ihr tut. Ich weiß, wie die gastfreundliche, alte Dame die Dooli (Tragsessel) sendet. Sie haben hier viele Erinnerungen an die Besuche des alten Lama. Ich weiß, alle Damen können ihre Hände nicht fern halten von Arzneien. So bin ich Doktor und – Ihr hört mir zu? Ich denke, es ist sehr gut. Mein Wort darauf, Mr. O’Hara, sie wissen alles von Euch und dem Lama auf fünfzig Meilen weit – das gemeine Volk. So komme ich. Habt Ihr etwas dagegen?«

»Babuji,« sagte Kim, in das breite, grienende Gesicht aufblickend, »ich bin ein Sahib.«

»Mein lieber Mister O’Hara –«

»Und ich hoffe, das große Spiel zu spielen.«

»Departementsmäßig seid Ihr jetzt mein Unterbeamter.«

»Warum also sprichst Du, wie ein Affe auf dem Baum? Männer laufen einem nicht nach von Simla her und verkleiden sich, um ein paar süße Worte zu reden. Ich bin kein Kind. Sprich, Hindi, und laß uns an den Dotter des Eies kommen. Du bist hier – und von zehn Worten, die Du sprichst, ist nicht eines wahr. Warum bist Du hier? Gib eine gerade Antwort.«

»Das ist so sehr störend bei den Europäern, Mister O’Hara. Ihr solltet das in Eurem Alter doch wissen.«

»Aber ich will es wissen,« sagte Kim lachend. »Wenn es das Spiel ist, kann ich vielleicht etwas helfen. Wie kann ich etwas tun, wenn Du wie die Katze um den heißen Brei herumgehst?«

Hurree Babu langte nach der Pfeife und zog, bis sie wieder gurgelte.

»Nun will ich Dialekt sprechen. Ihr sitzt in der Klemme, Mister O’Hara … es betrifft den Stammbaum eines weißen Hengstes.«

»Noch? Das ist ja längst zu Ende.«

»Wenn jedermann tot ist, ist das große Spiel zu Ende. Nicht früher. Hört mich an bis zu Ende. Es waren fünf Könige, die bereiteten einen plötzlichen Krieg vor. Drei Jahre sind es her, als Dir Mahbub Ali den Stammbaum des weißen Hengstes gab. Infolge der Nachricht und ehe sie bereit waren, überfiel sie unsere Armee.«

»Aha – achttausend Mann mit Kanonen. Ich erinnere mich der Nacht.«

»Aber der Krieg ging nicht vorwärts. Das ist so Gewohnheit der Regierung. Die Truppen wurden zurückgezogen, weil man die fünf Könige für eingeschüchtert hielt, und es nicht billig ist, Soldaten zu futtern da oben zwischen den hohen Pässen. Hilás und Benár – Rajahs mit Flinten übernahmen es für einen gewissen Preis, die Pässe gegen alles vom Norden Kommende zu bewachen. Beide beteuerten Freundschaft und Furcht.« Kichernd brach er ab und fuhr auf Englisch fort: »Selbstverständlich erzähle ich Euch dies nicht offiziell; nur, um die politische Situation klar zu stellen, Mister O’Hara. Offiziell bin ich weit entfernt, eine Handlung meiner Vorgesetzten zu kritisieren. Nun fahre ich fort. – Der Regierung gefiel das; sie sucht stets Ausgaben zu vermeiden; und es wurde ein Kontrakt geschlossen, daß Hilás und Benár für so und so viel Rupien monatlich die Pässe bewachen sollten, sobald die Truppen der Regierung entfernt wären. Um diese Zeit – es war, als wir beide uns zuerst trafen – ward ich, der Teehändler in Leh war, Zahlmeister bei der Armee. Ich wurde zurück gelassen, um die Kulis zu bezahlen, die neue Wege zwischen den Bergen machen sollten. Dieses Wegegraben war ein Teil des Kontraktes zwischen Benár, Hilás und der Regierung.«

»So – und dann?«

»Ich sage Euch, es war abscheulich kalt da oben, noch dazu nach der Sommerzeit,« sagte Hurree Babu zutraulich.

»Jede Nacht war ich in Angst, daß diese Benár-Leute mir die Kehle abschnitten um des Geldkastens wegen. Meine eingeborene Sepoy-Garde, die lachte mich aus! Donnerwetter! Ich bin ein so furchtsamer Mann. Das ist nicht wichtig. Der Unterhaltung wegen fahre ich fort … Ich meldete öfter, daß diese zwei Könige sich dem Norden verkauft hätten, und Mahbub Ali, der noch weiter nordwärts war, bestätigte dies. Es geschah nichts; nur meine Füße erfroren, und eine Zehe fror ab. Ich meldete, daß die Wege, für die ich die Arbeiter bezahlte, für die Füße von Fremden und Feinden gegraben würden.«

»Für?«

»Für die Russen. Die Sache war offenes Geheimnis unter den Kulis, und sie hatten ihren Spaß daran. Da wurde ich zurückberufen, um mit der Zunge zu melden, was ich wußte. Mahbub kam auch südwärts. Sehet das Ende! Dieses Jahr nach der Schneeschmelze« – er schauderte wieder – »kommen zwei Fremde unter dem Vorwand, wilde Ziegen schießen zu wollen. Sie führen Flinten mit sich, aber auch Ketten und Richtscheite und Kompasse.«

»Oho! Die Sache wird klarer.«

»Sie werden von Hilás und Benár wohl aufgenommen. Sie machen große Versprechungen. Sie reden, wie das Mundstück eines Kaisers, von Schenkungen. Die Täler hinauf, die Täler hinab gehen sie und sprechen: »Hier ist ein Platz, um eine Feldschanze aufzurichten; hier könnt Ihr eine Festung erbauen. Hier könnt Ihr die Straße gegen eine Armee behaupten,« – dieselbe Straße, für die ich monatlich die Rupien auszahlte. Die Regierung weiß es, tut aber nichts. Die drei anderen Könige, die nicht für Bewachung der Pässe bezahlt sind, berichten durch einen Eilboten über den Treubruch von Benár und Hilás. Als alles Böse geschehen ist, seht Ihr? – Als diese beiden Fremden, mit Richtscheit und Kompaß, die fünf Könige glauben machen, daß eine große Armee morgen oder übermorgen die Pässe überschwemmen wird – Gebirgler sind alle Narren – da kommt Befehl an Hurree Babu: »Gehe nordwärts und siehe, was jene Fremden tun.« Ich sage zu Creighton Sahib: »Dies ist doch kein Prozeß, daß wir umherlaufen, um Beweise aufzutreiben …« Mit einem Ruck kehrte er wieder zum Englischen zurück: »Donnerwetter!« sagte ich, »warum, in Teufels Namen, gebt Ihr nicht irgend einem braven Manne unoffiziellen Befehl, sie zu vergiften, um ein Beispiel zu statuieren? Es ist, wenn Ihr die Bemerkung gestattet, sehr tadelnswerte Schlappheit von Eurer Seite.« Und Oberst Creighton – lachte mich aus. Das kommt von Eurem abscheulichen englischen Hochmut. Ihr denkt, es wagt niemand zu konspirieren. Das ist alles Blödsinn.«

Kim rauchte langsam und überlegte die Sache mit seiner raschen Auffassung.

»So gehst Du also vorwärts, um den Fremden zu folgen?«

»Nein – um ihnen zu begegnen. Sie kommen nach Simla, um die Köpfe und Hörner zum Präparieren nach Calcutta abzusenden. Die Herren sind sehr jagdlustig und die Regierung gewährt ihnen gefällige Erlaubnis. Natürlich, das tun wir immer. Das ist unser britischer Stolz.«

»Was ist denn aber von ihnen zu fürchten?«

»Donnerwetter, Schwarze sind sie nicht. Mit schwarzem Volk kann ich natürlich alles Mögliche anfangen. Sie sind Russen und sehr vorurteilslos. Ich – ich möchte nichts mit ihnen zu tun haben ohne einen Zeugen.«

»Würden sie Dich denn töten?«

»Oah, das tut nichts. Ich bin Herbert Spencerianer genug, um einer Kleinigkeit wie dem Tod, der doch einmal mein Los ist, entgegen zu gehen, wißt Ihr. Aber – aber sie könnten mich prügeln.«

»Warum?«

Hurree Babu schnappte ungeduldig mit den Fingern. »Natürlich werde ich mich ihrem Lager zugesellen in untergeordneter Eigenschaft, vielleicht als Dolmetscher, oder als Blödsinniger, oder Hungriger oder so etwas. Und dann muß ich, denke ich, aufschnappen, was ich kann. Das ist so leicht für mich, als vor der alten Dame den Doktor spielen. Nur – nur – Ihr seht, Mister O’Hara, ich bin unglücklicherweise Asiate, was in mancher Beziehung nachteilig ist, und bin ebenfalls Bengale – ein furchtsamer Mann.«

»Gott schuf den Hasen und den Bengalen. Ist das schimpflich?« sagte Kim, das Sprichwort anführend.

»Das ist Descendenz-Theorie, Naturnotwendigkeit, denke ich, aber das Faktum bleibt in seinem cui bono . Ich bin, o! furchtbar furchtsam! – Ich erinnere mich, einmal auf dem Wege nach Lhassa wollten sie mir den Kopf abschneiden. (Nein, ich bin niemals nach Lhassa gekommen.) Ich setzte mich nieder und weinte, Mister O’Hara, ich hatte Vorempfindung von chinesischer Folter. Ich vermute nicht, daß diese Gentlemen mich foltern werden, aber es ist besser, für mögliche Fälle europäischen Beistand in Bereitschaft zu haben.« Er hustete und spuckte das Cardamon aus. »Es ist ein vollständig unoffizieller Vorschlag, auf den Ihr »Nein, Babu« antworten könnt. Wenn Ihr nicht gerade dringende Geschäfte mit Eurem alten Mann vorhabt. Könnt Ihr ihn vielleicht – etwas vom Wege ablenken; vielleicht kann ich seine Phantasie beschäftigen – ich möchte mit Euch in amtlicher Berührung bleiben, bis ich diese jagdlustigen Burschen finde. Ich habe eine große Meinung von Euch, seitdem ich meinen Freund in Delhi traf. Euren Namen werde ich meinem offiziellen Bericht einverleiben, sobald die Angelegenheit endgültig erledigt ist. Das wird eine nette Feder auf Euren Hut. Dies ist es, warum ich wirklich gekommen bin.«

»Humpf! Das Ende der Geschichte mag wahr sein, aber wie steht es mit der Einleitung?«

»Von den fünf Königen? Oah, die steckt voller Wahrheit, haufenweise, mehr, als Ihr ahnt,« sagte Hurree ernsthaft. »Ihr kommt mit – he? Ich gehe von hier gerade in die Doon, sie ist grün, mit blumigen Wiesen. Ich werde nach Mussoovie gehen – gutes, altes Mussoovie Pahar, wie die Damen und Herren sagen. Dann bei Rampur nach China hinein. Das ist der einzige Weg, den sie kommen können. Ich warte nicht gern in der Kälte, oder warten muß ich auf sie. Ich will mit ihnen nach Simla. Der eine Russe, wißt Ihr, ist ein Franzose, und ich verstehe Französisch ganz flott. Ich habe Freunde in Chandernagore.«

» Er würde sich jedenfalls freuen, die Berge wieder zu sehen,« sagte Kim nachdenklich. »Diese letzten zehn Tage hat er von nichts anderem gesprochen. Wenn wir zusammen gehen –«

»Oah! Auf dem Wege können wir uns ganz fremd bleiben, wenn Euer Lama das will. Ich werde vier oder fünf Meilen voraus gehen. Eile hat Hurree nicht; Ihr folgt mir. Zeit genug bleibt uns. Sie werden komplottieren und vermessen, und topographische Aufnahmen machen, natürlich. Ich werde morgen fortgehen und Ihr den folgenden Tag, wenn es Euch beliebt. Überlegt es Euch bis morgen. Verflucht! Es ist beinahe Morgen.« Er gähnte laut und ohne weiteres Wort stolperte er nach seiner Schlafstelle. Kim schlief wenig: er dachte nach in Hindostanisch:

»Mit Recht nennt man das Spiel groß! Vier Tage war ich Küchenjunge bei der Frau des Mannes in Quetta, dem ich das Buch stahl. Und das war ein Teil des Großen Spiels! Vom Süden her, Gott weiß wie weit – kam der Mahratta, der das Große Spiel um Gefahr seines Lebens spielte. Jetzt soll ich fern und fern in den Norden hinein und das Große Spiel spielen. Wahrlich, es geht wie ein Schauer durch ganz Hind. Und meinen Anteil und meine Freude daran« – er lächelte der Dunkelheit zu – »danke ich dem Lama. Auch Mahbub Ali – auch Creighton Sahib – aber am meisten dem Heiligen. Er hat Recht – eine große und eine wundervolle Welt – und ich bin Kim – Kim – Kim – allein – einer – in der Mitte von allem. Aber diese Fremden mit Kette und Richtscheit will ich sehen …«

»Was war das Resultat der Unterhaltung gestern Abend?« fragte der Lama nach beendetem Gebet.

»Es kam ein umherstreifender Verkäufer von Medikamenten – ein Schmarotzer der Sahiba – ich bewies ihm durch Argumente und Gebete, daß unser Zauber seine gefärbten Wasser übertreffe.«

»Alas! Mein Zauber! Wünscht die tugendhafte Frau noch immer, einen zu bekommen?«

»Sehr dringend wünscht sie es.«

»Dann muß er geschrieben werden oder sie macht mich taub mit ihrem Lärm.« Er tastete nach seinem Federkasten.

»In den Ebenen ist immer zu viel Volk,« sagte Kim. »In den Bergen, so höre ich, soll es ruhiger sein.«

»Oh! Die Berge, und der Schnee auf den Bergen!«

Der Lama riß ein kleines Stück Papier ab, wie es in ein Amulett paßt.

»Aber was weißt Du von den Bergen?«

»Sie sind sehr nahe.« Kim öffnete die Tür und blickte auf die lange, ruhevolle Linie der Himalayas, die im Morgengold erglühte. »Nur einmal, im Kleide eines Sahib, setzte ich einen Fuß hinein.«

Der Lama sog die Luft sehnsüchtig ein.

»Wenn wir nordwärts wandern« – Kim richtete die Frage an die aufgehende Sonne – »könnte dann nicht viel Mittagshitze vermieden werden, wenn man wenigstens zwischen den niedrigeren Bergen wandelte? … Ist der Zauber geschrieben, Heiliger?«

»Ich habe die Namen von sieben albernen Teufeln geschrieben; keiner von ihnen ist ein Körnchen Staub auf der Straße wert. So ziehen törichte Frauen uns ab von dem Weg.«

Hurree Babu kam hinter dem Taubenschlag hervor. Er wusch seine Zähne mit ostentativem Ritual. Vollfleischig, schwerhüftig, stiernackig und mit tiefer Stimme, glich er nicht gerade einem furchtsamen Mann. Kim gab ihm ein unmerkliches Zeichen, daß alles in bestem Zuge sei, und als die Morgentoilette beendet war, kam Hurree Babu herbei, um dem Lama in blumenreicher Sprache Ehrfurcht zu erweisen. Sie aßen jeder für sich, und nachdem erschien die alte Dame, mehr oder weniger verschleiert, an einem Fenster und nahm die Kapitelfrage der Kolik, von grünen Mangofrüchten verursacht, wieder auf. Des Lamas ärztliche Kenntnisse beschränkten sich auf Sympathie. Er glaubte, daß der Dung von einem schwarzen Pferde, mit Schwefel gemischt und in eine Schlangenhaut gewickelt, ein bedeutendes Mittel gegen Cholera sei; aber der Symbolismus interessierte ihn weit mehr als die Wissenschaft. Hurree Babu erwiderte, daß er nur ein unerfahrener Stümper in den Mysterien wäre, aber er wisse – und dafür danke er den Göttern – daß er sich in Gegenwart eines Meisters befinde. Er selbst hatte seinen Unterricht bei den Sahibs, die keine Rücksicht auf die Unkosten nehmen, in dem vornehmen Kollegium von Calculta erhalten; aber er war immer der erste, anzuerkennen, daß eine Weisheit hinter der Weisheit dieser Erde bestehe – die hohe und einsame Erleuchtung der Meditation. Kim hörte mit Neid zu. Der Hurree Babu seiner Bekanntschaft, der schmutzige, demonstrative, furchtsame, war verschwunden – verschwunden der unverschämte Medizin-Verkäufer der letzten Nacht. Hier war ein höflicher, glatter, aufmerksamer – ein bescheidener Sohn der Erfahrung und des Mißgeschicks. Die alte Dame vertraute Kim an, daß diese Auseinandersetzungen über ihren Horizont gingen. Sie war für Zaubermittel, mit viel Tinte geschrieben, die man abwusch, verschickte und fertig war. Was wäre sonst der Nutzen der Gottheiten? Sie fand Gefallen an Männern und Frauen, sie hatte kleine Könige gekannt und sprach von ihnen und von ihrer eignen Jugend und Schönheit – sprach von Verheerungen durch Leoparden, von exzentrischer asiatischer Liebesglut; von Verteilung der Steuern, Pachtzins, von Begräbnis-Zeremonien, von ihrem Schwiegersohn (dies mit nicht mißzuverstehenden Anspielungen), von der Sorge für die Jugend und dem Mangel an Bescheidenheit bei den Alten. Und Kim, so voll Interesse an dem Leben dieser Welt wie sie, die es bald verlassen mußte, saß, die Füße unter sein Gewand gezogen, und lauschte begierig. Der Lama aber verwarf, eine nach der andern, jede Art von Heiltheorie, die Hurree Babu anführte.

Am Nachmittag verschnürte der Babu seinen messingbeschlagenen Medizinkasten, nahm seine Patent-Leder-Schuhe für feierliche Gelegenheiten in eine, seinen blau und weißen Sonnenschirm in die andere Hand und zog ab, nordwärts, nach der Doon zu, wo, wie er sagte, von den kleineren Königen jener Gegend nach ihm verlangt wurde.

»Wir wollen in der Kühle des Abends fortgehen, Chela,« sagte der Lama. »Dieser Doktor, bewandert in Physik und Höflichkeit, bestätigt, daß das Volk zwischen diesen Bergen fromm und großmütig ist und sehr eines Lehrers bedarf. In kurzer Zeit – so sagt der Hakim – finden wir kühle Luft und den Geruch der Pinien.«

»Ihr geht nach den Bergen, und auf der Kulu-Straße? Oh, dreifach Glückliche!« schrillte die alte Dame. »Wäre ich nicht so überladen mit der Sorge für die Heimstätte, ich würde den Palankin … aber das wäre unschicklich und würde meine Reputation untergraben. Ho! Ho! Ich kenne den Weg – jeden Schritt auf dem Wege kenne ich. Gastfreundschaft findet Ihr überall – hübschen Leuten versagt man sie nicht. Mundvorrat herrichten lassen. Ein Diener, der Euch auf den Weg bringt? Nein? Dann will ich Euch wenigstens noch gutes Essen kochen.«

»Welch eine Frau ist die Sahiba!« rief der alte Diener, als ein Lärm in den Küchenräumen losbrach. »Nie, in allen ihren Jahren hat sie nie einen Freund vergessen, nie einen Feind vergessen. Und ihre Kocherei – uah!« Er rieb sich den Magen.

Da waren Kuchen, da war Zuckerwerk, da gab es kaltes Huhn, mit Reis und Pflaumen zu Brei gekocht – genug, um Kim wie ein Maultier zu beladen.

»Ich bin alt und überflüssig. Niemand liebt mich noch und niemand respektiert mich – aber wenige können es mir gleich tun, wenn ich die Götter anrufe und über meine Kochtöpfe stürze. Kommt wieder, oh, brave Leute. Heiliger und Schüler, kommt wieder. Das Zimmer ist stets bereit; der Willkommen ist stets bereit … Paß auf, daß die Weiber Deinen Chela nicht zu sehr verfolgen … ich kenne die Frauen von Kulu. Gib acht, Chela, daß er Dir nicht davonläuft, wenn er seine Berge wieder riecht … Hai! Kippe den Reisbeutel nicht um, das Unterste zu oberst … Segne den Haushalt, Heiliger, und vergib den Dienern ihre Dummheiten.«

Sie wischte sich die alten roten Augen mit einem Zipfel des Schleiers und gluckste tiefkehlig.

»Frauen schwatzen,« sagte der Lama. »Aber das ist eine Frauenschwäche. Ich gab ihr einen Zauber. Sie ist auf dem Rad und ganz in dem Schein dieses Lebens befangen, aber nichtsdestoweniger, Chela, ist sie tugendhaft, freundlich, gastfrei – mit vollem und eifrigen Herzen. Wer darf sagen, daß sie nicht Verdienst erwirbt?«

»Nicht ich, Heiliger,« sagte Kim, den reichlichen Proviant fester auf die Schulter bindend. »In meinem Kopf – hinter meinen Augen – habe ich ein Bild zu entwerfen versucht von so einer, befreit von dem Rad – nichts begehrend, nicht schwätzend – eine Nonne, sozusagen.«

»Und, o Schelm?«

»Ich kann das Bild nicht machen.«

»Noch ich. Aber vor ihr liegen noch viele, viele Millionen von Leben. Sie wird in jedem vielleicht ein wenig Weisheit erlangen.«

»Und wird sie auf diesem Wege vergessen, wie Gerichte mit Safran gekocht werden?«

»Deine Gedanken sind auf wertlose Dinge gerichtet. Aber geschickt ist sie. Ich fühle mich ganz gestärkt. Wenn wir die Vorberge erreichen, werde ich mich noch kräftiger fühlen. Der Hakim sprach wahr, da er mir diesen Morgen sagte: ein Hauch von den Schneegipfeln verjüngt einen Mann um zwanzig Jahre des Lebens. Wir wollen für kurze Zeit aufwärts steigen, zu den Bergen – den hohen Bergen – aufwärts zu dem Rauschen des Schneewassers und der Bäume. Der Hakim sagte, wir könnten jederzeit wieder in die Ebenen zurückkehren, denn wir werden ja die herrlichen Plätze nur streifen. Der Hakim ist voller Gelehrsamkeit, aber keineswegs stolz. Ich sprach zu ihm – während Du mit der Sahiba redetest – von einem gewissen Schwindel im Hinterkopf, der mich in der Nacht befällt, und er sagte, der käme von außerordentlicher Hitze und würde durch kühle Luft geheilt. Beim Nachsinnen wunderte ich mich, daß ich nicht an so ein einfaches Heilmittel gedacht hatte.«

»Sprachst Du ihm auch von Deiner Suche?« fragte Kim, ein wenig eifersüchtig. Er wollte den Lama durch seine eigenen Worte lenken – nicht durch die Kniffe von Hurree Babu.

»Natürlich. Ich erzählte ihm meinen Traum, und wie ich Verdienst erwarb, indem ich veranlaßte, daß Du Missen erlangtest.«

»Du sagtest nicht, daß ich ein Sahib bin?«

»Wozu? Ich sagte Dir oft, wir sind nur zwei Seelen, die Rettung suchen. Er sagte – und er hat Recht – daß der Strom des Heiles hervorbrechen wird, wie ich träumte – vor meinen Füßen, wenn die Zeit gekommen. Fand ich den Weg, siehst Du, der mich befreien soll von dem Rad, soll ich dann sorgen, den Weg zu finden durch die Felder der Erde, die Illusion sind? Das wäre töricht. Ich habe meine Träume, die Nacht auf Nacht sich wiederholen; ich habe die Jâtaka; und ich habe Dich, Freund der ganzen Welt. Es war geschrieben in Deinem Horoskop, daß ein Roter Stier auf grünem Feld – ich habe es nicht vergessen – Dich zu Ehren bringen sollte. Wer als ich sah die Prophezeiung erfüllt? Wahrlich, ich war das Werkzeug. Du wirst meinen Strom finden und dafür das Werkzeug sein. Die Suche ist sicher!«

Er wandte sein elfenbeingelbes Antlitz den winkenden Zügeln zu; sein Schalten schritt ihm voraus im Staube. –

Kapitel 13.

Kapitel 13.

»Wer in die Berge geht, geht zu seiner Mutter.«

Sie hatten die Sewaliks und die halb tropische Doon durchquert, Mussoovie hinter sich gelassen und gingen nordwärts auf schmalen Bergpfaden. Tag auf Tag führte sie weiter in die zusammengedrängten Berge und Tag auf Tag sah Kim des Lamas Kräfte sich verjüngen. Zwischen den Terrassen der Doon hatte er auf des Knaben Schulter gelehnt und die Halteplätze am Wege benutzt. Bei dem hohen Aufstieg nach Mussoovie rüttelte er sich zusammen wie ein alter Jäger, der ein wohlbekanntes Jagdgebiet wieder erblickt; und statt erschöpft hinzusinken, schlang er seine langen Gewänder um sich, tat einen tiefen Atemzug in der diamantklaren Luft und schritt aus wie nur ein Bergbewohner kann. Kim, in der Ebene geboren und aufgezogen, schwitzte und keuchte. »Das ist mein Land,« sagte der Lama. »Mit Such-zen verglichen, ist dies flacher als ein Reisfeld.« Und fest, mit kräftig aushebenden Lenden, schritt er aufwärts. Aber bei dem steilen Abstieg (dreitausend Fuß in drei Stunden) lief er Kim geradezu weg, und Kim ächzte, denn sein Rücken schmerzte ihn von der Anstrengung und seine große Zehe wurde fast abgeschnitten von der hanfenen Sandalenschnur. Unermüdet, mit langen Schritten, streifte der Lama durch schattenübersprenkelte Deodar-Haine, durch farren-geschmückte Wälder von Eichen, Birken, Stechpalmen, Rhododendren und Kiefern; hinaus auf Bergrücken, die sonnenverbranntes schlüpfriges Gras bedeckte, und wieder zurück in des Waldlands Kühle, bis die Eiche dem Bambus und der Palme des Tales Platz machte. Im Zwielicht, rückwärts blickend auf die ungeheuren Grate hinter ihm und auf die feine schwache Linie des Weges, den sie gekommen, plante der Lama, mit dem unternehmenden Ausblick des Gebirglers, kräftige Märsche für den Morgen. Und in der Mitte eines emporsteigenden Engpasses, der auf Spiti und Kulu führte, blieb er stehen und streckte sehnsuchtsvoll die Hände aus gegen die hohen Schneegipfel am Horizont. In der Morgendämmerung schimmerten sie in der Höhe metallisch rot, unten tiefblau, wenn die Könige dieser Wildnis – Kedarnath und Badrinath – den ersten Kuß der Sonne empfingen. Den Tag über lagen sie wie geschmolzenes Silber in der Sonne, und abends legten sie ihre Juwelen an. Anfangs sandten sie den Wanderern mildere Winde zu, willkommen zum Klettern über gigantische Bergrücken; aber nach wenigen Tagen, in der Höhe von neun- oder zehntausend Fuß, wurden die Winde schneidend, und Kim gab den Gebirglern eines Dorfes gnädig Erlaubnis, Verdienst zu erwerben, indem sie ihm einen Rock von grobem Düffel schenkten. Der Lama sprach milde sein Erstaunen aus, daß man die messerscharfen Winde tadelte, die die Jahre von seinen Schultern nahmen.

»Dies sind nur die niedrigen Hügel, Chela. Es gibt erst Kälte, wenn wir in die wahren Berge kommen.«

»Luft und Wasser sind gut und das Volk ist fromm, aber das Essen ist sehr schlecht,« murrte Kim, »und wir gehen, als wären wir verrückt oder – Engländer. Es friert auch in der Nacht.«

»Ein wenig, kann sein; aber nur gerade so viel, daß alte Knochen sich des Sonnenscheins mehr erfreuen. Wir müssen nicht immer weiche Betten und reichliches Essen haben.«

»Wir könnten wenigstens auf der Straße bleiben.«

Kim, als Mann der Ebene, zog den gut gehaltenen, wenn auch nur sechs Fuß breiten Weg vor, der sich durch die Berge schlängelte; der Lama, als Tibetaner, konnte der Versuchung nicht widerstehen, abkürzende Wege über Bergvorsprünge und kiesbedeckte Abhänge zu machen. Er erklärte seinem lahmenden Schüler, daß ein in den Bergen Aufgewachsener die Richtung eines Bergpfades voraus wisse und wenn niedrig hängende Wolken dem kurz ausschreitenden Fremden dies unmöglich machten, so wäre das nicht der Fall für den Eingeweihten. Nach langen Stunden anstrengenden Bergsteigens – in zivilisierten Gegenden hätte man es eine starke Leistung genannt – keuchten sie über Bergrücken, gingen seitwärts über Erdrutsche und kamen durch einen Wald mit einem Abstieg von 45 Grad wieder auf die Straße herab. Der Straße entlang befanden sich Dörfer der Bergbewohner, Erd- und Lehmhütten, Holzhäuschen, roh mit der Axt gezimmert, gleich an den Abhängen klebenden Schwalbennestern, auf kleinen Flecken zusammengedrängt, halbwegs abwärts an, einem, dreitausend Fuß niederfallenden Sturz, in Winkel zwischen Klippen, die jeden wandernden Windstoß wie in einem Schornstein fingen, eingeklemmt, oder, für die Sommerweide bestimmt, auf einem Rücken kauernd, der im Winter unter zehn Fuß hohem Schnee begraben lag. Und das Volk, das blaßgelbe, schmutzige, in Düffel gekleidete Volk mit nackten Beinen und Gesichtern fast wie Eskimos, drängte herbei und betete an. Die Ebenen, sanft und höflich, hatten den Lama behandelt wie einen heiligen Mann unter heiligen Männern. Die Berge aber beteten ihn an als den Vertrauten aller Teufel. Sie haben einen halbverwischten Buddhismus, durchsetzt mit einer Naturanbetung von so phantastischer Art, wie ihre eigene, terrassenförmig abgestufte Landschaft. Sie erkannten den großen Hut, den klappernden Rosenkranz und die seltenen chinesischen Textsprüche als eine hohe Macht an und sie verehrten den Mann unter dem Hut.

»Wir sahen Dich herunterkommen, über die schwarzen Brüste von Eua,« sagte ein Betah, der ihnen eines Abends Käse, sauere Milch und steinhartes Brot gab.

»Wir kommen nicht oft dahin, ausgenommen wenn kalbende Kühe sich im Sommer verirren. Es lebt ein scharfer Wind dort zwischen den Steinen, der Menschen niederwirft an den stillsten Tagen. Aber was fragen Männer wie Ihr nach dem Teufel von Eua!«

Trotz wunder Füße, trotz Schwindels vom Niederschauen und trotz bebender Fibern fand Kim Freude an den Tagesmärschen, wie ein Knabe in St. Xavier an dem Lobe seiner Kameraden, wenn er den Preis gewann beim Viertelmeilen-Rennen auf der Ebene. Der Schweiß auf diesen Bergen trieb Butter- und Zuckersäfte aus seinem Blut. Die trockene Luft, die er in der Höhe mächtiger Pässe stoßweise einatmete, stärkte und wölbte seinen Brustkorb, und die gewellten Hochebenen bildeten und formten die Muskeln von Arm und Schenkel.

