Zehntes Kapitel.

Zehntes Kapitel.

Bereits seit dem Tage vor unserem Eintreffen in Julesburg hatten sich gewiß und wahrhaftig zwei Drittel dessen, was Kutscher und Kondukteur sprachen, mit Slade beschäftigt. Um nun dem Leser ein deutliches Bild von einem ›Desperado‹ des Felsengebirges auf der höchsten Stufe seiner Entwickelung zu verschaffen, will ich die ganze Masse von Geschichten, die bei der Überlandpost über denselben im Umlauf sind, im Nachstehenden zu einer zusammenhängenden Erzählung zusammenfassen:

Slade stammte aus Illinois, von achtbaren Eltern. Mit ungefähr sechsundzwanzig Jahren erschlug er jemand im Streite und floh aus dem Land. In St. Joseph im Staat Missouri schloß er sich einem der ersten Auswandererzüge nach Kalifornien an und wurde mit dessen Führung betraut. Eines Tages bekam er auf der Prairie einen heftigen Zank mit einem seiner Fuhrleute und beide zogen den Revolver heraus. Der Fuhrmann war jedoch der flinkere Künstler und hatte den Hahn an seiner Waffe zuerst gespannt. Deshalb meinte Slade, es sei doch nicht der Mühe wert, einander wegen einer solchen Kleinigkeit die Hälse zu brechen und schlug vor, die Pistolen wegzuwerfen und den Streit mit den Fäusten auszumachen. Arglos ging der Fuhrmann darauf ein und ließ seine Pistole fallen, – woraus ihn Slade unter höhnischem Lachen über seine Einfalt einfach über den Haufen schoß!

Er machte sich daraufhin flüchtig und führte eine Zeit lang ein wildes Leben, das er zur Hälfte mit Indianerkämpfen und zur andern Hälfte mit dem Bestreben zubrachte, einem Gerichtsbeamten des Staates Illinois auszuweichen, der behufs seiner Festnahme wegen seiner ersten Mordthat gegen ihn ausgesandt worden war. Damals soll er in einem Kampfe mit Indianern drei Wilde mit eigener Hand getötet und nachher deren abgeschnittene Ohren dem Häuptling des Stammes mit seinen Grüßen überschickt haben.

Bald stand Slade allenthalben im Rufe furchtloser Entschlossenheit, und dieses Verdienst war hinreichend, um ihm die wichtige Stelle eines Abteilungsagenten bei der Überlandpost in Julesburg als Nachfolger eines gewissen Jules zu verschaffen, der seine Entlassung erhielt. Kurz zuvor war es häufig vorgekommen, daß der Gesellschaft Pferde gestohlen und Kutschen aufgehalten wurden und zwar durch Banden flüchtiger Verbrecher, denen der Gedanke, es könnte jemand so tollkühn sein wollen, derlei Missethaten zu ahnden, stets nur ein höhnisches Lachen entlockte. Slade ahndete dieselben unverzüglich. Das Gesindel hatte bald herausgefunden, daß Slade ein Mann war, der sich vor nichts fürchtete, was da atmete. Wer sich gegen Gesetz und Ordnung verging, mit dem machte er kurzen Prozeß. Das Ergebnis war, daß kein Aufenthalt bei den Postfahrten mehr vorkam, daß das Eigentum der Gesellschaft unangetastet blieb und daß Slades Kutschen stets ohne Störung rechtzeitig eintrafen, einerlei, was dabei vorkam und wer dabei Schaden hatte! Allerdings, um diese heilsame Veränderung zuwege zu bringen, mußte Stade ein paar Menschen aus der Welt schaffen – die einen behaupten drei, andere vier, wieder andere sechs – aber das war ein Verlust, bei dem die Welt nur gewann.

Die erste erhebliche Schwierigkeit hatte er mit dem Ex-Agenten Jules, der selbst im Rufe eines gewissenlosen, verzweifelten Menschen stand. Derselbe hatte auf Slade, der ihn um seine Stelle gebracht, einen tödlichen Haß geworfen und wartete nur auf eine schickliche Gelegenheit, um sich an diesem zu reiben. Endlich lauerte er ihm hinter einer Ladenthür auf und jagte ihm einen Flintenschuß in den Unterleib, allein Slade brachte ihn durch ein paar wohlgezielte Schüsse aus seinem historischen Revolver gleichfalls zu Fall. Jules, der zuerst wieder genas, zog sich ins Gebirge zurück, um dort in Sicherheit Kräfte für den Tag der endgültigen Abrechnung zu sammeln. Nach Jahr und Tag gelang es Slades Myrmidonen, Jules in einem seiner Felsenschlupfwinkel aufzutreiben und gefesselt seinem Todfeind in die Hände zu liefern, der ihn mit teuflischem Behagen langsam abschlachtete.

Inzwischen war Slade, nachdem die Gesellschaft sich überzeugt, daß seine energische Verwaltung auf einer der schlimmsten Strecken ihrer Route Frieden und Ordnung wiederhergestellt hatte, an die Rocky Ridge Division im Felsengebirge versetzt worden; man wollte sehen, ob er imstande sein würde, hier ein kleines Wunderwerk zu verrichten. Diese Strecke war nämlich das reinste Paradies der Gesetzverächter und Desperados. Hier bestand auch nicht der leiseste Schalten von Gesetz und Recht. Gewalt war an der Tagesordnung, Stärke die einzige anerkannte Macht. Die allergewöhnlichsten Mißverständnisse wurden auf der Stelle mit Pistole und Messer ausgemacht. Mordthaten kamen am hellen Tage und zwar recht häufig vor, ohne daß es einem Menschen einfiel, sich darum zu kümmern. Man ging davon aus, daß die Leute, wenn sie einander umbringen, ihre eigenen guten Gründe dazu haben; eine Einmischung Dritter in die Sache würde als Taktlosigkeit erschienen sein. Alles, was die Etikette von Rocky Ridge vom Augenzeugen einer Mordthat verlangte, war, daß derselbe dem Herrn Mörder sein Opfer begraben half – andernfalls würde man seiner Ungefälligkeit beim ersten Anlaß gedacht haben, wo er selber jemand umgebracht hatte und nachbarlichen Beistand zu dessen Beerdigung bedurfte.

In aller Ruhe und Gemütlichkeit schlug Slade seinen Wohnsitz inmitten dieses Bienenstockes von Pferdedieben und Banditen auf, und gleich das allererstemal, wo einer derselben sein unverschämtes Maul in seiner Gegenwart laufen ließ, schoß er ihn nieder. Er begann eine Razzia gegen das gesetzlose Gesindel, und in merkwürdig kurzer Zeit hatte er den Beraubungen des Eigentums der Gesellschaft Einhalt gethan, eine große Zahl gestohlener Pferde zurückerobert, mehrere der schlimmsten Desperados der Gegend aus der Welt geschafft und sich bei den übrigen ein so furchtbares Ansehen errungen, daß sie Achtung, Bewunderung, Furcht für ihn empfanden und ihm Gehorsam leisteten. Er brachte denselben Umschwung in den Verhältnissen der Gemeinschaft zuwege, der seine Verwaltung in Overland City gekennzeichnet hatte. Zwei Bursche, die sich am Eigentum der Gesellschaft vergriffen hatten, fing er ein und henkte sie mit eigener Hand. Er war oberster Richter in seinem Bezirk und zugleich Schwurgericht und Scharfrichter – und zwar nicht nur in Fällen, die seine Brotherren betrafen, sondern auch in Sachen durchziehender Auswanderer.

Im Schießen mit seinem Matrosenrevolver that es niemand Slade gleich. Wie die Sage erzählt, sah er eines Morgens in Rocky Ridge, als er eben recht gut aufgelegt war, einen Mann daherkommen, der ihm einige Tage vorher zu nahe getreten war. Er zog seinen Revolver mit den Worten: »Meine Herren, ein Schuß auf gut zwanzig Schritt – ich halte auf den dritten Rockknopf!« Und er traf den Knopf zur Bewunderung aller Umstehenden. Diese gingen denn auch sämtlich mit zur Leiche. Einmal fiel Slade in die Hände einer Bande, die sich zusammen gethan hatte, um ihn zu lynchen. Er wurde entwaffnet und in einem starken Blockhause bewacht. Da überredete er seine Feinde, seine Frau holen zu lassen, um sie noch ein letztesmal zu sehen. Sie war ein tapferes, mutiges Weib und ihm unbedingt ergeben. Sofort warf sie sich auf ein Pferd und ritt davon auf Leben und Tod. Man ließ sie undurchsucht zu ihm hinein, und ehe man noch die Thür zu schließen vermochte, hatte sie ein paar Pistolen hervorgeholt, unter deren Schutz sie samt ihrem Herrn Gemahl siegreich herausdrang, worauf sie beide unter lebhaftem Feuer ihre Pferde bestiegen und unverletzt davonsprengten!

Fahrplanmäßig waren wir indessen bei einer Poststation angerasselt und ließen uns mit einer halbwilden Gesellschaft bewaffneter bärtiger Gebirgsbewohner, Bauern und Stationsleute, zum Frühstück nieder. Nirgends noch hatten wir einen so anständigen, ruhigen und freundlichen Beamten auf unserer ganzen Reise getroffen, wie den, der hier am Tische obenan saß, Schulter an Schulter neben mir. Wer beschreibt mein Staunen und mein Entsetzen, als ich ihn Slade nennen hörte.

Hier saß der Romanheld, und ich ihm gegenüber Aug‘ in Auge! Ich sah ihn, – berührte ihn – trank sozusagen mit ihm aus einem Glase! Da, dicht neben mir saß der Menschenfresser, der in Gefechten, bei Raufereien und sonstigen Anlässen sechsundzwanzig Menschen das Lebenslicht ausgeblasen hatte, es müßte denn alle Welt an ihm zum Lügner geworden sein. In diesem Augenblick erfüllte mich ein Gefühl des Stolzes, wie es wohl vor mir noch nie ein so junges Bürschchen empfunden hatte, das ausgezogen war, um fremde Länder und merkwürdige Menschen zu schauen.

Er war so freundlich und artig, daß ich mich trotz seiner abstoßenden Lebensgeschichte zu ihm hingezogen fühlte. Man vermochte es nur mit Mühe zu fassen, daß diese angenehme Persönlichkeit die erbarmungslose Geißel verbrecherischen Gesindels, der Popanz und wilde Mann war, mit dem die Mütter im Gebirge ihre kleinen Kinder fürchten machten. Und noch heute wüßte ich von Slade nichts irgend Auffallendes zu berichten, als daß sein Gesicht über die Backenknochen herüber ziemlich breit war, während diese selbst niedrig standen, und daß er auffallend schmale und gerade geschnittene Lippen hatte. Doch genügten diese Züge, um einen nachhaltigen Eindruck auf mich zu machen, denn so ich seither ein Gesicht mit den erwähnten besonderen Merkmalen sehe, muß ich fast immer in dem Besitzer desselben einen gefährlichen Menschen vermuten.

Der Kaffee ging zur Neige. Wenigstens war nur noch eine einzige Blechtasse voll da, welche Slade eben für sich nehmen wollte, als er sah, daß ich eine leere Tasse vor mir hatte. Höflich bot er mir an, mir solche zu füllen, was ich, obwohl ich den Kaffee recht gut brauchen konnte, ebenso höflich ablehnte. Ich fürchtete, daß er an jenem Morgen vielleicht noch niemand umgebracht haben und deshalb einer Zerstreuung benötigen könnte. Allein er bestand mit fester Höflichkeit darauf, mir die Tasse vollzugießen und meinte, ich sei die ganze Nacht durch gefahren und habe es nötiger als er – und unter diesen Worten schenkte er mir den Kaffee bis auf den letzten Tropfen ein. Dankend trank ich denselben aus, allein er schmeckte mir nicht sonderlich, denn ich konnte immer noch nicht gewiß wissen, ob ihn seine Freigebigkeit nicht gereuen und er mich dann etwa umbringen würde, um seine Gedanken von seinem Verluste abzulenken. Es kam jedoch nichts derart vor. Als wir uns von ihm verabschiedeten, hatte er nicht mehr als sechsundzwanzig Blutthaten auf dem Gewissen und ich empfand eine recht angenehme Befriedigung bei dem Gedanken, daß ich durch die weise Rücksicht, die ich der Nummer 1 am Frühstückstisch hatte zu teil werden lassen, mir das Schicksal erspart hatte, Nummer 27 zu werden. Slade kam heraus an den Wagen und sah uns zu beim Wegfahren, nachdem er zuvor die Postsäcke bequemer für uns hatte packen lassen; dann nahmen wir Abschied von ihm, mit der angenehmen Hoffnung, bald wieder etwas von ihm zu vernehmen und waren nur begierig, in welchem Zusammenhang dies der Fall sein werde.

Elftes Kapitel.

Elftes Kapitel.

Und richtig hörten wir zwei oder drei Jahre darauf wieder von ihm. Da traf die Kunde an den Gestaden des Stillen Ozeans ein, daß er vom Sicherheitsausschuß in Montana (dahin war er von Rocky Ridge aus übergesiedelt) gehenkt worden sei.

Slade hatte sich hier dem Trunke ergeben. Während er in nüchternem Zustand für einen aufmerksamen Ehegatten, einen höchst gastfreien Wirt und einen höflichen Mann gelten mußte, konnte dagegen jeder, der ihm im Branntweinrausch inmitten einer Bande bewaffneter Lümmel begegnete, in ihm nur einen eingefleischten Teufel erblicken. Oft sah man ihn mit einem oder einigen seiner Genossen auf einem und demselben Pferde in der Stadt Virginia erscheinen, wo er unter Jauchzen, Brüllen und Pistolenschüssen durch die Straßen galoppierte. Er ritt dann in Läden hinein, zerbrach die Ladentische, warf die Wagschalen auf die Straße und überschüttete die Anwesenden mit den gröbsten Beleidigungen. Er trat in Schank- und Tanzlokale und schoß nach den Lampen, so daß alles Reißaus nahm. Es war etwas ganz Alltägliches, daß die Kaufleute, wenn Slade ›sich einen Jux machte‹, die Läden schlossen und die Lichter löschten. So machte er sich viele Feinde und schließlich kam es zur entscheidenden Wendung.