Oft sannen sie nach über das Rad des Lebens, um so mehr, als der Lama sagte, daß sie jetzt frei waren von seinen sichtbaren Versuchungen. Wenn sie nicht gerade einen grauen Adler sahen oder auch einen grabenden, wühlenden Bären, oder einen gefleckten Leoparden, der eine Ziege verschlang in der Dämmerung, in einem stillen Tale trafen und hier und da einen Vogel mit glänzendem Gefieder, so waren sie allein mit den Winden und dem Gras, das unter den Winden sang. Die Frauen in den rauchigen Hütten, über deren Dächer die beiden hingingen, wenn sie von den Bergen herunterstiegen, waren unsauber und unliebenswürdig, Frauen, die vielen Männern gehörten und einen Kropf hatten. Die Männer waren Holzschläger, wenn sie nicht Ackerbauer waren, sanftmütig und unglaublich einfältig. Und damit angenehme Unterhaltung nicht fehle, sandte ihnen das Schicksal den höflichen Doktor aus Dacca, der sie auf dem Wege einholte, und der für sein Essen Salben gegen Kröpfe gab, wie auch Ratschläge, um den Frieden zwischen Weibern und Männern wieder herzustellen. Er schien diese Berge so gut zu kennen wie den Dialekt der Berge und wies dem Lama die Richtung nach Ladakh und Tibet. Er sagte, sie könnten jeden Augenblick in die Ebenen zurückgelangen; indes wäre für die, die Berge liebten, dieser Weg ergötzlich. Das wurde nicht alles aus einmal gesagt, aber gelegentlich, bei abendlichem Zusammentreffen auf den Dreschtennen, wenn die Patienten besorgt waren, wenn der Doktor rauchte und der Lama schnupfte. Kim aber schaute nach den winzigen Kühen, die auf den Dächern grasten, und seine Seele folgte den Augen über tiefblaue Abgründe zwischen Bergkette und Bergkette. Und heimliche Gespräche gab es in den dunklen Gehölzen, wenn der Doktor Kräuter suchte und Kim als aufknospender Arzt ihn begleitete.

»Ihr seht, Mister O’Hara, ich weiß beim Kuckuck nicht, was ich tun werde, wenn ich unsere jagdlustigen Freunde treffe, aber wenn Ihr gütigst in Sicht meines Sonnenschirmes bleiben wollt, der ein hübsch fester Punkt ist für Kataster-Arbeiten, so wird mir das angenehm sein.«

Kim sah hinaus in die Wildnis von Bergspitzen. »Dies ist nicht mein Gebiet, Hakim. Leichter fände ich eine Laus in einem Bärenfell.«

»Oah, das ist gerade meine Stärke. Eile gibt es für Hurree nicht. Vor kurzem waren sie in Leh. Sie sagten, sie wären mit ihren Hörnern und Köpfen und allem von dem Kara Korum herunter gekommen. Ich fürchte nur, sie haben alle ihre Briefe und kompromittierenden Dinge zurückgeschickt in russisches Territorium. Natürlich werden sie so weit wie möglich nach dem Osten gehen – just um zu zeigen, daß sie niemals in westlichen Staaten gewesen. Ihr kennt die Berge nicht?« Er kratzte mit einem Zweig auf der Erde. »Seht her! Sie sollten über Srinagar oder Abbottabad hereingekommen sein. Das wäre ihr kürzester Weg – am Fluß herunter, bei Bunji und Astor. Aber sie haben im Westen Unfug getrieben. So« – er zog eine Linie von links nach rechts – »so marschieren sie und marschieren sie fort, ostwärts, nach Leh (ah! es ist kalt hier) und den Indus hinab nach Han-lé (ich kenne den Weg) und dann hinunter, seht Ihr, nach Bushahr und in das Tal von Chini. Das habe ich festgestellt, indem ich die Leute, die ich so flott kuriere, ausfragte. Unsere Freunde haben lange genug umhergestreift, um Eindruck zu hinterlassen; so sind sie weithin bekannt. Ihr werdet sehen, ich fange sie irgendwo im Chini-Tal. Bitte, haltet ein Auge auf meinen Sonnenschirm.«

Der Sonnenschirm nickte wie eine vom Wind bewegte Glockenblume in den Tälern und an den Berghängen, und zur gehörigen Zeit trafen ihn der Lama und Kim, die nach dem Kompaß marschierten, wenn er zur Abendzeit Salben und Pulver verkaufte. »Wir kamen auf dem oder dem Wege,« sagte der Lama, mit dem Finger rückwärts nach den Bergketten deutend, und der Sonnenschirm erging sich in Komplimenten.

In einer kalten Mondnacht kreuzten sie einen verschneiten Paß. Der Lama watete bis an die Knie im Schnee, wie eines der langhaarigen, backtrischen Kamele, die man in Kaschmir-Serai trifft, und neckte Kim, wenn er zurückblieb. Sie überschritten Lager von leichtem Schnee und schneebedecktem Schiefer und suchten Zuflucht vor einem Sturm in einem Lager von Tibetanern, die ihre kleinen Schafe, jedes mit einem Säckchen Borax auf dem Rücken, hinunter trieben. Sie kamen über grasige, noch mit Schnee besprenkelte Hügelrücken in einen Wald und aus diesem wieder auf Weidegrund. Aber all ihr Wandern machte auf Kedarnath und Badrinath keinen Eindruck; und erst nach tagelangen Märschen sah Kim, hoch auf einem Hügelchen von nur zehntausend Fuß Höhe stehend, daß ein Horn der beiden großen Herren seine Umrißlinie, wenn auch noch so wenig, verändert hatte.

Endlich betraten sie eine Welt für sich, ein Tal von Schichtungen, wo die hohen Hügelzüge von dem bloßen Geröll und Abfall nur der Kniee der Berge gebildet waren. Hier brachte ein Tagesmarsch sie scheinbar nicht weiter als der gehemmte Fuß einen Träumenden in seinem Angsttraum trägt. Sie erklommen mühevoll eine Bergschulter, und siehe da, sie erwies sich als ein nur vorgeschobener Buckel eines Hauptstockes. Ein Wiesenrund enthüllte sich, wenn sie es erreichten, als ein weites Tafelland, das sich weit hinab ins Tal dehnte. Drei Tage später schien es nur eine unbedeutende Erdfalte südwärts zu sein.

»Sicherlich, die Götter leben hier,« sagte Kim, überwältigt von dem Schweigen und dem großartigen Anblick der ziehenden und sich verteilenden Wolkenschatten nach dem Regensturm.

»Vor langer, langer Zeit,« sprach der Lama, wie zu sich selbst, »ward der Herr gefragt, ob die Welt ewig bestehen würde. Hierauf erteilte der höchst Vortreffliche keine Antwort .. Als ich in Ceylon war, bestätigte ein weiser Sucher dies aus der Lehre, die in Pali geschrieben ist. Sicherlich, seit wir den Weg zur Freiheit kennen, wäre diese Frage ohne Nutzen, aber – siehe und erkenne den Wahn, Chela! Dieses sind die wahren Berge. Sie sind wie meine Berge, bei Such-zen. Niemals gab es solche Berge.«

Über ihnen, noch unendlich hoch über ihnen, türmte sich die Erde aufwärts bis zur Schneegrenze, wo von Ost nach West, Hunderte von Meilen weit, wie mit einem Lineal abgeschnitten, die kühnen Horste endeten. Über diesen, in aufgetürmten Klippen und Blöcken, streben die Felsen, mit ihren Häuptern den weißen Qualm zu durchdringen. Über diesen wieder, ohne Wechsel seit Beginn der Welt, aber wechselnd bei jeder Laune von Wind oder Sonne, lag der ewige Schnee. Sie konnten dunkle Flecken auf seinem Antlitz sehen, wo der Sturm mit wanderndem Getriebe einen Tanz aufführte. Unter ihnen glitt der Wald hinein in eine blaugrüne Fläche, die sich Meilen und Meilen weit dehnte. Unter dem Wald war ein Dorf, von umhergestreuten terrassirten Feldern und absteigenden Weideplätzen umgeben; und unter dem Dorf, sie wußten es, wenn auch ein tobender, grollender Gewittersturm ihn augenblicklich unsichtbar machte, war ein Abhang, der zwölf- bis fünfzehnhundert Fuß tief hinunter stieg in das feuchte Tal, wo die Ströme sich sammeln, die die Mütter des jungen Sutluj sind.

Wie gewöhnlich hatte der Lama Kim auf Viehpfaden und Nebenwegen weit von der Hauptstraße weggeleitet, auf welcher Hurree Babu, »der furchtsame Mann,« drei Tage vorher hingezogen war, in einem Sturm, dem neun unter zehn Männern mit vollstem Recht aus dem Wege gegangen wären. Hurree war kein Schütze; der Schlag eines Gewehrdrückers ließ ihn die Farbe wechseln, aber er war, wie er selbst sagte – »ein flotter Ausschreiter« – und mittels eines billigen Krimstechers hatte er das ausgedehnte Tal mit einigem Erfolg durchstöbert. Überdies sind Zelte von hellem Segeltuch im Grünen weithin sichtbar. Auf einer Dreschtenne zu Ziglaur sitzend, in einer Entfernung von zwanzig Meilen für den Adlerflug und vierzig auf dem Wege, hatte Hurree Babu alles, was er sehen wollte, gesehen, nämlich zwei kleine Punkte, heute gerade unterhalb der Schneelinie, und morgen vielleicht sechs Zoll abwärts an der Hügelkante. – Erst einmal eingearbeitet und in Bewegung gesetzt, machten seine nackten, fetten Beine erstaunliche Märsche; und während noch der Lama und Kim in einer feuchten Hütte zu Ziglaur das Ende des Sturmes abwarteten, führte ein nasser, fettiger, aber lächelnder Bengale sich bei zwei durchweichten, verschnupften Fremden ein und sprach sein feinstes Englisch, durchsetzt mit den abscheulichsten Phrasen. Er war, wilde Pläne in einem Kopf herum wälzend, angekommen auf den Flügeln eines Wettersturmes, der eine Tanne zersplittert über ihr Lager hingeschleudert hatte. Dies hatte einigen Dutzend sehr eindrucksfähiger Gepäck-Kulis die Überzeugung beigebracht, daß der Tag für weitere Reise ungünstig wäre, und wie auf Verabredung warfen sie alle gleichzeitig ihre Last zur Erde, wie störrische Pferde.

Sie waren Untertanen eines Berg-Rajahs, der ihre Dienste, wie es der Brauch ist, zugunsten seiner Privatkasse vermietete, und ihre Not zu vermehren, hatten die fremden Sahibs sie schon mit ihren Flinten bedroht. Die meisten kannten Flinten und Sahibs von altersher; sie waren Spürhunde und Shikkarris (Jäger) aus den nördlichen Ebenen, kühn hinter Bären und wilden Ziegen her, aber so hatte man sie noch nie behandelt. Jetzt nahm der Wald sie an seinen Busen, und trotz Lärm und Flüchen lieferte er sie nicht wieder aus. Der Babu hatte nicht nötig, sich blödsinnig zu stellen oder er hatte eine andere List ersonnen, um aufgenommen zu werden. Er rang seine nassen Kleider aus, zog die Patent-Lederschuhe an, öffnete seinen blau und weißen Sonnenschirm, und mit gezierter Haltung, während ihm das Herz gegen die Rippen klopfte, stellte er sich vor als: »Agent seiner Königlichen Hoheit, des Rajahs von Rampur, meine Herren. Was Kann ich für Sie tun?«

Die Herren waren entzückt. Der eine war augenscheinlich ein Franzose, der andere ein Russe; sie sprachen nicht viel schlechter englisch als der Babu. Seine höflichen Dienste waren ihnen erwünscht. Ihre eingeborenen Diener hatten sie in Leh krank zurückgelassen, sie waren weiter geeilt, um ihre Jagdbeute nach Simla zu schaffen, ehe die Felle von Motten zerfressen würden. Sie hatten ein Empfehlungsschreiben – der Babu salaamte orientalisch bei dessen Vorzeigung – an alle Beamte der Regierung. Nein, sie hatten keine andere Jagdpartie auf ihrem Wege getroffen. Sie brauchten niemand. Sie hatten alles bei sich. Sie wünschten nur baldmöglichst weiterzukommen. Darauf erspähte der Babu einen niedergekauerten Bergbewohner zwischen den Bäumen, und mit wenigen Worten und ein wenig Silber (im Staatsdienst kann man nicht ökonomisch sein, wenn auch das Herz ob solcher Verschwendung blutet) brachte er die elf Kulis nebst drei Rachzüglern zum Vorschein: der Babu, meinten sie. könne wenigstens Zeuge sein, wie sie behandelt würden.

»Mein Königlicher Herr – er wird sehr erzürnt sein; diese Leute sind eben nur gemeines Volk und grob unwissend. Wenn Ew. Gnaden diesen unglücklichen Zwischenfall gütigst übersehen wollten, würde es mich freuen. Der Regen wird bald aufhören, dann können wir aufbrechen. Sie haben gejagt, wie? Das ist ein nobler Sport!«

Er hüpfte behende von einem Zelte zum anderen, als ob er jeden kegelförmigen Zipfel in Ordnung bringen wollte. Der Engländer ist gewöhnlich nicht vertraut mit dem Asiaten, aber er würde einen dienstfertigen Babu nicht zurückstoßen, wenn er zufällig ein Zelt mit einer Decke von rotem geölten Leinen umgekippt hätte. Er würde den Babu aber auch nicht zum Trinken oder Fleischessen nötigen. Die Fremden taten dies alles und stellten viele Fragen – besonders wegen Frauen – und Hurree antwortete heiter und natürlich. Sie gaben ihm ein Glas von einer weißlichen Flüssigkeit, ähnlich Branntwein, zu trinken und dann noch eins, und alsbald verließ ihn sein abgemessenes Wesen. Er wurde geschwätzig und sprach indiskret und unanständig von der Regierung, die ihm die Erziehung eines weißen Mannes aufgezwungen und den Gehalt eines weißen Mannes versagt hatte. Er plapperte Geschichten her von Unterdrückung und Unrecht, bis ihm die Tränen über die Backen flössen um das Elend seines Landes. Dann stolperte er davon, sang bengalische Liebeslieder und sank auf einen nassen Baumstumpf hin. Nie wohl ward ein unglücklicheres Produkt der englischen Herrschaft in Indien Ausländern aufgedrängt.

»Sie sind alle so,« sagte der eine Sportsmann zum anderen auf französisch. »Wenn wir in das richtige Indien kommen, wirst Du es selbst finden. Seinen Rahjah möchte ich wohl besuchen. Man könnte da ein höfliches Wort sprechen. Möglich, daß er von uns gehört hat und uns gefällig sein möchte.«

»Wir haben keine Zeit. Wir müssen so rasch es geht nach Simla kommen,« erwiderte der andere. »Ich wünsche, wir hätten unsere Berichte von Hilás oder selbst von Leh zurückgesendet.«

»Die englische Post ist besser und sicherer. Bedenke nur, wie leicht sie uns alles gemacht haben, und beim Himmel, sie machen es uns noch leichter. Ist es unglaubliche Dummheit?«

»Es ist Stolz – Stolz, der bestraft zu werden verdient und bestraft werden wird.«

»Ja, einen Bruder vom Kontinent in solchem Spiel zu hindern, wäre etwas. Ein Risiko ist dabei; aber dieses Volk – bah! Es ist zu sorglos.«

»Stolz – nichts als Stolz, Freund.«

»Was, zum Teufel, nutzt es nun, daß Chandernagore so nahe bei Kalkutta liegt,« dachte Hurree Babu, mit offenem Munde schnarchend, »wenn ich ihr Französisch nicht verstehen kann. Sie sprechen so furchtbar schnell. Da wäre es noch besser gewesen, ihnen die Gurgel flott abzuschneiden.«

Als er sich wieder zeigte, klagte er über Kopfschmerz, war niedergeschlagen und fürchtete, in seiner Trunkenheit indiskret geredet zu haben. Er liebte die englische Negierung: sie war die Quelle aller Wohlfahrt und Ehre, und sein Zerr in Rampur war derselben Meinung. Hierauf verspotteten ihn die beiden und wiederholten seine früheren Reden, bis der arme Babu, aus seiner Verschanzung herausgetrieben, mit geziertem Lächeln und schlauem Blinzeln sich gezwungen sah – die Wahrheit zu sprechen. Als er später Lurgan diese Geschichte erzählte, bedauerte dieser lebhaft, nicht an Stelle der stumpfsinnigen Kulis gewesen zu sein, die, mit Strohmatten über den Köpfen, im Wasser platschend auf gutes Wetter warteten. Alle ihre Sahibs, rauh gekleidete Männer, die jedes Jahr freudig wieder in ihre auserwählten Nester hier oben kamen, hatten Diener und Köche, die oft Bergleute waren. Diese Sahibs reisten ohne jedes Gefolge. Deshalb waren sie arme Sahibs, die nicht wissen, was sich gehört: denn Kein Sahib, der seine fünf Sinne hat, würde sich von einem Bengalen beraten lassen. Aber der Bengale wußte mit ihrer Sprache umzuspringen und hatte ihnen Geld gegeben. An selbstverständliche schlechte Behandlung durch Leute ihrer eigenen Farbe gewöhnt, vermuteten sie irgendwo eine Falle und hielten sich bereit, fortzulaufen, sobald die Gelegenheit sich bot.

Durch die reine, köstlich nach frischer Erde riechende Luft leitete der Babu den Weg abwärts, stolz an der Spitze der Kulis und in Demut hinter den Fremden gehend. Seine Gedanken waren viele und verschiedene und würden seine Gefährten ungemein interessiert haben. Er war ein angenehmer Führer, stets beflissen, auf die Schönheiten des Gebietes seines königlichen Herrn aufmerksam zu machen. Er bevölkerte die Berge mit allem, was seine Gefährten zu morden wünschten – mit Thär, Steinbock, Schraubenhornziege und – Bären, so viel es ihnen beliebte. Er redete über Botanik und Ethnologie mit unschuldigster Verkehrtheit, und sein Schatz von einheimischen Legenden – er war fünfzehn Jahre hindurch Vertrauens-Agent des Staates, mußte man bedenken – war unerschöpflich.

»Dieser Kerl ist wahrhaftig ein Original,« sagte der Größere der beiden Fremden.

»Er repräsentiert im Kleinen das Indien des Übergangs,« sagte der Russe, »das monströse Zwittertum von Ost und West. Wir verstehen mit Orientalen umzugehen.«

»Er hat sein eigenes Vaterland verloren und kein neues gewonnen. Er haßt seine Eroberer gründlich. Höre, er vertraute mir in letzter Nacht« – usw.

Unter dem gestreiften Sonnenschirm strengte Hurree Babu Kopf und Ohr an, dem rasch gesprochenen Französisch zu folgen, und hatte daneben beide Augen auf ein Zelt voll von Karten und Dokumenten gerichtet – extra groß und doppelt bedeckt mit geöltem roten Leinen. Er wollte nicht gerade stehlen. Er wollte nur wissen, was zu stehlen wäre, und – wenn es gestohlen wäre – wie damit fortzukommen. Er dankte allen Göttern von Hindostan und Herbert Spencer, daß einige Wertsachen zu stehlen vorhanden waren.

Am zweiten Tage stieg der Weg steil aufwärts zu einem grasbedeckten Gebirgsvorsprung, und hier, ungefähr am Sonnenuntergang, trafen sie einen alten Lama – die Fremden nannten ihn einen Bonzen – der mit gekreuzten Beinen vor einer geheimnisvollen, mit Steinen niedergehaltenen Karte saß, die er einem jungen Manne, augenscheinlich ein Neophit von besonderer, wenn auch ungewaschener Schönheit, erklärte. Der gestreifte Sonnenschirm war schon weithin in Sicht gewesen, und Kim hatte vorgeschlagen, auszuruhen, bis – er sie erreichte.

Hurree Babu, erfinderisch wie der gestiefelte Kater, rief, auf die Gruppe weisend: »Ah! Da ist eminent heiliger Mann dieser Gegend. Vermutlich Untertan meines königlichen Herrn.«

»Was macht er da? Es ist höchst sonderbar.«

»Er erklärt ein heiliges Bild – ganz Handarbeit.« Die Nachmittags-Sonne, die schon niedrig stehend, das Gras goldrot färbte, floß auch über die unbedeckten Köpfe der beiden Männer. Die verdrossenen Kulis, froh der Unterbrechung, standen still und warfen ihre Ladung ab.

»Schau,« sagte der Franzose, »es ist wie ein Bild bei dem Ursprung einer neuen Religion – der erste Lehrer und der erste Schüler. Ist er ein Buddhist?«

»Von irgend einer untergeordneten Art,« meinte der andere. »In den Bergen leben keine wahren Buddhisten. Aber betrachte die Falten seines Gewandes. Und seine Augen – wie unverschämt! Es ist, als wollten sie uns fühlen lassen, wie unreif wir noch sind!« Der Sprecher schlug ungeduldig gegen ein hohes Gestrüpp.

»Bis jetzt haben wir noch nirgendwo unsere Spur hinterlassen; das , siehst Du, quält mich.« Er blickte finster auf des Lamas friedliches Gesicht und die monumentale Ruhe seiner Haltung.

»Habe Geduld. Wir werden beide unsere Spur noch hinterlassen – wir – unreifes Volk. Zeichne doch inzwischen sein Bild ab.«

Der Babu trat würdevoll heran. Seine Haltung und ehrerbietige Sprache stand wenig im Einklang mit seinem Blinzeln gegen Kim.

»Heiliger, dies sind Sahibs. Meine Medizin half ihnen gegen Rheumatismus, und ich gehe mit nach Simla, um ihre Genesung zu überwachen. Sie wünschen, Dein Bild Zu betrachten.«

»Die Kranken zu heilen, ist wohlgetan,« sprach der Lama. »Dies ist das Rad des Lebens, dasselbe Bild, das ich Dir in der Hütte zu Ziglaur zeigte, als der Regen fiel.«

»Und Dich es erklären zu hören.« –

Des Lamas Augen leuchteten auf bei der Aussicht auf neue Zuhörer. »Es ist gut, den höchst Vortrefflichen Weg zu demonstrieren. Haben sie Kenntnis des Hindi, so wie der Hüter der Bildnisse?«

»Ein wenig, vielleicht.«

Der Lama bog den Kopf zurück und, einfach wie ein Kind, das sich in ein neues Spiel vertieft, begann er mit voller Stimme die Anrufung, die der Doktor der Theologie der Lehre voraus gehen läßt. Die Fremden lauschten, auf ihre Alpenstöcke gelehnt. Kim, demütig am Boden hockend, sah nach dem roten Sonnenlicht auf ihren Gesichtern und dem Ineinanderfließen und Schwinden ihrer langen Schatten. Sie trugen unenglische Leder-Gamaschen und sonderbare Gürtelriemen, die ihn dunkel an die Bilder in einem Buch der Bibliothek von St. Xavier erinnerten: »Abenteuer eines jungen Naturforschers in Mexiko,« war der Titel. Ja, sie sahen ähnlich aus wie der köstliche M. Sumichrast der Erzählung und durchaus nicht wie so »hoch gewissenloses Volk« laut Hurree Babus Einbildungskraft. Die erdfarbenen Kulis hockten stumm und ehrerbietig in angemessener Entfernung, und der Babu, dessen leichtes Gewand wie eine Feldfahne im feuchten Winde flatterte, stand da mit der Miene des glücklichen Besitzers.

»Das sind die Leute,« flüsterte Hurree Kim zu, als das Ritual fortschritt und die beiden Weißen dem Strohhalm folgten, der von der Hölle zum Himmel und wieder rückwärts wies. »Alle ihre Bücher sind in dem großen Zelt mit der rötlichen Decke – Bücher, Berichte und Karten – und ich sah einen Königsbrief, den entweder Hilás oder Benár geschrieben hat. Sie bewahren ihn sehr sorgsam. Sie haben nichts zurückgesendet von Leh oder Hilás; das ist sicher.«

»Wer ist bei ihnen?«

»Nur die Bettel-Kulis. Sie haben keine Diener. Sie sind so verschlossen. Sie kochen ihr Essen selbst.«

»Aber was habe ich zu tun?«

»Warte ab und sieh. Nur, wenn mir etwas Menschliches begegnet, so weißt Du, wo die Papiere sind.«

»Diese Sache läge besser in Mahbub Alis Hand, als in eines Bengalen,« meinte Kim verächtlich.

»Es gibt mehr Wege zum Liebchen hinaufzugelangen, als an der Wand hinaufzuklettern.«

»Seht hier die Hölle, für Habsucht und Geiz bestimmt. Auf der einen Seite die Begierde, auf der anderen Seite die Ungeduld.« Der Lama wurde warm bei seinem Vortrag, und einer der Fremden zeichnete ihn in dem rasch schwindenden Licht.

»Jetzt ist’s genug,« sagte der Mann plötzlich in brüsker Weise. »Ich kann ihn nicht verstehen, aber ich will das Bild haben. Er ist ein größerer Künstler als ich. Frage ihn, ob er es verkaufen will.«

»Er sagt »Nein, Sar,« berichtete der Babu. Der Lama würde eben so wenig seine Karte einem zufällig getroffenen Fußwanderer überlassen haben, als ein Erzbischof die heiligen Gefäße seiner Kathedrale verpfänden würde. Tibet ist voll von billigen Darstellungen des Rades; der Lama aber war nicht nur ein Künstler, sondern auch ein reicher Abt in seiner Heimat.

»Vielleicht in drei Tagen oder in vier oder in zehn Tagen, wenn ich sehe, daß der Sahib ein Sucher ist und von gutem Verständnis – werde ich selbst ihm ein anderes malen. Dieses aber ist für die Unterweisung eines Novizen bestimmt. Sage ihm das, Babu.«

»Er wünscht es aber gleich zu haben – für Geld.«

Der Lama schüttelte langsam sein Haupt und faltete die Karte zusammen. Der Russe sah nur einen schmutzigen alten Mann wegen eines schmutzigen Stückes Papier schachern. Er zog eine Handvoll Rupien aus der Tasche und griff, halb scherzend, nach der Karte, die beim Festhalten des Lamas zerriß. Ein leises Murmeln des Entsetzens kam von den Kulis her. Sie waren aus Spiti und dem Anschein nach gute Buddhisten. Der Lama erhob sich bei der Kränkung; seine Hand faßte nach dem eisernen Federkasten, der die Waffe des Priesters ist; und der Babu tanzte vor Aufregung.

»Nun siehst Du es – siehst Du es, warum ich Zeugen haben wollte. Sie sind höchst vorurteilsfreie Leute. O, Sar! Sar! Ihr dürft keinen heiligen Mann beleidigen?«

»Chela, er hat das Geschriebene Wort entweiht.«

Und ehe Kim ihn abwehren konnte, hatte der Russe den alten Mann ins Gesicht geschlagen. Im nächsten Augenblick aber rollte er kopfüber den Berg hinab, Kims Hand an seiner Kehle. Der Schlag hatte alle bisher unbekannten irischen Teufel wach gerufen in des Knaben Blut und der plötzliche Fall seines Feindes tat das Übrige. Der Lama, halb betäubt, sank auf die Kniee. Die Kulis flohen mit ihrer Last so rasch bergan, wie es Talbewohner nur in der Ebene können. Sie hatten eine ungeheuere Gotteslästerung gesehen, und sie mußten fliehen, ehe die Götter und Teufel der Hügel Rache nahmen. Der Franzose stürzte, nach seinem Revolver tappend, auf den Lama zu, mit der unklaren Idee, ihn zum Geisel für seinen Gefährten zu machen. Ein Schauer von scharfen Steinen – Gebirgler sind gute Zieler – trieb ihn fort und ein Kuli von Ao-chung riß den Lama mit in die Flucht hinein. Das Alles hatte sich so schnell abgespielt wie die Abenddämmerung im Hochgebirge.

»Sie haben die Bagage mitgenommen und alle Flinten,« brüllte der Franzose und feuerte blindlings in das Halbdunkel hinaus.

»Wohl wahr, Sar! Wohl wahr! Aber schießt nicht! Ich muß zur Hilfe eilen.« Und Hurree, den Abhang hinunter stampfend, purzelte buchstäblich über den erstaunten, aber entzückten Kim, der gerade den Kopf seines atemlosen Feindes gegen einen Felsen bumste.

»Geh zurück zu den Kulis,« flüsterte der Babu ihm ins Ohr. »Sie haben das Gepäck. Die Papiere sind in dem Zelt mit der roten Decke; aber sieh sie alle durch. Nimm ihre Papiere und besonders den Murasla (Königsbrief). Geh! Der andere kommt!«

Kim kletterte aufwärts. Eine Revolverkugel schlug ihm zur Seite gegen den Felsen an; er kauerte, wie ein Rebhuhn, nieder.

»Wenn Ihr schießt,« schrie Hurree nach oben, »werden die Kulis herunterkommen und uns vernichten. Den andern Herrn habe ich gerettet, Sar. Dies ist eine ganz besonders gefährliche Geschichte.«

»Donnerwetter!« Kim dachte englisch. »Dies ist eine verdammt kritische Lage; aber es ist Selbstverteidigung.« Er faßte nach Mahbubs Geschenk auf seiner Brust, und unsicher – er hatte die Waffe noch nie gebraucht, abgesehen von einigen Versuchsschüssen in der Wüste von Bikaner – drückte er den Revolver ab.

»Was habe ich gesagt, Sar!« Der Babu schien zu weinen.

»Kommt herunter und helft mir, ihn wieder ins Leben zu rufen. Unser aller Leben hängt an einem Haar, sag ich Euch.«

Das Schießen hörte auf. Man hörte polternde Schritte, und Kim eilte aufwärts durch die Dunkelheit, fluchend wie ein Eingeborener und fauchend wie eine Katze.

»Haben sie Dich verwundet, Chela?« erklang des Lamas Stimme über ihm.

»Nein. Und Du?« Er verschwand in einer Gruppe verkrüppelter Föhren.

»Nicht verwundet. Komm hinweg. Wir gehen mit diesen Leuten nach Shamlegh – unter – dem – Schnee.«

»Aber nicht ehe wir Gerechtigkeit geübt haben,« rief eine Stimme. »Ich habe die Flinten der Sahibs, alle vier. Laßt uns hinunter gehen.«

»Er schlug den Heiligen – wir sahen es! Unser Vieh wird unfruchtbar werden – unsere Weiber werden aufhören zu gebären! Der Schnee wird auf uns niederfallen, wenn wir heimwärts gehen …«

Die aufgeregten Kulis drängten sich in den Föhren zusammen, in ihrer Furcht und Panik waren sie zu allem fähig. Der Mann aus Ao-chung ruckte ungeduldig am Schlußhahn seines Gewehres und wollte hinuntersteigen.

»Warte ein wenig. Heiliger; sie sind noch nicht weit fort; warte, bis ich wiederkomme.«

»Ich bin es, der Unrecht erlitten hat,« sprach der Lama, die Hand an die Stirn legend.

»Darum eben,« war die Antwort.

»Wenn ich es übersehe, sind Euere Hände rein, überdies, Ihr erwerbt Verdienst durch Gehorsam.«

»Warte,« beharrte der Mann, »wir wollen nachher zusammen nach Shamlegh gehen.«

Einen Augenblick, kaum so lange wie man eine Patrone in den Verschluß des Gewehrs schiebt, zögerte der Lama. Dann stand er auf und legte einen Finger auf des Mannes Schulter.

»Hast Du gehört? Ich sage, es soll nicht getötet werden – ich – der Abt von Such-zen war. Trägst Du Verlangen, als Ratte wiedergeboren zu werden oder als Schnecke unter dem Efeu – als Wurm im Leib des niedrigsten Tieres – Ist es Dein Wunsch, zu –«

Der Ao-chunge fiel auf seine Knie, denn die Stimme dröhnte wie ein tibetanischer Teufels-Gong.

»Ai! Ai!« schrien die Spiti-Männer, »verwünsche uns nicht – verwünsche ihn nicht. Es war nur sein Eifer, Heiliger! … Wirf das Gewehr von Dir, Narr!«

»Unwille auf Unwille! Übel auf Übel! Es soll nicht getötet werden. Laßt die Priester-Schläger in die Sklaverei ihrer eigenen Taten gehen. Gerecht und untrüglich ist das Rad und weicht nicht ein Haarbreit ab! Sie werden noch viele Male wiedergeboren werden – in Qual.« Sein Kopf sank nieder und er stützte sich schwer auf Kims Schulter.

»Ich kam nahe an großes Unrecht, Chela,« sprach er leise in dem Schweigen unter den Föhren. »Ich war in Versuchung, die Kugel abzuschießen; und wahr ist es, in Tibet würde ein schwerer und ein langsamer Tod ihr Los gewesen sein … Er schlug mich ins Gesicht… auf das Fleisch …« Er glitt schwer atmend auf den Boden nieder und Kim hörte das überanstrengte Herz klopfen und aussetzen.

»Haben sie ihn zu Tode getroffen?« fragte der Ao-chunge und die andern standen stumm dabei.

Kim kniete in tödlicher Angst neben dem Körper. »Nein,« rief er endlich leidenschaftlich, »es ist nur Schwäche.« Er besann sich, daß er ein weißer Mann war und daß weißer Männer Hilfsmittel in seiner Hand waren.

»Öffnet die Zelte!« rief er. »Die Sahibs werden Arznei haben.«

»Oho! Die kenne ich,« lachte der Mann. »Nicht umsonst war ich fünf Jahre Pankling Sahibs Shikarri. Ich habe sie auch geschmeckt. Schaut her!«

Er zog aus seiner Brust eine Flasche billigen Whiskys, wie er in Leh Pfadfindern verkauft wird, und goß geschickt ein wenig zwischen des Lamas Zähne.

»So machte ich es, als Pankling Sahib sich jenseits Astor den Fuß verstauchte. Oho! Ich habe schon in ihre Körbe geschaut – in Shamlegh wollen wir redlich teilen. Gebt ihm etwas mehr. Es ist gute Medizin. Fühlt, sein Herz geht schon besser. Legt seinen Kopf nieder und reibt ihm die Brust ein wenig. Wenn er etwas gewartet hätte, bis ich die Sahibs zur Rechenschaft gezogen, würde dies nicht passiert sein. Aber vielleicht werden die Sahibs uns nun verfolgen. Dann wäre es doch keine Sünde, sie mit ihren eigenen Flinten totzuschießen, he?«

»Einer hat bereits seine Bezahlung,« murmelte Kim. »Ich trat ihm in die Rippen, als wir bergab rollten. Wollte, ich hätte ihn getötet.«

»Man kann wohl kühn sein, wenn man nicht in Rampur lebt,« sagte einer, dessen Hütte nur wenige Meilen von des Rajahs baufälligem Palaste lag. »Wenn wir uns einen schlechten Namen bei den Sahibs machen, braucht man uns nicht mehr als Shikarris.«

»Oh, aber dies sind keine Angrezi-Sahibs (Engländer), nicht freundliche Männer wie Fostum Sahib oder Yankling Sahib. Dies sind Fremde – die können nicht Angrezi sprechen, wie Sahibs tun.«

Der Lama hustete, richtete sich auf und griff nach seinem Rosenkranz.

»Es soll nicht getötet werden,« murmelte er. »Gerecht ist das Rad! Übel auf Übel –«

»Nein, Heiliger. Wir sind alle hier,« sagte der Ao-chung-Mann, schüchtern des Lamas Füße streichelnd. »Keiner soll getötet werden, wenn Du es nicht befiehlst. Ruhe ein wenig. Wir wollen hier ein kleines Lager machen und später, wenn der Mond aufgeht, gehen wir nach Shamlegh–unter–dem–Schnee.«

»Nach einem Schlag,« sprach bedeutungsvoll ein Spiti-Mann, »ist es geraten zu schlafen.«

»Es ist gleichsam ein Schwindel in meinem Hinterkopf und ein Schmerz darin. Laß mich den Kopf auf Deinen Schoß legen, Chela. Ich bin ein alter Mann, aber nicht frei von Leidenschaft … Wir müssen an die Ursache der Dinge denken.«

»Gebt ihm eine Decke. Ein Feuer dürfen wir nicht anzünden, sonst würden die Sahibs es sehen.«

»Besser ist es, nach Shamlegh zu gehen, nach Shamlegh wird uns niemand folgen,« sagte der ängstliche Rampur-Mann.

»Ich war Fostum Sahibs Shikarri, und ich bin Yankling Sahibs Shikarri. Ohne diesen verfluchten Kerl wäre ich jetzt bei Yankling Sahib. Zwei Männer sollen unten mit Gewehren aufpassen, daß die Sahibs nicht neue Torheiten machen. Ich will diesen Heiligen nicht verlassen.«

Sie setzten sich etwas entfernt vom Lama nieder und ließen eine Wasserpfeife rund gehen, deren Gefäß eine alte Whiskyflasche war. Das Glimmen der roten Kohle, als die Pfeife von Hand zu Hand ging, warf einen Schein auf die blinzenden Augen, die hohen chinesischen Backenknochen und die ochsenartigen Gurgeln, die halb in den dunklen Düffelfalten um ihre Schultern verschwanden. Sie sahen aus wie Kobolde aus einer verzauberten Grube, wie eine feierliche Versammlung von Berggeistern. Und während sie sprachen, wurden die Stimmen der Schneewasser rund umher schwächer, denn der Nachtfrost hemmte die Flüßchen und hielt sie gefangen.

»Wie er aufstand gegen uns!« sagte voll Bewunderung ein Spiti-Mann. »Ich erinnere mich, wie ein alter Steinbock am Ladakh-Wege, den Dupont Sahib in die Schulter geschossen hatte, genau so gegen uns aufstand. Dupont Sahib war ein guter Jäger.«

»Nicht so gut wie Pankling Sahib.« Der Ao-chung-Mann nahm einen Schluck aus der Whisky-Flasche und ließ sie rund gehen. »Nun hört mich – wenn Kein anderer denkt, es besser zu wissen –«

Die Herausforderung wurde nicht angenommen.

»Wenn der Mond aufgeht, gehen wir nach Shamlegh. Dort wollen wir das Gepäck ehrlich teilen. Ich bin zufrieden mit dieser kleinen neuen Flinte und allen Patronen.«

»Sind die Bären nur gefährlich, wenn sie Dich treffen?« fragte einer, der an der Pfeife sog.

»Nein; aber Moschus-Felle sind jetzt sechs Rupien das Stück wert, und Deine Weiber können das Segeltuch von den Zelten und etwas Kochgeschirr bekommen. Wir wollen das alles in Shamlegh ordnen, vor Morgengrauen. Dann gehen wir alle unserer Wege und vergessen, daß wir jemals diese Sahibs gesehen oder Dienste bei ihnen genommen haben. Wer kann dann noch sagen, daß wir ihr Gepäck gestohlen haben?«

»Das ist gut für Dich! Aber was wird unser Rajah sagen?«

»Wer soll es ihm berichten? Diese Sahibs, die unsere Sprache nicht sprechen, oder der Babu, der aus eignem Antrieb uns Geld gegeben hat? Wird der eine Armee gegen uns führen? Welcher Beweis liegt vor? Was wir nicht brauchen, werfen wir nach Shamlegh-Mitte, wo bis jetzt kein Mensch hingekommen ist.«

»Wer ist diesen Sommer auf Shamlegh? Es ist nur ein Weideplatz, mit drei oder vier Hütten.«

»Die Frau von Shamlegh. Sie liebt die Sahibs nicht. Die andern können durch kleine Geschenke gewonnen werden; und hier ist genug für uns alle.« Er klopfte auf den nächsten wohlgefüllten Korb.

»Aber – aber« –

»Ich sage Euch, sie sind keine wahren Sahibs. Alle ihre Felle und Köpfe sind im Basar von Leh gekauft. Ich kenne die Zeichen. Ich zeigte sie Euch schon auf dem letzten Marsch.«

»Wahr. Es sind alles gekaufte Felle und Köpfe. Einige hatten schon Motten.«

Das war ein schlaues Argument, und der Ao-chung-Mann kannte seine Leute.

»Im schlimmsten Fall werde ich es Yankling Sahib erzählen. Er ist ein lustiger Mann und wird lachen. Wir tun keinem Sahib, den wir kennen, Unrecht. Diese aber sind Priester-Schläger. Sie jagten uns in Furcht. Wir flohen! Wer weiß, wo wir das Gepäck fallen ließen? Meint Ihr, Yankling Sahib würde der Polizei von da unten erlauben, über seine Hügel zu laufen und sein Wild aufzustören? Es ist ein weiter Schrei von Simla nach Chini und weiter noch von Shamlegh nach Shamlegh-Mitte.«

»So mag es sein: aber ich trage das große Zelt. Den Korb mit dem roten Überzug, den die Sahibs jeden Morgen selbst packten.«

»Das ist ein Beweis, daß sie keine wahren Sahibs sind,« sagte der verschlagene Shamlegh-Mann. »Wer hat jemals gehört, daß Fostum Sahib oder Yankling Sahib oder selbst der kleine Peel Sahib, der in der Nacht aufsitzt, um Serus zu schießen, – ich sage, wer hat je gehört, daß diese Sahibs in die Zügel gekommen wären ohne einen Koch von da unten und einen Träger und – und alle Arten von wohlbezahltem, hochfahrendem und tyrannischem Volk in ihrem Gefolge? Was können diese Sahibs uns anhaben? Was ist’s mit dem Zelt?«

»Nichts. Nur, daß es voll ist von dem Geschriebenen Wort – Bücher und Papiere, in die sie selbst geschrieben haben, und sonderbare Werkzeuge, wie zum Gottesdienst.«

»Shamlegh-Mitte wird sie alle aufnehmen.«

»Wahr! Aber wenn wir dadurch die Götter der Sahibs beleidigen? Ich gehe nicht so mit dem Geschriebenen Wort um. Und ihre metallenen Götzenbilder kenne ich erst recht nicht. Sie sind keine Hausgeräte für einfältige Bergleute.«

»Der alte Mann schläft noch. Hst! Wir wollen seinen Chela fragen.« Der Ao-chung-Mann erfrischte sich wieder und blähte sich als Wortführer.

»Wir haben hier,« flüsterte er, »ein Zelt, dessen Eigenschaften wir nicht kennen.«

»Aber ich kenne sie,« sagte Kim leise. Der Lama atmete in leichtem, natürlichem Schlaf und Kim hatte über Hurrees letzte Worte nachgedacht. Als ein Spieler des Großen Spiels war er gerade jetzt geneigt, dem Babu alle Hochachtung zu zollen. »Es ist ein Zelt mit rotem Überzug, voll von wunderbaren Dingen, die Toren nicht in Händen haben sollten.‘

»Sagte ich es nicht?« Sagte ich es nicht?« rief der Träger des Ballens. »Glaubst Du, es wird uns verraten?«

»Nicht, wenn man es mir gibt. Ich will den Zauber austreiben. Sonst aber kann es großes Unheil bringen.«

»Ein Priester nimmt immer seinen Anteil.« Der Whisky demoralisierte den Ao-chung-Mann.

»Mir liegt nichts daran,« antwortete Kim, mit der Schlauheit seines Mutterlandes. »Teilt es unter Euch und sehet, was kommt.«

»Nicht ich. Ich scherzte nur. Gib den Befehl. Es ist mehr als genug für uns alle da. Wir gehen unseres Weges gegen Shamlegh im Morgendämmern.«

Sie verabredeten immer von neuem ihre harmlosen kleinen Pläne und Kim erschauerte vor Kälte und Stolz. Der Humor der Situation kitzelte das Irische und das Orientalische in seiner Seele. Die Emissäre gefürchteter nordischer Mächte, vielleicht so hochstehend in ihrem eigenen Lande wie Mahbub oder Oberst Creighton hier, lagen plötzlich hilflos niedergeworfen. Einer von ihnen, das wußte er allein, würde für einige Zeit lahm sein. Sie hatten Königen Versprechungen gemacht. Diese Nacht lagen sie irgendwo da unten, ohne Wagen, ohne Nahrung, ohne Zelt, ohne Gewehre – und wäre Hurree Babu nicht bei ihnen, auch ohne Führer. Und dieser Zusammenbruch ihres Großen Spiels (Kim fragte sich, wem sie es wohl berichten würden), diese kopflose Flucht durch die Nacht war weder durch eine List Hurree Babus noch durch einen Anschlag Kims herbeigeführt; nur einfach, hübsch und unvermeidlich: wie die Gefangennahme von Mahbubs Fakir-Freunden durch einen eifrigen jungen Polizeibeamten zu Umballa.

»Da liegen sie – und haben nichts; und beim Zeus! es ist kalt. Und hier bin ich mit all ihren Sachen. Wie wütend sie sein werden! Um Hurree tut es mir leid.«

Das Mitleid für den Bengalen hätte er sparen können, denn wenn Hurree auch körperlich litt, so war er doch aufgebläht vor Stolz. Eine Meile bergabwärts, an der Grenze des Kiefernwaldes traktierten zwei halb erfrorene Männer (der eine von ihnen von heftigen Schmerzen geplagt) sich gegenseitig mit heftigen Beschuldigungen und schimpften nebenbei auf den Babu, der vor Schrecken erstarrt schien. Sie forderten von ihm einen Operationsplan. Er erklärte: Sie könnten zufrieden sein, daß sie überhaupt noch lebten; daß ihre Kulis, wenn sie nicht heimlich hinterher schlichen, jetzt nicht mehr zu erreichen wären; daß der Rajah, sein Herr, neunzig Meilen weit weg wäre und ebenso weil entfernt, ihnen Geld zu borgen, als ihnen ein Gefolge nach Simla zu geben; daß er vielmehr sie ins Gefängnis sperren würde, wenn er erführe, daß sie einen Priester geschlagen hätten. Er verbreitete sich weitläufig über diese Sünde und deren mögliche Folgen, bis sie ihm befahlen, von etwas anderem zu sprechen. Ihre einzige Hoffnung, sagte er darauf, wäre eine bescheidene Flucht von Dorf zu Dorf, bis sie zivilisierte Gegenden erreichten, und zum hundertsten Mal, mit strömenden Tränen, richtete er an die hohen Sterne die Frage: »Warum die Sahibs einen heiligen Mann geschlagen.«

Zehn Schritte in die Dunkelheit hinein hätten genügt, Hurree aus ihrem Bereich und in ein Dorf zu bringen, wo er Obdach und Speise gefunden hätte und wo glattzüngige Doktoren seltene Gäste waren. Aber er zog es vor, trotz Kälte, Magenknurren, Schimpfreden und gelegentlicher Schläge, in der Gesellschaft seiner geehrten Dienstherren zu bleiben. Gegen einen Baumstumpf zusammengedrückt, schnuffelte er kummervoll »Und hast Du bedacht,« fragte der Nichtverwundete heftig, »welche Art Schauspiel wir geben würden, wenn wir durch diese Berge kriechen, zwischen diesen Ureinwohnern herum?«

Hurree Babu hatte die letzten Stunden an nichts anderes gedacht: aber die Frage war nicht an seine Adresse gerichtet.

»Wir können nicht weit kommen! Ich kann kaum gehen,« stöhnte Kims Opfer.

»Vielleicht wird der heilige Mann barmherzig sein in versöhnlicher Liebe, Sar – sonst –«

»Ich verspreche mir ein besonderes Vergnügen davon, meinen Revolver in den jungen Bonzen zu entleeren, sobald ich ihn wieder treffe,« war die unchristliche Antwort.

»Revolver! Rache! Bonze!« Hurree kroch in sich zusammen. Der Krieg schien von neuem auszubrechen.

»Denkst Du nicht an unsern Verlust? Das Gepäck! Unsere Sachen!« Er hörte den Sprecher buchstäblich tanzen vor Wut. »Alles was wir trugen! Alles was wir gespart! Unser Gewinn! Die Arbeit von acht Monaten! Begreifst Du, was das sagen will? »Sicher, wir verstehen mit Orientalen umzugehen!« Oh, Du hast es gut gemacht!«

Sie zankten sich in verschiedenen Sprachen. Hurree lächelte. Kim war bei den Zelten, und in den Zelten lagen acht Monate guter Diplomatie. Es war nicht möglich, sich mit dem Knaben in Verbindung zu setzen, aber er war zuverlässig. Im übrigen würde er die Regie der Reise durch die Berge so führen, daß Hilas, Bunar und noch vierhundert Meilen Hügelstraße die Geschichte genau behalten würden mindestens für eine Generation. Leute, die nicht einmal ihre eigenen Kulis beaufsichtigen können, werden in den Bergen nicht respektiert und der Gebirgler hat sehr viel Sinn für Humor.

»Wenn ich es selbst getan hätte,« dachte Hurree, »hätte es nicht besser gehen können; und nun wo ich es überlege, verflucht! habe ich es selbst arrangiert. Wie geschickt ich es gemacht habe! Ich dachte es aus, als ich eben den Hügel hinabrannte. Die Beleidigung war ein Zufall, aber ich allein – habe sie ausgenutzt – ha! Sie war es verdammt wert! Bedenke den moralischen Effekt auf dieses unwissende Volk! Keine Verträge – keine Papiere – keine geschriebenen Dokumente – und ich als Vermittler für sie! Wie ich mit dem Oberst lachen will! Ich möchte ihre Papiere auch haben, aber man kann nicht zu gleicher Zeit auf zwei Plätzen im Räume sein – das ist leider klar!«

Ein Roman aus dem gegenwärtigen [1901] Indien

Ein Roman aus dem gegenwärtigen [1901] Indien

Kim

Am 12. Juli 1899 übertrug Rudyard Kipling der Firma Vita, Deutsches Verlagshaus, G. m. b. H., Berlin-Charlottenburg, das ausschließliche Veröffentlichungsrecht seiner künftigen Werke für die deutsche Sprache

Kapitel 1.

Kapitel 1.

Er saß, in trotziger Mißachtung der behördlichen Vorschriften, rittlings auf der Kanone Zam-Zammah, die auf ihrem Ziegel-Unterbau gegenüber dem alten Ajaib-Gher stand – dem Wunderhaus – wie die Eingeborenen das Museum von Lahore nennen. Wer Zam-Zammah, »den feuerspeienden Drachen«, im Besitz hat, besitzt das Punjab; denn das mächtige, grünbronzene Geschütz ist immer des Siegers erste Beute.

Eine Rechtfertigung gab es für Kim – er hatte Lala Dinanaths Sohn von den Kurbellagern heruntergetreten – da den Engländern das Punjab gehörte – und Kim war Engländer. Obgleich so schwarz gebrannt, wie ein Eingeborener, obgleich mit Vorliebe die Landessprache gebrauchend und seine Muttersprache in einem undeutlichen Singsang radebrechend; obschon auf völligem Gleichheitsfuße mit den kleinen Bazar-Buben verkehrend, war Kim doch ein Weißer – ein armer Weißer – von den Allerärmsten einer. Die Halbblut-Frau, die ihm Quartier gab (sie rauchte Opium und behauptete, einen Möbelhandel aus zweiter Hand an dem Platz, wo die billigen Mietwagen stehen, zu betreiben), sagte den Missionären, sie sei Kims Mutterschwester. Seine Mutter aber war Kindermädchen in der Familie eines Obersten gewesen und hatte Kimball O’Hara geheiratet, einen jungen Fahnen-Unteroffizier von den Mavericks, einem irischen Regiment. Dieser nahm später Dienst bei der Sind-Punjab-Delhi-Eisenbahn, und sein Regiment ging ohne ihn heimwärts. O’Haras Weib starb in Ferozepore an der Cholera; er ergab sich dem Trunk und trieb sich mit dem dreijährigen, blitzäugigen Kinde an der Bahnlinie herum. Vereine und Geistliche, um den Knaben besorgt, suchten ihn einzufangen. Aber O’Hara machte sich stets aus dem Staube, bis er endlich auf das Weib traf, das Opium rauchte, von ihr diese Liebhaberei lernte und starb, so wie arme Weiße in Indien sterben. Seine Hinterlassenschaft bestand aus drei Schriftstücken; das eine nannte er sein » ne varietur « weil dies Wort unter seinem Namenszug geschrieben stand, das andere seinen Entlassungsschein; das dritte war Kims Geburtsschein. »Diese Dinger«, so pflegte er in seinen glorreichen Opiumstunden zu sagen, »würden den kleinen Kimbali noch zu einem Manne machen.« Auf keinen Fall dürfte Kim sich von den Papieren trennen, denn sie wirkten durch Magie – eine Magie, wie sie die Männer drüben hinter dem Museum übten, in dem großen blau und weißen Jadoo-Gher – dem magischen Hause – was wir Freimaurer-Loge nennen). Es würde, sprach O’Hara, eines Tages alles zum Rechten kommen und Kims Horn würde hoch erhoben zwischen Säulen hängen – ungeheuren Säulen – starken und schönen. Der Oberst selbst, an der Spitze des stolzesten Regimentes der Welt reitend, würde Kim aufwarten – dem kleinen Kim – der es besser haben sollte, als sein Vater. Neunhundert Teufel erster Klasse, deren Gott ein Roter Ochse auf grünem Felde war, würden Kim dienen, wenn sie nicht O’Hara vergessen hätten – den armen O’Hara, den Vorarbeiter auf der Strecke von Ferozepore. Dabei pflegte er in seinem zerbrochenen Binsenstuhl auf der Veranda bitterlich zu weinen. So geschah es, daß nach seinem Tode das Weib Pergament, Papier und Geburtsschein in ein ledernes Amulett-Etui einnähte und es Kim um den Hals hängte.

»Und eines Tages,« sprach sie, sich der Prophezeihung O’Hara’s verworren erinnernd, »wird ein großer roter Ochse auf grünem Felde zu Dir kommen und ein Oberst, auf hohem Pferde reitend, ja, und« – in’s Englische fallend – »neunhundert Teufel.«

»O,« rief Kim, »ich werde daran denken. Ein roter Ochse wird kommen und ein Oberst zu Pferde. Aber vorher, sagte mein Vater, kommen die zwei Männer, die den Grund klar machen für die Ereignisse. So machen sie’s immer, sagte mein Vater, wenn Männer Magie treiben.«

Hätte die Frau Kim mit seinen Papieren nach dem Orts-»Jadoo-Gher« gesandt, so würde er sicher von der Provinzial-Loge übernommen und in das Freimaurer-Waisenhaus im Gebirge geschickt worden sein; aber was sie von Magie gehört, machte sie mißtrauisch. Auch Kim hatte seine eigenen Ansichten. Als er in die Flegeljahre kam, ging er Missionaren und weißen Leuten von ernstem Aussehen, die zu fragen pflegten, wer er sei und was er treibe, geflissentlich aus dem Wege. Denn Kim trieb, mit großartigem Erfolge, gar nichts. Zwar die wundervolle, wallumgürtete Stadt Lahore kannte er durch und durch, vom Delhi-Tor bis zum äußersten Festungsgraben; zwar stand er auf Du und Du mit Leuten, die ein so seltsames Leben führten, wie selbst Harun al Raschid es sich nicht hätte träumen lassen; zwar lebte er selbst ein so seltsames Leben, wie in »Tausend und eine Nacht« – aber die Missionare und Beamten von wohltätigen Anstalten hätten dies alles ja nicht zu würdigen gewußt. Im Stadtbezirk war sein Spitzname »Kleiner Allerweltsfreund«. Da er klein und unauffällig war, hatte er sehr oft nächtliche Botschaften auf den belebten Hausdächern von fashionablen, geschniegelten jungen Herren auszurichten. Es waren Intriguen, natürlich – er wußte das nur zu genau, hatte er doch, seit er sprechen konnte, alles Böse kennen gelernt. Er lieble solche Streiche um ihrer selbst willen; dies heimliche Umherstreifen durch dunkle Winkel und Gäßchen, das verstohlene Hinaufschleichen durch ein Wasserrohr, den Anblick und die Laute der Frauenwelt auf den flachen Dächern und die ungestüme Flucht von Dach zu Dach im Schutze der schwülen Dunkelheit. Dann gab es heilige Männer, mit Asche beschmierte Fakire, unter ihren steinernen Schreinen bei den Bäumen am Flußufer, mit denen er ganz familiär stand. Er begrüßte sie, wenn sie von ihren Bettelreisen zurückkehrten, und, wenn es niemand sah, aß er auch mit ihnen aus derselben Schüssel.

Die Frau, die ihn in Obhut hatte, flehte unter Tränen, er solle europäische Kleider tragen: Hosen, ein Hemd und einen Schlapphut. Kim zog es vor, in ein Hindu- oder Mohammedaner-Gewand zu schlüpfen, wenn er in gewissen Geschäften unterwegs war. Einer der jungen, fashionablen Männer – es war derselbe, der in der Nacht des Erdbebens auf dem Grunde eines Brunnens tot aufgefunden wurde – hatte ihm einst einen vollständigen Anzug aus Hindu-Stoff, das Kostüm eines Straßenjungen niederer Kaste, gegeben. Kim verbarg es heimlich zwischen einigen Balken auf Nila Rams Zimmerplatz, hinter dem Punjab-Gerichtshof, dort, wo die wohlriechenden Deodar-Klötze zum Austrocknen lagerten, nachdem sie den Ravi herabgetrieben. Wenn Aussicht auf Geschäfte oder Schelmenstreiche bevorstand, holte Kim seinen verborgenen Besitz hervor und kehrte erst beim Morgengrauen zurück in die Veranda, erschöpft vom Jubilieren hinter einer Heiratsprozession her oder vom Schreien bei einer Hindu-Festlichkeit. Zuweilen fand er einen Happen im Hause, öfter aber nicht; dann ging er wieder fort und aß mit seinen eingeborenen Freunden.

Er trommelte mit den Hacken gegen Zam-Zammah und unterbrach bisweilen sein »König vom Schloß«-Spiel mit dem kleinen Chota Lal und Abdullah, des Kuchenbäckers Sohn, um dem eingeborenen Polizisten, der die Reihe von Schuhen vor dem Museum zu bewachen hatte, Grobheiten zuzurufen. Der dicke Punjabmann lächelte nachsichtig. Er kannte Kim schon lange – ebenso der Wasserträger, der die trockene Straße aus seinem ziegenledernen Sack besprengte. Auch der Jawahir Singh, der Museums-Tischler, der über neuen Packkisten gebückt dastand, war ein alter Bekannter Kims, wie überhaupt jedermann rundherum, ausgenommen die Bauern vom Lande, die nach dem Wunderhause kamen, um die Dinge anzustaunen, die in ihrer eignen Provinz ebenso wie auch anderswo angefertigt wurden. Das Museum war bestimmt für die Erzeugnisse indischer Kunst und Industrie. Wer etwas erklärt haben wollte, konnte den Direktor fragen.

»Herunter! Herunter mit Dir! Ich will hinauf,« schrie Abdullah, auf Zam-Zammah’s Rad kletternd.

»Dein Vater war Pastetenkoch. Deine Mutter stahl das »Ghi«, . sang Kim. »Alle Muselmänner sind längst von Zam-Zammah heruntergefallen.«

»Laß mich hinauf!« kreischte der kleine Chota Lal, unter seiner goldgestickten Mütze. Sein Vater war vielleicht eine halbe Million Sterling wert; aber Indien ist das einzige demokratische Land der Welt.

»Die Hindu sind auch von Zam-Zammah herabgefallen. Die Muselmänner stießen sie herunter. Dein Vater war Pastetenkoch« – Er hielt inne, denn um die Ecke, vom geräuschvollen Moti-Bazar her, kam schwerfälligen Ganges ein Mann, wie ihn Kim, der alle Kasten zu kennen glaubte, nie zuvor gesehen. Er war nahezu sechs Fuß hoch und gekleidet in dunkelbraunen Stoff, der, einer Pferdedecke ähnlich, Falte auf Falte schlug; und nicht eine Falte konnte Kim in Zusammenhang bringen mit irgendeinem ihm bekannten Geschäft oder Handwerk. An seinem Gürtel hing ein eiserner Federbehälter von durchbrochener Arbeit und ein hölzerner Rosenkranz, wie ihn heilige Männer tragen. Auf dem Haupte hatte er eine Art riesiger spitzer Deckelmütze mit einem Knopf in der Mitte. Sein Gesicht war gelb und runzelig wie das von Fook Shing, dem chinesischen Schuhmacher im Bazar. Seine Augen zogen sich nach den Winkeln aufwärts und sahen aus wie kleine Spalten aus Onyx.

»Wer ist das?« fragte Kim seine Kameraden.

»Vielleicht ist es ein Mann,« sprach Abdullah hinstarrend, den Finger im Munde.

»Ohne Zweifel,« erwiderte Kim; »aber es ist ein Inder, wie ich ihn noch nie sah.«

»Ein Priester vielleicht,« meinte Chota Lal, den Rosenkranz erspähend. »Sieh, er geht in das Wunder-Haus.«

»Nein, nein,« sagte der Polizist kopfschüttelnd. »Ich verstehe Deine Rede nicht.« Der Konstabler sprach Punjabi. »He, Du! Allerweltsfreund! was sagst Du?«

»Schicke ihn hierher,« rief Kim, von Zam-Zammah herab kletternd und seine nackten Füße schwenkend. »Er ist ein Fremder und Du bist ein Büffel.«

Der Mann drehte sich hilflos um und schob sich zu dem Knaben hin. Er war alt, und sein wollenes Obergewand dunstete noch von dem übelriechenden Wermut der Gebirgspässe.

»O, Kinder, was ist dies große Haus?« fragte er in sehr klarer Urdusprache.

»Das Ajaib-Gher, das Wunder-Haus.« Kim gab ihm keinen Titel, wie Lala oder Mian, denn er konnte des Mannes Glaubensbekenntnis nicht erraten. »Ah! Das Wunder-Haus! Kann da ein jeder eintreten?«

»Es steht über der Pforte geschrieben – jeder kann eintreten.«

»Ohne Bezahlung?«

»Ich gehe ein und aus. Und ich bin kein Bankier,« lachte Kim.

»Ach! Ich bin ein alter Mann, ich wußte es nicht.« Dann, seinen Rosenkranz fingernd, wandte er sich halb dem Museum zu.

»Welcher Kaste gehörst Du an? Wo ist Dein Haus? Kommst Du von ferne her?« fragte Kim.

»Ich kam über Kulu, von jenseits der Kailas – aber was wißt Ihr von den Bergen, wo« – er seufzte – »Luft und Wasser frisch und kühl sind.«

»Aha! Khitai« (ein Chinese), sagte Abdullah stolz. Fook Shing hatte ihn einmal aus seinem Laden gejagt, weil er nach dem Joß (chinesischer Götze) gespieen, der über den Stiefeln thronte.

»Pahari« (ein Bergbewohner), meinte der kleine Chota Lal.

»Ach Kind! Ein Bergbewohner, von Bergen, die Du niemals sehen wirst. Hörtest Du schon von Bhotiyal (Tibet)? Ich bin kein Khitai, aber ein Bhotiya (Tibetaner), wenn Du es wissen mußt – ein Lama – oder sage in Deiner Sprache: ein Guru.«

»Ein Guru von Tibet,« rief Kim. »So einen Mann sah ich noch nie. Sind sie Hindus in Tibet?«

»Wir sind Pilger des ›mittleren Pfades‹ und leben in Frieden in unseren Land-Klöstern; ich aber zog aus, um die Vier Heiligen Plätze zu sehen, bevor ich sterbe. Nun wißt Ihr, die Ihr Kinder seid, so viel als ich, der ich alt bin.« Er lächelte wohlwollend auf die Knaben hernieder.

»Hast Du gegessen?«

Er tappte auf seiner Brust herum und zog eine abgenutzte, hölzerne Bettelschale hervor. Die Knaben nickten. Alle Priester ihrer Bekanntschaft bettelten.

»Ich mag noch nicht essen.« Er bewegte seinen Kopf wie eine alte Schildkröte im Sonnenschein. »Ist es wahr, daß so viele Bildnisse im Wunder-Hause von Lahore stehen?« Er wiederholte die letzten Worte, wie jemand, der sich eine Adresse einprägt.

»Das ist wahr,« sagte Abdullah. »Es ist voll von heidnischen ›Buts‹. Du bist wohl auch ein Götzendiener?«

»Höre nicht auf ihn ,« sprach Kim. »Das Haus gehört der Regierung und Götzendienerei gibt es nicht darin; nur einen Sahib mit einem weißen Bart. Komm mit mir, ich will Dich führen.«

»Fremde Priester fressen Knaben,« wisperte Chota Lal.