Slade war wieder einmal betrunken gewesen und hatte die Stadt zur reinen Hölle gemacht. Am andern Morgen verhaftete ihn der Sheriff und brachte ihn vor Gericht, wo er ihm den Verhaftsbefehl vorzulesen versuchte. Allein Slade, wütend darüber, nahm das Schriftstück, zerriß es und trat es mit Füßen. Gleichzeitig hörte man an den Revolvern aller seiner Gefährten die Hähne knacken; so mußte der Sheriff vorläufig nachgeben und Slade als Herrn der Situation, triumphierend über Gesetz und Recht, ziehen lassen. Damit war der Krieg erklärt. Der Sicherheitsausschuß fühlte, daß jetzt bei diesem Anlaß die Frage zur Entscheidung kommen müsse, ob die gesellschaftliche Ordnung und die gesetzliebenden Bürger oder Slades dreister Übermut die Oberhand behalten sollten. Seinen Tod wollte man noch nicht, nur gezüchtigt und gebändigt sollte er werden. Ein Mitglied des Ausschusses warnte ihn und erteilte ihm den Rat, unverzüglich zu Pferde zu steigen und nach Hause zu reiten. Allein er schlug die Warnung in den Wind. Nun sollte er abermals verhaftet werden, und da man zu zeigen wünschte, daß im ganzen Thale eine und dieselbe Anschauung über die Sache herrsche, so wurde ein Bote nach Nevada geschickt, um die maßgebenden Persönlichkeiten von den Vorgängen zu unterrichten. Darauf traten die Bergleute in Masse zusammen, verließen ihre Arbeit und rückten in einer sechshundert Mann starken Abteilung, sämtlich bis an die Zähne bewaffnet, nach Virginia hinauf. Der Führer kannte die Erbitterung seiner Leute gegen Slade und seine Genossen. Er jagte voraus, rief den Ausschuß zusammen und sagte offen, die Bergleute nehmen die Sache ernst; sich in einem Straßenkampfe von Slade und dessen Leuten totschießen zu lassen, dazu hätten sie keine Lust, sie hätten vielmehr vor, denselben zu fassen und zu hängen. Obwohl der Ausschuß dieses Äußerste nicht wollte, erklärte derselbe schließlich doch, er wolle sich dem Willen der Bergleute fügen und die Sache in deren Hände legen.

Slade befand sich gerade in einem Kaufladen, als die Kolonne der Bergleute im Geschwindschritt vor denselben rückte. Der Vollstreckungsbeamte des Ausschusses trat vor und verhaftete Slade mit der Eröffnung, daß sein Tod beschlossen sei. Dieser war hierüber im höchsten Maße betroffen; er versank in die tiefste Niedergeschlagenheit und bat unaufhörlich um sein Leben sowie um die Vergünstigung, seine Frau sehen zu dürfen, die auf ihrem Rancho am Madisonflusse wohnte. Sie wurde durch einen Boten benachrichtigt, worauf sie sich ohne Besinnen aufs Pferd warf, um die zwölf Meilen rauhen Felsbodens, die sie von dem Gegenstand ihrer heißen Liebe trennten, im Fluge zu durcheilen.

Inzwischen hatte eine Anzahl Freiwilliger die erforderlichen Vorkehrungen für die Hinrichtung getroffen. In einem Viehhof mit hohem Thor wurde dieses letztere zu einem Galgen hergerichtet, indem man den Strick am oberen Querbalken befestigte. Eine Kiste wurde als Tritt darunter gestellt. Hierher wurde Slade von einer starken wohlbewaffneten Mannschaft geleitet. Er hatte sich mit Thränen, Gebeten und Klagen dermaßen erschöpft, daß er kaum imstande war, sich unter dem verhängnisvollen Balken auf den Füßen zu halten. So bot sich auch bei ihm das psychologisch so merkwürdige und doch im Charakter des echten Desperado tief begründete Schauspiel, daß ein Mann, der in den gefährlichsten Lagen des Lebens jederzeit einen bis zur Tollkühnheit gehenden Mut bewiesen, angesichts eines der Aufregung des Kampfes entbehrenden Todes die Fassung völlig verlor. Seine Frau bekam er all seines Bittens und Flehens ungeachtet nicht mehr zu sehen. Dieselbe würde jedenfalls den Versuch gemacht haben, ihn mit Hilfe ihrer Freunde zu befreien, und die Rücksicht auf die damit unvermeidlich verbundenen blutigen Folgen erlaubte es nicht, seinem Verlangen zu willfahren. Sobald alles bereit war, erging der Befehl: »Leute, thut eure Pflicht!« Die Kiste wurde ihm unter den Füßen weggezogen und fast augenblicklich war der Tod eingetreten.

Nach einer Weile wurde der Leichnam abgeschnitten und in einem verdunkelten Zimmer des Virginia-Hotels aufgebahrt. Kaum war man damit zustandegekommen, so kam die unglückliche Lebensgefährtin des Hingerichteten angesprengt, aber nur um sich zu überzeugen, daß alles bereits vorüber und sie Witwe geworden.

Zwölftes Kapitel.

Zwölftes Kapitel.

Gleich hinter der Frühstücksstation holten wir einen Zug mormonischer Auswanderer von dreiunddreißig Wagen ein. Müde einherschreitend und ihre Viehherde vor sich hertreibend, kamen Dutzende grob gekleideter Männer, Weiber und Kinder mit trübseligen Mienen an uns vorüber, die so wie heute acht endlose Wochen lang Tag für Tag marschiert waren, um eine Strecke zurückzulegen, die wir mit der Post in acht Tagen und drei Stunden durchmessen hatten – siebenhundertachtundneunzig Meilen. Sie waren staubüberzogen und ungekämmt, ohne Kopfbedeckung, zerlumpt und sahen, ach, so müde aus!

Nach dem Frühstück nahmen wir ein Bad im Horse Creek, einem (voreinst) klaren, perlenden Bache – ein sehr schätzenswerter Genuß – denn es kam höchst selten vor, daß unsre rasende Kutsche lange genug hielt, um uns etwas derartiges zu gestatten. Alle vierundzwanzig Stunden wechselten wir zehn- oder zwölfmal die Pferde – oder vielmehr die Maultiere – sechs Maultiere – und dazu brauchten wir fast immer nur vier Minuten. Da ging es lebhaft zu. Sobald unsre Kutsche an der Station angerasselt kam, schritten sechs angeschirrte Maultiere frisch und munter aus dem Stalle; und fast mit Augenblickesschnelle war der alte Zug aus- und der neue eingespannt und wir schon wieder auf und davon.

Während des Nachmittags kamen wir an Sweetwater Creek, Independance Rock, Devils Gate und Devils Gap vorüber. Die letzteren boten eine wilde, hochromantische und interessante Scenerie – wir waren jetzt im Herzen der Felsengebirge. Auch am ›Alkali-‹ oder ›Soda-See‹ kamen wir vorbei; und als der Postillon bemerkte, daß die Mormonen häufig von der Salzseestadt aus hieher kämen, um Saleratus zu holen, kam es uns doch recht zum Bewußtsein, daß wir schon ein hübsches Stückchen Welt durchreist hatten. Erst wenige Tage vorher hätten sie zwei Wagenladungen reinen Saleratus vom Boden des Sees (dieser lag trocken) aufgeschaufelt, der nichts koste und den sie zu Hause für fünfundzwanzig Cents das Pfund verkaufen könnten.

In der Nacht fuhren wir an einer höchst beachtenswerten Merkwürdigkeit vorüber, von der wir seit einem oder zwei Tagen viel hatten reden hören und auf die wir sehr begierig waren. Es war dies sozusagen ein natürlicher Eiskeller. Es war jetzt August und unter Tags glühend heiß, und doch brauchte man auf einer Station den Boden unter einigen Felsbrocken am Bergesabhang nur sechs Zoll tief aufzuscharren, um reine Eisblöcke herauszuschneiden – hart, festgefroren und kristallklar!

Gegen Morgengrauen gingen wir wieder unter Segel, und während wir eben bei aufgezogenen Vorhängen unsere Morgenpfeife genossen und den ersten Schimmer der aufgehenden Sonne betrachteten, wie er an der langen Reihe von Bergkuppen hinschwebte und Zacke um Zacke, Gipfel um Gipfel vergoldete, als wenn der unsichtbare Schöpfer Heerschau über seine Veteranen hielte und diese ihm lächelnd ihren Gruß entböten, kamen wir in Sicht der Südpaßstadt. Der Gasthofbesitzer, der Postmeister, der Grobschmied, der Bürgermeister, der Konstabler, der Stadtmarschall und der ansehnlichste Bürger und Hausbesitzer, sie allesamt kamen freundlich grüßend heraus und wir wünschten ihnen guten Tag. Sie erzählten uns einiges von den Indianern und aus dem Gebirge, und wir berichteten dagegen etwas von den Ebenen. Dann zogen die Herrschaften sich in ihre einsame Größe zurück, während wir zwischen den wolkenumhangenen Felszacken weiter aufwärts kletterten. Die Südpaßstadt bestand aus vier Blockhütten, worunter eine noch unfertige, und zählte zehn Bürger. Der vornehmste derselben vereinigte in seiner Person die sämtlichen oben erwähnten Ämter und Titel. Man denke nur: Gasthofbesitzer, Postmeister, Grobschmied, Bürgermeister, Konstabler, Stadtmarschall und erster Bürger – alles zu einer Person verdichtet und in eine Haut gestopft! Bemis meinte, das sei ein wahrer Allen-Revolver von Würden, sollte der Mann, in seiner Eigenschaft als Postmeister oder als Grobschmied, oder auch am Ende in diesen beiden Eigenschaften mit Tod abgehen, so wäre das vielleicht für die Bürgerschaft noch zu ertragen; müßte er dagegen in all seinen Eigenschaften zugleich sterben, so wäre dies ein ganz entsetzlicher Verlust für die Gemeinde.

Und so waren wir denn endlich in dem berühmten Südpasse und rollten lustig über der gemeinen Welt dahin. Wir fuhren auf der höchsten Stelle der Hauptkette des Felsengebirges, nach der wir Tag und Nacht geduldig, unablässig emporgeklettert waren, inmitten einer Versammlung von Bergkönigen, die ihre Häupter zehn-, zwölf-, ja dreizehntausend Fuß erhoben. Diese Sultane des Gebirges trugen Turbane aus zusammengeballten Wolkenmassen, die sich bisweilen in einzelne Fetzen auflösten und zerfranst und zerzaust davonschwebten, ihre langgedehnten Schatten hinter sich her schleifend, bis sie bald wieder an einem Felshorn hängen blieben. Sie hüllten dasselbe eine Zeitlang brütend ein und zogen darauf abermals in Fetzen davon, indem sie die Felsenspitze mit einer flaumigen Decke blendend weißen Schnees zurückließen. Im Vorüberschweben hingen diese riesigen Wolkenfetzen tief herab und fegten dicht über unsern Köpfen hin, so daß die Fransen uns fast das Gesicht streiften und wir dann allemal uns unwillkürlich versucht fühlten zurückzufahren.

Wir rollten lustig weiter und kamen jetzt, auf dem eigentlichen Gipfel, an eine Quelle, welche ihr Wasser durch zwei verschiedene Abflüsse nach entgegengesetzten Richtungen sandte. Wie der Kondukteur erklärte, ging der eine der beiden vor unsern Augen dahinfließenden Bäche geradeswegs durch Hunderte, ja Tausende von Meilen wüsten, öden Landes dem Kalifornischen Busen des stillen Ozeans zu, während der andere die Schneegipfel seiner Geburtsstätte verließ, um eine ähnliche noch mühseligere Reise nach Osten anzutreten. Er plätscherte über die Abhänge und durch die Schluchten des Gebirges, lief weiter zwischen den Ufern des Yellowstone und gelangte endlich im Schoße des Missouri und des Mississippi nach zwei langen Monaten voll von Vergnügen, Abenteuern und Gefahren bis in den Mexikanischen Golf, um dort am Busen der tropischen See zur Ruhe zu gehen und die heimischen Schneegipfel auf ewig zu vergessen.

Ich gab einem Blatt in Gedanken eine Botschaft an die Freunde in der Heimat mit und ließ es in den Bach fallen. Allein da ich keine Postmarke darauf klebte, so ist dasselbe irgendwo unterwegs nicht weiter befördert worden.

Noch oben auf der Höhe holten wir einen Auswandererzug mit vielen Wagen, vielen müden Männern und Weibern und vielen maßleidigen Schafen und Kühen ein. In dem traurig mit Staub überzogenen Reiter, der den Zug anführte, erkannte ich John ***. Von allen Menschen auf der Welt war er der letzte, dem ich auf dem Kamm des Felsengebirges, Tausende von Meilen fern von der Heimat zu begegnen erwartet hätte. Wir waren Schulkameraden und Jahre lang warme Freunde gewesen. Ein Knabenstreich von meiner Seite hatte jedoch die Freundschaft zerrissen, und dieselbe war nicht wieder angeknüpft worden. Der Vorfall, den ich meine, war der folgende. Ich besuchte manchmal einen Zeitungsredakteur, dessen Zimmer drei Treppen hoch lag und auf die Straße ging. Eines Tages erhielt ich von ihm eine Wassermelone, die ich sofort zu verspeisen Anstalt machte, als ich zufällig aus dem Fenster schaute und John gerade unter demselben stehen sah. Ein unwiderstehliches Verlangen wandelte mich an, John die Melone auf den Kopf fallen zu lassen, was ich denn auch sogleich that. Ich hatte den Schaden davon, denn die Melone ging entzwei und John verzieh es mir nie, wir brachen unsern Verkehr völlig ab und kamen auseinander; jetzt, unter solchen Umständen trafen wir uns wieder.

Wir erkannten uns gleichzeitig und drückten uns die Hände so warm, als hätte nie eine Erkältung zwischen uns bestanden und erwähnten dieselbe auch mit keiner Silbe. Alle Empfindlichkeiten waren begraben, und die einfache Thatsache, an dieser einsamen Stelle so ferne der Heimat ein bekanntes Gesicht anzutreffen, genügte, um uns alles vergessen zu lassen außer den angenehmen Erinnerungen. Als wir uns wieder trennen mußten, erklang ein aufrichtiges ›Lebe wohl‹ und ›Gottes Segen mit dir‹ von beiden Seiten.

Manche saure Stunde lang waren wir die langgestreckten Schultern des Felsengebirges hinaufgeklettert – jetzt ging es wieder abwärts. Und es ging in keinem schlechten Tempo.

Wir ließen die schneebedeckten Windriver Berge und das Uinta-Gebirge hinter uns und jagten weiter, stets durch prächtige Landschaften, aber auch gelegentlich an langen Reihen von Maultier- und Ochsengerippen vorüber – Denkmälern der gewaltigen Auswanderung früherer Tage – und da und dort bemerkte man senkrecht in die Erde gesteckte Pfähle und kleine Steinhaufen, welche, wie der Postillon sagte, die Ruheplätze wertvollerer Überreste bezeichneten. Für ein Grab konnte es keinen einsameren Platz geben. Hier herrschte der Cayote und der Rabe – damit ist die völlig trostlose Einöde genügend bezeichnet. In feuchten, trüben Nächten strömte von diesen verstreuten Gerippen ein fahles, gespenstiges Glühlicht aus, so daß die öde Fläche an manchen Stellen wie von schwachem Mondschein beleuchtet dalag. Diese Erscheinung rührte von dem in den Knochen enthaltenen Phosphor her. Allein trotz dieser wissenschaftlichen Erklärung konnte man sich doch eines Schauders nicht erwehren, wenn man an einem dieser gespenstischen Lichter vorüberkam und sich vorstellte, daß dasselbe von einem Totenschädel ausging.

Um Mitternacht fing es an zu regnen, wie ich es noch nie in meinem Leben gesehen habe – das heißt, ich sah auch diesmal nichts davon, weil es zu finster war. Wir zogen die Vorhänge fest herunter und verstopften die Fenster sogar noch mit Kleidungsstücken, aber der Regen strömte demungeachtet an Dutzend Stellen herein. Da war kein Entrinnen. Zog man seine Füße aus einem Strom heraus, so geriet man mit dem Oberkörper in einen andern; und brachte man diesen beiseite, so traf er einen sonst irgendwo. Strampelte man sich aus den triefend nassen Decken heraus und setzte sich auf, so mußte man sich einen Wasserfall ins Genick fließen lassen. Inzwischen irrte unsere Kutsche über eine Ebene voll gähnender Löcher hin; der Postillon war nämlich nicht imstande, eine Spanne weit zu sehen und konnte sich nicht auf der Straße halten; und der Sturm peitschte so unbarmherzig, daß es keine Möglichkeit gab, die Pferde zum Stillstehen zu bringen. Sobald das Unwetter etwas nachließ, machte sich der Kondukteur mit einer Laterne auf, um die Straße zu suchen, und fiel dabei gleich in einen etwa vierzehn Fuß tiefen Abgrund hinab, wobei ihm seine Laterne nachflog wie eine Sternschnuppe. Sobald er Boden unter den Füßen hatte, schrie er wie toll: »Nur nicht daher kommen!« worauf der Postillon, der über den Abhang blickte, hinter welchem jener verschwunden war, mit beleidigter Miene versetzte: »Halten mich scheint’s für einen verdammten Esel?«

Über eine Stunde brauchte der Kondukteur, bis er die Straße aufgefunden hatte, – daraus konnten wir entnehmen, wie weit wir uns verirrt hatten und was uns alles hätte begegnen können. An zwei Stellen verfolgte er die Spuren unsrer Räder bis hart an den Rand drohender Gefahr. Ich war immer froh darüber, daß wir in jener Nacht nicht umkamen.

An unserm zehnten Reisetage morgens setzten wir über den Green River, einen schönen, breiten, klaren Fluß, in dem wir so tief steckten, daß das Wasser bis an den oberen Rand unseres Postsackbettes reichte. Wir mußten auf Vorspannpferde warten, um uns das steile Ufer hinaufziehen zu lassen. Es war recht kühles Wasser, das uns übrigens nirgends nässer zu machen vermochte, als wir zuvor schon waren.

Auf der Green River-Station nahmen wir unser Frühstück ein – warme Biskuits, frische Antilopensteaks und Kaffee – die einzige ordentliche Mahlzeit, die wir zwischen den Vereinigten Staaten und der Salzseestadt zu kosten bekamen, und die einzige, für die wir wirklich dankbar waren. Man stelle sich nur die einförmige Abscheulichkeit der dreißig vorhergehenden vor und man wird es begreifen, daß dies eine einfache Frühstück nach so vielen Jahren noch wie ein Wartturm in meiner Erinnerung emporragt.

Um fünf Uhr nachmittags erreichten wir Fort Bridger, hundertsiebzehn Meilen vom Südpaß und tausendfünfundzwanzig von St. Joseph entfernt. Zweiundfünfzig Meilen weiter, in der Nähe des Eingangs zum Echo Cañon, stießen wir auf sechzig Soldaten der Vereinigten Staaten von Camp Floyd. Dieselben hatten den Tag vorher auf drei- oder vierhundert Indianer gefeuert, die sich ihrer Überzeugung nach in keiner guten Absicht zusammengeschart hatten. In dem darauffolgenden Gefechte waren vier Indianer zu Gefangenen gemacht und der Haupthaufen vier Meilen weit gejagt, aber niemand getötet worden. Wir wollten zuerst aussteigen und uns den sechzig Soldaten anschließen; als wir uns jedoch überlegten, daß die Indianer vierhundert Mann stark seien, beschlossen wir, weiterzufahren und uns den Rothäuten zuzugesellen.

Der Echo-Cañon hat eine Länge von zwanzig Meilen. Er hatte das Ansehen einer langen, ebenen, engen Straße, die sich allmählich senkte und von ungeheuren, senkrecht aufsteigenden, roh gefügten Mauern, an vielen Stellen vierhundert Fuß hoch und von Türmen wie mittelalterliche Burgen überragt, eingeschlossen war. Es war die tadelloseste Wegstrecke im ganzen Gebirge, so daß der Postillon meinte, da wolle er sein Gespann einmal laufen lassen. Dies that er denn auch; und wenn die Eilzüge nach dem Stillen Ozean jetzt etwa noch rascher durchsausen, als wir damals mit unserer Postkutsche, so beneide ich die Passagiere um ihr Vergnügen. Es war, als ob wir nicht mehr auf Rädern fuhren, sondern nur noch flögen, und die Postsachen schwebten geradezu frei in der Luft. Ich bin kein Freund von Übertreibungen, und wenn ich etwas sage, so ist es auch so.

Indes, die Zeit drängte. Um vier Uhr nachmittags langten wir auf der Höhe des Big Mountain, fünfzehn Meilen von der Salzseestadt, an, während eben die sinkende Sonne die Welt mit ihren Strahlen verklärte und sich plötzlich ein wunderbares Panorama von Berggipfeln, das alles bisher Geschaute übertraf, vor unsern Blicken ausbreitete. Über uns wölbte sich ein glänzender Regenbogen, während wir das erhabene Bild betrachteten. Selbst der Postillon hielt seine Pferde an, um zu schauen.

Vielleicht eine halbe Stunde später wechselten wir die Pferde und speisten bei einem mormonischen ›Würgengel‹ zu Abend. ›Würgengel‹ sind, soviel ich verstand, ›Heilige des jüngsten Tages‹, die von der Kirche mit der besonderen Aufgabe betraut sind, beständig für das Verschwinden solcher Bürger zu sorgen, die sich überlästig gemacht haben. Ich hatte viel von diesen mormonischen Würgengeln und von ihren dunkeln, blutigen Thaten gehört, so daß ich beim Betreten dieses Hauses auf einen gehörigen Schauder gefaßt war. Aber, o wehe, all unsre Romantik war sofort verflogen – wir trafen nichts als einen lärmenden, gemeinen, schimpfenden Schurken! Mordgierig genug war er vielleicht wohl, um das Amt eines Würgers zu versehen, aber wer möchte sich wohl irgend eine Art von Engel ohne alle Würde und Hoheit vorstellen? Wer wollte sich einen Engel in unsauberem Hemd und ohne Hosenträger gefallen lassen? Und wer könnte einem Engel Ehrfurcht zollen, der wiehert, statt zu lachen, und aufschneidet wie ein Bukanier?

Noch mehr solcher Schufte waren da – Kameraden des ersteren; außerdem auch ein anständig aussehender, großer, wohlgewachsener junger Mann von vielleicht dreißig Jahren. Eine Schar schlampiger Weiber trippelte eilig mit Kaffeekannen, Tellern voll Brot und sonstigem Zubehör zum Abendessen hin und her, und das sollten die Frauen des Engels sein oder wenigstens einige derselben. Und natürlich war es so; denn wären sie gemietete ›Aushilfen‹ gewesen, sie hätten sich dieses über sie Hineinwettern und Fluchen von dem himmlischen Engel gewiß nicht gefallen lassen.

Dies war die erste Bekanntschaft, die wir mit der ›eigentümlichen Einrichtung‹ des Westens – wie der Mormonenstaat diplomatisch bezeichnet wird – machten, und dieselbe war nicht gerade einnehmender Art. Wir hielten uns mit deren Beobachtung auch nicht weiter auf, sondern eilten weiter, der Heimat der ›Heiligen des jüngsten Tages‹, der Burg des Propheten, der Hauptstadt des einzigen absoluten Alleinherrschers in Amerika – der Großen Salzseestadt, zu. Da die Nacht hereinbrach, so nahmen wir Herberge im Salzseehotel und packten unsere Sachen aus.

  1. Cañons heißen die tiefeingeschnittenen Flußbette der Felsengebirge.
  2. ›Heilige des jüngsten Tages‹ – ein Beiname der Mormonen.

Eine Katastrophe.

Eine Katastrophe.

Wir lagen drei Tage in New-Orleans, es gelang dem Kapitän jedoch nicht, einen andern Lotsen zu finden; er schlug daher vor, daß ich die Tageswachen übernehmen und die Nachtwachen Georg Ealer überlassen sollte. Ich fürchtete mich aber, denn ich hatte noch nie ganz allein die Wache gehabt und glaubte, daß ich das Boot sicher am obern Ende einer Durchfahrt zu Schaden oder an einer schmalen Stelle auf den Grund bringen würde. Brown behielt nun seine Stelle, wollte aber nicht mit mir fahren. So wurde denn abgemacht, daß ich auf dem ›A. T. Lacey‹ nach St. Louis nachkommen sollte; dort wollte der Kapitän einen neuen Lotsen anstellen, so daß ich meinen Platz als Steuerer wieder einnehmen könnte. Der ›Lacey‹ sollte ein paar Tage nach der ›Pennsylvania‹ abfahren.

In der Nacht vor der Abfahrt der ›Pennsylvania‹ saßen Henry und ich bis Mitternacht plaudernd auf einem Frachthaufen am Hafendamm. Unsere Unterhaltung betraf einen Gegenstand, der, wie ich glaube, noch nicht besprochen ist – die Unglücksfälle der Dampfboote. Ein solcher war eben im Anzuge, ohne daß wir es ahnten; das Wasser zu dem Dampf, der das Unglück verursachen sollte, strömte schon an einer Landspitze etwa fünfzehnhundert Meilen stromaufwärts vorüber, während wir plauderten – traf aber rechtzeitig am rechten Orte ein. Wir bezweifelten, ob Personen ohne rechte Autorität bei Unglücksfällen und der sie begleitenden Panik viel nützen könnten, meinten aber, daß sie immerhin etwas zu nützen vermöchten; so beschlossen wir denn, falls wir je ein solches Unglück erleben sollten, wenigstens bis zum letzten Augenblick auf dem Posten zu bleiben und kleinere Dienste zu leisten, wie es der Zufall bieten würde. Henry erinnerte sich später daran, als das Unglück geschah, und handelte demgemäß.

Der ›Lacey‹ fuhr also zwei Tage später ab als die ›Pennsylvania‹, mit der mein Bruder fuhr. Als wir nach ein paar Tagen zu Greenville in Mississippi anlegten, rief uns jemand zu:

»Die ›Pennsylvania‹ ist bei der Schiffsinsel in die Luft geflogen und hundertfünfzig Menschenleben sind zu Grunde gegangen.«

Zu Napoleon in Arkansas erhielten wir noch am selben Tage das Extrablatt einer Zeitung in Memphis, das einige Einzelheiten enthielt. Es erwähnte meinen Bruder – als unverletzt.

Weiter den Fluß hinauf bekamen wir ein später erschienenes Extrablatt. Mein Bruder war wieder erwähnt – diesmal als tödlich verletzt. Erst als wir Memphis erreichten, erhielten wir ausführliche Mitteilungen über die Katastrophe. Hier folgt die leidvolle Geschichte:

Es war um sechs Uhr früh an einem heißen Sommermorgen. Die ›Pennsylvania‹ fuhr nördlich von der Schiffsinsel, etwa sechzig Meilen unterhalb Memphis, langsam mit halbem Dampf weiter, da sie im Schlepptau ein mit Holz beladenes Flachboot hatte, das rasch geleert wurde. George Ealer war im Steuerhaus – allein; glaube ich; der zweite Maschinist und ein Heizer hatten die Wache im Maschinenraum, der zweite Steuermann die Wache auf Deck; Herr Wood, Georg Black und mein Bruder, alle drei Buchhalter, schliefen, ebenso Brown und der Obermaschinist, der Zimmermann, der Obersteuermann und ein Heizer; Kapitän Kleinfelter saß im Barbierstuhl, und der Barbier wollte gerade mit dem Rasieren beginnen. Wie man damals erzählte, waren sehr viele Kajüts- und 3-400 Deckspassagiere an Bord, von denen die meisten noch schliefen. Als das Holzboot nahezu entleert war, läutete Ealer »Volle Kraft vorwärts!« und im nächsten Augenblick explodierten vier von den acht Dampfkesseln mit donnerndem Krachen, und das ganze vordere Drittel des Dampfers flog den Wolken zu! Der Hauptteil der Masse mit den Schornsteinen fiel wieder auf das Boot: ein Berg zertrümmerter, chaotischer Wrackstücke, – dann brach nach einer kleinen Weile Feuer aus.

Viele Leute wurden in beträchtliche Entfernungen geschleudert und fielen in den Fluß, darunter auch Herr Wood, mein Bruder und der Zimmermann. Der Zimmermann lag noch auf seiner Matratze ausgestreckt, als er fünfundsiebzig Fuß vom Dampfer entfernt ins Wasser fiel. Von Brown, dem Lotsen und Georg Black, dem ersten Buchhalter, wurde nach der Explosion nichts mehr gesehen und gehört. Der Barbierstuhl mit dem unverletzten Kapitän Kleinfelter darin stand mit dem Rücken gegen einen tiefen Abgrund – das ganze Vorderteil des Schiffes war verschwunden, und der verblüffte Barbier, der gleichfalls unverletzt geblieben war, stand da, unbewußt das Messer am Streichriemen abziehend, dicht vor dem klaffenden Spalt, mit einem Zehen über der Leere, ohne ein Wort zu sagen.