»Und er ist ein Fremder und ein But-parast (ein Götzendiener)« sagte Abdullah, der Mohammedaner.

Kim lachte. »Er ist fremd. Lauft, versteckt Euch in Eurer Mutter Schoß, dann seid Ihr sicher. Komm!«

Kim schob sich durch das Drehkreuz am Eingang, der alte Mann folgte, blieb aber bald vor Erstaunen stehen. In der Eintrittshalle standen die größeren Figuren hellenistisch-buddhistischer Skulptur, die – Gelehrte mögen wissen vor wie langer Zeit – von vergessenen Künstlern gefertigt waren, deren Hände nicht ohne Geschick nach dem rätselhaft überkommenen griechischen Stil getastet hatten. Da waren vereinigt Hunderte von Figurenfriesen in Relief, Fragmente von Statuen und Steinplatten mit Figuren, welche die steinernen Wände der buddhistischen Stupas (bienenkorbförmige Baudenkmäler) und Viharas (Klöster) der nördlichen Gegenden bedeckt hatten, um nun, ausgegraben und etikettiert, den Stolz des Museums auszumachen. Mit staunender Bewunderung wandte der Lama sich von einem zum anderen, bis er endlich in verzückter Spannung still stand vor einem Hoch-Relief, das die Krönung oder Apotheose des Buddha wiedergab. Der »Herr« war dargestellt auf einer Lotusblume sitzend, deren Blätter so tief unterhöhlt waren, daß sie fast losgelöst erschienen. Eine anbetende Korona von Königen, Tempelältesten und Buddhas aus den Vorzeiten umgab ihn. Darunter lotusbedeckte Wasser mit Fischen und Wasservögeln. Zwei Dewas mit Schmetterlingsflügeln hielten einen Kranz über seinem Haupte; zwei andere trugen den Sonnenschirm, überragt von der juwelenstrahlenden Hauptbedeckung des Bodhisat.

»Der Herr! Der Herr! Es ist Sakya Muni selbst,« sprach der Lama mit unterdrücktem Schluchzen, und er begann mit halber Stimme die wundervolle buddhistische Anrufung:

»Zu Ihm der Weg – die Lehre groß –
Den Maya trug in ihrem Schoß
Des Segens Herr – der Bhodisat!«

»Und ›Er‹ ist hier! Das höchst vortreffliche Gesetz ist auch hier. Meine Pilgerfahrt hat günstig begonnen. Und welch‘ ein Werk! Welch‘ ein Werk!«

»Dort ist der Sahib,« sagte Kim und hüpfte zwischen den Kasten der Kunstgewerbe und Industrie-Abteilung hindurch zur Seite.

Ein weißbärtiger Engländer blickte auf den Lama hin, der ihn feierlich grüßte und nach einigem Herumtasten ein Notizbuch und einen Streifen Papier zum Vorschein brachte.

»Ja, das ist mein Name,« sprach er, lächelnd auf die plumpe, kindliche Druckschrift deutend.

»Einer von uns, der die Pilgerfahrt nach den Heiligen Plätzen gemacht – er ist jetzt Abt des Lung-Cho-Klosters – gab mir dies,« stammelte der Lama. »Er sprach zu mir von ›Diesen‹.« Seine magere Hand wies zitternd rund umher.

»Willkommen denn, Lama von Tibet. Hier sind die Götterbilder; und hier bin ich,« – er blickte in des Lamas Gesicht – »um Wissen zu sammeln. Komm mit in mein Arbeitszimmer.« Der alte Mann zitterte vor Erregung.

Das Bureau war nur ein kleiner hölzerner, von der mit Skulpturen gefüllten Galerie abgeteilter Verschlag. Kim legte sich nieder, mit dem Ohr gegen einen Riß in der von der Hitze gespaltenen Tür von Zedernholz, um, seinem angeborenen Instinkte gemäß, zu horchen und zu beobachten.

Das Hauptsächlichste des Gesprächs ging über sein Verständnis. Anfangs zögernd sprach der Lama zu dem Direktor von seinem Lama-Kloster »Suchzen«, gegenüber dem Farbigen Felsen und wohl einen viermonatlichen Marsch entfernt. Der Direktor holte ein großes Buch mit Photographien herbei und zeigte ihm das genannte, auf hoher Felsspitze thronende Kloster, das auf das Riesenthal mit den vielfach getönten Felsstufen herniederschaute.

»Ei! Ei!« Der Lama setzte eine in Horn gefaßte Brille von chinesischer Arbeit auf. »Hier ist die kleine Tür, durch die wir das Holz für den Winter tragen. Und Du – der Engländer, kennst das? Der jetzt Abt von Lung-Cho ist, sagte mir, daß Ihr es wisset, aber ich glaubte es nicht. Der Herr, der Erhabene – man ehrt ihn auch hier? Und man kennt sein Leben?«

»Es ist alles in Stein gemeißelt. Komm und schaue, wenn Du ausgeruht hast.«

Der Lama schlürfte hinaus in die Haupthalle; der Direktor schritt ihm zur Seite durch die Sammlungen mit der Andacht des Verehrers und der Hochschätzung des Kunstkenners.

Ereignis auf Ereignis in der wundervollen Geschichte bezeichnete er auf den nachgedunkelten Steinen, zuweilen selbst etwas in Verlegenheit gebracht durch die ungewohnte griechische Stilart, aber entzückt wie ein Kind bei jedem neuen Fund.

Wo die Reihenfolge unterbrochen war, wie bei der Verkündigung, ergänzte der Direktor sie mit Hilfe seiner aufgestapelten französischen und deutschen Bücher, durch Photographien und Abbildungen.

Hier war der fromme Asita, Pendant des Simeon in der christlichen Geschichte, das heilige Kind auf den Knien haltend, während die Eltern andächtig lauschten; und hier waren Vorgänge aus der Legende des Vetters Devadatta. Hier war das böse Weib, das mit schändlicher Lüge den »Herrn« der Unlautbarkeit beschuldigte – hier die Predigt im Wildpark – das Wunder, von dem die Feueranbeter überwältigt wurden – und hier der Bodhisat als Prinz im Königlichen Schmuck; die wunderbare Geburt; der Tod zu Kusinara, wo der schwache Jünger in Ohnmacht sank. Fast unzählige Wiederholungen der Meditation unter dem Bodhisat-Baum fanden sich und die Anbetung der Almosen-Schale war überall zu sehen. Nach wenigen Minuten schon wußte der Direktor, daß sein Gast kein gewöhnlicher, Rosenkranzkugeln zählender Bettler, nein, ein ganzer Gelehrter war. Und sie gingen alles noch einmal durch; der Lama schnupfend, seine Brillengläser putzend und mit Eisenbahnschnelligkeit ein wunderbares Gemisch von Urdu und Tibetanisch redend. Er hatte von den Reisen der chinesischen Pilger Fo-Hian und Hwen-Thiang gehört und war begierig zu erfahren, ob Übersetzungen ihrer Berichte existierten. Mit angehaltenem Atem wendete er hilflos die Blätter von Beal und Stanislas Julien um. »Es ist alles hier – aber für mich ein verschlossener Schatz.« Dann suchte er sich zu beruhigen, um ehrfurchtsvoll den Bruchstücken zu lauschen, die ihm rasch in Urdu wiedergegeben wurden. Zum ersten Male hörte er von den Arbeiten europäischer Gelehrten, die mit Hilfe dieser und hundert anderer Dokumente die heiligen Plätze des Buddhismus festgestellt haben. Dann wurde ihm eine mächtige Karte gezeigt, fleckig, voll gelblicher Linien. Der braune Finger folgte des Direktors Stift von Punkt zu Punkt. Da war Kapilavastu, da das Königreich der Mitte und hier Mahabodhi, das Mekka des Buddhismus; und hier war Kusiganagara, der traurige Platz von des Heiligen Tod. Der alte Mann beugte für eine Weile schweigend das Haupt über die Blätter; der Direktor zündete sich eine neue Pfeife an. Kim war eingeschlafen. Als er erwachte, war die Unterhaltung noch im Flusse, aber ihm besser verständlich.

»Und so geschah es, o Brunnen der Weisheit, daß ich beschloß, nach den Heiligen Plätzen zu pilgern, die »sein« Fuß betreten. Nach dem Geburtsplatz, selbst nach Kapila; dann nach Maha Bodhi, was Buddh Gana ist – nach dem Kloster – dem Wildpark – nach dem Platz Seines Todes.«

Der Lama senkte die Stimme. »Und ich komme allein hierher. Seit fünf, sieben, achtzehn – vierzig Jahren trage ich es in meinen Gedanken, daß das Alte Gesetz nicht wohl befolgt wird. Es ist, Du weißt es, überladen mit Teufelei, Zauberei und Götzendienst. Gerade wie das Kind da draußen eben sagten ja, wie selbst das Kind sagte, mit »But parasti«.

»So ergeht es jeder Glaubenslehre.«

»Meinst Du? Die Bücher meines Klosters habe ich gelesen, und sie waren vertrocknetes Mark: und das späte Ritual, mit dem wir vom Reformierten Gesetz uns beladen haben – auch das hatte keinen Wert in diesen alten Augen. Selbst die Jünger des »Vollkommenen« leben in beständiger Fehde miteinander. Es ist alles Wahn! Ja, Maya, Wahn! Aber ich trage ein anderes Verlangen« – das gefurchte gelbe Gesicht näherte sich ganz dicht dem des Direktors und der lange Nagel des Zeigefingers tippte auf den Tisch – »Eure Gelehrten sind in diesen Büchern den Heiligen Füßen auf allen Wanderungen gefolgt; aber es gibt Dinge, denen sie nicht nachgeforscht haben. Ich weiß nichts – nichts weiß ich – aber ich gehe mich frei zu machen von dem Rad der Dinge, auf einem offenen, breiten Wege.« – (Rad der Dinge ist ein buddhistischer Begriff der Wiederkehr alles Seienden bis zur Erlösung.) Er lächelte mit naivem Triumph. »Als Pilger nach den Heiligen Plätzen erwerbe ich Verdienst. Aber es bleibt mehr zu tun. Höre auf ein wahres Wort. Da unser gnadenreicher Herr noch ein Jüngling war und eine Lebensgefährtin suchte, meinten die Männer an Seines Vaters Hof, daß Er zu zart zur Heirat wäre. Du weißt dies?«

Der Direktor nickte, neugierig, was nun folgen sollte.

»So wurde eine dreifache Kraftprobe mit allen herankommenden Bewerbern angeordnet. Bei der Prüfung des Bogens forderte unser »Herr«, nachdem Er den ihm überreichten Bogen durchgebrochen, einen Bogen, den keiner spannen könnte. Du weißt?«

»Es steht geschrieben. Ich habe es gelesen.«

»Und alle anderen Zeichen überschießend, flog der Pfeil fern und ferner, außer Sicht. Zuletzt fiel er; und wo er die Erde berührte, da brach ein Wasserstrahl hervor, der sogleich zum Strome wurde. Und durch unseres Herrn Gnade und das Verdienst, das Er erwarb, bevor Er Sich selbst frei machte, erhielt der Strom die Eigenschaft, jede Spur und jeden Flecken von Sünde abzuwaschen von dem, der in ihm badet.«

»So steht es geschrieben«, sagte traurig der Direktor.

Der Lama tat einen liefen Atemzug. »Wo ist der Strom, o Brunnen der Weisheit? Wo fiel der Pfeil?«

»O, mein Bruder, ich weiß es nicht.«

»O nein. Du hast es wohl vergessen – das Eine nur, was Du mir nicht gesagt. Sicher, Du mußt es wissen. Sieh, ich bin ein alter Mann! Ich frage Dich – mein Haupt zwischen Deinen Füßen – o, Brunnen der Weisheit! Wir wissen, der Wasserstrahl sprang hervor! Wo denn ist der Fluß? Ein Traum hieß mich ihn finden. So kam ich. Ich bin hier. Aber wo ist der Strom?«

»Wenn ich es wüßte, denkst Du, ich würde es nicht laut hinausrufen?«

»Durch ihn,« fuhr der Lama, ohne ihn zu beachten fort, »erlangt man Befreiung vom Rad der Dinge. Der Strom des Pfeiles! Denk‘ noch einmal nach! Ein kleines Flüßchen, – mag sein – vielleicht in der Hitze vertrocknet? – Aber der Heilige würde einen alten Mann nicht so täuschen.«

»Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht.«

Der Lama brachte sein tausendfach durchfurchtes Gesicht auf eine Handbreite dem des Engländers nahe.

»Ich sehe. Du weißt es nicht. Da Du der Lehre nicht angehörst, blieb Dir dieses verborgen.«

»Ach! Verborgen – verborgen.«

»Wir sind bald in Banden, Du und ich, mein Bruder. Aber ich« – er erhob sich mit einem Schwung seiner weichen, schweren Umhüllung – »ich gehe, um mich frei zu machen. Komm‘ mit!«

»Ich bin gebunden,« sagte der Kurator … Aber wohin gehst Du?«

»Erst nach Kashi (Benares), wohin sonst? Dort in dem Jaina-Tempel dieser Stadt werde ich einen von der reinen Lehre treffen. Auch er ist im Geheimen ein Sucher, und von ihm kann ich möglicherweise lernen. Kann sein, daß er mit mir nach Buddha-Gaya geht. Von da nördlich und westlich nach Kapilavastu, und da will ich nach dem Flusse suchen. Nein, überall, wohin ich gehe, will ich suchen – denn der Platz, wo der Pfeil fiel, ist nicht bekannt.«

»Und wie willst Du gehen? Es ist ein weiter Ruf bis Delhi, und weiter noch bis Benares.«

»Auf der Heerstraße und mit den Zügen. Von Pathankot, nachdem ich die Hügel verlassen, kam ich hieher in einem Zug. Er fährt schnell. Anfangs wunderte ich mich sehr über die hohen Stangen an der Seite des Weges, die die Fäden aufschnappen und aufschnappen,« er erläuterte pantomimisch das scheinbare Neigen und Wirbeln der Telegraphenstangen, wenn der Zug vorbeisaust. »Aber später, ich saß so zusammengepfercht, ich wünschte, ich hätte gehen können, wie ich es gewohnt bin.«

»Und kennst Du Deinen Weg denn sicher?« fragte der Direktor.

»O, was das betrifft, ich brauche nur zu fragen und Geld zu zahlen; die angestellten Personen befördern jeden nach dem bestimmten Platz. Das wußte ich schon in der Lamaserai aus sicherer Quelle,« sagte mit Stolz der Lama.

»Und wann willst Du fort?« Der Direktor lächelte über diese Mischung von altweltlicher Frömmigkeit und modernem Fortschritt, wie sie jetzt für Indien so bezeichnend ist.

»Sobald als möglich. Ich folge den Spuren Seines Lebens, bis ich zu dem Strom des Pfeiles komme. Es gibt indes ein geschriebenes Papier von den Stunden der Züge, die südwärts gehen.«

»Und Deine Nahrung?« Lamas führen in der Regel einen guten Vorrat an Geld irgendwo bei sich, aber der Direktor wünschte sich davon zu überzeugen.

»Auf der Reise trage ich die Bettelschale wie unser Meister. Ja. So wie Er ging, so gehe ich, mit Verzicht auf meines Klosters Versorgung. Da ich die Hügel verließ, hatte ich einen Chela (Schüler) bei mir, der, wie es die Regel erfordert, für mich bettelte; aber in Kulu, wo wir eine Weile hielten, ergriff ihn ein Fieber und er starb. Ich habe nun keinen Chela, aber ich will die Almosenschale tragen und den Mildtätigen Gelegenheit bieten, Verdienst zu erwerben.« Er nickte tapfer mit dem Kopf. Gelehrte Doktoren einer Lamaserai betteln nicht; aber der Lama war in diesem Punkte Idealist.

»Sei es so,« sagte lächelnd der Direktor. »Gönne mir nun, Dir einen Dienst zu erweisen. Wir beide sind Kollegen, Du und ich. Hier ist ein neues Buch, von weißem, englischem Papier, hier sind gespitzte Bleistifte, zwei und drei, dicke und dünne – alle gut für einen Schreiber. Nun erlaube mir noch Deine Brille.«

Der Direktor sah durch die Gläser. Sie waren arg zerschrammt, aber die Stärke fast genau wie die seiner eigenen Brille, welche er in des Lamas Hand gleiten ließ mit den Worten: »Versuche diese.«

»Eine Feder! Wahrhaftig, so leicht wie eine Feder auf dem Gesicht!« Der alte Mann bewegte entzückt den Kopf und runzelte die Nase aufwärts. »Kaum fühle ich sie. Wie klar ich sehe!«

»Die Gläser sind Bilaur (Krystall) und werden niemals schrammig. Mögen sie Dir zu Deinem Flusse helfen, sie sind Dein!«

»Ich will sie nehmen, und die Stifte auch und das weiße Buch, als Zeichen der Freundschaft zwischen Priester und Priester – und nun« – er tappte an seinem Gürtel herum, löste den eisernen Federbehälter von durchbrochener Arbeit los und legte ihn auf des Direktors Tisch. »Das soll ein Zeichen der Erinnerung sein zwischen Dir und mir – mein Federbehälter. Es ist etwas Altes – so wie ich bin.«

Es war eine Arbeit von altem Muster, chinesisch, von einem Eisen, wie es jetzt nicht mehr gegossen wird; und das Sammlerherz in des Direktors Brust hatte sie vom ersten Augenblick an ersehnt. Um keinen Preis wollte der Lama seine Gabe zurücknehmen.

»Wenn ich zurückkehre und den Fluß gefunden habe, will ich Dir ein geschriebenes Bild von der ›Padma Samthora‹ (heilige Lotosblume) bringen – so wie ich es in der Lamaserai auf Seide zu machen pflegte. Ja – und von dem Rad des Lebens,« sprach er mit halb unterdrücktem Lachen, »denn wir beide sind Kunstkenner, Du und ich.«

Der Kurator hätte ihn gern noch zurückgehalten; denn es gibt nur wenige in der Welt, die noch das Geheimnis der althergebrachten buddhistischen Pinselfederdarstellungen besitzen, die halb geschrieben, halb gezeichnet sind. Aber der Lama schritt bereits weitausgreifend und das Haupt hoch in der Luft, hinaus, stand einen Augenblick noch still vor der großen Statue eines Bodhisat in Meditation und schob sich sodann durch das Drehkreuz.

Kim folgte ihm wie sein Schatten. Was er erlauscht, hatte ihn wild erregt. Dieser Mann war ihm, trotz aller Erfahrung, vollständig neu und er wollte ihn weiter ergründen, genau so wie er ein neues Gebäude oder eine unbekannte Festlichkeit in Lahore ausspionierte. Der Lama war sein Fund und er wollte Besitz von ihm ergreifen. Kims Mutter war nicht umsonst eine Irländerin.

Der alte Mann hielt inne bei Zam-Zammah und schaute sich um, bis sein Auge auf Kim fiel. Der Enthusiasmus seiner Pilgerfahrt war für den Augenblick gedämpft; er fühlte sich verlassen, alt und sehr hungrig.

»Nicht unter der Kanone sitzen!« fuhr ihn der Polizist grob an.

»Hu! Du Eule!« war Kims Erwiderung an des Lamas Stelle. »Setze Dich nur unter die Kanone, wenn es Dir so gefällt. Wann hast Du der Milchfrau die Pantoffeln gestohlen, Dunnoo?«

Das war eine ganz grundlose, der Eingebung des Augenblickes entsprungene Beschuldigung; aber sie machte Dunnoo verstummen, der wußte, daß Kims gellende Stimme Legionen von bösen Bazar-Buben herbeirufen Konnte, wenn’s Not tat.

»Und wen hast Du angebetet da drinnen?« frug Kim leutselig, indem er sich im Schalten neben dem Lama niederkauerte.

»Ich betete keinen an, Kind. Ich verneigte mich vor dem Vortrefflichen Gesetz.«

Kim akzeptierte diese neue Gottheit ohne Gemütsbewegung. Er kannte schon eine gehörige Anzahl.

»Und was willst Du nun tun?«

»Ich bettle. Ich entsinne mich nun, es ist lange her, daß ich aß und trank. Wie ist der Brauch in dieser Stadt, wenn man Mildtätigkeit sucht? Tut man es schweigend, wie in Tibet, oder mit Worten?«

»Die mit Schweigen betteln, verhungern im Schweigen,« antwortete Kim, ein landesübliches Sprichwort anführend. Der Lama versuchte sich zu erheben, sank aber zurück und klagte um seinen Schüler, der in weiter Ferne, in Kulu, gestorben war. Den Kopf zur Seite, beobachtete Kim überlegend und interessiert.

»Gib mir die Schale. Ich kenne die Leute in dieser Stadt, alle, die barmherzig sind. Gib mir die Schale, ich bringe sie Dir gefüllt zurück.« Einfach wie ein Kind, reichte der alte Mann ihm die Schale.

»Ruhe Du. Ich kenne meine Leute.«

Er trottete fort zu der offenen Bude einer Kunjri-Gemüsehändlerin niederer Kaste, die gegenüber der Straßenbahnlinie am Motti-Bazar stand. Die Frau kannte Kim lange genug.

»Oho« rief sie, »bist Du ein Pogi geworden, mit Deiner Bettlerschale?«

»Nein,« sagte Kim stolz. »Es ist ein fremder Priester in der Stadt – ein Mann, wie ich noch nie einen sah.«

»Alter Priester – junger Tiger,« sprach das Weib ärgerlich. »Ich hab‘ die fremden Priester satt! Die fallen wie Fliegen über unsere Ware her. Ist der Vater meines Sohnes ein Brunnen der Barmherzigkeit, um allen zu geben, die betteln?«

»Nein,« antwortete Kim: »Dein Mann ist mehr ein Pagi (Brummbär) als ein Pogi (heiliger Mann). Aber dieser Priester ist neu. Der Sahib in dem Wunderhaus sprach zu ihm wie ein Bruder. O, meine Mutter, fülle mir die Schale! Er wartet!«

»Diese Schale? Meinst Du? Die hat ja einen Bauch wie eine Kuh. Du bist nicht besser als der heilige Stier des Shiwa; der hat mir heute früh schon das Beste von einem Korb voll Zwiebeln aufgefressen, und dann soll ich noch Deine Schale füllen? Da kommt er schon wieder.«

Der ungeheure, mausgraue Brahmini-Stier schob sich mit auf- und niederschaukelnden Schultern durch die vielfarbige Menge, ein gestohlenes Bananenbüschel im Maule. Er hielt gerade auf die Bude zu, sich seiner Privilegien als geheiligtes Tier wohl bewußt, senkte den Kopf und schnüffelte heftig an der Reihe von Körben herum, ehe er seine Wahl traf. Da flog Kims holzbeschuhter kleiner Fuß in die Luft und traf ihn auf die feuchte blaue Schnauze. Er grunzte ärgerlich und stapfte über die Bahnschienen zurück; sein Widerrist zitterte vor Wut.

»Sieh, ich habe Dir mehr gespart, als es kostet, wenn Du die Schale dreimal füllst. Nun, Mutter, ein wenig Reis und getrockneter Fisch obenauf – ja, und etwas Curry-Gemüse.«

Ein Knurren kam aus dem Hintergrund der Bude, wo der Mann lag.

»Er hat den Stier vertrieben,« sagte die Frau halblaut. »Es ist gut, den Armen zu geben.« Sie nahm die Schale und gab sie, mit heißem Reiß gefüllt, zurück.

»Aber mein Pogi ist keine Kuh,« sagte Kim ernsthaft, mit seinen Fingern ein Loch in den Reisberg machend. »Ein wenig Curry ist gut, und ein gebackener Kuchen und etwas eingemachte Frucht würden ihm behagen.«

»Das Loch ist so groß wie Dein Kopf,« sprach murrend das Weib. Aber sie füllte es trotzdem mit gutem, heißem Currygemüse, klappte einen getrockneten Kuchen oben darauf mit einem Stückchen geklärter Butter, legte ein Häufchen Tamarinden-Konserve an die Seite – und Kim betrachtete wohlgefällig die Ladung.

»So ist’s gut, wenn ich im Bazar bin, soll der Ochs nicht wieder an diese Bude kommen. Er ist ein frecher Bettelmann.«

»Und Du?« lachte die Frau. »Aber sprich nicht schlecht von Ochsen. Hast Du mir nicht gesagt, daß eines Tages ein Roter Ochse aus einem Felde kommen wird, um Dir zu helfen? Nun halte alles gerade und fordere des heiligen Mannes Segen für mich. Vielleicht weiß er auch ein Mittel, die kranken Augen meiner Tochter zu heilen? Fordere auch dies, Du kleiner Allerweltsfreund.«

Doch Kim war fortgetanzt vor dem Ende dieser Rede, herrenlosen Hunden und hungrigen Bekanntschaften aus dem Wege gehend.

»So betteln wir, die wir die Sache verstehen, sprach er stolz zu dem Lama, der die gefüllte Schale erstaunt betrachtete. »Iß nun und – ich will mit Dir essen. Heda! Bhisti!« er rief dem Wasserträger, der die Erotons (Krebsblumen) bei dem Museum begoß, »bring‘ Wasser. Wir Männer sind durstig.«

»Wir Männer!« lachte der Bhisti. »Ist ein voller Schlauch genug für so ein Paar? Trinkt denn, im Namen des Erbarmers.«

Er goß einen dünnen Strahl in Kim’s Hände, der nach Landessitte trank. Der Lama aber zog einen Becher aus seinem unerschöpflichen Obergewand und trank mit Feierlichkeit.

»Pardesi (ein Fremdling),« erklärte Kim, als der alte Mann in unbekannter Sprache etwas sagte, was offenbar ein Segen war.

Sie schmausten zufrieden zusammen, bis die Bettelschale geleert war. Dann schnupfte der Lama aus einem schwerfälligen, kürbisförmigen Holzgefäß, ließ seinen Rosenkranz eine Weile durch die Finger gleiten und fiel, als der Schatten von Zam-Zammah länger wurde, in den leisen Schlaf des Alters.

Kim bummelte zu der nächsten Tabakhändlerin, einer jungen, lebhaften Mohammedanerin hinüber und erbettelte sich eine ordinäre Zigarre, von der Sorte, wie sie den Studenten der Punjabi-Universitat, die englischen Brauch kopieren, verkauft werden. Dann rauchte er und, mit hochgezogenen Knieen unter dem Bauch der Kanone sitzend, dachte er nach. Das Resultat dieses Nachdenkens war ein rasches verstohlenes Hinhuschen nach der Richtung von Nila Rams Zimmerplatz.

Der Lama erwachte erst, als das abendliche Leben der Stadt begann mit Lampenanzünden und Rückkehr der weißgekleideten Ober- und Unterbeamten aus dem Gouvernement-Bureau. Verwirrt blickte er nach allen Seiten: niemand aber beachtete ihn, außer einem Hinduknirps in isabellfarbenem Gewand und schmutzigem Turban. Wehklagend beugte der Lama den Kopf auf die Kniee.

»Was ist los?« fragte der Knabe, vor ihm stehen bleibend. »Bist Du beraubt worden?«

»Ach, mein neuer Chela, er ist von mir gegangen: ich weiß nicht, wo er ist.«

»Und welch‘ eine Art Mensch war Dein Schüler?«

»Er war ein Knabe, der zu mir kam an Stelle dessen, der mir gestorben. Wohl weil ich Verdienst erworben, indem ich mich vor dem Gesetz verbeugte da drinnen.« Er wies nach dem Museum hin. »Er kam zu mir und zeigte mir den Weg, den ich verloren. Er leitete mich in das Wunderhaus und ermutigte mich durch seinen Zuspruch, mit dem Wächter der Götterbilder zu reden: das machte mich heiter und stark. Und als ich matt vor Hunger war, da bettelte er für mich, wie ein Chela für seinen Lehrer. Plötzlich ward er mir gesendet. Plötzlich ist er verschwunden. Und ich gedachte, ihn in dem Gesetz zu unterrichten, auf dem Wege nach Benares!«

Kim stand verwundert da. Er halte das Gespräch im Museum belauscht und wußte, daß der alte Mann nur Wahrheit redete. Und Wahrheit ist etwas, das ein Eingeborener selten einem Fremden darbietet.

»Aber ich sehe nun, er war mir nur zu bestimmtem Zweck gesendet; und ich weiß dadurch, daß ich einen gewissen Fluß, den ich suche, finden werde.«

»Den Fluß des Pfeiles,« sprach Kim mit überlegenem Lächeln.

»Ist dies abermals eine Sendung?« rief der Lama. Zu niemand sprach ich von dem, was ich suche, außer zu dem Priester der Götterbilder. Wer bist Du?«

»Dein Chela,« sagte Kim einfach auf den Hacken kauernd. »Niemals in meinem ganzen Leben habe ich einen Mann, wie Du es bist, gesehen. Ich gehe mit Dir nach Benares. Und, außerdem denke ich, daß ein so alter Mann, der zu jedem, der ihm zufällig begegnet, die Wahrheit spricht, stets eines Chela benötigt.«

»Aber der Strom – der Strom des Pfeiles?«

»O, das hörte ich, als Du mit dem Engländer redetest. Ich lehnte an der Türe.«

Der Lama seufzte. »Ich dachte, Du wärest ein Führer, mir geschenkt. Solches geschieht zuweilen – aber ich bin wohl nicht würdig. Du also kennst den Fluß nicht? –«

»Nicht ich.« Kim lachte etwas verlegen. »Ich gehe mit, um auszuschauen nach – nach einem Roten Ochsen auf einem Grünen Feld, der mir helfen soll.« Nach Knabenart hatte Kim, wenn ein Bekannter einen Plan hatte, gleich einen für sich selbst zur Stelle; und wirklich hatte er auch ein Viertelstündchen lang ernsthaft in seinem Knabensinn über seines Vaters Prophezeiung nachgedacht.

»Helfen zu was, Kind?«

»Gott weiß, aber mein Vater sagte mir so. Ich hörte Deine Rede in dem Wunderhaus von all den neuen fremden Orten in den Bergen; und wenn einer, der so alt und so wenig … so gewohnt ist, die Wahrheit zu sprechen – auszieht, um eine solche Kleinigkeit wie einen Fluß zu suchen, so schien es mir, daß auch ich auf die Reise gehen müßte. Wenn es unser Schicksal ist, die Dinge zu finden, so werden wir sie finden – Du Deinen Fluß und ich meinen Ochsen – und die hohen Säulen und noch andere Dinge; die ich vergessen habe.«

»Es sind keine Säulen, aber ein Rad, von dem ich frei werden wollte.«

»Das ist alles einerlei. Vielleicht machen sie mich zum König,« sagte Kim, in heiterer Bereitschaft für alles.

»Ich will Dich andere und bessere Wünsche lehren auf unserem Wege,« sprach würdevoll der Lama. »Laß uns nach Benares gehen.«

»Nicht bei Nacht. Es streifen Diebe umher, warte bis es Tag ist.«

»Aber ich habe keinen Platz zum Schlafen.« Der alle Mann, an die Ordnung seines Klosters gewöhnt, wenn er auch auf der Erde schlief, wie es die Regel war, begehrte doch in solchen Sachen etwas Wohlanständigkeil.