Als George Ealer die Schornsteine vor seinen Augen in die Höhe fliegen sah, wußte er, was los war; er hüllte sein Gesicht mit den Rockschößen ein und preßte die Hände davor, um durch diesen Schutz zu verhindern, daß der heiße Dampf in seine Nase oder seinen Mund gelangen konnte. Er hatte Zeit genug, sich mit diesen Einzelheiten zu beschäftigen, während er auf- und abwärts flog. Bald darauf landete er auf einem der nicht explodierten Dampfkessel, in Begleitung seines Rades und eines Hagels anderer Sachen und in eine Wolke siedend heißen Dampfes gehüllt, vierzig Fuß unterhalb des früheren Steuerhauses. Alle, welche den Dampf einatmeten, sind gestorben; keiner kam davon. Ealer atmete aber keinen Dampf ein; er eilte so rasch wie möglich in die freie Luft; und als der Dampf sich verzog, kehrte er zurück und kletterte wieder auf den Dampfkessel, wo er mit großer Geduld alle seine Schachfiguren und die verschiedenen Teile seiner Flöte zusammensuchte.

Mittlerweile begann das Feuer bedrohend zu werden. Schreien und Stöhnen erfüllten die Luft. Sehr viele Personen waren verbrüht, viele andere verstümmelt; einem Manne – einem Geistlichen, glaube ich – hatte die Explosion eine eiserne Brechstange durch den Leib getrieben; er starb nicht sogleich, und seine Leiden waren ganz gräßlich. Ein junger französischer Seekadett von fünfzehn Jahren, der Sohn eines französischen Admirals, wurde fürchterlich verbrüht, ertrug aber die Qualen mannhaft. Beide Steuerleute waren arg verbrüht, blieben aber trotzdem standhaft auf ihren Posten. Sie brachten das Flachboot nach dem Heck und trieben mit dem Kapitän die rasende Schar der erschreckten Passagiere zurück, bis die Verwundeten dorthin und in Sicherheit gebracht worden waren.

Als Herr Wood und Henry ins Wasser fielen, schwammen sie aufs Ufer zu, das nur einige hundert Schritte entfernt war; aber Henry sagte bald darauf, er glaube nicht verletzt zu sein (welch unbegreiflicher Irrtum!) und wolle deshalb zum Boot zurückschwimmen und die Verwundeten retten helfen. Damit schieden sie, und Henry kehrte um.

Mittlerweile verbreitete sich das Feuer mit rasender Schnelle, und mehrere Personen, die unter den Trümmern eingesperrt waren, schrieen kläglich um Hilfe. Alle Bemühungen, das Feuer zu bewältigen, erwiesen sich als fruchtlos; so wurden denn bald die Eimer beiseite geworfen und die Offiziere ergriffen die Äxte und versuchten die Gefangenen herauszuhauen. Unter den Gefangenen befand sich auch ein Heizer; er sagte, er wäre nicht verletzt, könnte sich aber nicht befreien; als er sah, daß das Feuer die Hilfeleistenden vertreiben würde, bat er, man möge ihn erschießen und so vor dem gräßlicheren Feuertod retten. Das Feuer vertrieb wirklich die Offiziere, so daß sie unthätig das Flehen dieses armen Burschen anhören mußten, bis die Flammen seine Qualen endeten.

Das Feuer drängte alles, was nur irgend Platz finden konnte, auf das Holzboot; dann wurde dieses losgeschnitten und trieb nun mit dem brennenden Dampfer den Fluß hinab auf die Schiffsinsel zu. Man verankerte das Boot am oberen Ende der Insel und dort mußten die halbnackten Insassen, ohne Schutz vor der sengenden Sonne, ohne Speise und Stärkungsmittel und ohne Hilfe für ihre Verletzungen den ganzen Tag bleiben. Endlich kam ein Dampfer, der die Unglücklichen nach Memphis brachte, wo ihnen sogleich die ausgiebigste Hilfe zuteil wurde. Henry war mittlerweile bewußtlos geworden. Die Ärzte untersuchten seine Verletzungen, und da sie sahen, daß dieselben tödlich waren, wandten sie natürlich ihre Aufmerksamkeit anderen Patienten zu, die gerettet werden konnten.

Vierzig der Verwundeten wurde in einer großen öffentlichen Halle untergebracht, und unter diesen war auch Henry. Die Damen von Memphis kamen jeden Tag mit Blumen, Obst, Süßigkeiten und Leckerbissen aller Art und pflegten die Verwundeten. Alle Ärzte und Studierenden der Medizin leisteten Tag und Nacht Dienste; und die übrige Stadt lieferte Geld oder was sonst erforderlich war. Memphis hatte gelernt, wie alles aufs beste auszuführen sei und war vor allen Städten am Strom in dem gnadenreichen Amt des barmherzigen Samariters wohl erfahren, da schon manches Unglück, wie das der ›Pennsylvania‹, vor seinen Thoren sich ereignet hatte.

Der Anblick, der sich mir beim Eintritt in jenen weiten Saal bot, war mir neu und fremdartig. Zwei lange Reihen ausgestreckter Gestalten – mehr als vierzig im ganzen – und jedes Gesicht, jeder Kopf eine formlose Masse loser, roher Baumwolle. Es war ein grauenvoller Anblick. Ich wachte sechs Tage und Nächte dort und machte dabei recht traurige Erfahrungen. Ein tägliches Ereignis war besonders niederdrückend – das war die Entfernung der Sterbenden in ein eigenes Gemach. Man that dies, um die moralische Kraft der andern Patienten nicht zu sehr auf die Probe zu stellen. Der dem Tode Geweihte wurde mit möglichst geringem Aufsehen fortgeschafft, und die Bahre war stets hinter einer lebenden Mauer von Assistenten verborgen; aber das half nichts – jedermann wußte, was jene Schar gebeugter Gestalten mit dem leisen Schritt und der langsamen Bewegung bedeutete.

Ich sah viele arme Burschen nach dem ›Totenzimmer‹ bringen, die ich nie wieder zu sehen bekam; unsern Obersteuermann aber sah ich öfter als einmal hinbringen. Seine Verletzungen waren entsetzlich, besonders die Verbrühungen; er war bis an die Lenden mit Leinöl und roher Baumwolle verbunden und hatte keine Ähnlichkeit mehr mit etwas Menschlichem. Er war oft nicht bei Besinnung, und dann wütete, schrie und kreischte er vor Schmerz. Nach einer Periode dumpfer Erschöpfung verwandelte plötzlich seine gestörte Phantasie das große Gemach in die Back eines Dampfers, die Schar der ab- und zueilenden Wärterinnen in die Schiffsmannschaft; er setzte sich aufrecht auf sein Lager und rief: »Tummelt euch, tummelt euch, ihr Petrefakten, ihr Schneckenbäuche, ihr Bahrtuchträger! soll’s denn den ganzen Tag währen, bis der Hut voll Fracht ausgeladen ist?« und ergänzte diesen Ausbruch mit einem himmelerschütternden Gewitter von Flüchen, denen nichts Einhalt thun konnte, bis sein Krater leer war. Hin und wieder, wenn diese Raserei ihn ergriff und festhielt, riß er die Baumwolle handvollweise ab, so daß das verbrühte Fleisch sichtbar war. Das war entsetzlich! Dieser Lärm und dieser Anblick waren natürlich für die andern schrecklich und deshalb versuchten die Ärzte ihm Morphium zu seiner Beruhigung zu geben. Aber er nahm es nicht, mochte er bei Verstand sein oder nicht: er erklärte, sein Weib wäre mit diesem verräterischen Arzneimittel getötet worden, und er wolle lieber sterben als es einnehmen. Er argwöhnte, daß die Ärzte es heimlich mit seiner Medizin und seinem Trinkwasser vermengten und rührte deshalb beides nicht mehr an. Als er einmal zwei glühendheiße Tage ohne Wasser gewesen war, ergriff er den Trinkbecher; der Anblick der klaren Flüssigkeit und die Durstesqual versuchten ihn fast über seine Kraft; aber er beherrschte sich und warf das Gefäß von sich, und später ließ er keines mehr in seine Nähe kommen. Dreimal sah ich ihn, bewußtlos und anscheinend sterbend, ins ›Totenzimmer‹ tragen; aber jedesmal lebte er wieder auf, verwünschte seine Wärter und verlangte zurückgebracht zu werden. Er kam mit dem Leben davon und war später wieder Steuermann auf einem Dampfboot.

Er war jedoch der einzige, der in das ›Totenzimmer‹ kam und lebendig zurückkehrte. Dr. Peyton, ein ausgezeichneter Arzt und reich an allen den Eigenschaften, die einen reinen, makellosen Charakter bilden, that alles, was geschultes Urteil und langjährige Erfahrung für Henry thun konnten; aber wie die Zeitungen von Anfang an gesagt hatten, seine Verletzungen waren unheilbar. Am Abend des sechsten Tages beschäftigte sich sein entschwebender Geist mit fernliegenden Dingen, und seine kraftlosen Finger zupften krampfhaft an seiner Bettdecke. Seine Stunde hatte geschlagen; wir trugen ihn ins ›Totenzimmer‹.

Armer Junge!

Nach Verlauf der gehörigen Zeit erhielt ich meine Licenz: jetzt war ich Lotse und vollständig flügge. Ich bekam ab und zu Beschäftigung; und da ich kein Unglück hatte, machte die gelegentliche Beschäftigung einer länger dauernden Anstellung Platz. Die Zeit verging ruhig und glücklich, und ich glaubte – und hoffte daß ich den Rest meiner Tage auf dem Strome verleben und am Rade sterben würde, wenn meine Laufbahn beendigt wäre. Aber da kam der Krieg, Handel und Verkehr stockten, und meine Beschäftigung war dahin.

Meinen Anteil im Krieg findet der Leser am Schluß dieser Skizzen. Vorher aber will ich demselben schildern, was aus dem Leben auf dem Mississippi seitdem geworden ist.

Nach langen Jahren.

Nach langen Jahren.

Einundzwanzig Jahre waren gekommen und gegangen, seit ich zuletzt aus den Fenstern eines Ruderhauses geblickt hatte. Da ergriff mich plötzlich eine unwiderstehliche Lust, den Fluß wiederzusehen, die Dampfboote und die alten Kameraden, die etwa noch am Leben sein mochten. Kurz entschlossen brach ich um die Mitte April nach dem Westen auf.

Ich kam gegen Abend nach St. Louis, wo ich im ›Südhotel‹ abstieg. Das ist ein gutes Gasthaus, auch nicht zu neumodisch, was besonders bei den Billardtafeln zu Tage tritt, die noch aus der silurischen Erdperiode stammen, während die Kugeln und Queues der Tertiärformation angehören. Aber solche Altertümer sieht man immer gern; sie machen das Leben behaglich.

Auch das Trinkwasser hatte sich nicht verändert und sah noch ebenso gelbbraun aus wie früher; daran ist der Missouri schuld, der die Ufer unterwühlt und die Erde mit fortschwemmt. Läßt man sein Glas eine halbe Stunde stehen, so scheidet sich das Wasser vom festen Lande, wie bei der Erschaffung der Welt; aber die Einheimischen warten nicht darauf, sondern rühren beides untereinander und trinken den Schlamm wie Haferschleim. Das fällt jedoch den Fremden schwer.

Am nächsten Morgen fuhr ich bei Regenwetter ans, um mir die Stadt anzusehen, fand aber nicht viel Neues. Das kam wohl daher, weil in St. Louis, wie in Pittsburg und London, fortwährend eine schwarze Wolke von Kohlenrauch über den Häusern schwebt und alles neue gleich alt macht. In Wirklichkeit hatte sich die Stadt sehr verändert, sie war fast doppelt so groß als zu meiner Zeit und zählte 400 000 Einwohner. Die schönen vornehmen Wohnhäuser inmitten grüner Rasenplätze, viele prachtvolle öffentliche Gebäude, der Waldpark, der botanische Garten, die glänzende Straßenbeleuchtung, das alles war seitdem entstanden.

Den größten Umschwung fand ich aber auf dem Hafendamm, jedoch im rückschrittlichen Sinne. Wo ich gewohnt war, meilenlange Reihen von Dampfschiffen in voller Thätigkeit zu sehen, lagen jetzt nur noch fünf oder sechs im Halbschlaf. Der lustige Flußschiffer, der vormals hier eine so große Rolle spielte, war wie aus der Welt verschwunden. Sein Geschäft ist ihm genommen, seine Macht ist aus; er ist in der großen Masse untergegangen und arbeitet mit in der allgemeinen Tretmühle. Ein paar träge Dampfer, eine endlose, leere Werft, ein Neger, der lang ausgestreckt seinen Rausch verschlief, und weit und breit lautloses Schweigen, sonst war nichts von den mächtigen Kauffahrteiflotten übrig geblieben, die hier in friedlichem Wettbetrieb miteinander rangen.

Das schlechte Pflaster und der schuhtiefe Schmutz auf dem Dammweg waren mir wohlbekannt, aber mir fehlten die zahllosen Rollwagen und Karren, die sich stoßenden und drängenden Menschen, die Berge aufgetürmter Frachtgüter – wo waren die hingeraten?

Eisenbahn und Schlepper hatten die Sache sehr gründlich in Angriff genommen. Diese trostlose Verödung war ihr Werk. Auch die Riesenbrücke, deren Bogen sich über unsern Häuptern wölbten, trug einen Teil der Schuld an der Zerstörung. St. Louis ist eine blühende Stadt, die stetig fortschreitet, deren Wohlstand wächst, aber ihre Flußschiffahrt liegt im Todesschlaf, und für sie giebt es kein Auferstehen.

Die Dampferfahrt auf dem Mississippi nahm 1812 ihren Anfang und entwickelte sich in einem Zeitraum von dreißig Jahren zu ganz außerordentlicher Ausdehnung und einem großartigen Verkehr. Nach abermals dreißig Jahren war sie tot. Wahrlich, ein ungewöhnlich kurzes Leben für eine Schöpfung von solcher Erhabenheit.

Die veralteten Kielboote fielen den Dampfern zum Opfer, welche die Reisenden in höchstens acht Tagen nach New Orleans beförderten. Als jedoch die Eisenbahn in zwei bis drei Tagen das leisteten, wozu die Dampfboote eine Woche brauchten, war es um letztere geschehen. Dem ehemaligen Güterverkehr aber machte eine Unzahl von Schleppdampfern ein Ende, die sechs oder sieben Schiffsladungen auf einmal für so geringe Kosten den Strom hinabbeförderten, daß von einem Wettbewerb der Dampfboote gar keine Rede mehr sein konnte.

Mein ursprünglicher Plan war gewesen, mich in jeder Stadt zwischen St. Louis und New-Orleans kurze Zeit aufzuhalten. Doch das mußte ich mir aus dem Sinne schlagen, denn die Lokalboote von früher giebt es nicht mehr; nur in längeren Pausen verkehren noch Paketboote zwischen bestimmten Städten. Es traf sich glücklich, daß der ›Goldstaub‹ noch am selben Abend abfahren sollte. Das Boot war sauber und bequem, ich belegte einen Platz bis Memphis und wir dampften pünktlich um acht Uhr in den Fluß hinaus.

Als wir in der dichten Finsternis nach dem anderen Ufer hinüber hielten, blitzte plötzlich ein blendender Strahl elektrischen Lichtes von unserm Vordeck auf und beleuchtete das Wasser und die Speicher am Lande mit Tageshelle. Die Zeiten der flackernden, rauchenden, tröpfelnden Pechfackeln, die doch kein Licht verbreiteten, sind für immer vorbei.

Die Fahrt von St. Louis bis Cairo, eine Strecke von zweihundert Meilen, verlief aufs angenehmste. Die Hügel an beiden Ufern des breiten Flusses prangten im Frühlingsschmuck, es wehte eine leichte Brise und das Wetter war sonnig und klar. Den ganzen folgenden Tag dampften wir weiter den Mississippi hinunter und begegneten nur einem einzigen Dampfboot, das obendrein, wie ich durch das Fernrohr erspähte, meinen Namen trug. Eine so hohe Ehre war mir bisher noch nicht widerfahren.

Früher hätten bei solchem Wasserstande meilenlange Holzflöße und Kohlenleichter zu Dutzenden den Strom bedeckt, nebst zahlreichen kleinen Handelsbooten, die von Farm zu Farm segelten, mit der ganzen Familie des Eigentümers an Bord; von alledem ist aber keine Spur mehr vorhanden.

Bei sinkender Nacht näherten wir uns der ebenso berüchtigten, wie gefürchteten Plumspitze. Aber, sie war kein Gegenstand des Schreckens mehr. Die heutige Regierung hat, so zu sagen, aus dem Mississippi einen zweitausend Meilen langen Fackelzug gemacht. Am Anfang und Ende jeder Windung brennt ein helles Leuchtfeuer; man fährt eigentlich nie im Dunkeln, überall sind Lampen angezündet, voraus, achteraus und querab. Es ist eine förmliche Verschwendung damit getrieben, denn die Leuchtfeuer finden sich auch an Stellen, wo nun und nimmermehr eine Untiefe gewesen ist noch sein wird, und wo jedes Dampfschiff, das den Weg nur einmal gemacht hat, sich mit Leichtigkeit zurechtfinden kann.

Das ist alles recht schön und gut, auch sehr bequem für die Schiffahrt; aber das Lotsenhandwerk hat dadurch seine ganze Romantik verloren. Wenn früher das Boot bei stockdunkler Nacht aus dem Ruder lief, um in die Wälder hinein zu dampfen, so gab das aufregende Momente für den Steuerer. Nicht weniger beängstigend war es, sich in dichter Finsternis durch ein enges Fahrwasser hindurch zu winden; aber jetzt kommt das nicht mehr vor – das elektrische Licht blitzt auf, verwandelt im Nu die Nacht zum hellen Tage, und alle Gefahr und Aufregung hat ein Ende.

In unserer Zeit fortwährender Neuerungen hat die Anker-Linie den Kapitän über den Lotsen gestellt, indem sie jenem ein höheres Gehalt giebt. Das war schon an sich ein starkes Stück, aber damit nicht genug, ist auch noch die Verordnung erlassen worden, daß der Lotse auf dem Posten bleibt und seine Wache weiter geht, mag nun der Dampfer am Ufer anlegen oder in Fahrt sein. Einst waren wir die Vornehmsten auf dem Flusse, jetzt darf unsereins nicht mehr zu Bette gehen, während die Ladung zu Hunderten von Tonnen an Bord geschafft wird; nein, wir müssen im Steuerhäuschen sitzen und obendrein die Augen offen halten. Wahrhaftig, so behandelt man kaum den gewöhnlichsten Steuermann oder Maschinisten! – Die Regierung hat unserm Beruf alle Romantik genommen, die Anker-Linie aber nimmt uns Rang und Würde. Bei Nacht sah die Plumspitze noch gerade so aus wie ehedem, nur daß jetzt Leuchtfeuer in der Kreuzung brannten, und eine Menge anderer Lichter auf der Spitze und am Ufer entlang. Die letzteren blinken herüber von der Flotte der Vereinigten-Staaten-Strombau-Kommission, und aus den Wohnhäusern und Bureaus, die dort am Lande für ihre Beamten gebaut worden sind. Die Militäringenieure der Kommission haben die Arbeit übernommen, den Mississippi umzumodeln und zur Ordnung zu bringen, eine Aufgabe, die fast so groß und erhaben ist wie das Werk, ihn ursprünglich zu erschaffen. Man legt Fangdämme an, um die Strömung abzulenken, errichtet Deiche, welche sie in engere Grenzen einzwängen, und noch andere Deiche, um den Fluß im neuen Bette festzuhalten. Unzählige Meilen am Mississippi entlang werden die Wälder umgehauen; man will die Ufer in einer Breite von fünfzig Metern völlig kahl scheren, um sie dann, wie ein schräges Hausdach, bis zum Tiefwassermark herunter abzutragen und mit Steinen zu belasten. Andere, der Überschwemmung ausgesetzte Strecken schützt man wiederum durch eingerammte Pfähle.

Wer aber den Mississippi kennt, wird sich gleich sagen – nicht laut, aber leise – daß zehntausend Strombaukommissionen, und wenn ihnen sämtliche Goldminen der Erde zur Verfügung ständen, den eigenwilligen Strom nicht zähmen werden. Er läßt sich nicht Gewalt anthun und einengen; man kann ihm nicht befehlen: fließe hier, fließe dort, und ihn zum Gehorsam zwingen. Ein Uferland, das er fortschwemmen will, vermag niemand zu retten, jedes Hindernis, das seinen Lauf hemmen soll, reißt er nieder oder springt darüber hinweg und spottet des ohnmächtigen Versuchs.

Doch darf man dergleichen nicht unbedingt behaupten; ein verständiger Mann behält seine Meinung für sich, gegenüber der höheren Weisheit der Herren Ingenieure von der Militärakademie, die an Gelehrsamkeit nirgends ihresgleichen haben. Wenn sie glauben, daß sie den Strom bemeistern können, so thut der Laie am besten zu schweigen und abzuwarten.

Ich sprach darüber mit ›Onkel‹ Mumford, (so wurde der zweite Offizier an Bord allgemein genannt) und will hier seine Ansicht genau wiedergeben.

»Seit dreißig Jahren,« sagte Onkel Mumford, »bin ich Schiffsmaat und habe den Strom beobachtet und studiert. Meint Ihr, ich hätte mehr davon auf der Militärakademie gelernt? Aus all den Büchern und Lehrstunden in West-Point kann man in vier Jahren mancherlei lernen, das geb‘ ich zu – aber den Strom – bah, wer’s glaubt! –

»Ja, wenn’s so ein kleiner europäischer Fluß wäre, mit seinem festen Grund und klaren Wasser, das gäb‘ einen Sonntagsspaß für die Kommission, den einzudämmen, zu pfählen, zu deichen, ihn zu zähmen, zu meistern, hierhin und dorthin zu leiten, und ihn so gefügig zu machen, daß er blindlings alles thäte, was man von ihm verlangt. Aber mit unserm Mississippi ist das ein ander Ding. Die Leute haben ihre Arbeit in der besten Meinung und mit großer Zuversicht angefangen, aber, sie bringen’s nicht fertig, verlaßt euch drauf. Seht nur einmal näher zu, wie sie’s machen.

»An der Teufelsinsel im obern Fluß, zum Beispiel, da soll das Wasser links herum fließen, statt rechts. Sie errichteten eine Steinmauer und wollten es zwingen. Aber, was kehrt sich mein Fluß an eine Mauer! Als sie fertig war, brach er mitten hindurch. Sie können’s ja noch einmal versuchen, vielleicht gelingt’s dann besser. – Am untern Fluß schlagen sie Spundwände, um die Ufer zu schützen und das Wasser abzulenken. Was hilft’s? – Es fackelt nicht lange und reißt das Land an einer andern Stelle mit fort. Will man etwa die Ufer des ganzen Flußlaufes mit Pfählen bestecken? – Meiner Treu, da thäte man besser, man kaufte sich Grund und Boden und machte einen ganz neuen Mississippi – das käme viel billiger zu stehen.«

Als noch viertausend Boote den Strom hinunter schwammen, nebst zehntausend riesigen Kohlenleichtern und ungezählten Flößen und Handelskähnen, da gab es nicht eine lumpige Laterne, von St. Paul bis New-Orleans. Heutzutage fahren zwar nur noch ein paar Dutzend Boote auf dem Mississippi. und die Flöße und Kohlenleichter sind ganz verschwunden, aber die Regierung thut viel für den Strom und giebt Unsummen aus, um ihn zu beleuchten, auszubaggern und einzudämmen. Wenn’s erst einmal überhaupt keine Dampfer mehr auf dem Mississippi giebt, dann hat es die Kommission sicherlich so weit gebracht, daß die Stromfahrt vollkommen gefahrlos ist und man sich dabei so ruhig und geborgen fühlt, wie in Abrahams Schoß.

Anhang.

Anhang.

Ein mißlungener Feldzug.

Sommer 1861 wälzte sich die erste Kriegswoge an das Ufer von Missouri. Unionstruppen waren in den Staat eingefallen und hatten St. Louis nebst andern festen Plätzen in ihre Gewalt bekommen. Zu ihrer Abwehr rief der Gouverneur Claib Jackson sofort durch eine Proklamation 50 000 Mann Milizen unter die Waffen.

Ich hielt mich damals vorübergehend in dem zum Bezirk Marion gehörigen Städtchen Hannibal auf, wo ich meine Knabenzeit verlebt hatte. Als der Aufruf erschien, veranstaltete ich mit mehreren Kameraden eine nächtliche Zusammenkunft an einem geheimen Ort. Wir bildeten eine Kompagnie, zu deren Hauptmann ein gewisser Tym Lyman gewählt wurde, der zwar keine militärische Erfahrung, aber viel Mut besaß; mich machte man zum Unterlieutenant. Einen Oberlieutenant hatten wir nicht, wie das kam, habe ich vergessen – es ist zu lange her. Wir waren unser fünfzehn und ein wackerer Bursche aus unser Mitte schlug vor, wir sollten uns die ›Schützen von Marion‹ nennen. Der Name gefiel uns und keiner wußte etwas dagegen einzuwenden. Nach dem jungen Menschen, der den Rat gegeben, konnte man sich ungefähr einen Begriff machen, wie unser ganzes Korps beschaffen war. Jung, unwissend, gutmütig, oberflächlich, voll bester Absichten und romantischer Gefühle, schwärmte er meist für Ritterromane und melancholische Liebeslieder. Er besaß entschieden vornehme Neigungen und verabscheute unter anderm seinen eigenen Namen Dunlap, der in jener Gegend fast so verbreitet war wie Smith und für sein Ohr einen zu gemeinen Klang hatte. Um ihm einen feineren Anstrich zu geben, schrieb er sich d'Unlap. Das war nun dem Auge zwar wohlgefällig, aber im übrigen wenig befriedigend, denn die Leute sprachen den neuen Namen ganz ebenso aus wie den alten, mit dem Nachdruck auf der ersten Silbe. Zuletzt verstieg er sich zu einer That, die man als wahrhaft heldenkühn bezeichnen muß, wenn man bedenkt, wie sehr die Welt alle Ziererei und Unnatur haßt und verdammt: er nannte sich nämlich d'Un Lap.

Das war eine großartige Erfindung. Mit unermüdlicher Geduld ertrug er allen Spott und Hohn, die sie ihm einbrachte, überzeugt, daß wenn er nur den Mut hätte zu warten, der Sieg ihm nicht fehlen könne. Er erlebte es auch wirklich, daß der Name durchdrang und daß Leute, die ihn von klein auf kannten und mit dem Geschlecht der Dunlaps so vertraut waren wie mit Regen und Sonnenschein, den Nachdruck auf die letzte Silbe legten, wie er es eben haben wollte. Er behauptete nämlich, er habe in einer alten französischen Chronik entdeckt, daß die richtige Schreibart des Namens ursprünglich d'Un Lap gewesen sei, was in der Übersetzung soviel wie Peterson bedeute. Lap, aus dem Lateinischen oder Griechischen stammend, heiße Stein oder Fels, wie das französische pierre, also Peter; d' von, un einer oder einem, also d'Un Lap: von einem Stein oder einem Peter, das heißt der Sohn eines Steins – eines Peter – Peterson. – In der Kompagnie hatten wir keine Gelehrten und die Erklärung ging über unser Verständnis, so nannten wir ihn denn Peterson Dunlap.

Ein anderer der Kameraden, Ed. Stevens, war der Sohn eines Goldschmieds von Hannibal, hübsch und zierlich von Gestalt und sauber wie ein Kätzchen; ein begabter Mensch, auch wohlunterrichtet, doch nahm er nichts ernsthaft im Leben und war stets zu allerlei Unfug aufgelegt. Auch den Feldzug betrachtete er nur wie eine Art Feiertagsspaß. Das ging übrigens den meisten von uns nicht viel anders – mit oder ohne Bewußtsein. Aus Überlegung zu handeln war überhaupt nicht unsere Sache, wir waren’s nicht imstande. Was mich betraf, so machte es mir ein kindisches Vergnügen, daß ich nicht mehr wie auf dem Dampfer um Mitternacht und um vier Uhr morgens aus dem Bette mußte; ich freute mich über die Abwechslung, über den neuen Schauplatz meiner Thätigkeit und jedes neue Lebensinteresse. Was die Zukunft im einzelnen bringen könnte, bedachte ich nicht – man thut das selten mit vierundzwanzig Jahren.

Ein Bursche ganz anderer Art war Smith, der Lehrling des Hufschmieds. Diesem großen Esel fehlte es, trotz seiner langsamen, schwerfälligen Natur, nicht an Kraft und Mut, auch hatte er ein weiches Herz. Gelegentlich schlug er wohl ein Pferd zu Boden, wenn es nicht parieren wollte, ein andermal aber bekam er Heimweh und fing an zu weinen. Zuletzt ward ihm noch eine Auszeichnung zu teil, deren sich nur wenige von uns rühmen konnten: er blieb dem Kriegshandwerk treu und fiel auf dem Schlachtfeld.