»Wir werden in der Kashmir-Herberge gutes Quartier finden,« meinte Kim, über die Verlegenheit des Lama lachend. »Ich habe dort einen Freund. Komm!«

Die heißen, vollen Bazare waren grell erleuchtet, als sie sich ihren Weg durch das Gedränge aller Rassen Ober-Indiens bahnten, und der Lama wandelte hindurch wie im Traum. Es war seine erste Erfahrung von einer großen, gewerbetreibenden Stadt. Die überfüllten Tramwagen mit den ewig kreischenden Bremsen erschreckten ihn. Halb geschoben, halb gezogen gelangte er an das hohe Gitter der Kashmir-Herberge, den ungeheuren quadratischen Platz gegenüber der Eisenbahnstation, umgeben vom gewölbten Kreuzgange, wo die Kamel- und Pferde-Karawanen bei der Rückkehr von Zentral-Asien einkehren. Hier waren Vertreter aller Stämme, angebundene Ponies und knieende Kamele versorgend, Ballen und Bündel auf- und abladend, Wasser zur Abendmahlzeit mit kreischenden Brunnenwinden heraufholend; vor den schreienden, wildäugigen Hengsten Gras aufhäufend, die knurrenden Karawanenhunde prügelnd, Kameltreiber bezahlend, neue Knechte anwerbend, schreiend, fluchend, streitend, feilschend auf dem vollgedrängten Platze. Die Kreuzgänge, durch drei oder vier gemauerte Stufen erhöht, bildeten den Zufluchtshafen in diesem stürmischen Meer. Die meisten der Gänge waren an Händler vermietet, so wie wir die Bogen eines Viaduktes vermieten. Die Plätze zwischen Säule und Säule waren mit Planken zu Kammern abgeteilt und diese durch schwere Holztüren mit plumpen Vorlegeschlössern von einheimischer Arbeit geschützt. Verschlossene Türen zeigten an, daß der Besitzer abwesend und einige roh – zuweilen sehr roh – gemalte oder mit Kalk geschmierte Striche sagten, wohin er gegangen. Ungefähr so:

»Lutuf Ullah ist nach Kurdistan gereist.« Darunter vielleicht in groben Versen: »O, Allah, der Du leidest, daß Läuse auf dem Rock eines Kabuli leben, warum erlaubst Du, daß diese Laus Lutuf so lange lebt?«

Kim, der den Lama zwischen aufgeregten Menschen und aufgeregten Tieren hindurch gängelte, hielt sich bis ans äußerste Ende seitwärts der Bogengänge nächst der Eisenbahnstation, wo Mahbub Ali, der Pferdehändler hauste, wenn er hereinkam von jenem geheimnisvollen Land, jenseits der Pässe des Nordens.

Kim hatte während seines jungen Lebens mit Mahbub schon mancherlei zu tun gehabt – hauptsächlich zwischen seinem zehnten und dreizehnten Jahre; und der große stämmige Afghane, der seinen Bart scharlachrot färbte (denn er war ältlich und wollte seine grauen Haare nicht zeigen). Kannte des Knaben Wert, was das Stadtgeschwätz betraf. Zuweilen gab er Kim den Auftrag, einen Mann, der durchaus nichts mit Pferden zu tun hatte, zu beobachten, ihm den ganzen Tag zu folgen und von jedem Menschen, mit dem er sprach, zu berichten. Kim machte am Abend seinen Bericht und Mahbub lauschte ohne Wort und Bewegung. Es handelte sich um irgend eine Intrigue. Kim wußte das, aber er wußte auch, daß ihr Wert darauf beruhte, daß er zu keinem Menschen außer Mahbub davon redete. Mahbub gab ihm dafür wundervolle Mahlzeiten, ganz heiß aus der Garküche in der Ecke der Herberge, und einmal sogar acht Anna in Gold.

»Er ist da,« sprach Kim, ein bösartiges Kamel auf die Nase knuffend. »Heda, Mahbub Ali!« Er hielt vor einem dunklen Bogen und schlüpfte hinter den erschrockenen Lama.

Der Pferdehändler, der seinen hohen gestickten Bokhaiiot-Gürtel gelöst hatte, lag, träge an einer immensen silbernen Hookah (Wasserpfeife) ziehend, auf einem Paar Satteltaschen aus Seidenteppichen. Er wendete bei dem Ruf ein wenig den Kopf, und da er nur die hohe schweigende Gestalt sah, lachte er halblaut in seinen Bart.

»Allah! Ein Lama! Ein Roter Lama! Es ist weit von Lahore zu den Pässen, was willst Du hier?«

Der Lama hielt mechanisch die Bettelschale hin.

»Gottes Verdammnis über alle Ungläubigen!« rief Mahbub. »Ich gebe keinem lausigen Tibetaner etwas. Bettle bei meinen Baltis da drüben hinter den Kamelen; die wissen vielleicht Deinen Segen zu würdigen. He! Pferdejungen, hier ist ein Landsmann von Euch, fragt, ob er hungrig ist.«

Ein glattköpfiger, gebeugter Balti, der mit den Pferden herunter gekommen und angeblich eine Art degradierter Buddhist war, grinste dem Priester entgegen und bat in tiefen Kehllauten den Heiligen, sich an das Feuer der Pferdejungen zu setzen.

»Gehe,« sagte Kim, ihn leicht fortschiebend, und der Lama schritt dahin und ließ Kim an der Kante des Kreuzganges zurück.

»Geh,« sagte auch Mahbub Ali, zu seiner Hookah zurückkehrend. »Kleiner Hindu, mach‘ Dich fort, Verdammnis auf alle Ungläubigen! Bettle bei den Leuten meiner Gefolgschaft, die Deines Glaubens sind.«

»Maharaj,« jammerte Kim, sich der Hindu Anrede bedienend und sich höchlich amüsierend, »mein Vater ist tot, meine Mutter ist tot, mein Magen ist leer.«

»Bettle bei meinen Pferdejungen, sage ich. Es müssen auch Kinder unter meinen Leuten sein.«

»O, Mahbub Ali, bin ich denn ein Hindu?« sagte Kim auf englisch.

Der Händler gab kein Zeichen des Erstaunens. Er blinzelte nur unter seinen zottigen Brauen.

»Kleiner Allerweltsfreund,« sagte er, »was soll das bedeuten?«

»Nichts. Ich bin jetzt der Schüler dieses heiligen Mannes, und wir pilgern zusammen nach Benares, sagte er. Er ist ganz verrückt und ich habe die Stadt Lahore satt. Ich sehne mich nach anderer Luft und Wasser.«

»Aber für wen arbeitest Du? Warum kommst Du zu mir?« Die Stimme war rauh vor Argwohn. »Zu wem sonst sollte ich gehen? Ich habe kein Geld. Ohne Geld ist schlecht reisen. Du wirst den Offizieren viele Pferde verkaufen. Es sind sehr feine Pferde diese neuen, ich sah sie mir an. Gib mir eine Rupie, Mabbub Ali, ich will Dir einen Schuldschein geben und bezahlen, wenn ich zu meinem Reichtum komme.

»Hm,« machte Mahbub Ali, nach kurzem Bedenken. »Du hast mich noch nie belogen. Rufe den Lama – und ziehe Dich zurück in die Dunkelheit.«

»O, wir reden eine Sprache,« lachte Kim.

»Wir gehen nach Benares,« sprach der Lama, sobald er verstand, wo hinaus Mahbub Alis Fragen zielten. »Ich und der Knabe. Ich, um einen gewissen Fluß zu suchen.«

»Mag sein – aber der Knabe?«

»Er ist mein Schüler. Er ward mir gesendet, so glaube ich, um mich zu dem Strom zu leiten. Unter einer Kanone saß ich, als er plötzlich zu mir trat. So etwas ist wohl Glücklichen, denen Führung gewährt wurde, zuteil geworden. Aber ich besinne mich jetzt, er sagte: er wäre von dieser Welt – ein Hindu.«

»Und sein Name?«

»Nach dem fragte ich nicht. Ist er nicht mein Schüler?«

»Sein Heimatland, seine Rasse, sein Dorf, – Muselmann – Sikh – Jaina – niedere Kaste oder hohe?«

»Warum sollte ich fragen? Auf dem mittleren Pfade gibt es weder hoch noch niedrig. Da er mein Chela ist. Kann jemand ihn mir nehmen? Denn siehe! Ohne ihn werde ich meinen Fluß nicht finden.« Er wiegte feierlich sein Haupt.

»Niemand soll ihn Dir nehmen. Gehe, setze Dich zu meinen Baltis,« sprach Mahbub Ali, und der Lama, beruhigt durch dies Versprechen, trottete fort.

»Ist er nicht ganz verrückt?« fragte Kim, wieder vorwärts ins Licht tretend. »Warum sollte ich Dich belügen, Hadje?«

Mahbub paffte schweigend an seiner Hookah. Dann begann er, fast flüsternd: »Umballa liegt auf dem Wege nach Benares – wenn wirklich Ihr beiden dahin geht –«

»Tck! Tck! Ich sage Dir, er versteht nicht zu lügen, wie wir beide es verstehen.«

»Und wenn Du eine Botschaft bis Umballa für mich befolgen willst, werde ich Dir Geld geben. Es betrifft ein Pferd – einen weißen Hengst – den ich einem Offizier auf meiner letzten Rückkehr von den Pässen verkaufte. Aber damals – tritt näher und halte Deine Hände empor, als ob Du betteltest – damals war das Pedigree des weißen Hengstes noch nicht vollständig festgestellt: und der Offizier, der jetzt in Umballa ist, forderte von mir, daß das klargestellt würde.« (Mahbub beschrieb nun das Pferd und das Äußere des Offiziers.) »Also, die Botschaft an den Offizier lautet: »Das Pedigree des weißen Hengstes ist vollständig festgestellt.« Dann wird er wissen, daß Du von mir kommst. Er wird dann fragen: »Welchen Beweis hast Du? Und Du wirst antworten: »Mahbub Ali hat mir den Beweis gegeben.«

»Und das alles um einen weißen Hengst,« kicherte Kim, aber mit flammenden Augen.

»Den Stammbaum will ich Dir jetzt geben in meiner eigenen Weise und etwas Schelten dazu.« Ein Schalten huschte hinter Kim vorbei und ein käuendes Kamel. Mahbub Ali hob die Stimme:

»Allah! Bist Du der einzige Bettler in der Stadt? Deine Mutter ist tot. Dein Vater ist tot. So sprechen sie alle. Na, na« – Er drehte sich um, als fühle er nach etwas auf dem Fußboden neben sich, und warf dem Knaben ein Stück weiches, fettiges, muselmännisches Brot zu. »Gehe nun und lege Dich für diese Nacht zu meinen Pferdejungen, Du und der Lama. Morgen vielleicht werde ich Dich in Dienst nehmen.« Kim schlich sich fort, die Zähne in dem Brot, und wie er erwartet, fand er ein kleines Päckchen zusammengefalteten Papieres, eingewickelt in Wachstafft, nebst 3 Silber-Rupien – eine enorme Großmut!

Er lächelte und schob Geld und Papier in sein ledernes Amulett-Etui. Der Lama, von Mahbubs Baltis reichlich bewirtet, schlief schon in einem Winkel der Ställe. Kim legte sich neben ihn und lachte. Er wußte, daß er Mahbub Ali einen Dienst erwies, und nicht einen Augenblick glaubte er an das Märchen von des Hengstes Stammbaum.

Aber Kim ahnte nicht, daß Mahbub Ali, bekannt als einer der besten Pferdehändler im Punjab, als reicher und unternehmender Handelsmann, dessen Karawanen tief ins Innere weltferner Länder eindrangen, eingeschrieben war in eins der Geheimbücher des indischen Überwachungs-Departements, als C. 25 I. B. Zwei oder dreimal jährlich pflegte C. 25 eine kleine Geschichte einzusenden, trocken erzählt, aber sehr interessant, und in den meisten Fällen erwies sich diese – durch Bestätigung von R. L. 7 und M. 4 – als ganz wahr. Die Geschichten betrafen alle möglichen abgelegenen Gebirgs-Fürstentümer, Forschungsreisende von nicht englischer Nationalität, den Handel mit Waffen – davon handelte, kurz gesagt, ein Teil jener großen Masse von übermittelten Informationen, nach denen das indische Gouvernement seine Maßregeln trifft. Aber kürzlich waren fünf verbündete Könige, höchst überflüssiger Weise verbündet, durch eine freundliche Macht des Nordens unterrichtet worden, daß Neuigkeiten aus ihren Territorien nach Britisch Indien durchsickerten. Die Premierminister dieser Könige waren ernstlich erzürnt und taten ihre Schritte nach orientalischer Weise. Unter vielen anderen hatten sie den unverschämten, rotbärtigen Roßhändler in Verdacht, dessen Karawanen, bis zum Bauch im Schnee, ihre Bergvesten durchfurchten. Wenigstens war seine Karawane vor kurzer Zeit auf dem Wege niederwärts zweimal überfallen und beschossen worden, wie Mahbubs Leute angaben, von drei fremden Strolchen, die zu dieser Leistung gedungen oder auch nicht gedungen sein konnten. Deshalb hatte Mahbub vermieden, sich in der ungesunden Stadt Peshawur aufzuhalten, und war ohne Zeitverlust durchmarschiert nach Lahore, wo er, der seine Landsleute kannte, auf merkwürdige Ereignisse vorbereitet war.

Und Mahbub Ali barg etwas bei sich, das er nicht eine Stunde länger als nötig zu behalten wünschte, ein Päckchen dicht zusammen gefaltetes Faserpapier, in Wachstaffet eingewickelt, einen unpersönlichen, nicht adressierten Bericht mit fünf mikroskopisch kleinen Löchern in einer Ecke, der die fünf verbündeten Könige, die freundlich gesinnte nordische Macht, einen Hindu-Bankier in Peshwaur, die Firma einer Waffenfabrik in Belgien und einen halb unabhängigen, wichtigen, mohammedanischen Regenten des Südens aufs Schmählichste verriet. Dieses letzte war das Werk von R. 17, welches Mahbub jenseits des Dora-Passes an sich nahm und für R. 17 weiter trug, da dieser, Umstände halber, über die er keine Macht hatte, seinen Beobachtungsposten nicht verlassen konnte. Dynamit war mild und harmlos neben diesem Rapport von C. 25, und selbst ein Orientale mit eines Orientalen Ansichten über den Wert der Zeit mußte sich sagen, daß der Bericht je früher je besser in den richtigen Händen sein mußte. Mahbub hatte keinen besonderen Wunsch, auf gewaltsame Weise zu sterben, weil zwei oder drei Familien-Blutfehden jenseits der Grenze noch unerledigt an seinen Händen hingen. Er beabsichtigte, sobald diese Schuld beglichen, sich als mehr oder weniger tugendhafter Bürger zur Ruhe zu setzen. Seit seiner Ankunft vor zwei Tagen hatte er das Gitter der Karawanen-Herberge noch nicht durchschritten, wohl aber ostentativ Telegramme versendet nach Bombay, wo er etwas Geld auf der Bank hatte, nach Delhi, wo ein untergeordneter Geschäftsteilhaber von einem Clan Pferde verkaufte an den Agenten eines Rajputana Staates, und nach Umballa, wo ein Engländer dringend den Stammbaum eines weißen Hengstes forderte. Der öffentliche Briefschreiber, der englisch verstand, verfaßte ausgezeichnete Telegramme, wie: – »Creighton, Laurel-Bank, Umballa-Pferd ist Araber wie bereits gemeldet. Bedaure Stammbaum Verzögerung, welchen übersetze.« Und später an dieselbe Adresse: »Bedauere sehr Verzögerung. Sende Stammbaum ab.« Seinem Unterpartner in Delhi drahtete er: »Lutuf Ullah. Drahtete 2000 Rupien Eurem Conto, Luchmann Narains Bank.« Das war alles ganz kaufmännisch, aber jedes dieser Telegramme wurde besprochen und wieder besprochen von Leuten, die sich für berechtigt hielten, die Telegramme zu lesen, bevor sie aus den Händen eines einfältigen Balti, der sie unterwegs alle möglichen Leute lesen ließ, zur Station gelangten.

Als Mahbub in seiner eigenen bilderreichen Sprache so den Brunnen der Nachforschung mit dem Stab der Vorsicht getrübt hatte, kam ihm Kim wie vom Himmel gesendet in den Weg, und gewöhnt, die geringsten Chancen zu nutzen, nahm er diesen, ebenso rasch entschlossen wie gewissenlos, in Dienst.

Ein wandernder Lama mit einem knabenhaften Diener niederer Kaste konnte wohl ein augenblickliches Interesse erregen auf der Pilgerfahrt nach Indien, dem Land der Pilger, aber verdächtigen würde man sie nicht, noch, was wichtiger war, berauben.

Er rief nach frischem Feuer für seine Hookah und überlegte noch einmal. Wenn im schlimmsten Falle der Knabe zu Schaden käme, konnte das Papier niemanden ernstlich kompromittieren, er würde zu passender Zeit nach Umballa gehen und mit geringem Risiko, daß neuer Verdacht entstünde, seine Geschichte mündlich den betreffenden Personen übermitteln. Aber der Rapport von R. L. 7 war der Kernpunkt der ganzen Sache, und käme er nicht in die rechten Hände, konnte das außerordentlich störend werden. Immerhin, Gott war groß, und Mahbub Ali war sich bewußt, alles, was möglich war, getan zu haben. Kim war das einzige Wesen in der Welt, das ihm niemals eine Lüge vorgebracht hatte. Das wäre nun ein fataler Fleck auf Kims Charakter gewesen, hätte Mahbub nicht gewußt, daß er in seinen eigenen Angelegenheiten andere Leute anlog wie nur irgendein Orientale.

So machte sich denn Mahbub Ali auf, quer durch die Herberge bis zu der Pforte der Harpyen, die ihre Augen malen und die Fremdlinge in ihren Netzen fangen. Nicht ohne Mühe fand er das Mädchen, das, wie er vermutete, die spezielle Freundin eines bartlosen Pundit von Kashmir war, der seinem dummen Balti mit den Telegrammen aufgelauert hatte. Es war ein ganz törichtes Unternehmen: denn alsbald fingen sie an, gegen des Propheten Gesetz, parfümierten Branntwein zu trinken, und Mahbub war bald glänzend betrunken. Die Gitter seines Mundes waren gelöst, er verfolgte die Blume des Entzückens mit den Füßen des Rausches, bis er platt auf die Polster fiel, wo dann die Blume des Entzückens mit Hilfe eines bartlosen Pundit von Kashmir ihn vom Kopf bis zu den Füßen gründlich durchsuchte.

Um dieselbe Stunde ungefähr hörte Kim in Mahbubs verlassener Abteilung leise Tritte schallen. Der Roßhändler hatte, sonderbar genug, seine Tür nicht verschlossen, und seine Leute waren vollauf beschäftigt, das ganze Schaf, das Mahbub großmütig zur Feier der Rückkehr gespendet, zu verzehren. Ein geschmeidiger junger Gentleman aus Delhi untersuchte mit Hilfe eines Schlüsselbundes, welche die Blume von des sinnlos Betrunkenen Gürtel losgehakt hatte, jeden Koffer und Ballen, Bündel und Satteltaschen in Mahbubs Besitz noch systematischer, als die Blume und der Pundit den Besitzer selbst.

»Und mir scheint,« sagte die Blume eine Stunde später verächtlich, den runden Ellbogen auf den schnarchenden Körper gestützt, »er ist nichts weiter als ein Schwein von Afghanischem Roßhändler, das nur an Weiber und Pferde denkt. Übrigens – er mag es fortgeschickt haben – wenn es überhaupt da war.«

»Nein – ein Ding, das fünf Könige betrifft, würde er nächst seinem schwarzen Herzen aufbewahren,« sprach der Pundit. »Hast Du nichts gefunden?« fragte er den Delhi-Mann, der lachend den Turban zurechtrückte, als er eintrat. »Ich durchsuchte die Sohlen seiner Pantoffeln, wie die Blume seine Kleider. Dies ist nicht der Mann. Es muß ein anderer sein. Ich lasse nichts unbesehen.«

»Sie sagten nicht, er ist der rechte Mann,« sprach nachdenklich der Pundit. »Sie sagten, sehet zu, ob es der Mann ist, da unsere Nachrichten nicht klar sind.«

»Der Norden ist so voll von Pferdehändlern wie ein alter Rock von Läusen. Da ist Sikhandar-Khan, Nur Ali Beg und Farrukh Shah – alle Führer von Karawanen – die dort Geschäfte machen,« sagte die Blume.

»Die sind noch nicht zurück gekommen,« meinte der Pundit. »Die mußt Du später in Deine Schlinge locken.«

»Pah!« meinte die Blume mit tiefer Verachtung, Mahbubs Kopf von ihrem Schoß rollend. »Ich verdiene mein Geld. Farrukh Shah ist ein Bär, Ali Beg ist ein Prahlhans, und der alte Eikandar Khan – pfui! Geh! Ich will nun schlafen. Dieses Schwein wird vor Tagesgrauen sich nicht rühren.«

Als Mahbub erwachte, hielt die Blume ihm strenge die Sünde der Trunkenheit vor. Asiaten zucken nicht mit der Wimper, wenn sie den Feind überlistet haben; Mahbub Ali aber war nahe daran, als er sich die Kehle reinigte, den Gürtel festschnallte und unter den frühen Morgensternen dahintaumelte, sich zu ärgern.

»Welch ein plumper Streich!« sprach er zu sich selbst. »Als ob nicht jedes Mädchen in Peshawur es so anstellen würde. Aber sie hat es hübsch gemacht. Nun, Gott weiß, wie viele andere noch auf dem Weg sind mit Befehl mich zu untersuchen – vielleicht mit dem Messer. Es steht fest, der Knabe muß nach Umballa, aber mit dem Zuge, denn das Schreiben ist dringend. Ich bleibe hier, folge der Blume nach und trinke Wein, wie es einem afghanischen Roßkamm zukommt.«

Er hielt bei dem zweiten Abteil nächst dem seinen still. Seine Leute lagen in tiefem Schlaf. Von Kim oder vom Lama keine Spur.

»Auf!« Er rüttelte einen Schläfer. »Wohin sind sie gegangen, die hier letzten Abend lagen – der Lama und der Knabe? Ist etwas nicht in Ordnung?«

»Nein,« murrte der Mann, »der alte verrückte Kerl erhob sich beim zweiten Hahnkrähen und sagte, er müßte nach Benares, und der Junge leitete ihn fort.«

»Allahs Fluch über alle Ungläubigen!« rief Mahbub und kletterte, in den Bart brummend, in seine eigene Abteilung.

Es war aber Kim, der den Lama geweckt – Kim, der, mit dem Auge an einem Astloch in der Bretterwand, des Delhi-Mannes Untersuchung der Koffer wahrgenommen halte. Das war kein gewöhnlicher Dieb, der Briefe, Rechnungen und Sättel durchsuchte, auch kein gewöhnlicher Einbrecher, der ein kleines Messer seitwärts zwischen die Sohlen von Mahbubs Pantoffeln schob und die Nähte der Satteltaschen so geschickt durchstach. Zuerst wollte Kim den Alarmruf geben – das langgedehnte »Cho-or cho-or!« (Diebe! Diebe), der nachts das Serai sofort auf die Beine bringt; aber er bedachte sich und zog, die Hand auf dem Amulett, seine eigenen Schlüsse.

»Es muß sich um den Stammbaum handeln, um diese faustdicke Pferdelüge,« dachte er, »das Ding, das ich nach Umballa trage. Besser wir gehen gleich. Die mit dem Messer Taschen untersuchen, könnten mit dem Messer auch bald Bäuche untersuchen. Höre! Höre!« flüsterte er dem leicht schlafenden, alten Manne ins Ohr. »Erhebe Dich. Es ist Zeit – Zeit nach Benares aufzubrechen.«

Gehorsam erhob sich der Lama, und wie Schatten schwanden sie aus dem Serai.

  1. Das Fünfstromland.
  2. Geschmolzene Butter

Kapitel 10.

Kapitel 10.

Lurgan Sahib sprach sich nicht so entschieden aus, aber sein Rat schloß sich dem Mahbubs an, und das Resultat war günstig für Kim. Er wußte nun etwas Besseres zu tun, als Lucknow in Verkleidung zu verlassen, und war Mahbub irgendwie durch eine Nachricht erreichbar, so suchte er ihn in seinem Lager auf und nahm seine Verwandlung unter des Pathans Auge vor. Hätte der kleine Tuschkasten, den er in der Schulzeit beim Kartenzeichnen brauchte, von seiner Verwendung in den Ferien reden können, so wäre Kim wohl relegiert worden. – Einmal zog er mit Mahbub und drei Wagen voll Pferden bis nach dem prächtigen Bombay, und Mahbub schmolz fast vor Zärtlichkeit: als Kim eine Reise durch den Indischen Ozean auf einem Kauffahrteischiff vorschlug, um Golf-Araber zu kaufen, die, wie er von einem Untergebenen des Händlers Abdul Rahman erfahren halte, bessere Preise erzielten, als die Kabuli-Pferde. Mit diesem bedeutenden Kaufmann wußte er anzuknüpfen, als Mahbub mit einigen Gleichgläubigen bei einem großen Haj-Schmaus war.

Bei dem Rückwege über Karachi, zur See, machte Kim die erste Bekanntschaft mit der Seekrankheit. Er saß an dem vorderen Gatter über der Luke, fest überzeugt, daß er vergiftet sei. Des Babus famose Medizin-Schachtel erwies sich nutzlos, obgleich sie in Bombay frisch gefüllt war. Mahbub hatte Geschäfte in Quetta, und dort verdiente Kim, mit Mahbubs Erlaubnis, sein Brot und etwas mehr als Küchenjunge im Hause eines fetten Kommissariats-Sergeanten. In einem unbewachten Augenblick nahm er aus dessen Bureau-Schrank ein kleines, in Pergament gebundenes Hauptbuch, das anscheinend nur Verkäufe von Rindvieh und Kamelen betraf, und im Mondenschein, hinter einem Hintergebäude liegend, kopierte er daraus. Dann legte er das Buch wieder an seinen Platz, verließ auf Mahbubs Rat seinen Dienst ohne Lohn und traf sechs Meilen weiter unten mit Mahbub wieder zusammen, die saubere Kopie auf der Brust tragend.

»Dieser Sergeant ist ein kleiner Fisch,« erklärte Mahbub, »mit der Zeit werden wir größere fangen. Dieser verkauft nur Ochsen zu zwei verschiedenen Preisen – zu einem Preise für sich selbst, zu einem anderen für die Regierung – was, glaube ich, keine Sünde ist.«

»Warum durfte ich das kleine Buch nicht mitnehmen und vollständig kopieren?«

»Das hätte ihn erschreckt, und er würde seine Vorgesetzten benachrichtigt haben. Dadurch hätten wir vielleicht eine große Zahl neuer Flinten verloren, die ihren Weg, von Quetta nach dem Norden suchen. Das Spiel ist zu weit ausgedehnt, man sieht nur wenig davon zurzeit.«

»Oho!« machte Kim und hielt den Mund. Das war in den Monsoon-Ferien, nachdem er den Preis in Mathematik erhalten. Die Weihnachts-Ferien – abgerechnet einige Tage für Privat-Amusements – brachte er bei Lurgan Sahib zu. Dort saß er meist vor einem lodernden Holzfeuer – auf dem Wege nach Jakko lag in dem Jahre vier Fuß tief Schnee – der kleine Hindu war fort, um verheiratet zu werden – und half Lurgan Perlen aufreihen. Nebenbei hatte er ganze Kapitel aus dem Koran auswendig zu lernen und zu wiederholen, bis er sie mit dem Hin- und Herwiegen und dem genauen Tonfall eines Mullah vortragen konnte. Ferner lernte er die Namen und Eigenschaften einheimischer Heilmittel kennen, wie die dunklen Sprüche, die beim Verordnen derselben hergesagt werden müssen. Am Abend schrieb er Zauberformeln auf Pergamente, kunstvoll ausgearbeitete Pentagramme mit den Namen von Teufeln Murra und Awan, dem Begleiter von Königen, gekrönt. In praktischer Weise unterwies Lurgan ihn in seiner eigenen Gesundheitspflege, im Heilen von Fieberanfällen und Anwendung einfacher Arzneimittel auf der Wanderung. Eine Woche vor der Abreise sandte Oberst Creighton – und das war nicht hübsch – eine Reihe von Prüfungs-Fragen, die sich nur mit Ruten und Ketten und Winkeln befaßten.

In den nächsten Ferien zog er mit Mahbub aus und auf einem Kamel, im tiefen Sand fast versinkend, war er dem Verdursten nahe. Sie kamen nach der geheimnisvollen Stadt Bikaneer, wo die Brunnen vierhundert Fuß tief und fast durchaus mit Kamelknochen bekleidet sind. Es war nicht erheiternd für Kim, daß der Oberst – in Nichtachtung des Kontraktes – ihm befahl, eine Karte von der wilden, ummauerten Stadt anzufertigen. Und da es auffallend wäre, wenn mohammedanische Pferdejungen oder Pfeifenreiniger Vermessungsketten um die Hauptstadt eines unabhängigen einheimischen Staates zögen, so war Kim gezwungen, seine Distanzen mit Hilfe der Perlen eines Rosenkranzes abzuschreiten. Zu Teilungen benutzte er gelegentlich den Kompaß, hauptsächlich nach Dunkelwerden, wenn die Kamele gefuttert halten, und mit Hilfe seines kleinen Tuschkastens mit sechs Farbentäfelchen und drei Pinseln brachte er etwas zu Stande, das nicht ungleich der Stadt Jeysalmir war. Mahbub lachte und riet ihm, auch einen geschriebenen Bericht zu machen, und auf den letzten Seiten eines großen Rechnungsbuches, das unter der Klappe von Mahbubs Lieblingssattel lag, fertigte Kim ihn aus.

»Er muß alles enthalten, was Du gesehen, berührt und beobachtet hast. Schreibe, als wenn der Jung-i-Lat (Oberbefehlshaber) selbst im Geheimen mit einer großen Armee, um in den Krieg zu ziehen, gekommen wäre.«

»Wie groß die Armee?«

»Oh, ein halbes Lakh (Ostindisch: Hälfte von 100 000) Männern.«

»Torheit! Bedenke doch, wie selten und wie schlecht die Brunnen in dem Sande sind. Nicht tausend Männer könnten ihren Durst löschen.«

»Dann schreibe das nieder – auch die alten Brüche in den Mauern – und wo das Brennholz geschnitten wird – und wie das Temperament und die Gesinnung des Königs ist. Ich bleibe hier bis alle meine Pferde verkauft sind. Ich will einen Raum beim Torvorbau mieten und Du bist mein Buchhalter. Es soll ein gutes Schloß an der Tür sein.«

Der Bericht, in der fließenden, deutlichen St. Xaviers-Handschrift und die braun und gelbe, mit Lack überzogene Karte war noch vor einigen Jahren vorhanden. (Ein nachlässiger Schreiber verdarb sie mit Notizen über die zweite Dienstreise nach Leistan von E. 23., jetzt aber werden die Bleistift-Bemerkungen ziemlich verwischt sein.) Am zweiten Tage der Rückreise übersetzte Kim, bei der Flamme einer Öllampe schwitzend, Mahbub einen Bericht. Der Pathan erhob sich und beugte sich über die bunten Satteltaschen.

»Ich wußte, er würde eines Ehrenkleides würdig werden und hielt es bereit,« sagte er lächelnd. »Wäre ich Emir von Afghanistan (und wir werden ihn eines Tages sehen) so würde ich Deinen Mund mit Gold füllen.« Er breitete die Gewänder feierlich zu Kims Füßen aus. Da war eine goldgestickte, zu einem Kegel aufsteigende Turban-Mütze von Peshawur, mit einem Turban-Tuch, das in einer breiten Goldfranze endete. Da war eine gestickte Weste von Delhi, die über einem milchweißen, an der rechten Seite schließenden, prächtig niederwallenden Hemde getragen wurde: grüne Pyjamas mit geflochtener, seidener Taillenschnur, und damit nichts fehle, Pantoffeln von russischem Leder, himmlisch riechend, mit kokett aufgebogenen Spitzen.

»An einem Mittwoch und in der Morgenfrühe neue Kleider anzulegen, ist gefährlich,« sprach Mahbub feierlich. »Und wir dürfen nicht vergessen, daß es böses Volk in der Welt gibt. Also!«

Er krönte die Herrlichkeiten, die Kim vor Entzücken den Atem benahmen, durch einen mit Perlmutter und Nickel beschlagenen 9 mm-Revolver mit Selbstentladung.