Jo Bowers, auch einer aus der Kompagnie, war ein vierschrötiger, flachshaariger Schlingel, gefühlvoll, träge, meist mit allem unzufrieden und ein harmloser Prahlhans. Das Lügen betrieb er mit großartiger Frechheit; wie fleißig er sich aber darin übte, es glückte ihm trotzdem selten, denn seine Erziehung war vernachlässigt worden, man hatte ihn eigentlich wild aufwachsen lassen. Er nahm das Leben ziemlich ernst und es behagte ihm oft ganz und gar nicht; im übrigen war er ein guter Kamerad und recht beliebt. Er wurde zum Sergeanten und Ordonnanzoffizier gemacht; Stevens ernannten wir zum Korporal.

Nach den eben beschriebenen Exemplaren kann man sich von den übrigen leicht eine Vorstellung machen. Was ließ sich wohl von einer derartigen zusammengelaufenen Herde im Kriege erwarten? – Jeder that sein Bestes, aber was konnte dabei herauskommen? Gar nichts, sollte ich meinen – und das traf auch zu.

In einer dunklen Nacht begaben wir uns von verschiedenen Punkten aus, so vorsichtig und heimlich wir konnten, paarweise nach dem Griffith-Platz außerhalb der Stadt und traten von dort unsern gemeinsamen Marsch an. Hannibal liegt in dem südöstlichen Winkel des Bezirks Marion und unser Bestimmungsort war New-London, zehn Meilen weiter im Bezirk Ralls.

Beim Abmarsch waren wir alle voll Lachen und Scherz und trieben nichts als Tollheiten. Doch, das dauerte nicht lange. Das fortgesetzte Marschieren war uns bald eine Arbeit und mit dem Spiel war es vorbei. Auch die Stille des Waldes und das nächtliche Dunkel übte eine niederschlagende Wirkung auf unsere Lebensgeister. Die allgemeine Unterhaltung geriet ins Stocken, jeder versank in seine eigenen Gedanken und wohl eine halbe Stunde lang sprach kein Mensch ein Wort.

Wir näherten uns jetzt einem Blockhaus, in welchem, wie man munkelte, eine Wache von fünf Unionssoldaten postiert war. Hier im Dunkel der Waldbäume, deren herabhängende Zweige uns verbargen, gebot unser Führer Lyman Halt. Dann teilte er uns im Flüsterton mit, sein Plan sei, das Haus zu erstürmen – was uns die Finsternis ringsum noch schwärzer erscheinen ließ. In diesem entscheidenden Augenblick ward uns klar, daß es sich um bittern Ernst handle – wir standen dem Kriege sozusagen Auge in Auge gegenüber. Doch verloren wir unsere Fassung nicht, wir waren auf alles gerüstet. Entschlossenen Muts erwiderten wir ohne Zaudern, wenn sich Lyman selbst mit den Unions-Soldaten einlassen wolle, so möge er nur tapfer darauf losgehen, doch könne er lange warten, bis wir ihm folgen würden.

Lyman bat und beschwor, er versuchte uns zu beschämen, aber alles vergebens. Nichts konnte uns von dem einmal gefaßten Plan abbringen: wir wollten das Blockhaus zur Seite liegen lassen und nur von außen umgehen. Und das thaten wir.

Unter großer Mühsal schlugen wir uns quer durch den Wald; bald stolperten wir über Wurzeln, bald verwickelten wir uns in Schlinggewächsen oder blieben am Dorngestrüpp hängen. Endlich erreichten wir einen offenen Platz in sicherer Gegend, wo wir uns erhitzt und atemlos niedersetzten, um uns abzukühlen und unsere Schrammen und sonstigen Verletzungen zu besichtigen. Lyman war ärgerlich, wir andern aber guten Mutes; weshalb sollten wir auch die Köpfe hängen lassen – unsere erste militärische Unternehmung war ja geglückt: wir hatten das Blockhaus umgangen und konnten wohl zufrieden sein. Scherz und Lachen begann von neuem, der Kriegszug wurde wieder zum Festtagsspaß.

Nach kurzer Rast marschierten wir abermals weiter, zwei Stunden lang, zuletzt in dumpfem Schweigen. Als der Morgen dämmerte, zogen wir erschöpft, beschmutzt und mit wunden Füßen in New-London ein; wir waren alle schlecht gelaunt und schimpften heimlich auf den Krieg; nur Stevens hatte seine gute Stimmung behalten. Nachdem wir unsere alten, schäbigen Flinten in der Scheune des Obersten Rall, eines Veteranen aus dem mexikanischen Krieg, zusammengestellt hatten, frühstückten wir alle gemeinsam in seinem Hause. Später führte er uns auf eine einsame Waldwiese und hielt uns dort, im Schatten eines Baumes, eine hochtrabende Rede voll Ruhm und Pulverdampf, in der es von Beiwörtern, bildlichen Anspielungen und schwungvollen Phrasen wimmelte – das gehörte mit zur Beredsamkeit in jener alten Zeit und entlegenen Gegend. Er ließ uns dann auf die Bibel schwören, daß wir dem Staate Missouri treu bleiben und alle Eindringlinge verjagen wollten, von welcher Seite sie auch kämen und unter welcher Fahne sie marschierten. Dies verwirrte uns einigermaßen, denn wir begriffen nicht recht, zu wessen Dienst wir uns eigentlich verpflichtet hatten; Oberst Rall aber, der erfahrene Politiker und Wortverdreher, war darüber gar nicht in Zweifel. Er wußte genau, daß er uns für die Sache des Südbunds angeworben hatte. Zuletzt gürtete er mir noch ein Schwert um, welches Oberst Brown, sein Nachbar, in Mexiko getragen hatte, und endete die Feierlichkeit durch einen großartigen Wortschwall.

Hierauf marschierten wir in Reih und Glied nach einem grünen, schattigen Waldrevier, am Rande einer weiten, blumengeschmückten Wiese. Es war ein herrlicher Schauplatz für den Krieg – wie wir ihn betrieben. Ins Innere des Waldes eindringend, bezogen wir eine feste Stellung, die im Rücken durch niedere, bewaldete Felsberge geschützt war und vor uns durch einen klaren sprudelnden Bach. Sofort schwamm die Hälfte unseres Kommandos im Wasser, während sich die übrigen auf den Fischfang begaben. An dem Platz, wo wir unser Lager aufschlugen, war ehemals Ahornzucker gesiedet worden; die verfaulten Tröge lehnten noch an den Bäumen. Nicht weit davon lag ein alter Kornspeicher, in welchem das Bataillon sein Nachtquartier nahm. Gegen Mittag kamen die Farmer von allen Seiten mit Pferden und Mauleseln herbei, die sie uns für die Dauer des Krieges leihen wollten, auf etwa drei Monate, wie sie meinten. Es waren Tiere von der verschiedensten Größe, Farbe und Zucht, meistens jung und unbändig, so daß kein einziger aus unserm Kommando sich lange im Sattel halten konnte; wir Städter waren im Reiten noch ungeübt. Ich erhielt ein kleines Maultier zugeteilt, welches, rasch und lebhaft in seinen Bewegungen, mich ohne alle Schwierigkeit jedesmal wieder abwarf, wenn ich aufgestiegen war. Dann reckte es den Hals, spitzte die Ohren, riß die Kinnladen auf, daß man ihm tief in den Schlund sehen konnte, und ließ sein Triumphgeschrei hören. Es war ein widerwärtiges Tier in jeder Beziehung; faßte ich es beim Zügel, um es aus der Wiese zu führen, so stemmte es sich mit aller Kraft dagegen und war nicht vom Fleck zu bringen. Das gewöhnte ich ihm aber gründlich ab, denn auf einige militärische Kniffe verstand ich mich doch. Ich hatte in meinem Leben schon manchen festgefahrenen Dampfer wieder flott werden sehen, da wurde es mir nicht schwer, so ein störriges Maultier flott zu machen. Bei dem Kornspeicher war ein Brunnen; ich nahm also statt des Halfters einen dreißig Faden langen Strick, verfuhr damit wie bei der Ankerwinde und schaffte das Tier ohne Aufenthalt nach Hause.

An Korn für die Pferde war kein Mangel; wir füllten es in die alten Zuckertröge, die uns dazu sehr gelegen kamen. Als ich aber Bowers befahl, mein Maultier zu füttern, erwiderte er, ich dächte wohl, er ziehe in den Krieg um den Pferdeknecht zu spielen – das sollte ich mir nur vergehen lassen. Ich hielt dies eigentlich für Insubordination, doch waren mir die militärischen Begriffe noch so wenig geläufig, daß ich lieber stillschweigend darüber hinwegging, da ich meiner Sache nicht gewiß war. Nun richtete ich den gleichen Befehl an Smith, den Hufschmiedslehrling, der aber sah mich nur kalt lächelnd an und wandte mir höhnisch den Rücken. Schließlich begab ich mich zum Hauptmann, um ihn zu fragen, ob mir nicht von Rechts wegen eine Ordonnanz zugewiesen werden müsse. Lyman bejahte dies, meinte aber, da sich im ganzen Korps nur eine Ordonnanz befinde, könne er Bowers in seinem Stabe nicht entbehren. Bowers war jedoch anderer Meinung, er sagte, es fiele ihm gar nicht ein, in irgend einem Stabe zu dienen; es solle doch einmal jemand kommen und versuchen, ihn dazu zu zwingen. – Unter diesen Umständen blieb nichts übrig als die Sache auf sich beruhen zu lassen.

Auch das Kochen wollte keiner übernehmen, man hielt es für entwürdigend und wir mußten uns ohne Mittagessen begnügen. Den Rest des schönen Tages vertrödelte jeder ans seine Weise, einige schliefen unter den Bäumen, andere rauchten ihre Thonpfeifen, wobei sie von ihren Liebchen und dem Kriege plauderten, noch andere trieben allerlei Spiele. Als es Zeit zum Abendessen war, hatten wir solchen Hunger, daß alle Hand anlegten und, ohne Unterschied des Ranges, Holz sammelten, Feuer anmachten und das Essen bereiteten. Eine Weile ging nun alles gut, dann brach aber zwischen dem Sergeanten und dem Korporal ein Streit aus, wer von ihnen die höhere Charge habe. Das wußte jedoch niemand und Lyman mußte sich zuletzt ins Mittel legen und erklären, daß beide auf der gleichen Rangstufe ständen. Ein Befehlshaber so unwissender Truppen hatte Nöte und Ärgernisse zu bestehen, die in einer regulären Armee wahrscheinlich niemals vorkommen können. Als wir später am Lagerfeuer saßen, uns Geschichten erzählten und Lieder sangen, waren bald alle wieder heiter und guter Dinge. Dann harkten wir das Korn an einem Ende des Speichers zurecht und legten uns schlafen. Draußen vor der Thür stand ein Pferd angebunden, damit es wiehern sollte, wenn jemand den Versuch machte einzudringen. – Ich glaubte das wenigstens damals und erfuhr erst lange nachher, daß das Tier nur aus Versehen die Nacht über dort geblieben war.

Am Vormittag machten wir unsere regelmäßigen Reitübungen, und wenn wir auch niemals Meister wurden in dieser Kunst, so erlangten wir doch einige Fertigkeit. Den Nachmittag pflegten wir zu Ausflügen in die Umgegend zu benutzen; wir ritten in einzelnen Trupps mehrere Meilen weit, besuchten die Töchter der Farmer, ließen uns das Mittagessen oder Abendbrot, das man uns auftrug, trefflich schmecken, unterhielten uns aufs beste und kehrten dann wohlgemut in unser Lager zurück.

Eine Zeitlang schwelgten wir in diesem köstlichen Müßiggang, alles ging nach Wunsch und nichts störte unser Vergnügen. Da brachten die Farmer beunruhigende Nachrichten; es hieß, der Feind hätte die Richtung nach unserer Gegend genommen und käme durch Hydes Wiesengrund herangezogen. – Das war ein rauhes Erwachen aus süßen Träumen und wir wußten in unserer Bestürzung nicht gleich, wohin wir den Rückzug antreten sollten. Bei der Unbestimmtheit des Gerüchts wollte Lyman anfänglich überhaupt nichts von einem Rückzug hören, doch sah er bald ein, daß er nicht wagen dürfe, auf seinem Kopf zu bestehen. Das Kommando war nicht in der Stimmung, sich eine Insubordination gefallen zu lassen. Er gab daher nach und rief einen Kriegsrat zusammen, bei dem, außer ihm selber, nur noch drei Offiziere zugegen sein sollten. Die Gemeinen waren jedoch so aufgebracht über diesen Beschluß, daß wir ihnen gestatten mußten, dazubleiben und sich an der Beratung zu beteiligen, was sie mit großem Eifer thaten. Es handelte sich um die Frage, auf welchem Wege wir uns zurückziehen wollten; bei der Aufregung, die in der Versammlung herrschte, war jedoch niemand imstande einen Vorschlag zu machen. Nur Lyman erklärte kaltblütig, wenn wir nicht nach Hydes Wiesengrund marschierten und so dem Feinde entgegengingen, sei es ganz gleichgültig, welchen Weg wir zum Rückzug wählten. Wie klug und richtig das war, leuchtete uns auf der Stelle ein und wir priesen unseres Hauptmanns Scharfsinn. Gemeinsam ward nun beschlossen, Zuflucht bei einem Freunde unserer Sache, dem Farmer Mason zu suchen, dessen Gut eine halbe Meile zu unserer Linken lag. Inzwischen war die Dämmerung hereingebrochen, und da wir nicht wußten, wie bald der Feind eintreffen könne, hielten wir es für das beste, den Marsch sofort anzutreten und unsere Pferde und sonstigen Habseligkeiten zurückzulassen.

Nur Flinten und Schießbedarf mit uns führend, brachen wir auf; der Weg war höchst mühselig, steil und steinicht, dazu stockfinstere Nacht und strömender Regen. Der vorderste von unsern Leuten stolperte und fiel, sein Hintermann über ihn her und der nächste wieder über diesen, bis zuletzt Bowers, der das Pulverfaß trug, an den schlüpfrigen Abhang kam, auf dem das ganze Kommando am Boden lag, Arme und Beine in einem Knäuel durcheinander. Natürlich fiel auch er mit dem Fäßchen und brachte das ganze Korps ins Rutschen, bis es unten in einem Bach landete. Nun geriet der Haufen in Bewegung; wer zu unterst war, raufte, biß und kratzte den, der über ihm lag, es entstand eine allgemeine Prügelei und jeder verschwor sich hoch und teuer, käme er nur diesmal glücklich aus dem Bach, so zöge er nun und nimmermehr wieder in den Krieg. Ob das Land zu Grunde gehe, sei ihm einerlei, der Feind kümmere ihn ganz und gar nicht – und was dergleichen Redensarten mehr waren. Während wir sie anhörten und in leisem Flüsterton mit einstimmten, wurde uns ganz jämmerlich zu Mute an dem schauerlich dunkeln Ort, zumal wir durch und durch naß waren und obendrein den Feind höchst wahrscheinlich auf den Fersen hatten.

Pulver und Flinten waren verloren gegangen und das Schimpfen und Brummen nahm kein Ende; die Leute tasteten auf dem sumpfigen Erdreich nach ihren Waffen umher oder versuchten sie aus dem Bach zu fischen, was viel Zeit kostete. Plötzlich vernahmen wir ein Geräusch, hielten den Atem an und lauschten, ob es der nahende Feind sei. Es klang ganz wie das Brüllen einer Kuh, aber wir konnten nicht warten, um es näher zu untersuchen. So gaben wir denn Fersengeld und trachteten Masons Pachtgut zu erreichen, so rasch das im Dunkeln möglich war. Wir verirrten uns jedoch etlichemale in den vielen Felsschluchten und es hatte schon neun Uhr geschlagen, als wir endlich an den Heckenzaun gelangten. Eben wollten wir uns als Freunde zu erkennen geben und hatten schon den Mund zur Parole geöffnet, da kam mit schrecklichem Gebell und Geheul eine Meute Hunde über den Zaun gesetzt; jeder Hund kriegte einen Soldaten von hinten am Beinkleid zu packen und lief mit ihm davon. Wir konnten die Hunde nicht totschießen, aus Furcht, die Personen zu treffen, in die sie sich festgebissen hatten; so standen wir denn ratlos und hilflos einem Schauspiel gegenüber, das so kläglich und beschämend war, wie vielleicht kein zweites im ganzen Bürgerkrieg. Auch an Beleuchtung fehlte es dabei nicht, denn der alte Mason und seine Söhne kamen auf den Lärm mit Lichtern vor das Haus gelaufen. Es gelang ihnen leicht, die Hunde loszumachen, bis auf Bowers Bulldogge, die ganz mit ihm zusammengewachsen schien und erst losließ, als man sie mit kochendem Wasser begoß, wobei Bowers auch seinen Teil abbekam und sich gebührend bedankte.

Im Hause angekommen, wurden wir mit einer Flut von Fragen bestürmt, bis sich herausstellte, daß wir gar nicht wußten, vor wem wir eigentlich die Flucht ergriffen hatten. Das ging dem alten Mason doch über den Spaß; er meinte, wir wären Soldaten von echtem Schrot und Korn; keine Regierung sei ja imstande das Schuhleder zu bezahlen, das es kosten würde, immer hinter uns drein zu laufen und da müsse der Krieg wohl bald von selber aufhören. Dann fragte er, warum wir keine Wachen am Wiesengrund aufgestellt hätten oder Kundschafter ausgeschickt, um Näheres über die Stärke und Ausrüstung des Feindes zu erfahren, statt auf ein bloßes Gerücht hin unsere feste Stellung zu verlassen und das Hasenpanier zu ergreifen. Je mehr er sprach, um so erbärmlicher ward uns zu Mute – das war noch ein weit schlimmerer Willkommen als der Angriff der Hunde.

Beschämt schlichen wir zu Bette, um uns von allem, was wir durchgemacht hatten gründlich zu erholen und auszuruhen. Allein unser Schlummer war nur von kurzer Dauer, die Leiden jener Nacht hatten noch kein Ende. Gegen zwei Uhr ertönte plötzlich von der Straße her ein Warnungsruf, in den die ganze Hundeschar laut heulend mit einstimmte; schon im nächsten Augenblick war alles auf den Beinen, um zu sehen, welcher Feind im Anzuge sei. Ein Reiter hatte die Nachricht gebracht, daß eine Abteilung Unionstruppen von Hannibal heranmarschiere und strengen Befehl habe, alle Banden wie die unserige, auf welche sie stoßen würde, gefangen zu nehmen und ohne Barmherzigkeit aufzuknüpfen. Wollten wir der Gefahr entrinnen, so war keine Zeit zu verlieren. Farmer Mason geriet jetzt selbst in die größte Aufregung und jagte uns förmlich zum Haus hinaus. Ein Neger sollte uns an eine Bergschlucht führen, damit wir uns samt unsern verräterischen Gewehren verstecken könnten.

Draußen floß der Regen in Strömen; rasch ging es den Heckenweg hinunter, dann durch steinichtes Ackerland, wo bald der eine, bald der andere stolperte und auf dem nassen Boden lag. Wer zu Fall gekommen war, schimpfte auf den Krieg und auf alle, die Schuld hatten an seinem Anfang und Fortgang, am meisten aber verwünschte jeder seine eigene Thorheit, je daran teil genommen zu haben. Als wir den waldigen Eingang der Schlucht erreicht hatten, schickten wir den Neger wieder nach Hause. Dicht aneinander gedrängt standen wir unter den regentriefenden Bäumen und verbrachten eine entsetzliche Nacht. Die Wasser drohten uns zu ersäufen, das Heulen des Sturms, das Krachen des Donners betäubte uns, die zuckenden Blitze blendeten unsere Augen. Doch klapperten und bebten wir nicht vor Nässe und Kälte allein, weit schlimmer noch war unsere Angst vor der hänfenen Schlinge, die unserm Leben ein Ende zu machen drohte. Die Möglichkeit eines so schmachvollen Todes hatten wir nicht bedacht; sie verdarb die Romantik des ganzen Feldzugs und verwandelte unsere Träume von Ehre und Ruhm in entsetzliche Schreckgespenster. Daß jener barbarische Befehl wirklich erteilt worden sei, bezweifelte keiner aus unserer Schar.

Die lange Nacht ging schließlich doch vorüber und beim Morgengrauen brachte der Neger die Nachricht, das Gerücht sei falsch, es habe sich nicht bestätigt und bald werde das Frühstück fertig sein. Auf der Stelle waren wir wieder frohen Mutes, die Welt schien voll Glanz und Heiterkeit und das Leben so schön und hoffnungsreich wie immer – denn damals waren wir jung. Das ist schon lange her – über vierundzwanzig Jahre.

Ein Frühstück, wie es uns die Masons nun auftischten, bekommt man nur in Missouri. Knusprigen Zwieback und Weizenbrot, heiß aus dem Ofen mit dem hübschen Gittermuster verziert, frische Maiskuchen, gebratene Hühner, Speck, Kaffee, süße Milch, Eier, Buttermilch u. s. w. Wir brauchten das alles zu unserer Stärkung und ließen es uns trefflich schmecken.

Unser Aufenthalt bei Mason dauerte nur wenige Tage; die leblose Stille und Langeweile dieses schläfrigen Pachtguts ist mir aber die vielen Jahre hindurch in der Erinnerung geblieben, sie lastet noch heute mit einem Druck auf meinem Geist wie Trauer und Tod. Es gab da nichts zu denken, nichts zu thun, keinerlei Lebensinteresse. Die Männer waren den ganzen Tag über auf dem Felde, auch die Frauen gingen ihren Geschäften nach und man bekam sie nicht zu Gesichte. Der einzige Laut, der sich vernehmen ließ, war das einförmige Schnurren eines Spinnrads. Es klang aus einem entlegenen Zimmer mit so jammervollem Klageton zu uns herüber, daß wir meinten, vor Heimweh vergehen zu müssen.

Bei Dunkelwerden pflegte sich die Familie zur Ruhe zu begeben und wir mußten wohl oder übel dem Beispiel folgen. Schlaflos wälzten wir uns die ewig langen Stunden auf unserm Lager umher und zählten die Glockenschläge; eine solche Nacht dauerte hundert Jahre.

Zuletzt konnten wir es an dem Ort nicht länger aushalten und empfanden eine förmliche Freude als es hieß, daß uns der Feind wieder auf den Fersen sei. Unser kriegerischer Geist erwachte, wir waren wie neugeboren, stellten uns schnell in Reih und Glied und marschierten in unser früheres Lager zurück.

Hauptmann Lyman hatte sich jedoch Masons Winke wohl gemerkt; er gab jetzt Befehl, daß Wachen ausgestellt werden sollten, um uns vor Überrumpelung zu schützen. Ich hatte den Auftrag, für einen Posten an der Gabelung des Weges in Hydes Wiesengrund zu sorgen. Als die Nacht dunkel und drohend hereingebrochen war, befahl ich dem Sergeanten Bowers, die Wache dort bis zwölf Uhr zu übernehmen; allein er erwiderte, das thäte er nicht – wie ich von vornherein erwartet hatte. Ich versuchte noch einige andere zu überreden, aber alle schlugen es mir ab. Zwei oder drei entschuldigten sich wegen des schlechten Wetters, die übrigen aber erklärten freimütig, sie würden unter keiner Bedingung Folge leisten. – Das klingt uns jetzt sonderbar und wie ein Ding der Unmöglichkeit, damals aber war es gar nicht überraschend, sondern ein höchst natürliches und alltägliches Vorkommnis. Die jungen Leute, die sich durch ganz Missouri in kleinen Lagerplätzen, wie der unsrige, versammelt hatten, waren viel zu selbständig und unabhängig aufgewachsen, um sich den Befehlen von Tom, Dick oder Harry zu fügen, mit denen sie ihr Lebenlang auf du und du gestanden hatten. Im ganzen Süden wird es wohl ähnlich hergegangen sein – versteht sich nur während der ersten Monate des Krieges.

Das Oberkommando über sämtliche Milizen unserer Gegend führte der Brigadegeneral Thomas Harris, ein ausgezeichneter Mann und allgemein beliebt. Wir hatten ihn aber gut gekannt, als er noch der einzige Telegraphenbeamte in Hannibal war, der für geringen Sold wöchentlich meist eine Depesche abzuschicken hatte, und zwei, wenn die Geschäfte sich besonders drängten. Als er daher eines Tages plötzlich in unserer Mitte erschien und uns mit militärischer Würde Verhaltungsmaßregeln überbrachte, wunderte sich niemand über die Antwort, welche er von dem versammelten Korps erhielt:

»Na, wenn wir aber nun nicht wollen, Tom Harris – was dann?«

Mit Leuten solchen Schlages in den Krieg zu ziehen, scheint ein völlig hoffnungsloses Beginnen. Dennoch haben einige meiner damaligen Kameraden später das blutige Handwerk trefflich erlernt; sie sind tüchtige Soldaten geworden, welche gehorchten wie die Maschinen, den Krieg bis zu Ende mitmachten und mit Ehren entlassen wurden. Ein Bursche zum Beispiel, der mich damals einen Schafskopf nannte, weil ich glaubte, er werde tollkühn genug sein, um den gefährlichen Posten zu beziehen, hat sich, ehe er noch ein Jahr älter war, durch Mut und Unerschrockenheit ganz besonders hervorgethan.

Es gelang mir an jenem Abend doch noch, Bowers zu bewegen, mit mir den Nachtdienst zu versehen. Ich schlug ihm nämlich vor, den Rang mit ihm zu tauschen und ihn als Untergebener zu begleiten. In pechfinsterer Nacht und bei strömendem Regen verbrachten wir ein paar erbärmliche Stunden zu Pferde. Bowers schimpfte ohne Unterlaß auf das Wetter und den Krieg, bis wir einzunicken begannen und uns kaum mehr im Sattel halten konnten. Nun quälten wir uns nicht länger, sondern ritten ins Lager, ohne auf Ablösung zu warten. Der Feind hätte es mit Leichtigkeit ebenso machen können, denn niemand hielt uns an oder fragte nach unserm Begehr; nirgends ließ sich eine Schildwache blicken, alles lag in festem Schlaf. Auch wurde, so viel ich weiß, nie wieder der Versuch gemacht, zur Nachtzeit einen Posten auszustellen, nur bei Tage hielten wir Wache.

In dem Kornspeicher, wo das Kommando schlief, entstand gewöhnlich großer Lärm, bevor noch der Morgen graute. Zahllose Ratten waren dort einquartiert; sie kletterten zu aller Ärger und Verdruß auf den Schläfern herum und liefen ihnen ohne weiteres über das Gesicht. Bald bissen sie diesen, bald jenen Soldaten in die Fußzehe, der fluchend aufsprang und im Dunkeln mit Maiskolben um sich warf; die waren zwar nicht ganz so hart wie Ziegelsteine, aber wen sie trafen, dem that es doch weh. Das wollte sich keiner gefallen lassen; ehe fünf Minuten vergingen, lag ein Nachbar dem andern in den Haaren und es entstand eine allgemeine Rauferei. So kam es, daß im Kornspeicher viel Blut vergossen wurde, das war aber auch das einzige, welches ich fließen sah, solange ich am Kriege teilnahm. – Nein, halt, das ist nicht die volle Wahrheit! Einmal floß doch Blut, und wie das geschah, will ich jetzt erzählen:

Wir wurden, wie bereits gesagt, häufig durch allerlei Gerüchte erschreckt. Von Zeit zu Zeit tauchte immer wieder die Nachricht auf, daß der Feind heranrücke und wir zogen uns vor ihm stets in ein anderes Lager zurück. Da es sich jedoch jedesmal erwies, daß es nur blinder Lärm gewesen, wurden wir schließlich gleichgültig dagegen. Als nun eines Abends ein Neger wieder mit dem alten Liede gegangen kam, daß der Feind in der Nähe lauere, sagten wir: ›Schon gut!‹ und beschlossen, uns in unserer Ruhe und Bequemlichkeit nicht stören zu lassen. Über diesen echt kriegerischen Beschluß empfanden wir im ersten Augenblick ein wahres Hochgefühl. Wir waren gerade sehr lustig und guter Dinge gewesen und hatten allerlei Possen getrieben; damit war es für jetzt freilich vorbei – Scherz und Lachen klang nur noch gezwungen, bald verstummte es ganz und tiefe Stille herrschte in der Kompagnie. Wir hatten einmal gesagt, daß wir dableiben wollten und konnten unser Wort nicht brechen, doch wären wir wohl zu überreden gewesen, das Lager zu verlassen, wenn nur einer den Mut gehabt hätte, es vorzuschlagen. Lange verharrten wir in ängstlichem Schweigen am selben Platze, dann begann eine fast geräuschlose Bewegung im Dunkeln, zu welcher kein Befehl erteilt worden war. Bald merkte ein jeder, daß er nicht der einzige sei, der leise nach der Vorderwand gekrochen war, um durch ein Astloch oder einen Spalt zu spähen. Nein, wir waren alle da und starrten mit klopfendem Herzen nach der Stelle hin, wo der Fußpfad in den Wald einmündete. Ringsum war alles still und man konnte bei dem bleichen Schein des Mondes nur die allgemeinen Umrisse der Gegenstände unterscheiden. Da ließ sich auf einmal ein dumpfer Ton vernehmen, der wie Hufschlag klang. Nach einer Weile sahen wir eine nebelhafte Gestalt auf dem Waldpfad auftauchen, die immer näher kam. Es war ein Mann zu Pferde, und wie mir schien, ritten noch andere hinter ihm drein. Ein jäher Schrecken fuhr mir durch die Glieder; ohne recht zu wissen was ich that, griff ich nach meiner Flinte und steckte den Lauf durch einen Spalt in der Wand. »Feuer!« gebot eine Stimme und ich drückte los. Mir war, als sähe und hörte ich es hundertmal blitzen und knallen – gleich darauf fiel der Mann aus dem Sattel.