»Ich wollte erst eine kleinere Bohrung nehmen, besann mich aber, daß diese hier Gouvernements-Kugeln faßt. Mit diesen kann ein Mann überall hin- und hergehen – besonders über die Grenze. Steh auf und laß Dich betrachten.« Er klopfte Kim auf die Schulter. »Mögest Du nimmer ermüden zu schauen, Pathan! Oh, die Herzen, die da brechen, die Augen, die sich abwenden werden unter halb geöffneten Lidern!«

Kim drehte sich rundum, streckte die Zehe und fühlte mechanisch nach dem Schnurrbart, der just zu sprossen begann; dann bückte er sich auf Mahbubs Füße nieder, um diese, da sein Herz zu voll für Worte war, mit seinen bebenden Händen zu streicheln. Mahbub kam ihm zuvor und umarmte ihn.

»Mein Sohn,« sprach er, »bedarf es der Worte zwischen uns? Aber ist nicht die kleine Waffe zum Entzücken? Alle sechs Kartuschen kommen mit einer Drehung heraus. Man soll sie auf der Brust nächst der Haut tragen, damit sie immer wie geölt bleibt. Trage sie sonst nirgends und so es Gott gefällt, wirst Du eines Tages einen Mann damit töten.«

»Oha!« rief Kim kläglich, »wenn ein Sahib einen Menschen tötet, wird er im Gefängnis gehängt.«

»Wahr: aber einen Schritt jenseit der Grenze sind die Leute vernünftiger. Tue sie weg, aber füttere sie zuvor. Was nützt eine ungespeiste Flinte?«

»Wenn ich in die Madrissah zurückgehe, muß ich sie Dir wiedergeben. Sie gestatten keine Waffe. Du wirst sie mir aufbewahren?«

»Sohn, ich bin der Madrissah müde, wo sie einem Manne die besten Jahre nehmen, um ihn zu lehren, was er nur auf der Heerstraße lernen kann. Die Torheit der Sahibs hat weder Kopf noch Fuß. Schadet nichts. Kann sein, dieser geschriebene Bericht erspart die fernere Sklaverei; und Gott weiß, wir brauchen Männer, mehr und mehr, für das Spiel.«

Mit verbundenem Mund, um sich vor dem wehenden Sand zu schützen, wanderten sie durch die Salzwüste nach Jodhpore, wo Mahbub und sein schöner Neffe Habib-Ullah viel Geschäfte machten, und dann – traurig, in europäischen Kleidern, aus denen er fast herausgewachsen war – fuhr Kim in zweiter Klasse nach St. Xavier zurück. Drei Wochen später traf Oberst Creighton, der in Lurgans Laden nach dem Preise von Thibetanischen Geisterdolchen fragte, Mahbub Ali als offenbaren Meuterer an. Lurgan Sahib operierte als Reserve.

»Das Pony ist fertig – vollendet – mit Maul und Schritt – Sahib. Von nun an, wenn es zum Spaß festgehalten wird, wird es von Tag zu Tag seine guten Manieren verlieren. Nehmt ihm den Zügel vom Nacken und laßt ihn los,« sprach der Pferdehändler. »Wir haben ihn nötig.«

»Aber er ist noch so jung, Mahbub – kaum sechzehn – nicht so?«

»Als ich fünfzehn alt war, Sahib, hatte ich meinen Mann geschossen und meinen Mann gezeugt.«

»Du verstockter, alter Heide.« Creighton wandte sich zu Lurgan. Der schwarze Bart nickte dem scharlachgefärbten des Afghanen Beifall zu.

»Ich würde ihn längst verwandt haben,« sagte Lurgan. »Je jünger je besser. Deshalb lasse ich meine Kostbaren Juwelen von einem Kinde hüten. Ihr habt ihn mir gesendet, ihn auf die Probe zu stellen. Ich prüfte ihn in jeder Weise: er ist der einzige Knabe, den ich nicht dahin bringen Konnte, Dinge zu sehen –«

»Im Krystall – im Tintentopf?« fragte Mahbub.

»Nein. Unter meiner Hand. Das ist mir noch nicht vorgekommen. Das zeigt, daß er stark genug ist – aber Ihr meint, Oberst Creighton, das ist nicht so leicht, wie es aussieht – jeden nach seinem Willen tun zu lassen? Und das war vor drei Jahren. Seit der Zeit habe ich ihn vieles gelehrt, Oberst Creighton. Ich glaube, Ihr verwertet ihn jetzt nicht richtig.«

»Hm! Kann sein, Ihr habt Recht. Aber, wie Ihr wißt, ist augenblicklich keine offizielle Arbeit für ihn da.«

»Laßt ihn aus – laßt ihn rennen,« unterbrach Mahbub. »Wer erwartet von einem Füllen, daß es gleich schwere Lasten trägt? Laßt ihn auf gut Glück mit den Karawanen laufen wie unsere weißen Kamel-Füllen. Ich würde ihn zu mir nehmen, aber –«

»Da ist im Süden eine Kleinigkeit zu tun, wobei er sehr nützlich sein könnte,« meinte Lurgan, mit besonders sanftem Ton, seine schweren, blau getuschten Augenlider senkend.

»E. 23. hat das in Händen,« sagte Creighton, rasch einfallend.

»Er darf nicht dorthin. Außerdem versteht er nicht Türkisch.«

»Beschreibt ihm nur das Format und den Geruch der Briefe, die wir brauchen,« beharrte Lurgan, »und er wird sie uns bringen.«

»Nein. Das ist Arbeit für einen Mann,« sagte Creighton. Es betraf eine halsbrecherische Angelegenheit, eine ungehörige, aufwieglerische Korrespondenz zwischen einer Person, die sich als allein maßgebende Autorität in allen Dingen der mohammedanischen Religion durch alle Welt betrachtete, und einem jüngeren Mitglied eines königlichen Hauses, das wegen Frauenraubes auf britischem Territorium in den Geheimakten geführt wurde. Der muselmännische Erzbischof war emphatisch und überarrogant, der junge Prinz nur aufgebracht wegen sogenannter Verkürzung seiner Privilegien gewesen; aber er mußte verhindert werden, eine Korrespondenz weiter zu führen, die ihn schließlich kompromittieren konnte. Einer der Briefe war schon abgefaßt, aber der Finder wurde später, als arabischer Handelsmann gekleidet, tot am Wege gefunden; dies berichtete E. 23. (der die Arbeit übernommen) pflichtgemäß.

Diese Fakten und einige andere, nicht zu veröffentlichende, ließen Mahbub und Lurgan die Köpfe schütteln.

»Laßt ihn denn mit dem Roten Lama gehen,« sagte, mit sichtlicher Überwindung, der Roßkamm. »Er hat den alten Mann lieb. Er kann wenigstens bei dem Rosenkranz seine Schritte abzählen lernen.«

»Ich hatte mich ein paarmal mit dem alten Mann zu beschäftigen – brieflich,« sprach Creighton lächelnd. »Wohin geht er?«

»Er ist diese drei Jahre auf- und abgewandert im Lande. Er sucht einen Strom des Heils. Gottes Fluch über alle –« Mahbub verstummte plötzlich. »Er hat Quartier im Tempel der Tirthankeers oder zu Buddh Gaya, wenn er von der Wanderschaft kommt. Alsdann geht er nach der Madrissah, um den Knaben zu sehen: wir wissen es, denn der Knabe wurde zwei- oder dreimal deswegen bestraft. Er ist ganz verrückt, aber ein friedlicher Mann. Ich habe ihn getroffen. Auch der Babu hat mit ihm zu tun gehabt. Wir beobachteten ihn diese drei Jahre. Rote Lamas sind nicht so häufig in Indien, daß man die Spur verlieren könnte.«

»Babus sind zuweilen sonderbar,« sprach Lurgan nachdenklich. »Wißt Ihr, was Hurree Babu wirklich will? Er will Mitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften werden durch seine ethnologischen Berichte. Ich teilte ihm alles mit, was Mahbub und der Knabe mir über den Lama gesagt. Hurree Babu geht nach Benares – auf seine eigenen Kosten, denke ich.«

»Ich nicht,« sagte Creighton kurz. Er hatte, aus lebhafter Neugier zu erfahren, was der Lama eigentlich war, Hurrees Reisekosten bezahlt.

»Und er wandte sich an den Lama, wegen Unterweisung über Lamaismus und Teufelstänze und Zauberformeln, verschiedene Male in diesen drei Jahren. Heilige Jungfrau! All das hätte er von mir schon vor Jahren erfahren können. Ich glaube, Hurree Babu wird zu alt für das Umherstreifen. Er sammelt lieber Erfahrungen über Sitten und Lebensweise. Ja, er strebt danach, ein F. R. S. zu werden.« (Fellow of the Royal Society, Mitglied der Akademie der Wissenschaften.)

»Hurree denkt gut von dem Knaben, wie?«

»Oh, sehr! Wir hatten einige heitere Abende zusammen hier in meiner kleinen Behausung. Aber es wäre schade, den Knaben mit Hurree in den ethnologischen Dienst übergehen zu lassen.«

»Nicht für einen ersten Versuch. Was sagt Ihr, Mahbub? Lassen wir den Jungen sechs Monate mit dem Lama gehen! Später wollen wir sehen. Er kann wenigstens Erfahrungen sammeln.«

»Die hat er schon, Sahib – er kennt seinen Weg wie ein Fisch das Wasser, in dem er schwimmt. Aber jedenfalls wäre es richtig, ihn aus der Schule zu nehmen.«

»Gut also,« sprach Creighton halb zu sich selbst. »Er soll mit dem Lama gehen, und will Hurree Babu ein Auge auf sie haben, um so besser. Der Lama wird den Knaben nicht in Verlegenheit bringen, wie Mahbub. Sonderbar – dieser Wunsch ein F. R. S. zu werden! Und doch wie menschlich! Er paßt auch am besten für Ethnologie, Hurree –«

Weder Geld noch Bevorzugung würde Creighton bewogen haben, den Indischen Geheim-Dienst zu verlassen, aber tief in der Seele trug er den Ehrgeiz, F. R. S. hinter seinen Namen zu setzen. Gewisse Ehren waren durch Findigkeit und Hilfe von Freunden zu erzielen; aber, nach seinem besten Ermessen, konnte nur ein Leben voll wertvoller Arbeit einen Mann in die Gesellschaft erheben, die er seit Jahren mit Berichten über fremde asiatische Kulturen und unbekannte Sitten bombardierte. Neun von zehn Männern würden die Langeweile eines Abends in der Akademie fliehen, Creighton aber würde dieser Zehnte sein. Zuweilen sehnte er sich lebhaft nach dem behaglichen London, in die überfüllten Räume, wo silberhaarige und kahlköpfige Herren, die nichts von militärischen Angelegenheiten verstehen, spektroskopische Untersuchungen niedriger Pflanzenarten der eisigen Tundras oder elektrische Flugmaschinen vornehmen oder Apparate handhaben, um das linke Auge eines weiblichen Moskitos in millimetrische Teile zu schneiden. Nach Recht und Billigkeit hätte die Geographische Gesellschaft ihn berufen sollen; aber Männer sind so launisch wie Kinder bei der Wahl ihres Spielzeugs. – Creighton lächelte und dachte um so besser über Hurree Babu, da er mit ihm gleichen Ehrgeiz teilte.

Er legte den Geisterdolch aus der Hand und blickte zu Mahbub auf.

»Wann können wir das Füllen aus dem Stall holen?« fragte der Pferdehändler, in seinem Auge lesend.

»Hm! Wenn ich jetzt seine Entlassung anordne, was wird er, denkt Ihr, tun? Ich habe noch niemals die Erziehung von so einem geleitet.«

»Zu mir wird er kommen,« sagte Mahbub rasch. »Lurgan und ich werden ihn für die Reise vorbereiten.«

»So sei es denn. Sechs Monate mag er gehen wohin er will. Wer aber bürgt für ihn?«

Lurgan neigte leicht den Kopf. »Er wird nicht plaudern, wenn Ihr das fürchtet, Oberst Creighton.«

»Er ist immerhin noch ein Knabe.«

»J – ja; aber erstens, hat er nichts zu erzählen und zweitens, weiß er, was die Folge sein würde. Auch hat er Mahbub sehr lieb und mich ein wenig.«

»Wird er Gehalt beziehen?« fragte der praktische Pferdehändler.

»So viel als zu Nahrung und Wasser notwendig ist. Zwanzig Rupien im Monat.«

Ein Vorzug des Geheim-Dienstes ist, daß keine ermüdende Revision stattfindet. Der Dienst wird lächerlich knapp gehalten, aber die Fonds werden von Männern verwaltet, die weder die Aufführung der einzelnen Posten in den Rechnungen noch Quittungen verlangen. Mahbubs Auge leuchtete auf mit einer fast eines Sikhs würdigen Freude am Gelde und selbst Lurgans unbewegliches Gesicht belebte sich. Er dachte der Zeit, da Kim in das Große Spiel eingefügt würde, das, über ganz Indien verbreitet, weder Tag noch Nacht ruht; und der Ehre und des Ansehens, das ihm, als Lehrer dieses Schülers zu Teil werden würde von den wenigen Auserwählten. Lurgan Sahib hatte E. 23. aus einem verwilderten, frechen, verlogenen kleinen Kerl aus den nordwestlichen Provinzen zu dem gemacht, was E. 23. jetzt war.

Die Freude seiner Lehrer war aber nur schwach und bleich neben Kims Freude, als der Direktor von St. Xavier ihm ankündigte, daß Oberst Creighton ihn rufen lasse.

»Ich vermute, O’Hara,« sprach der Direktor, »daß der Oberst Ihnen eine Stelle als Meß-Assistent im Kanal-Departement ausgewirkt hat. Das ist der Lohn für Fleiß in Mathematik. Es ist ein großes Glück für Sie, denn Sie sind erst siebzehn Jahre alt; aber Sie begreifen, daß Sie nicht dauernd angestellt werden, bevor Sie Ihre Examen im Herbst bestanden haben. Sie müssen also nicht wähnen, daß Sie zum Vergnügen in die Welt hinaus gehen oder daß Ihr Glück nun ein für allemal gemacht ist. Es bleibt noch viel schwere Arbeit für Sie zu tun. Nur wenn es Ihnen gelingt ›pukka‹ zu werden, können Sie es bis zu vierhundert und fünfzig monatlich bringen.« Hierauf gab der Direktor ihm noch gute Lehren betreffs Führung, Sitten und Moral. – Ältere Schüler, die noch keine Aussicht auf Stellung hatten, sprachen wie nur Anglo-Indische Burschen sprechen können, von Begünstigung und Bestechung. Der junge Cazalet, dessen Vater seine Pension in Chunar verzehrte, sprach es unverblümt aus, daß Oberst Creightons Interesse für Kim direkt väterlich sei; und Kim, statt ihm zu vergelten, fluchte nicht einmal. Er dachte nur an das in Aussicht stehende Vergnügen, an Mahbubs gestrigen, in nettem Englisch geschriebenen Brief, der ihn für Nachmittag nach einem Hause hinbestellte, dessen Erwähnung allein des Direktors Haar vor Entsetzen gesträubt haben würde.

Am selben Abend sprach Kim zu Mahbub, bei dem Gepäckwagen auf der Lucknow-Station stehend: »Ich fürchtete, daß, bevor ich heraus wäre, mir das Dach noch auf den Kopf fallen könnte. Oh, mein Vater, ist es denn wirklich wahr?«

Mahbub schnappte mit den Fingern als Zeichen, daß alles wahr sei, und seine Augen funkelten wie rote Kohlen.

»Wo ist dann meine Pistole, daß ich sie trage?«

»Sachte! Ein halbes Jahr magst Du noch ohne Fersenstrick laufen. Das erbat ich für Dich von Oberst Creighton Sahib, mit zwanzig Rupien monatlich. Der alte Rot-Hut weiß, daß Du kommst.«

»Ich will Dir Dustoorie (Kommission) zahlen, drei Monate lang,« sprach Kim ernsthaft. »I – ja, zwei Rupien von meinem Gehalt jeden Monat. Vor allem aber muß ich dies los werden.« Er zupfte an seinen dünnen Leinwandhosen und zerrte an seinem Kragen. »Ich habe alles, was ich auf der Landstraße brauche, bei mir. Meinen Koffer habe ich Lurgan Sahib gesendet.«

»Der Dir seine Salaams sendet – Sahib.«

»Lurgan Sahib ist ein sehr kluger Mann. Und was wirst Du jetzt tun, Mahbub?«

»Ich gehe wieder nordwärts in dem Großen Spiel. Was sonst? Bist Du noch immer gewillt, dem alten Rot-Hut zu folgen?«

»Vergiß nicht, er macht mich zu dem, was ich bin – obwohl er es nicht wußte. Jahr auf Jahr sendet er das Geld für meine Erziehung.«

»Das hätte ich auch tun können,« brummte Mahbub, »wäre es mir nur in meinen Dickkopf gekommen. Laß uns gehen. Die Lampen sind schon angezündet; es wird Dich niemand im Basar bemerken. Wir gehen nach Huneefas Haus.«

Auf dem Wege dahin gab Mahbub Kim fast dieselben Ratschläge, die Lemuel (arabischer König) von seiner Mutter empfing, und, sonderbar genug, er war sehr darauf bedacht, hervorzuheben, wie Huneefa und ihresgleichen Könige zugrunde gerichtet hätten.

»Und dabei erinnere ich mich,« sprach er schelmisch, »eines, der da sagte: Trau einer Schlange mehr als einer Dirne und einer Dirne mehr als einem Pathan. Nun, ausgenommen das von den Pathans, da ich selbst einer bin, ist alles Übrige wahr. Besonders wahr ist es in dem Großen Spiel, denn nur die Weiber sind schuld, wenn Pläne mißlingen, nur Weiber sind schuld, wenn wir im Morgengrauen mit durchschnittener Kehle am Wege liegen. So geschah es dem und dem –,« er gab die grausigsten Details.

»Warum denn aber –?« Kim stockte vor einer schmutzigen Treppe, die in die warme Dunkelheit eines oberen Raumes im Hofe hinter Azim Ullahs Tabakladen führte. Die den Raum kennen, nennen ihn das Vogelbauer – so voll ist er von Wispern und Pfeifen und Flüstern. Das Zimmer, mit seinen unsauberen Kissen und halb ausgerauchten Pfeifen, roch abscheulich nach kaltem Tabak. In einer Ecke lag eine große, unförmliche, in grünliche Gaze gehüllte Frau, Stirn, Nase, Ohr, Nacken, Brust, Arme und Fußknöchel mit plumpen, einheimischen Schmucksachen beschwert. Bewegte sie sich, so war es, als ob kupfernes Geschirr aneinander klirrte. Eine magere Katze miaute hungrig draußen vor dem Fenster. Kim blieb verwirrt neben dem Türvorhang stehen.

»Ist das die Remonte, Mahbub?« frug Huneefa mit träger Stimme, kaum die Pfeifenspitze von den Lippen nehmend. »Oh, Buktanoos!« – wie meist alle von ihrer Art schwor sie bei den Djinns – »Oh, Buktanoos! Er ist hübsch anzuschauen.«

»Das bezieht sich auf den Pferdehandel,« erklärte Mahbub. Kim lachte.

»Solche Rede hörte ich seit meinem sechsten Tag,« erwiderte er, sich im Hellen niederlegend, »wohin soll sie führen?«

»Zu einer Beschützung. Heute Abend ändern wir Deine Farbe. Der Schlaf unter den Dächern hat Dich weiß gemacht wie eine Mandel. Huneefa kennt das Geheimnis einer Farbe, die haftet – kein Anmalen, das zwei oder drei Tage hält. Auch gegen Zufälle auf der Reise stärken wir Dich. Das ist mein Geschenk für Dich, mein Sohn. Lege alles Metallische, was Du an Dir trägst, ab und hierher. Mach‘ Dich bereit, Huneefa.«

Kim zog seinen Kompaß hervor, seinen Tuschkasten und den frisch gefüllten Arznei-Kasten. Diese Dinge hatten ihn auf allen Wegen begleitet, und er schätzte sie in kindlicher Weise sehr hoch.

Das Weib erhob sich langsam und bewegte sich mit vorgestreckten Händen vorwärts. Kim sah, daß sie blind war. »Nein, nein,« murmelte sie, »der Pathan spricht wahr, meine Farbe schwindet nicht in einer Woche oder einem Monat, und die, die ich beschütze, sind in starker Hut.«

»Wenn fern und allein, ist es bös, plötzlich fleckig und aussätzig zu werden,« sprach Mahbub. »So lange Du bei mir warst, konnte ich Dich behüten, und ein Pathan hat gesunde Haut. Entkleide Dich bis zu den Hüften und schau, wie Du gebleicht bist.« Huneefa tastete sich aus einem hinteren Raum zurück. »Es schadet nicht, daß sie nicht sehen kann.« Er nahm eine Zinnschale aus ihrer mit Ringen überladenen Hand. Der Farbstoff schien blau und klebrig. Kim probierte ihn auf seinem Rücken mit einem Klümpchen Baumwolle; Huneefa hörte es. »Nein, nein,« rief sie, »so nutzt es nichts, nur mit den richtigen Zeremonien. Die Farbe ist das Wenigste. Ich verleihe Dir den vollen Schutz des Weges.«

»Jadoo?« (Magie) rief Kim halb erschrocken. Die weisen, blicklosen Augen waren ihm unheimlich. Mahbubs Hand legte sich auf seinen Nacken und drückte ihn nieder, bis er mit der Nase fast den Boden berührte.

»Sei ruhig. Nichts Übles geschieht Dir, mein Sohn. Ich opfere mich für Dich.«

Kim konnte nicht sehen, was die Frau tat, er hörte nur einige Minuten das Klick-Klack ihrer Schmucksachen. Ein Zündholz leuchtete in der Dunkelheit auf, er hörte das wohlbekannte knisternde Geräusch von angezündeten Weihrauchkörnern. Der Raum füllte sich mit Rauch, schwer, aromatisch, betäubend. In wachsender Bewußtlosigkeit vernahm er die Namen von Teufeln – von Zulbazan, dem Sohn des Ebis, der in Bazaren und Paraos sein Wesen treibt und gottlose Bosheiten auf den Halteplätzen an der Wegseite verübt – von Dulhan, der unsichtbar über Moscheen schwebt, sich in die Pantoffeln der Gläubigen schleicht und sie am Beten hindert – von Musboot, dem Dämon der Lüge und der Panik. Bald flüsterte Huneefa ihm ins Ohr, bald hörte er sie wie aus weiter Entfernung reden. Sie berührte ihn mit schauderhaft weichen Fingern, und Mahbubs Griff lastete auf seinem Nacken,– bis der Knabe, endlich losgelassen, völlig bewußtlos lag.

»Allah! Wie er kämpfte! Es wäre uns nie gelungen, ohne daß wir ihn betäubten. Das macht, nehme ich an, sein weißes Blut,« erklärte Mahbub. »Fahre fort mit Dawut (Beschwörung). Gib ihm vollen Schutz.«

»Oh, Hörer! Du, der hört mit Ohren, sei gegenwärtig! Höre, o Hörer!« Huneefa wehklagte, ihre toten Augen wandten sich nach Westen. Der dunkle Raum war voller Wehklagen und Schnaufen.

Auf dem äußeren Balkon richtete eine plumpe Gestalt ihren runden Kugelkopf empor und hustete nervös.

»Unterbrich nicht diese bauchrednerische Zauberei, meine Freundin,« sprach sie auf Englisch, »ich bin der Meinung, daß es Dich wohl verdrießen mag, aber ein erleuchteter Beobachter ist nicht so leicht aus der Fassung zu bringen.«

»Ich will auf ihr Verderben sinnen! Oh, Prophet, habe Nachsicht mit den Ungläubigen! Laß sie eine Weile in Frieden!« Huneefas Antlitz, nun nordwärts gedreht, verzerrte sich schrecklich, und es war, als ob Stimmen von der Decke herab ihr antworteten.

Hurree Babu nahm sein Notizbuch wieder vor und bewegte sich auf der Schwelle des Balkons hin und her, aber seine Hände zitterten. Huneefa, in einer Art trunkener Extase, wiegte sich, mit gekreuzten Beinen neben Kims stillem Haupte sitzend, hin und her, und rief in der alten Ordnung des Rituals Teufel nach Teufel an und befahl ihnen, dem Knaben fern zu bleiben, möge er unternehmen, was es auch sei.

»Mit ihm sind die Schlüssel der geheimen Dinge. Keiner kennt sie neben ihm. Er weiß, was auf dem trockenen Lande ist, und er weiß, was in dem Meere ist!« Wieder brachen die unheimlichen, wispernden Antworten hervor.

»Ich – ich nehme an, daß nichts Verderbliches bei dieser Operation ist,« sagte der Babu, die bebenden und zuckenden Halsmuskeln Huneefas, die jetzt mit Zungen sprach, anstarrend. »Es – es ist doch wohl nicht wahrscheinlich, daß sie den Knaben umgebracht hat? Wenn ja – verweigere ich mein Zeugnis beim Verhör … Welchen hypothetischen Teufel nannte sie zuletzt?«

»Babuchen,« sagte Mahbub im Dialekt, »ich habe keinen Respekt vor den Teufeln von Hind, aber mit den Söhnen von Eblis ist das eine andere Sache; und ob sie nun jumalee (wohlwollend) oder jullalee (bösartig) sind, jedenfalls lieben sie die Kafirs (Ungläubigen) nicht.«

»Dann, meinst Du, wäre es besser, ich ginge?« sagte Hurree Babu, sich halb erhebend. »Sie sind natürlich entkörperte Phänomene. Spencer sagt –«

Huneefa’s Krisis endete wie gewöhnlich nach solchem Vorgang in einem Paroxismus von Heulen. Schaum auf den Lippen, lag sie erschöpft und bewegungslos neben Kim, und die wahnsinnigen Stimmen schwiegen.

»Uah! Das Werk wäre vollbracht. Dem Knaben wird wohl sein, und Huneefa ist sicherlich Meisterin in Zauberkünsten. Hilf sie bei Seite schleppen, Babu. Fürchte Dich nicht.«

»Wie könnte ich fürchten, was nicht existiert?« sagte Hurree Babu, Englisch sprechend, um sich zu beruhigen. – »Es ist ein eigen Ding, die Magie zu scheuen und zu verachten – und ihr doch heimlich nachzuspüren; Folklore-Berichte für die Akademie zu sammeln und an alle Mächte der Finsternis zu glauben.«

Mahbub schüttelte sich vor Lachen. Er kannte Hurree von der Wanderschaft her. »Laß uns die Malerei fertig machen,« sprach er. »Der Knabe ist gut beschützt, wenn – wenn die Herren der Lüfte Ohren haben zu hören. Ich bin ein Sufi (Freidenker); aber wenn man einer Frau, einem Hengst oder einem Teufel die schwache Seite abgewinnen kann, warum denn auf eine andere Seite gehen und sich einen Tritt holen? Bringe Du den Knaben auf den Weg, Babu, und paß auf, daß der alte Rot-Hut den nicht aus unserem Bereich leitet. Ich muß zu meinen Pferden zurück.«

»Sehr wohl,« sagte Hurree Babu. »Für den Augenblick sieht der Knabe sonderbar aus.«

Um den dritten Hahnenschrei erwachte Kim, mit dem Gefühl, als habe er tausend Jahre geschlafen. Huneefa, in ihrer Ecke, schnarchte laut. Mahbub war fort.

»Ich hoffe, man hat Euch nicht erschreckt,« sprach eine fettige Stimme an seiner Seite. »Ich überwachte die ganze Operation, welche sehr interessant, vom ethnologischen Standpunkt aus, war. Es war höchstklassige Dawut.«

»Huh!« machte Kim, Hurree Babu erkennend, der verbindlich lächelte.

»Ich hatte auch die Ehre, Euer gegenwärtiges Kostüm von Lurgan Sahib zu überbringen. Es ist nicht meine offizielle Obliegenheit, solchen Flittertand an Untergebene abzuliefern, aber« – er kicherte – »Euer Fall ist als eine Ausnahme in den Büchern vermerkt. Ich hoffe, Mr. Lurgan wird meine Tat notieren.«

Kim gähnte und reckte sich. Es war angenehm, sich wieder in losen Kleidern zu bewegen. »Was ist dies?« Er betrachtete neugierig den schweren, von nordischen Gerüchen durchzogenen Düffelstoff.

»Oho! Das ist das unverdächtige Kleid eines Chela, der dem Dienst eines lamaistischen Lamas zugewiesen ist. Vollständig in jeder Beziehung,« sprach Hurree Babu und ging schwerfällig auf den Balkon, um seine Zähne aus einem Wasserkühler zu reinigen. »Ich bin der Meinung, es ist nicht genau die Religion des alten Herrn, sondern eher abweichend von ihr. Ich habe über diese Dinge der Asiatischen Vierteljahrsschrift Berichte erstattet, die man aber ablehnte. Sonderbar, daß der alte Herr selbst aller Religiosität bar ist. Er nimmt es nicht im Geringsten genau.«

»Kennt Ihr ihn denn?«

Hurree Babu hielt die Hand in die Höhe, um anzudeuten, daß er mit dem vorgeschriebenen Zeremoniell beschäftigt sei, das ein wohlerzogener Bengale beim Zähneputzen und solchen Dingen beobachtet. Dann rezitierte er in englischer Sprache ein Arya-Somey-Gebet theistischer Natur und stopfte sich den Mund mit Pan und Betel.

»O-a! Ja. Ich traf ihn einige Mal zu Benares und Buddh Gay und befragte ihn über religiöse Punkte und Teufel-Anbetung. Er ist rein agnostisch gesinnt – eben so wie ich.«

Huneefa regte sich im Schlaf und Hurree Babu stürzte nervös nach der kupfernen Weihrauchschale, die farblos schwarz im Morgenlicht erschien, tauchte einen Finger in den angesammelten Ruß und fuhr damit diagonal über sein Gesicht.

»Wer starb in Deinem Hause?« fragte Kim im Dialekt.

»Niemand. Aber sie könnte den bösen Blick haben – die Zauberin,« entgegnete der Babu.

»Was wirst Du jetzt unternehmen?«

»Ich will Dich auf den Weg nach Benares bringen, wenn Du dahin gehst und Dir mitteilen, was Du von »Uns» wissen mußt.«

»Ich komme. Um wie viel Uhr geht der Zug?«

Er erhob sich, blickte sich in dem öden Zimmer um und in das wachsgelbe Gesicht Huneefas, beim Schimmer der tief stehenden Sonne. »Muß ich der Hexe was bezahlen?«

»Nein. Sie hat Dich durch Zauber geschützt gegen alle Gefahren und alle Teufel – im Namen ihrer Teufel. Es war Mahbubs Wunsch.« Auf Englisch: »Er ist sehr in der Bildung zurück, an solchem Aberglauben zu hängen. Es ist ja nur Bauchredekunst. Bauchsprache –«

Kim schnappte mechanisch mit den Fingern, um jedes Übel abzuwenden – Mahbub, wußte er, sann auf keins – das aus den Manipulationen Huneefas ihn befallen könnte und Hurlee kicherte wieder, vermied aber sehr vorsichtig beim Durchschreiten des Zimmers in Huneefas über den Boden gestreckten Schatten zu treten. Hexen, wenn ihre Zeit über ihnen ist, können eines Mannes Seele an den Fersen festhalten, wenn er in ihren Schatten tritt.

»Nun, hört wohl zu,« sprach der Babu, als sie draußen waren. »Zum Teil werden die Zeremonien, denen wir hier beiwohnten, auch bei der Lieferung von wirkungsvollem Zauberschutz für Die von unserm Departement angewendet. Fühlt an Euern Hals, Ihr findet da ein kleines silbernes, sehr billiges Amulett. Das ist Unseres . Versteht Ihr?«

»O–a, ja – hawa–dilli,« sagte Kim, an seinen Hals fühlend.

»Huneefa macht sie für zwei Rupien, zwölf Annas, eingeschlossen – o, alle Arten von Exorcismus. Sie sind ganz allgemein, ausgenommen, daß sie meist von schwarzer Email sind und inwendig ein Zettel liegt mit Namen von einheimischen Heiligen und solchem Zeug. Das ist Huneefas Werk, seht Ihr? Huneefa liefert sie nur für uns und tut sie es einmal nicht, so legen wir, bevor wir sie ausgeben, ein kleines Stück von einem Türkis hinein. Mr. Lurgan liefert das; eine andere Hilfsquelle gibt es nicht. Ich aber habe dies alles erdacht. Es ist geradezu unoffiziell, natürlich, aber paßt gut für Untergeordnete. Oberst Creighton weiß nichts davon. Er ist Europäer. Der Türkis ist in Papier gewickelt… ja, dies ist der Weg zur Station … Nun, vermutlich geht Ihr mit dem Lama, später, hoffe ich, mit mir oder mit Mahbub. Nehmt an, wir gerieten in eine verdammt kritische Lage. Ich bin ein ängstlicher Mann – sehr ängstlich – aber ich sage Euch, ich bin öfter in verdammt kritischen Lagen gewesen als ich Haare auf dem Kopf habe. Dann sprecht Ihr: ›Ich bin Sohn des Zaubers‹ – Sehr gut.«

»Ich verstehe nicht ganz. Man darf auch hier nicht hören, daß wir Englisch sprechen.«

»Sehr wohl. Ich bin nur ein Babu, der mit seinem Englisch prahlt. Wir Babus sprechen alle Englisch, um damit zu prahlen,« sagte Hurree, sein Schultertuch flott schwenkend. »Was ich sagen wollte: ›Sohn des Zaubers‹ bedeutet, daß Ihr Mitglied der Sat Bhai – der Sieben Brüder sein könntet – was Hindi und Tantric (Lehre der Tantras) ist. Es wird allgemein angenommen, daß es eine erloschene Genossenschaft ist, ich aber habe Berichte geschrieben, um zu beweisen, daß sie noch existiert. Ihr seht, es ist alles mein Gedanke. Sehr wohl! Sat Bhai hat viele Mitglieder und vielleicht – ehe sie Euch flott die Gurgel abschneiden – geben sie Euch eine Chance zum Leben. Das ist jedenfalls nützlich. Und überdies, diese närrischen Eingeborenen – wenn sie nicht gar zu exaltiert sind – besinnen sich, ehe sie einen Mann töten, wenn er sagt, daß er irgend einer spezifischen Organisation angehört, seht Ihr? Ihr sprecht also, wenn Ihr in kritischer Lage seid: ›Ich bin Sohn des Zaubers‹ und Ihr gewinnt – vielleicht – ah – günstigen Wind. Das ist nur für außergewöhnliche Gelegenheiten oder wenn Ihr Unterhandlungen mit einem Unbekannten anknüpfen wollt. Versteht Ihr ganz genau? Seht wohl! Nehmt nun an, ich, oder ein anderer von unserm Departement, träte in ganz fremder Kleidung zu Euch. Mich würdet Ihr nicht erkennen, wenn ich wollte, was wettet Ihr? Ich werde es Euch eines Tages beweisen. Ich komme also als Ladakhi-Händler – o, als irgend etwas – und ich spreche zu Euch: »Ihr wollt kostbare Steine kaufen?« Ihr antwortet: »Sehe ich aus, wie einer, der kostbare Steine kauft?« Und ich spreche: »Selbst ein sehr armer Mann kann Türkisen oder Tarkeean kaufen.«

»Das ist Kichree» (Kedjeree, ind. Gericht aus Reis, Erbsen, Zwiebeln usw. Mischmasch) sagte Kim – »Pflanzen-Curry.«

»Natürlich ist es das. Ihr sprecht: »Laß mich das Tarkeean sehen.« Ich sage: »Es ward von einem Weibe gekocht und ist vielleicht nicht gut für Deine Kaste.« Dann sprecht Ihr: »Es gibt keine Kaste, wenn Männer Tarkeean sehen – wollen.« Ihr pausiert ein wenig zwischen den Worten »sehen – wollen.« Das ist das ganze Geheimnis. Die kleine Pause zwischen den Worten.« Kim wiederholte versuchsweise diese Worte.

»Sehr wohl! Dann, wenn Zeit dazu ist, zeige ich Euch meinen Türkis und Ihr wißt wer ich bin, und dann tauschen wir Ansichten und Dokumente und solche Dinge aus. Und so ist es mit jedem von uns. Zuweilen reden wir von Türkisen, zuweilen von Tarkeean, aber stets mit der kleinen Pause zwischen den Worten. Es ist ganz leicht. Zuerst: »Sohn des Zaubers«, wenn Ihr in kritischer Lage seid. Vielleicht hilft Euch das – vielleicht nicht. Dann: Das, was ich Euch von Tarkeean sagte, wenn Ihr offizielle Geschäfte mit einem Fremden verhandeln wollt. Jetzt, natürlich, habt Ihr keine offiziellen Geschäfte, Ihr seid – ah – ah! Supernumerar auf Probe. Ganz einziges Specimen. Wäret Ihr Asiate von Geburt, könntet Ihr frischweg verwendet werden; dies halbe Jahr Urlaub soll Euch entenglischen, seht Ihr? Der Lama erwartet Euch, denn ich habe ihn halb offiziell unterrichtet, daß Ihr alle Euere Examina bestanden und bald Regierungs-Anstellung zu gewärtigen habt. Oh, ho! Ihr seid jetzt auf Vergünstigungsration gesetzt, seht Ihr? Wenn Ihr aber angerufen werdet, um Söhnen des Zaubers beizustehen, so versucht es flottweg. Nun sage ich Euch Lebewohl, mein lieber Kerl, und ich hoffe, Ihr werdet Euch – ha – das Oberste zu unterst – gut herausziehen.«

Hurree Babu trat einige Schritte in das Gedränge am Eingang der Station zurück und – war verschwunden. Kim tat einen tiefen Atemzug und schüttelte sich. Er fühlte den nickelbeschlagenen Revolver auf seiner Brust, das Amulett an seinem Hals; Bettelschale, Rosenkranz, Geisterdolch (Mr. Lurgan hatte nichts vergessen) waren zur Hand, nebst Medikamenten, Tuschkasten und Kompaß; und in einem alten, abgenutzten, mit Schildkrötenschalen-Muster gestickten Geldgürtel lag der Sold für einen Monat. Könige konnten nicht reicher sein. Er kaufte von einem Hindu Zuckerwerk in einer Blattdüte und aß voller Entzücken, bis ein Polizist ihn von den Stufen verwies.

Kapitel 11.

Kapitel 11.

Es folgte eine plötzliche, natürliche Reaktion.

»Nun bin ich allein – ganz allein,« dachte Kim. »In ganz Indien ist keiner so allein wie ich. Stürbe ich heute, wer würde davon sprechen – und zu wem? Lebe ich aber, und Gott ist gütig – dann wird ein Preis auf meinen Kopf gesetzt, denn ich bin ein Sohn des Zaubers – ich, Kim.«

Sehr wenige Weiße, aber viele Asiaten können sich in Verzückung versetzen durch fortgesetztes Wiederholen ihres eigenen Namens und indem sie den Geist ungestört sich versenken lassen in das, was persönliche Identität genannt wird. Wird man älter, so schwindet diese Gabe gewöhnlich, aber so lange sie vorhanden, kann sie in jedem Augenblick herbeigerufen werden.

»Wer ist Kim – Kim – Kim?«

Er hockte, die Hände im Schoß gefaltet, die Pupillen zu Stecknadelspitzen zusammengezogen, entfernt von jedem anderen Gedanken, in einem Winkel des geräuschvollen Warteraumes. In einer Minute, in einer halben Sekunde, das fühlte er, würde er an der Lösung des gewaltigen Rätsels sein; hier aber, wie es immer geschieht, fiel sein Geist herab von jenen Höhen mit der Schnelligkeit eines verwundeten Vogels und, die Augen mit der Hand bedeckend, schüttelte er den Kopf.

Ein Hindu mit langem Haar, ein Bairagi (heiliger Mann), der eben ein Billett gelöst hatte, hielt vor ihm still in dem Moment und starrte ihn aufmerksam an.

»Ich auch habe es verloren,« sprach er betrübt. »Es ist eines der Tore zu dem Weg, für mich aber hat es sich seit vielen Jahren geschlossen.«

»Was soll die Rede?« fragte Kim verlegen.

»Du wolltest da mit Deinem Geist ergründen, was für ein Ding Deine Seele sein möchte. Der Anfall kam plötzlich. Ich weiß. Wer sollte wissen, wenn nicht ich? Wohin gehst Du?«

»Nach Kashi« (Benares).

»Dort sind keine Götter. Ich habe sie geprüft. Ich gehe nach Prayag (Allahabad) zum fünften Male – den Pfad zur Erleuchtung suchend. Von welchem Glauben bist Du?«

»Ich auch bin ein Sucher,« sagte Kim, eines von des Lamas Lieblingsworten brauchend. »Obwohl,« er vergaß für den Augenblick seine nordische Kleidung – »obwohl Allah allein weiß, was ich suche.«

Der alte Mann schob die Bairagi-Krücke in seine Armhöhle und setzte sich auf ein Stück rötliches Leopardenfell nieder, als Kim beim Ausrufen des Zuges nach Benares gerade aufstehen mußte.

»Gehe in Hoffnung, kleiner Bruder,« sprach er. »Es ist ein langer Weg zu den Füßen des Einen; aber dahin wandern wir alle.«

Kim fühlte sich nicht mehr so verlassen nach diesen Worten, und ehe er zwanzig Meilen in dem gedrängt vollen Wagen hinter sich hatte, erheiterte er seine Reisegefährten mit einer Reihe der wunderbarsten Geschichten von seinen und seines Meisters magischen Kräften.

Benares zeigte sich als eine besonders schmutzige Stadt, aber es gefiel ihm, daß sein Kleid respektiert wurde. Wenigstens ein Drittel der Bevölkerung betet beständig zu einer oder der anderen Gruppe der vielen Millionen Gottheiten, und so wird jede Art heiliger Männer verehrt. Kim wurde nach dem ungefähr eine Meile außerhalb der Stadt gelegenen Tempel der Tirthanker von einem ihm zufällig begegnenden Farmer aus dem Punjab geleitet, einem Kamboh von der Jullundur-Straße, der vergeblich jeden Gott seiner Heimatstätte um Genesung seines kleinen Sohnes angefleht hatte und nun, als letzte Hilfe, Benares versuchte.

»Du kommst vom Norden?« fragte er, sich schwerfällig durch die engen, übelriechenden Straßen schleppend, ähnlich seinem Lieblingsochsen zu Hause.

»Oh, ich kenne das Punjab. Meine Mutter war eine Pahareen, mein Vater aber kam von Amritzar, bei Jandiala,« sagte Kim, seine geläufige Zunge für die Reise vorbereitend.

»Jandiala–Jullundur? Oho! Dann sind wir so etwas wie Nachbarn.« Er nickte zärtlich dem wimmernden Kinde in seinen Armen zu. »Wem dienest Du?«

»Einem sehr heiligen Mann in dem Tempel der Tirthanker.«

»Alle sind sie heilige Männer und alle sehr geldgierig,« sagte der Jat mit Bitterkeit. »Ich bin um die Säulen gewandert, durch die Tempel gegangen, bis meine Füße geschunden waren, aber das Kind ist nicht die Spur besser. Und die Mutter ist ebenfalls krank … still, still, mein Kleiner … gaben ihm einen anderen Namen, als das Fieber kam. Wir steckten ihn in Mädchenkleider. Es gibt nichts, was wir nicht taten. Da sagte ich zu seiner Mutter, als sie mein Bündel nach Benares packte – sie hatte mit mir gehen wollen – ich sagte: Sakhi Sarwal Sultan wird uns am besten helfen. Seine Güte kennen wir, aber die Götter da unten sind uns fremd.« Das Kind bewegte sich auf dem Lager der es fest umschließenden Arme und blickte nach Kim unter seinen schweren Augenlidern hervor.

»Und war alles umsonst?« fragte Kim mit halbem Interesse.

»Alles umsonst – alles umsonst«, sagte das Kind mit vor Fieber zuckenden Lippen.

»Die Götter gaben ihm wenigstens einen guten Verstand,« sprach der Vater mit Stolz. »Zu denken, daß er so klug zugehört hat! Dort ist Dein Tempel. Nun, ich bin ein armer Mann – ich habe mit vielen Priestern zu tun gehabt – aber mein Sohn ist mein Sohn, und wenn ein Geschenk für Deinen Meister ihn heilen kann – ich bin zu Ende mit meinem Verstand.«

Kim bedachte sich eine Weile mit stolzem Gefühl. Vor drei Jahren würde er rasch Vorteil aus der Lage gezogen haben, ohne weiter nachzudenken; jetzt aber zeigte die Achtung, die der Jat ihm zollte, daß er ein Mann war. Überdies hatte er selbst schon einige Male Fieber gehabt und war klug genug zu erkennen, daß hier Hunger die Ursache war.

»Ruf ihn heraus und ich will ihm eine Schuldverschreibung auf mein bestes Joch Ochsen geben, wenn er mein Kind kuriert.«

Kim hielt vor der geschnitzten Außentür des Tempels. Ein weißgekleideter oswalischer Geldwechsler aus Ajmir, der seine Wuchersünden eben wieder frisch getilgt hatte, fragte ihn, was er wollte.

»Ich bin Chela des Teshoo Lama, eines Heiligen von Bhotiyal – da drinnen. Er befahl mir zu kommen. Ich warte. Willst Du ihm das sagen?«

»Vergiß nicht das Kind,« rief der ungeduldige Jat, und brüllte darauf in Punjabisch: »Oh, Heiliger – oh, Schüler des Heiligen – oh, Götter über allen Welten – sehet die Trauer an Eurer Pforte sitzen.« Der Ruf ist so gewöhnlich in Benares, daß die Vorübergehenden nicht einmal den Kopf wandten.

Der Oswale, in Frieden mit der Menschheit, brachte die Botschaft in die Dunkelheit hinter sich und die ungezählten, östlichen Minuten verstrichen, denn der Lama schlief in seiner Zelle und kein Priester wollte ihn wecken. Als das Klick-Klack seines Rosenkranzes endlich die Stille des inneren Hofes, wo die ruhevollen Bildnisse der Arhats stehen, unterbrach, flüsterte ein Novize ihm zu: »Dein Chela ist hier,« und der alle Mann vergaß das Ende seines Gebets und schritt vorwärts.

Kaum erschien die hohe Gestalt in der Pforte, als der Jat herbei eilte und, das Kind emporhaltend, rief: »Blicke auf dieses, Heiliger; und so die Götter wollen, wird er leben – leben!«

Er tastete in seinen Gürtel und zog eine kleine Silbermünze hervor.

»Was bedeutet dies?« Der Lama sah Kim an. Auffällig war, daß er weit besser Urdu sprach als damals, unter Zam-Zammah; aber der Jat wollte kein Privat-Gespräch aufkommen lassen.

»Es ist nur ein Fieber,« sagte Kim. »Das Kind ist nicht gut ernährt.«

»Er wird von jeder Kleinigkeit krank und seine Mutter ist nicht hier.«

»Erlaubst Du, Heiliger, daß ich helfe?«

»Wie! Sie haben Dich zu einem Heiler gemacht?« rief der Lama. »Warte hier,« und er setzte sich zu dem Jat auf die unterste Tempelstufe, indes Kim die kleine Betelschachtel behutsam öffnete. In der Schule hatte er geplant, wie er als ein Sahib zurückkommen und den alten Mann necken wollte, bevor er sich zu erkennen gab – Knabenträume. Er war ernst in diesem Auswählen der Medikamente, nur zuweilen von einer Pause zum Nachdenken und einer gemurmelten Anrufung unterbrochen. Chinin hatte er in Pastillen und dunkelbraune Fleischtäfelchen – vermutlich von Rindfleisch – doch das war nicht seine Sache.

»Nimm also diese sechs,« sprach Kim, sie dem Vater reichend. »Preise die Götter und koche drei davon in Milch, die anderen drei in Wasser. Wenn er die Milch getrunken hat, gib ihm dieses (es war die Hälfte einer Chinin-Pastille) und hülle ihn warm ein. Wenn er erwacht, gib ihm die in Wasser gekochten drei und die zweite Hälfte dieser weißen Pille. Ferner ist hier eine andere braune Medizin, die er auf dem Wege heimwärts nehmen mag.«

»Götter! Welche Weisheit!« rief der Kamboh, starr vor Staunen.

Es war alles, dessen Kim sich entsann aus seiner eigenen Behandlung bei einem Fall von herbstlicher Malaria – nur, daß er noch etwas Geplapper hinzufügte, um dem Lama ein wenig zu imponieren.

»Gehe nun! Am Morgen komme wieder.«

»Aber der Preis – der Preis,« rief der Jat, sich in die Brust werfend. »Mein Sohn ist mein Sohn. Wie kann ich nun, da er wieder gesund werden soll, zu seiner Mutter zurückkommen und sprechen: ich fand Hilfe am Wege und gab nicht einmal eine Schale Milch dafür?«

»Sie sind alle gleich, diese Jats,« sprach Kim ruhig. »Der Jat stand auf seinem Misthaufen, als die Elefanten des Königs vorbei kamen. ›Oh, Treiber,‹ rief er, ›wie teuer verkaufst Du diese kleinen Esel?‹«

Der Jat brach in ein schallendes Gelächter aus, entschuldigte sich aber sofort bei dem Lama. »So pflegt man bei uns zu sagen – ja, es ist die Redekunst meines Landes. So sind wir alle, wir Jats. Morgen werde ich mit dem Kinde kommen und der Segen der Götter meiner Heimstätte – welches gute kleine Götter sind – sei mit Euch beiden. Nun, Sohn, werden wir wieder stark. Speie es nicht aus, kleines Prinzlein! König meines Herzens, speie es nicht aus, und am Morgen werden wir wieder starke Männer sein, Wettkämpfer und Keulenschwinger.«

Er ging, leise singend und summend fort. Der Lama wandte sich zu Kim und seine ganze liebevolle alte Seele strahlte aus seinen schmalen Augen.

»Die Kranken heilen, ist Verdienst sammeln; zuvor aber muß man Weisheit erwerben. Das war weise gehandelt, oh, Freund aller Welt.«

»Durch Dich, Heiliger, bin ich weise gemacht,« sprach Kim, das eben gespielte kleine Spiel vergessend, St. Xavier vergessend, vergessend sein weißes Blut, ja selbst das Große Spiel, und nach Mohammedaner-Art sich niederwerfend in den Staub des Jain-Tempels, um seines Meisters Füße zu berühren. »Meine Kenntnisse danke ich Dir. Drei Jahre habe ich Dein Brot gegessen. Meine Zeit ist um. Von der Schule bin ich entlassen. Ich komme zu Dir.«

»Das ist meine Belohnung. Tritt ein! Tritt ein! Und alles ist wohl beendet?« Sie traten in den inneren von der Nachmittagssonne goldig überstrahlten Hof. »Stehe still, daß ich Dich anschaue. So!« Er betrachtete ihn kritisch. »Er ist nicht länger ein Kind; er ist ein Mann, reif an Weisheit, ein wandernder Arzt. Ich tat wohl – ich tat wohl, als ich Dich den Männern in Waffen überließ in jener dunklen Nacht. Erinnerst Du Dich unseres ersten Tages, unter Zam-Zammah?«

»Oho,« sagte Kim, »erinnerst Du Dich, wie ich vom Wagen sprang, den ersten Tag, als ich –«

»Als Du eintratest in die Pforte des Wissens. Ja. Und des Tages, wo wir die Kuchen zusammen aßen, hinter dem Fluß bei Nucklao. Aha! Oft hast Du für mich gebettelt, aber an dem Tage bettelte ich für Dich.«

»Mit gutem Grund. Ich war ein Schüler hinter den Toren des Wissens und wie ein Sahib gekleidet. Vergiß nicht, Heiliger,« fuhr Kim scherzend fort, »ich bin noch heute ein Sahib – durch Deine Gunst.«

»Wahr. Und ein Sahib in hoher Achtung. Komme mit in meine Zelle, Chela.«

»Wie kannst Du das wissen?«

Der Lama lächelte. »Zuerst durch Briefe des guten Priesters, den wir in dem Lager der bewaffneten Männer trafen; jetzt ist er nach seinem eignen Lande zurückgekehrt und ich sende das Geld seinem Bruder.« Oberst Creighton, der das Vertrauensamt übernommen hatte, als Vater Victor mit den Mavericks nach England ging, war allerdings nicht des Kaplans Bruder. »Aber ich verstehe nicht wohl Sahib-Briefe. Sie müssen mir übersetzt werden. Ich wählte einen sicheren Weg. Oft, wenn ich von meiner Suche zurückkam zu diesem Tempel, der mir stets ein Nest war, traf ich hier einen, der Erleuchtung suchte – einen Mann von Leh – der, wie er sagte, ein Hindu gewesen war – aber müde all der Götter.« Der Lama zeigte auf die Arhats hin.

»Ein fetter Mann?« fragte Kim, mit den Augen zwinkernd.

»Sehr fett. Ich bemerkte aber bald, daß sein Geist sich ganz und gar mit wertlosen Dingen beschäftigte – wie mit Dämonen und Zauberformeln und der Art und Gewohnheit unseres Teetrinkens in den Klöstern und auf welche Weise wir unsere Novizen einführten. Ein Mann, überschwänglich in Fragen; aber er war Dein Freund, Chela. Er erzählte mir, daß Du auf dem Wege zu großen Ehren als ein Schriftgelehrter wärest. Und ich sehe. Du bist ein Arzt.«

»Ein Schreiber bin ich, wenn ich ein Sahib bin und die Jahre, die ein Sahib darauf verwenden muß, habe ich hinter mir. Aber all das ist Nebensache, wenn ich zu Dir als Dein Schüler komme.«

»Eine Novize bist Du gewesen. Bist Du von der Schule gänzlich entlassen? Ich möchte Dich nicht unreif haben.«

»Ich bin ganz frei. Zur rechten Zeit erhalte ich Dienst als Schreiber unter der Regierung –«

»Nicht als ein Krieger. Das ist gut.«

»Aber jetzt bin ich hier, um mit Dir zu wandern. Deshalb kam ich her. Wer hat diese ganze Zeit für Dich gebettelt?« fuhr Kim rasch fort, um seine Rührung zu verbergen.

»Sehr oft bettelte ich selbst; aber, wie Du weißt, bin ich selten hier, nur wenn ich komme, um meinen Schüler wieder zu sehen. Von einem Ende zum andern von Hind bin ich gewandert zu Fuß und in dem Zug. Ein großes und ein wundervolles Land! Aber, wenn ich hier einkehre, ist es, als wäre ich in meinem eigenen Bhotiyal.«

Er schaute sich mit Wohlgefallen in der kleinen, reinlichen Zelle um. Ein niedriges Polster war sein Sitz, auf dem er sich niederließ, mit gekreuzten Beinen in der Stellung des Bodhisat, der aus Betrachtungen erwacht. Ein schwarzer, kaum zwanzig Zoll hoher Tisch von Eichenholz, kupferne Teelassen tragend, stand vor ihm. In einer Ecke befand sich ein kleiner Altar, ebenfalls aus schwerem, geschnitztem Eichenholz mit einer Statue des sitzenden Buddha aus vergoldetem Kupfer, einer Lampe, einer Zündholzbüchse und einigen kupfernen Blumentöpfen.

»Der Hüter der Bildnisse in dem Wunder-Haus erwarb Verdienst, indem er mir dies alles schenkte,« sprach der Lama, Kims Auge folgend. »Wenn man fern ist von seinem eigenen Lande, wecken solche Dinge die Erinnerung, und wir müssen den Herrn verehren, denn Er zeigte den Weg. Sieh!« Er wies auf einen sonderbar aufgerichteten Hügel von gefärbtem Reis, der von einem phantastischen Ornament aus Metall gekrönt war, »als ich noch Abt war in meinem eignen Platz – bevor ich besseres Wissen erlangte – brachte ich täglich diese Gabe dar. Es ist das Opfer des Universums für den Herrn. So bieten wir zu Bhotiyal jeden Tag die Welt dem Höchst Vortrefflichen Gesetz als Opfer dar. Und ich tue es selbst jetzt noch, obwohl ich weiß, daß der Vortreffliche erhaben ist über Habsucht und Geiz.« Er schnupfte aus seiner Dose.

»Es ist wohlgetan, Heiliger,« sagte Kim, sich in die Kissen lehnend, sehr glücklich, aber auch sehr schläfrig.

»Und,« der alte Mann lachte in sich hinein, »ich male auch Bilder von dem Rad des Lebens. Alle drei Tage ein Bild. Ich war damit beschäftigt, oder, kann auch sein, ich halte gerade meine Augen ein wenig geschlossen, als sie mir Deine Botschaft brachten. Es ist gut, daß Du da bist. Ich will Dich meine Kunst lehren – nicht aus Stolz – aber weil Du lernen mußt. Die Sahibs besitzen nicht alle Weisheit dieser Welt.«

Unter dem Tisch hervor zog er ein Blatt sonderbar riechendes, gelbes, chinesisches Papier, Pinsel und ein Täfelchen chinesischer Tusche. Mit klarsten, schärfsten Linien hatte er darauf das große Rad mit seinen sechs Speichen gezeichnet, dessen Achse die in einer Gestalt vereinten Tiere Schwein, Schlange und Taube bilden (Unwissenheit, Zorn, Wollust), und dessen Felder den ganzen Himmel und die ganze Hölle und allen Wechsel menschlichen Lebens bedeuten. Man erzählt, daß der Bodhisat selbst es zuerst mit Reiskörnern in Staub zeichnete, um seinen Schülern den Zusammenhang der Dinge zu erklären. Wie es so von Generation zu Generation kam, kristallisierte es sich zu einer wunderbaren, gewissermaßen verabredeten Figur, die von Hunderten kleiner Zeichen wimmelte, deren jedes eine besondere Bedeutung hatte. Es gibt nur wenige, die dieses gezeichnete Gleichnis zu deuten vermögen, und vielleicht nicht zwanzig auf der ganzen Welt, die es ohne Vorlagen genau wiederzugeben vermöchten. Und von diesen zwanzig wiederum bleiben nur drei übrig, die es sowohl zu zeichnen wie auszulegen wissen.

»Ich habe ein wenig zeichnen gelernt«, sagte Kim. »Aber dies ist ein Wunder über Wunder.«

»Vor vielen Jahren habe ich es gemalt,« sprach der Lama. »Es gab eine Zeit, wo ich ein Bild fertig malte zwischen einer und der nächsten Nacht. Ich will Dich die Kunst lehren, nach gehöriger Vorbereitung; und ich will Dir die Bedeutung des Rades klar machen.«

»Wir nehmen also unsere Wanderschaft wieder auf?«

»Unsere Wanderschaft und unsere Suche. Ich wartete nur auf Dich. In hundert Träumen ward es mir verkündet – besonders aber in dem, den ich träumte in der Nacht nach dem Tage, wo die Pforte des Wissens zum erstenmal hinter Dir sich schloß – daß ohne Dich ich meinen Strom nicht finden würde. Wieder und immer wieder, Du weißt es, suchte ich den Gedanken zu bannen, weil ich ein Blendwerk fürchtete. Deshalb wollte ich Dich nicht mit mir nehmen an dem Tage zu Lucknow, wo wir die Kuchen miteinander aßen. Ich wollte Dich nicht mit mir nehmen, bis die Zeit reif und günstig war. Von den Hügeln bis zur See und von der See bis zu den Hügeln bin ich gewandert, aber es war vergebens. Da gedachte ich der Jataka.«

Er erzählte Kim die Geschichte von dem Elefanten mit der Beinfessel, die er den Jan-Priestern so oft erzählt.

»Weiterer Offenbarungen bedarf es nicht,« fuhr er heiter fort, »Du warst mir als Hilfe gesendet. Ohne diese Hilfe konnte meine Suche nicht gelingen. Deshalb wollen wir wieder zusammen ausziehen und unsere Suche ist sicher.«

»Und wohin gehen wir?«

»Was liegt daran, Freund der ganzen Welt? Die Suche, sage ich, ist sicher. Wenn die Not es erfordert, wird der Strom zu unseren Füßen aus der Erde hervorbrechen. Ich erwarb Verdienst, da ich Dich zu den Toren des Wissens sandte, ich gab Dir das Juwel, das Weisheit heißt. Du kehrtest zurück, ich sah es eben – ein Nachfolger Sakyamunis, des Arztes, dessen Altäre viele in Bhotiyal sind. Es genügt. Wir sind zusammen und alles ist, wie vordem – Freund der ganzen Welt – Freund der Sterne – mein Chela!«

Dann sprachen sie von weltlichen Dingen; bemerkenswert war, daß der Lama nie nach Einzelheiten des Lebens in St. Xavier frug, noch den geringsten Wunsch äußerte, von den Sitten und Gebräuchen der Sahibs zu hören. Er lebte nur in der Vergangenheit und erinnerte sich jedes Schrittes ihrer ersten wundervollen gemeinschaftlichen Reise; er lächelte dabei und rieb sich die Hände, bis er, sich zusammenrollend, in den plötzlichen Schlaf des hohen Alters sank.

Kim sah den letzten staubigen Sonnenschein aus dem Hofe schwinden und spielte mit seinem Geisterdolch und Rosenkranz. Das Getöse von Benares, der ältesten aller Städte der Erde, die Tag und Nacht wach ist vor den Göttern, schallte rund um die Mauern, wie die Wogen der See gegen einen Wellenbrecher. Hin und wieder schritt ein Jain-Priester mit einer kleinen Opfergabe für die Götterbilder durch den Hof, seinen Weg vorher fegend, um kein lebendes Wesen zu zerstören. Eine Lampe schimmerte und der Laut eines Gebetes folgte. Kim sah nach den Sternen, die einer nach dem andern hervortraten in dem feuchtwarmen Dunkel, bis er in Schlaf fiel am Fuße des kleinen Altars. In dieser Nacht träumte er nur Hindostianisch, nicht ein Wort Englisch…

»Heiliger, denke an das Kind, dem wir die Medizin gaben,« sprach Kim, als der Lama gegen drei Uhr morgens aus Träumen erwachend, die Pilgerfahrt antreten wollte, »der Jat wird mit dem Tageslicht hier sein.«

»Du hast wohl gesprochen. In meiner Eile würde ich ein Unrecht begangen haben.« Er setzte sich wieder auf die Kissen und nahm seinen Rosenkranz vor. »In Wahrheit, alte Menschen sind wie Kinder,« sagte er betrübt. »Sie wünschen etwas – siehe da! – es muß sogleich erfüllt werden, sonst werden sie zornig und weinen. Oft auf meiner Wanderschaft war ich bereit, mit dem Fuß zu stampfen, wenn ein Ochsenkarren mir den Weg versperrte, ja selbst wenn es nur eine Staubwolke war. Das war nicht so, als ich noch ein Mann war – vor langer Zeit. Trotzdem ist es sündhaft –«

»Aber, Heiliger, Du bist doch wirklich alt.«

»Das Ding ist geschehen. Eine Ursache ist in die Welt gegangen und wer, krank oder gesund, wissend oder unwissend, alt oder jung, könnte die Wirkung dieser Ursache zügeln? Steht das Rad still, wenn ein Kind es dreht – oder ein Trunkener? Chela, dies ist eine große und eine schreckliche Welt.«

»Ich finde sie gut.« Kim gähnte. »Ist etwas zu essen da? Seit gestern Abend habe ich nicht gegessen.«

»Ich hatte vergessen, was Du brauchst. Dort ist kalter Reis und guter Tee von Bhotiyal.«

»Weit können wir nicht gehen mit solchem Stoff.« Kim sehnte sich, wie ein Europäer, nach Fleischnahrung, die in einem Jain-Tempel nicht zu erlangen ist. Doch statt mit der Bettelschale hinaus zu gehen, beruhigte er seinen Magen mit Klümpchen von kaltem Reis. Die Morgendämmerung brachte den Farmer, redselig stotternd vor Dankbarkeit.

»In der Nacht brach sich das Fieber und der Schweiß kam,« rief er. »Fühlt ihn an. Seine Haut ist frisch. Ihm schmeckten die gesalzenen Täfelchen und die Milch trank er mit Gier.« Er zog das Tuch vom Gesicht des Kindes, das Kim schläfrig anlächelte. Eine Gruppe von Jain-Priestern, schweigend, aber ganz Aufmerksamkeil, hatte sich bei der Tempeltür gesammelt. Sie wußten und Kim sah, daß sie wußten, wie der alte Lama seinen Schüler gefunden hatte. Höflich, wie sie sind, hatten sie sich während der Nacht weder durch Gegenwart, noch Wort, noch Bewegung aufgedrängt, wofür Kim ihnen, bei Sonnenaufgang, sich dankbar erwies.

»Danke den Göttern der Jains, Bruder,« sprach er zu dem Jat, den Namen der Götter nicht wissend. »Das Fieber ist wirklich gebrochen.«

»Schauet! Sehet!« rief der Lama, vor Freude strahlend, seinen Gastgebern zu. »Gab es jemals solchen Chela? Er folgt unserm Herrn, dem Heiler.«

Die Jains erkennen offiziell alle Götter des Hindu-Glaubens an, ebensowohl den Lingam, wie die Schlange. Sie tragen die Schnur der Brahmahnen und sind Anhänger jedes Rechtes der Kasten-Vorschrift der Hindu. Aber, weil sie den Lama kannten und liebten, weil er ein alter Mann war, weil er den Weg suchte, weil er ihr Gast war und endlich – weil er nachts oft lange Gespräche mit dem Oberpriester führte, der ein so freidenkender Metaphysiker, als je einer ein Haar siebzig Mal gespalten – deshalb nickten sie dem Lama Beifall zu.

»Vergiß aber nicht,« – Kim beugte sich über das Kind – »dieses Übel kann wiederkehren.«

»Nicht, wenn Du das richtige Zaubermittel hast,« erwiderte der Vater.

»Aber wir gehen bald fort.«

»Wahr,« sprach der Lama, sich an alle Jains wendend. »Wir gehen jetzt zusammen auf die Suche, von der ich oft geredet. Ich wartete, bis mein Chela reif wäre. Schauet ihn an! Wir gehen nach dem Norden. Niemals wieder werde ich auf diesen Ort meiner Ruhe blicken, o Männer des guten Willens.«

»Ich aber bin kein Bettler.« Der Landmann sprang auf, das Kind an sich pressend.

»Schweige. Störe den Heiligen nicht,« rief ihm ein Priester zu.

»Geh,« flüsterte Kim. »Triff uns wieder unter der großen Eisenbahnbrücke, und um aller Götter unseres Punjab willen, bringe Futter mit – Curry, Hülsenfrucht, in Fett gebacken« Kuchen und Zuckerwerk. Besonders Zuckerwerk. Beeile Dich.« Die Blässe des Hungers kleidete Kim gut, als er dastand, schlank und schmächtig, in seinen dunkelfarbigen, wallenden Gewändern, eine Hand auf dem Rosenkranz, die andere wie zum Segnen ausgestreckt, eine Stellung, die er dem Lama getreu nachahmte. Ein europäischer Zuschauer hätte sagen können, er gliche einem auf einem Kirchenfenster gemalten jungen Heiligen mehr, als einem Jungen im Wachsen, der bleich vor Hunger ist.

Lang und förmlich wurde der Abschied, dreimal beendet und dreimal von vorn angefangen. Der Sucher, er – der den Lama vom fernen Tibet her nach diesem Hafen geladen hatte, ein haarloser Asket, mit silberweißem Antlitz – nahm nicht teil daran: er weilte, wie immer, in Betrachtungen unter den Götterbildern. Die anderen waren menschlicher, nötigten dem alten Manne kleine Gaben auf, eine Betelschachtel, einen neuen, eisernen Federkasten, einen Beutel für Eßwaren und dergleichen mehr, warnten ihn vor den Gefahren der Welt draußen und prophezeiten ein glückliches Ende der Suche.

Kim indessen, einsamer denn je, hockte auf den Stufen und fluchte in St. Xaviers Art.

»Aber es ist mein eigener Fehler,« dachte er. »Mit Mahbub oder Lurgan Sahib aß ich ihr Brod; in St. Xavier drei Mahlzeiten am Tage. Hier kann ich zusehen, wo ich etwas bekomme. Ich fühle mich nicht wohl. Wie würde mir ein Teller mit Fleisch behagen … Heiliger, bist Du zu Ende?«

Der Lama, beide Hände erhoben, begann eine letzte Segenspendung in zierlichem Chinesisch. »Ich muß mich auf Deine Schultern lehnen,« sprach er, als die Tempelpforte sich hinter ihnen schloß. »Wir werden steif, glaube ich.«

Das Gewicht eines sechs Fuß hohen Mannes ist nicht leicht zu stützen durch Meilen von gedrängt vollen Straßen, und Kim, außerdem mit Bündeln und Päckchen für die Reise beladen, war froh, den Schatten der Eisenbahnbrücke zu erreichen.

»Hier essen wir,« sagte er entschlossen, als der Kamboh, blau gekleidet und lächelnd, in Sicht kam, einen Korb in einer Hand, das Kind an der anderen.

»Greift zu, Heilige,« rief er aus fünfzig Fuß Entfernung. (Auf einer flachen Stelle unter dem ersten Brückenbogen waren sie sicher vor den Blicken hungriger Priester.) »Reis und Curry, Kuchen, noch warm und gut gewürzt mit Hing (Asafötida), Käse und Zucker. König meiner Felder« – dies zu seinem kleinen Sohn – »laß uns diesen heiligen Männern zeigen, daß wir Jats von Jullundur einen Dienst vergelten können… ich hatte gehört, daß die Jains nur essen, was sie selbst gekocht haben, aber wahrlich,« – er blickte höflich weg nach dem breiten Strom – »wo kein Auge ist, ist keine Kaste.«

»Und wir,« sagte Kim, sich umdrehend und eine Blattschüssel für den Lama füllend, »sind erhaben über alle Kasten.«

Schweigend sättigten sie sich an der guten Speise. Erst, als er das Letzte von dem klebrig süßen Stoff von seinem Finger abgeleckt, bemerkte Kim, daß auch der Kamboh reisefertig dastand.

»Wenn wir denselben Weg haben,« sagte er hastig, »gehe ich mit Dir. Man findet nicht oft einen Wundertäter, und das Kind ist noch schwach. Aber ich bin auch kein schwaches Rohr.« Er hob seinen Lathi empor, einen fünf Fuß langen Bambusstock, mit polierten Eisenringen umgeben, und schwang ihn durch die Luft. »Man sagt, die Jats wären streitsüchtig, doch das ist nicht wahr. Nur wenn man uns in die Quere kommt, dann sind wir wie unsere Büffel.«

»So ist es,« sagte Kim. »Und ein guter Stock ist ein guter Beweis.«

Der Lama blickte in ruhiger Stimmung stromaufwärts, wo in grauer Perspektive unaufhörlich die Rauchsäulen von den Verbrennungs-Plätzen aufstiegen. Hin und wieder, ungeachtet aller behördlichen Verordnungen, trieben Überreste von halb verbrannten Leichen auf dem rasch fließenden Strom abwärts.

»Ohne Dich,« sprach der Kamboh, das Kind an seine rauhe Brust pressend, »wäre ich vielleicht heute dorthin gegangen – mit diesem hier. Die Priester lehren uns, daß Benares heilig ist – was niemand bezweifelt – und daß es begehrenswert ist, dort zu sterben. Ihre Götter aber kenne ich nicht, und Geld fordern sie auch; und hat man sein Gebet verrichtet, so behauptet irgend ein geschorener Kopf, es sei wertlos, wenn man nicht aufs neue betet. Wasch Dich hier! Wasch Dich dort! Begieße, bade, trinke und sammle Blumen – aber jedes Mal bezahle die Priester. Nein, das Punjab für mich und die Erde des Jullundur-Landes für die beste Scholle darauf.«

»Ich habe oft gesagt – in dem Tempel, glaube ich – daß, wenn die Not es erheischt, der Fluß zu unseren Füßen sich auftun wird. Deshalb wollen wir jetzt nordwärts wandern,« sprach der Lama, sich erhebend. »Ich erinnere mich eines angenehmen, von Fruchtbäumen umgebenen Platzes, wo man in Betrachtungen sich ergehen kann – und wo die Luft kühler ist. Sie kommt dort von den Bergen und von dem Schnee der Berge.«

»Wie ist der Name des Ortes?« fragte Kim.

»Wie sollte ich das wissen? Warst Du nicht – nein, das war, nachdem die Armee aus der Erde herauswuchs und Dich fortführte. Dort weilte ich im Nachsinnen in einem Raume unter dem Taubenschlag – hätte sie nur nicht immerwährend geredet.«

»Oho! die Frau von Kulu. Das ist bei Saharunpore.«

»Wie führt der Geist Deinen Meister? Wandert er zu Fuß wegen früherer Sünden?« fragte leise der Jat. »Es ist ein weiter Weg bis Delhi.«

»Nein,« antwortete Kim. »Ich will um ein Billet für den Zug betteln.« In Indien bekennt man sich nicht zum Besitz von Geld.

»Dann im Namen der Götter, laßt uns den Feuerwagen nehmen. Mein Sohn ist am besten in den Armen seiner Mutter aufgehoben. Die Regierung legt uns viele Steuern auf, aber ein Gutes gibt sie uns, den Zug, der Freunde verbindet, und die Sehnsucht haben, zusammenführt. Ein wundervolles Ding ist der Zug.«

Einige Stunden später drängten sie sich in den Zug hinein und schliefen wahrend der Tageshitze. Der Kamboh quälte Kim mit Fragen nach des Lamas Leben und Tun und erhielt merkwürdige Antworten. Kim sah behaglich in die ebene, nordwestliche Landschaft hinaus und plauderte mit den ein- und aussteigenden Passagieren. Noch heute halten die indischen Landleute die Fahrkarten und das Abknipsen der Fahrkarten für eine unerklärliche Unterdrückung. Sie begreifen nicht, warum, wenn sie für ein Zauberpapier bezahlt haben, Fremde große Stücke von dem Zauber abreißen. So gibt es immer noch lange und heftige Debatten zwischen den Reisenden und Billettabnehmern. Kim half dabei einige Male mit ernstem Rat und zeigte seine Klugheit vor dem Lama und dem bewundernden Kamboh. Bei Somna sandte das Schicksal ihm etwas zum nachdenken. Da polterte, als der Zug schon in Bewegung war, ein armer, magerer, kleiner Mann in den Wagen – ein Mahratta – wie Kim aus der Form des fest anliegenden Turbans schloß. Sein Gesicht war zerschnitten, sein Obergewand, von Musselin, zerrissen und ein Bein verbunden. Er erzählte ihnen, daß ein Bauernwagen umgestürzt und er beinahe getötet worden wäre; er wollte jetzt nach Delhi, wo sein Sohn lebte. Kim betrachtete ihn genauer. Wenn er, wie er erzählte, auf der Erde hin und her gerollt wäre, so hätte seine Haut geschrammt sein müssen. Aber alle seine Wunden schienen Schnitte zu sein, und durch einen einfachen Fall vom Wagen konnte ein Mann nicht so in Schrecken gesetzt sein. Als er mit zitternden Fingern das zerrissene Tuch um seinen Hals festknüpfen wollte, legte er ein Amulett blos, von der Art, die man Herzstärker nennt. Amulette sind gewöhnlich genug, aber nicht solche, die an plattiertem Kupferdraht hängen, noch weniger solche von schwarzer Emaille auf Silber. Außer dem Lama und dem Kamboh war niemand in dem Abteil, das glücklicherweise ein altmodisches, abgeschlossenes war. Kim tat, als ob er sich die Brust kratzen wollte und legte dabei sein eigenes Amulett blos. Des Mahrattas Gesicht veränderte sich sofort, und er legte sein Amulett frei auf die Brust.

»Ja,« wandte er sich an den Kamboh, »ich war in Eile, und der Wagen, von einem Mischling geführt, prallte mit einem Rad an einen Brückenpfeiler und außer dem Schaden, den ich nahm, ging eine volle Schüssel von »Tarkeean« verloren. Ich war kein Sohn des Zaubers (glücklicher Mann) an dem Tage.«

»Das war ein großer Verlust,« sagte der Kamboh, so gleichgültig wie möglich. Seine Erfahrungen in Benares hatten ihn mißtrauisch gemacht.

»Wer kochte es?« fragte Kim.

»Ein Weib.« Der Mahratta hob die Augen.

»Aber jedes Weib kann Tarkeean kochen,« sagte der Kamboh. »Es ist ein gutes Currygericht.«

»O ja,« sagte der Mahratta, »es ist ein gutes Currygericht.«

»Und billig,« sagte Kim. »Aber, was meint die Kaste?«

»O, es gibt keine Kaste, wo Männer Tarkeean sehen – – wollen,« erwiderte der Mahratta in dem vorgeschriebenen Tonfall. »In wessen Dienst bist Du?«

»In dem Dienst dieses Heiligen.« Kim zeigte auf den glücklichen, schläfrigen Lama, der mit einem Ruck bei dem vielgeliebten Wort erwachte.

»Ah, er ward vom Himmel gesendet, um mir zu helfen. Freund aller Welt ist er genannt. Auch Freund der Sterne nennt man ihn. Er wandelt als ein Heiliger – seine Zeit ist reif. Groß ist seine Weisheit.«

»Und ein Sohn des Zaubers,« flüsterte Kim. Der Kamboh zündete eilig seine Pfeife an, aus Furcht, daß der Mahratta ihn anbettelte.

»Und wer ist das?« fragte der Mahratta, nervös seitwärts schielend.

»Einer, dessen Kind ich – wir heilen, der uns sehr verpflichtet ist. – Setze Dich ans Fenster, Mann von Jullundur. Hier ist ein Kranker.«

»Humpf! Ich habe gar kein Verlangen, mit herumgelaufenen Landstreichern zusammen zu sitzen. Meine Ohren sind nicht lang, und ich bin kein neugieriges Weib.« Der Jat ließ sich schwer in eine entfernte Ecke fallen.

»Bist Du etwas wie ein Heiler? Ich bin zehn Klafter tief in Not,« flüsterte, an das letzte Wort Kims anknüpfend, der Mahratta.

»Der Mann ist über und über voll Wunden,« wandte Kim sich an den Kamboh. »Ich will versuchen, ihn zu heilen. Niemand störte mich, als ich Dein Kind behandelte.«

»Ich verdiene Tadel,« sagte demütig der Kamboh. »Ich schulde Dir das Leben meines Sohnes. Du bist ein Wundertäter – ich weiß es.«

»Zeige mir die Schnitte.« Kim neigte sich über des Mahrattas Brust, vom Klopfen seines Herzens fast erstickend, denn dies war das Große Spiel aus dem ff. »Nun erzähle mir Deine Geschichte, Bruder, schnell, indem ich Zaubersprüche murmele.«

»Ich komme vom Süden, wo ich mein Werk zu tun hatte. Einen von uns haben sie auf der Landstraße erschlagen. Hast Du es gehört?« Kim schüttelte den Kopf. Er wußte natürlich nichts über den Vorgänger des E. 23., der unten im Süden, im Anzug eines arabischen Händlers, tot gefunden war. »Nachdem ich einen gewissen Brief gefunden, den ich suchen sollte, eilte ich davon. Ich entkam aus der Stadt und kam nach Mhow. So sicher fühlte ich mich, daß ich nicht einmal mein Äußeres änderte. In Mhow erhob ein Weib Klage gegen mich wegen Juwelen-Diebstahls in der Stadt, die ich eben verlassen. Da merkte ich, daß die Meute hinter mir war. Aus Mhow entrann ich bei Nacht mittels Bestechung der Polizei, die ohne Zweifel ebenfalls bestochen war, um mich in die Hände meiner Feinde zu liefern. Darauf verbarg ich mich eine Woche als Büßer in einem Tempel in der allen Stadt Chitor; aber ich wußte nicht, wohin mit dem Brief, den ich bei mir hatte. Endlich begrub ich ihn unter dem Stein der Königin zu Chitor, an dem Platz, der uns allen bekannt ist.«

Kim wußte nichts davon, aber nicht um die Welt hätte er die Erzählung unterbrochen.

»Zu Chitor, siehst Du, war ich ganz in des Königs Macht; denn Kotah ostwärts ist außer dem Gesetz der Königin (von England, Viktoria), und Jeypur und Gwalior liegen ebenfalls ostwärts. Spione liebt man nicht, und Gerechtigkeit gibt es nicht. Ich wurde gejagt wie ein nasser Schakal, aber ich schlug mich durch bis Bandakui. Da hörte ich, daß ich eines Mordes angeklagt war in der Stadt, aus der ich eben kam – des Mordes an einem Knaben. Sie hatten beides zur Stelle, die Leiche und den Zeugen.«

»Aber gibt es keinen Schutz bei der Regierung?«

»Für uns von dem Spiel gibt es keinen Schutz. Wenn wir sterben, sterben wir. Unser Name wird in dem Buch ausgelöscht – das ist alles. In Bandakui, wo einer von uns lebt, suchte ich die Spur zu verwischen, indem ich mein Gesicht änderte und mich zum Mahratten machte. So kam ich nach Agra und wollte nun nach Chitor zurück, um den Brief zu holen. So sicher dachte ich ihnen entwischt zu sein. Deshalb sandte ich niemandem ein Telegramm, um anzugeben, wo der Brief sich befinde. Ich wünschte alle Ehre für mich zu haben.«

Kim nickte. Diese Empfindung verstand er gut.

»Aber in Agra, als ich durch die Straßen ging, hielt mich ein Mann wegen Schulden an, brachte Zeugen vor, und man schleppte mich vor Gericht hierhin und dahin. O, sie sind schlau dort im Süden! Er gab mich als seinen Baumwoll-Agenten an. Möge er in der Hölle dafür braten.«

»Und warst Du das?«

»O Tor! Der Mann, den man wegen des Briefes suchte, war ich! Ich flüchtete mich durch den Schlachthof und kam bei dem Hause des Juden heraus, der, einen Auflauf befürchtend, mich weiter beförderte. Zu Fuß kam ich bis Somna, ich hatte nur noch Geld zu einem Billett nach Delhi – und dort, als ich mit Fieber in einem Graben lag, sprang einer aus dem Gebüsch und stach mich und zerschlug mich und durchsuchte mich von Kopf bis Fuß – im Angesicht des Zuges!«

»Wie kam es, daß er Dich nicht vollständig tötete?«

»So dumm sind sie nicht. Wenn ich in Delhi, auf Veranlassung von Advokaten, wegen erwiesener Mordtat, verhaftet werde, so verfällt mein Leib dem Staat, der ihn fordert. Dann werde ich unter Bewachung zurück befördert und dann – sterbe ich langsam – als ein Beispiel für uns übrige. Der Süden ist nicht mein Geschmack! Im Kreise, wie – eine Ziege mit einem Auge – irrte ich umher. Seit zwei Tagen habe ich nichts gegessen. Ich bin gezeichnet,« – er berührte die schmutzige Bandage seines Beines – »so daß sie mich zu Delhi erkennen müssen.«

»So lange Du im Zuge bleibst, bist Du wenigstens sicher.«

»Sei ein Jahr in dem Großen Spiel und sage mir das dann wieder! In Delhi werden die Drähte gegen mich in Bewegung sein, jeder Schnitt, jeder Lumpen auf meinem Leibe wird beschrieben. Zwanzig – hundert – wenn nötig – werden bezeugen, daß ich den Knaben erschlug. Da ist nichts zu machen!«

Kim kannte genug von dem Charakter der Eingeborenen, um zu wissen, daß es so war, daß selbst der Leichnam des Knaben zur Stelle sein würde. – Des Mahratten Finger Zuckten vor Schmerz. Der Kamboh stierte verdrossen aus seiner Ecke heraus; der Lama war bei seinem Rosenkranz. Kim machte sich an des Mannes Brust zu schaffen, als ob er ärztlich untersuchte und dachte sich – Zaubersprüche murmelnd – einen Plan aus.

»Hast Du auch einen Zauber, meine Gestalt zu verändern? Sonst bin ich ein toter Mann. Hätte ich nur zehn – nur fünf Minuten Zeit gehabt, wäre ich nicht so gehetzt worden, so hätte ich – –«

»Ist er jetzt geheilt, Wundertäter?« fragte neidisch der Kamboh. »Gesungen hast Du lang genug.«

»Nein. Für seine Wunden gibt es, sehe ich, keine Heilung, wenn er nicht drei Tage im Gewande eines Bairagi sitzt.«

Diese Art Buße wird fetten Handelsleuten gewöhnlich von ihren geistlichen Beratern vorgeschrieben.

»Ein Priester sucht immer wieder einen Priester zu machen,« war die Erwiderung. Wie meist rohe und vorurteilsvolle Leute, Konnte er seine Junge nicht vor Verhöhnung der Kirche hüten.

»Also muß Dein Sohn ein Priester werden! Mir scheint, er muß wieder von meinem Chinin nehmen.«

»Wir Jats sind alle Büffel,« sagte der Jat, wieder Kleinlaut werdend.

Kim strich eine Fingerspitze voll bitteren Zeuges auf des Kindes bebende schmale Lippen. »Ich habe von Dir nichts verlangt als Speise. Mißgönnst Tu mir die? Ich will diesen Mann heilen. Habe ich Deine Erlaubnis – Fürst?«

Des Mannes große Fäuste flogen flehend in die Höhe. »Nein – nein. Verspotte mich nicht.«

»Es beliebt mir, diesen Kranken zu heilen. Du sollst Verdienst erwerben, indem Du mir beistehst. Welche Farbe hat die Asche in Deinem Pfeifenkopf? Weiß? Das ist günstig. Ist rohes Turmevic (Gelbwurz) unter Deinen Speiseresten?«

»Ich – ich –«

Öffne Dein Bündel!«

Es enthielt die gewöhnliche Sammlung kleiner Abfälle: Flicken von Zeug, quacksalberische Medikamente, billige Jahrmarkts-Geschenke, ein Tuch voll Atta (graues, grob gemahlenes Mehl), Röllchen von Bauern-Tabak, wohlfeile Pfeifenrohre und ein Pack Curry, in eine Decke gewickelt. Kim durchsuchte alles mit der Miene eines weisen Zauberers, mohammedanische Beschwörungen murmelnd.

»Dies ist Weisheit, die ich von den Sahibs lernte,« flüsterte er dem Lama zu: und wenn man an seine Erziehung bei Lurgan denkt, war das Wahrheit. »Die Sterne künden ein großes Unheil im Schicksal dieses Mannes, das – das setzt ihn in Schrecken. Soll ich es verhindern?«

»Freund der Sterne, Du hast stets das Rechte erwählt. Handle nach Deinem Belieben. Ist es eine neue Heilung?«

»Rasch! Mach rasch! Ehe der Zug hält.«

»Eine Heilung von dem Schatten des Todes,« flüsterte Kim. Er mischte das Mehl mit Kohlen- und Tabaksasche in dem Pfeifenkopf von rotem Ton. E. 23. nahm schweigend seinen Turban ab und schüttelte sein langes schwarzes Haar herunter.

»Das ist mein Essen, Priester,« grollte der Jat.

»Ein Büffel in dem Tempel! Hast Du gewagt, herzusehen? Narren muß man etwas vormachen. Aber hüte Deine Augen. Bemerkst Du schon einen Nebel vor ihnen? Ich rettete das Kind und als Dank – oh. Du Schamloser!«

Der Mann wich vor Kims scharfem, ernsten Blick zurück.

»Soll ich Dich verfluchen, oder soll ich –« Er riß das äußere Tuch vom Bündel und warf es über den gesenkten Kopf. »Wage nur den Wunsch, herzublicken und – und selbst ich kann Dich nicht retten. Sitz still! Sei stumm!«

»Ich bin blind – stumm. Nur verfluche mich nicht! Ko – Komm her, Kind! Wir wollen Blindekuh spielen. Um meinetwillen, piep nicht unter dem Tuch hervor.«

»Ich sehe Hoffnung,« flüsterte E. 23. »Was für einen Plan hast Du?«

»Das kommt später,« sagte Kim, ihm das leichte Hemd herabziehend. E. 23. wich zurück mit der Scheu des Nordwestlers vor Entblößung seines Körpers.

»Was heißt Kaste, wenn es uns an den Hals geht?« meinte Kim, das Hemd bis auf die Hüften niederstreifend.

»Wir müssen Dich zu einem gelben Saddhu machen. Entkleide Dich – entkleide Dich rasch und schüttele das Haar über die Augen, während ich die Asche streue. Nun ein Kasten-Abzeichen auf Deine Stirn.« Er nahm aus dem Kleinen Tuschkasten unter seinem Gewand ein Täfelchen Karminlack.

»Bist Du nur ein Anfänger?« fragte E. 23., buchstäblich um sein Leben ringend, indem er seine Körperhüllen abstreifte und nackt, nur mit dem Hüftentuch, dastand, indeß Kim ihm ein vornehmes Kastenzeichen auf die mit Asche beschmierte Stirn kleckste.

»Seit zwei Tagen erst in das Spiel eingetreten, Bruder,« antwortete Kim. »Schmiere mehr Asche auf Deine Brust.«

»Hast Du wohl einen Arzt – für kranke Perlen getroffen?«

Er faßte sein langes, fest verschlungenes Turbantuch, und mit flinker Hand rollte er es um und über seine Stiften, nach dem verwickelten Muster eines Saddhu-Gurtes.

»Hah! Erkennst Du seine Hand? Eine Weile war er mein Lehrer. Wir müssen Deine Beine verbinden. Asche heilt Wunden. Beschmiere sie nochmals.«

»Einst war ich sein Stolz. Du aber bist fast geschickter als ich. Die Götter sind uns gnädig! Gib mir das

Es war eine Zinnbüchse mit Opiumpillen zwischen dem Kehricht des Bündels. E. 23. verschluckte eine halbe Handvoll. »Sie sind gut gegen Hunger, Angst und Kälte. Und sie machen die Augen rot,« erklärte er. »Nun habe ich wieder Mut zum Spiel. Es fehlt mir nur die Zunge eines Saddhu. Was machen wir mit den alten Kleidern?«

Kim rollte sie fest zusammen und stopfte sie in die lockeren Falten seines Unterkleides. Mit gelber Ockerfarbe schmierte er breite Streifen auf Brust und Beine, auf den Hintergrund von Mehl, Asche und Turmeric.

»Das Blut auf Deinem Leib, Bruder, genügt um Dich zu hängen.«

»Kann sein; aber nicht Grund genug, ihn aus dem Fenster zu werfen … Es ist getan.« Seine Stimme klang hell vor Entzücken über die Verkleidung. »Wende Dich um, o Jat! Und schau!«

»Die Götter mögen uns schützen!« rief der Kamboh unter seiner Kopfdecke heraus springend wie ein Büffel aus dem Schilf. »Wo aber ist der Mahratta geblieben? Was hast Du mit ihm angefangen?«

Kim war von Lurgan Sahib erzogen; und E. 23. durch die Art seiner Tätigkeit kein schlechter Schauspieler. Statt des verängstigten zitternden Hausierers lehnte da in der Ecke mit auf dem Sitz gekreuzten Beinen ein mit Asche beschmierter, gelbstreifig bemalter Saddhu, aus dessen geschwollenen Augen (Opium wirkt schnell auf leeren Magen) List und Frechheit leuchtete. Kims braunen Rosenkranz trug er am Halse und ein ärmliches Stück geblümten Kattuns um die Schultern. Das Kind versteckte sein Gesicht an des erstaunten Vaters Brust.

»Schau auf, Prinzlein! Wir reisen mit Zauberern, aber Dir werden sie nichts tun. O, weine nicht … Wozu heilt man heute ein Kind, wenn man es morgen durch Furcht töten will?«

»Das Kind wird Glück haben in seinem ganzen Leben, denn es hat einer wunderbaren Heilung beigewohnt. Als ich noch ein Kind war, machte ich schon Menschen und Pferde aus Ton.«

»Das tat ich auch schon,« piepte das Kind. »Und Sir Banas kommt in der Nacht hinten in unsere Küche und macht sie lebendig.«

»Du also fürchtest Dich vor nichts, he, Prinzlein?«

»Ich fürchte mich, weil mein Vater sich fürchtete. Ich fühlte seine Arme beben.«

»Oh, furchtsames Hühnchen!« sagte Kim, und der beschämte Jat lachte. »Ich habe den armen Hausierer geheilt. Er muß nun seinen Verdienst und seine Rechnungsbücher im Stich lassen und drei Nächte an der Wegseite sitzen, um der Bosheit seiner Feinde Herr zu werden. Die Sterne sind gegen ihn.«

»Je weniger Wucherer, desto besser, sage ich. Aber Saddhu oder nicht Saddhu, er soll mir den Stoff um seine Schultern bezahlen.«

»So? Aber das da auf Deiner Schulter ist Dein Kind, das vor noch nicht zwei Tagen dem Scheiterhaufen verfallen war. Noch eins muß ich Dir sagen. Ich machte diese Wunderheilung in Deiner Gegenwart, weil die Not groß war. Ich änderte des Kranken Leib und Seele. Aber, o Mann von Jullundur, wenn Du jemals bei irgendeiner Gelegenheit Dich dessen entsinnst, was Du hier gesehen, sei es bei den Ältesten unter dem Dorfbaum oder in Deinem eigenen Hause oder in Gegenwart Deines Priesters, wenn er Dein Vieh segnet, so soll eine Seuche unter Deine Büffel kommen, und eine Flamme auf Dein Dach, und Ratten in Deine Korntenne und der Fluch der Götter über Deine Felder, daß sie verdorren vor Deinen Füßen und hinter Deiner Pflugschar.« Diesen Teil einer Verwünschung hatte Kim in den Tagen seiner Unschuld von einem Fakir am Taksali-Tor aufgeschnappt.

»Höre auf, Heiliger! Aus Barmherzigkeit, höre auf!« rief der Jat. »Verfluche meinen Haushalt nicht. Ich sah nichts. Ich hörte nichts. Ich bin Deine Kuh.« Und er streichelte Kims nackten Fuß, der rhythmisch den Boden klopfte.

»Aber da es Dir erlaubt wurde, mir beizustehen mit ein bißchen Mehl und ein bißchen Opium und solchen Kleinigkeiten, die anzunehmen ich Dir die Ehre erwies, so werden die Götter Dir dies vergelten durch einen Segen –« den Kim endlich, zu des Mannes unendlicher Erleichterung erteilte, und den er von Lurgan Sahib gelernt hatte.

Der Lama starrte hierbei aufmerksamer durch seine Brillengläser als er es bei der Verkleidung getan.

»Freund der Sterne,« sprach er, »Du hast große Weisheit erworben. Hüte Dich, daß sie nicht Stolz gebiert. Kein Mann, der das Gesetz vor Augen hat, wird übereilt von etwas reden, das er gesehen, oder das ihm begegnet ist.«

»Nein – nein – wahrlich nicht,« rief der Bauer, voller Angst, daß der Meister es noch schlimmer machen könnte als der Schüler.

E. 23. mit offenem Munde, lag im Banne des Opiums, der für einen erschöpften Asiaten Fleisch, Tabak und Medizin zugleich ist.

So, schweigend in Mißverständnis und Angst, erreichten sie Delhi zur Zeit, als die Lampen angezündet wurden.