Verwundert über den gelungenen Schuß, wollte ich, mit dem Instinkt des Jägers, im ersten Augenblick hinzueilen, um mich meiner Beute zu versichern; da hörte ich neben mir jemand flüstern: »Bravo – den haben wir – jetzt kommen die übrigen an die Reihe.« Wir warteten und lauschten, aber die andern ließen sich nicht blicken. Kein Laut war zu hören, nicht ein Blatt bewegte sich; die Stille ward immer unheimlicher. Endlich ertrugen wir es nicht länger; wir krochen verstohlen hinaus und näherten uns der mondbeschienenen Stelle, wo der Mann auf dem Rücken lag, die Arme von sich gestreckt, mit offenem Mund und keuchender Brust, das weiße Vorhemd von Blut überströmt. Siedend heiß fuhr mir der Gedanke durch den Kopf, daß ich ein Mörder war, daß ich einen Menschen getötet hatte, der mir nie etwas zu Leide gethan. Es ging mir durch Mark und Bein. Verzweifelnd kniete ich neben ihm und streichelte ihm Stirn und Wangen – ich hätte alles darum gegeben und mit Freuden mein eigenes Leben geopfert, um ihn wieder heil und gesund zu machen, wie er es noch vor wenigen Minuten gewesen. Alle Kameraden schienen mein Gefühl zu teilen, sie beugten sich mitleidig über den Verwundeten, versuchten ihm auf jede Weise beizustehen und drückten das innigste Bedauern aus. An den Feind dachte niemand mehr, sie sahen in diesem Gegner nur den einzelnen, beklagenswerten Menschen. Das brechende Auge des Sterbenden schien noch mit einem Blick des Vorwurfs auf mir zu ruhen, der mich wie ein Dolchstoß traf. Als ich ihn nun gar, wie im Traum, etwas von Weib und Kind murmeln hörte, ergriff mich neues Entsetzen: So sollten also die Folgen meiner Missethat auch auf das Haupt jener Unschuldigen fallen, die mir nie etwas Böses zugefügt hatten!

Wenige Augenblicke später stieß der Mann den letzten Seufzer aus. Er war im Kriege getötet worden nach Brauch und Recht – sozusagen auf dem Schlachtfeld gefallen; und dennoch beklagte ihn die feindliche Macht wie einen Bruder. Wohl eine halbe Stunde lang standen die Kameraden tief bewegt neben der Leiche und besprachen den Trauerfall in allen Einzelheiten. Sie fragten sich, wer der Mann wohl sein möge; ob er nicht doch vielleicht ein Spion gewesen? Hätten sie ihn wieder lebendig machen können, sie würden ihm sicherlich kein Haar gekrümmt haben.

Bald stellte sich heraus, daß außer mir noch fünf Soldaten Feuer gegeben hatten; nicht weniger als sechs Kugeln waren abgeschossen worden. Diese Teilung der Schuld gewährte mir eine große Erleichterung bei der Last, welche mich niederdrückte. Im Augenblick der That war ich so wenig bei Besinnung gewesen, daß ich in meiner erhitzten Einbildungskraft die ganze Salve für einen einzigen Schuß aus meiner Flinte gehalten hatte.

Der Mann trug weder Waffen noch Uniform. Er war in der Gegend völlig unbekannt und wir haben nie etwas Näheres über ihn erfahren. Mich quälte die Erinnerung an ihn Tag und Nacht, ich konnte sie nicht wieder los werden, konnte die peinigenden Gedanken nicht verscheuchen; daß wir einem harmlosen Menschen das Leben genommen hatten, schien mir so sündhaft, so zwecklos. Und war dies nicht ein Bild des Krieges überhaupt? Was thut man denn anderes im Kriege, als Leute umbringen, gegen die man keine persönliche Feindschaft hegt – Fremde, denen man unter andern Umständen beistehen würde, wenn sie in Not gerieten, und die auch uns Hilfe leisten würden wenn wir ihrer bedürften? Mit meiner Freude an dem Feldzug war es vorbei. Ich besaß die erforderliche Ausrüstung nicht für dies grimme Handwerk; zum Kriege brauchte man Männer, und ich hatte die Kinderschuhe noch nicht ausgetreten. So beschloß ich denn, das unwürdige Soldatenspiel aufzugeben, um nicht meine ganze Selbstachtung einzubüßen. Vernünftigerweise hätte ich mich eigentlich von den selbstquälerischen Gedanken losmachen sollen, denn im Grunde meines Herzens glaubte ich fest, daß nicht meine Hand des Mannes Blut vergossen hatte. Es war im höchsten Grade unwahrscheinlich, daß meine Kugel ihn auch nur gestreift hatte, da es mir bei allen meinen Schießübungen noch nie gelungen war, einen Gegenstand zu treffen, nach dem ich zielte – und ihn hatte ich genau aufs Korn genommen, das wußte ich. Leider gewährte mir diese Überzeugung keinen Trost. Wann hätte sich auch eine kranke Einbildungskraft je durch Vernunftgründe heilen lassen? –

Wir fuhren nun fort wie bisher das Land auszusaugen und bei jeder beunruhigenden Nachricht unser Lager zu wechseln. Die Farmer waren unermüdlich in ihrer Gastfreundschaft und Zuvorkommenheit gegen uns, während sie uns von Rechts wegen hätten zum Henker wünschen müssen. Auf unsern Kreuz- und Querzügen waren wir eines Tages in dem Bezirk Monroe angelangt und hatten in einem Hohlweg bei dem Dorfe Florida, wo ich geboren bin, unser Lager aufgeschlagen – es war das letzte, welches ich bezog. Hier erfuhren wir, daß ein Oberst mit einem ganzen Regiment Unionstruppen auf uns heranmarschiere. Damit war nicht zu scherzen; wir beratschlagten schnell, was zu thun sei, und verkündigten rasch den übrigen Kompagnien, die unser Lager teilten, daß wir nichts mehr mit dem Krieg zu schaffen haben wollten und entschlossen seien, unser Korps aufzulösen. Die Leute standen eben selbst im Begriff, sich zurückzuziehen und suchten uns zu bereden, noch auf den General Tom Harris zu warten, der jeden Augenblick eintreffen müsse. Wir hielten das aber für unnützen Zeitverlust. Nach der vielen Übung, die wir gehabt hatten, verstanden wir uns so gut auf den Rückzug, daß wir nicht erst auf einen General zu warten brauchten, um uns darüber belehren zu lassen. So stiegen wir denn auf und ritten davon – das heißt, etwa die Hälfte unseres Korps, mich eingeschlossen; die übrigen ließen sich überreden, dazubleiben – und machten den ganzen Krieg mit.

Unterwegs trafen wir auf General Harris, der uns befahl, wieder umzukehren; wir aber erzählten ihm, daß ein Oberst mit einem ganzen Regiment Unionstruppen im Anmarsch sei. Da würde es gewiß Mißhelligkeiten geben und wir hielten es für besser, nach Hause zu gehen. Harris geriet zwar in Zorn, aber das nützte nichts, denn unser Beschluß stand fest. Wir hatten das unsrige gethan, hatten einen Mann getötet – die übrigen Feinde konnte Harris nun selbst umbringen, damit der Krieg bald zu Ende wäre.

Wer aber war jener Oberst der Union, welcher mich so in Schrecken jagte, daß ich um seinetwillen dem Süden meine wertvollen Kriegsdienste entzog? Kein anderer als General Grant, wie ich später erfuhr. Damals war sein Name freilich fast ebenso unbekannt wie der meinige – was uns jetzt kaum glaublich erscheint. Wir waren nur wenige Meilen von einander entfernt und ich hatte die beste Gelegenheit, mit ihm zusammenzutreffen – aber ich ging nach der entgegengesetzten Richtung.

Über den vorstehenden Bericht wird wohl mancher Leser den Kopf schütteln, aber er hat dennoch seinen Wert und seine Berechtigung. Er giebt ein wahrheitsgetreues Bild von dem Thun und Treiben der Milizen während der ersten Monate des Bürgerkriegs und von Vorgängen, die durchaus nicht vereinzelt dastanden. Hat die Geschichte bisher darüber geschwiegen, so war das ein Mangel, welcher dringend der Ergänzung bedurfte. Aus den jungen, ungeübten Rekruten, die ohne Zucht, ohne erfahrene Führer, vor unbekannten Schrecknissen zurückbebten, sind später doch noch wackere Krieger geworden, welche mitgeholfen haben, die großen Entscheidungsschlachten zu schlagen. Auch ich würde mit der Zeit das Soldatenhandwerk wohl noch gelernt haben; in einem Stück hatte ich es ja schon ziemlich weit gebracht: ich wußte genau, wie man einen Rückzug ausführen muß.

Der Fluß und seine Erforscher.

Der Fluß und seine Erforscher.

La Salle suchte bei Ludwig XIV. unseligen Andenkens um gewisse wichtige Privilegien nach, die ihm vom Könige auch gnädigst gewährt wurden. Das hauptsächlichste derselben war das Recht, das Land fern und nah zu erforschen, Forts zu bauen, Kontinente abzustecken und sie dem Könige zu übergeben. Die Kosten mußte er selbst tragen. Als Gegenleistung erhielt er dafür einige kleine Vorteile der einen oder anderen Art und darunter namentlich das Monopol der Büffelhäute. La Salle brauchte mehrere Jahre und verschwendete fast sein ganzes Geld, um einige gefährliche und aufreibende Reisen von Montreal nach seinem von ihm am Illinois erbauten Fort zu machen, ehe es ihm schließlich gelang, seine Expedition in solchen Stand zu bringen, daß er mit derselben nach dem Mississippi aufbrechen konnte.

Mittlerweile hatten aber andere mehr Glück gehabt. Im Jahre 1673 durchkreuzten der Kaufmann Joliet und der Priester Marquette das Land und erreichten die Ufer des Mississippi. Sie hatten den Weg über die großen Binnenseen gemacht und dann von ›Green Bay‹ die Reise in Kanoes den Fox River und den Wiskonsin hinab fortgesetzt. Marquette hatte am Fest der unbefleckten Empfängnis den Schwur abgelegt, daß, wenn die heilige Jungfrau ihn den großen Fluß entdecken ließe, er denselben ihr zu Ehren Empfängnisfluß nennen wolle, und er hielt sein Wort, In damaliger Zeit gehörte zur Ausrüstung einer jeden Expedition eine Anzahl Priester; De Soto hatte deren vierundzwanzig und auch La Salle hatte einige bei sich. Oft fehlte es den Expeditionen an Fleisch und mangelte es ihnen an Kleidungsstücken, allein stets befanden sie sich im Besitz der für die Messe erforderlichen Gegenstände und Requisiten, und waren, wie einer der wunderlichen Geschichtsschreiber jener Zeit sich ausdrückte, immer bereit, »den Wilden die Hölle zu erklären.«

Am 17. Juli 1673 erreichten Joliet und Marquette nebst fünf Genossen in ihren Kanoes die Vereinigung des Wiskonsin mit dem Mississippi. »Vor ihnen – erzählt Parkman – kreuzte ihren Weg ein breiter und rascher Strom, der am Fuße von hohen, mit dichten Waldungen bedeckten Hügeln dahinfloß. Dann wandten sie sich seitwärts und ruderten den Strom hinab, an welchem die Einsamkeit auch nicht durch die allergeringste Spur von Menschen gestört wurde.«

Während der Fahrt stieß ein großer Fisch, wahrscheinlich ein cat-fish, gegen das Kanoe Marquettes und erschreckte ihn, nicht ohne Grund, da er von den Indianern gewarnt und darauf aufmerksam gemacht worden war, daß er eine tollkühne und sogar gefährliche Reise mache, denn der Fluß enthalte einen Dämon, »dessen Gebrüll aus weiter Ferne zu hören sei und der ihn in den Abgrund, wo er sich aufhalte, hinabziehen werde.« Ich selbst habe im Mississippi einen Fisch dieser Art von mehr als sechs Fuß Länge und zweihundertundfünfzig Pfund Gewicht gesehen, und wenn der Fisch Marquettes von ähnlicher Größe war, so konnte letzterer mit gutem Recht glauben, daß der brüllende Dämon des Flusses gekommen sei.

Endlich begann der Büffel sich zu zeigen, der auf den damals den Fluß begrenzenden Prairieen in Herden graste. Marquette beschreibt das wilde und bestürzte Aussehen der alten Bullen, »als sie durch wirre, sie fast blind machende Mähnen nach den Eindringlingen stierten.«

Die Reisenden drangen vorsichtig weiter: »sie landeten bei Nacht und zündeten Feuer an, um ihre Abendmahlzeit zu kochen; löschten das Feuer dann aus, schifften sich wieder ein, ruderten eine Strecke weiter und legten sich dann im Strome vor Anker, während ein Mann bis zum nächsten Morgen Wache hielt.«

Dies geschah Tag für Tag und Nacht für Nacht, und nach Ablauf von zwei Wochen hatten sie kein menschliches Wesen gesehen. Der Fluß war damals eine schreckliche Einöde und ist es auf einem Teile seines Laufes noch heute.

Gegen Ende der zweiten Woche entdeckten sie aber eines Tages im Schlamm am westlichen Ufer menschliche Fußspuren. Man hatte sie vor den Indianern am Flusse gewarnt, die so wild und erbarmungslos wie der Flußdämon sein und alle Fremdlinge vernichten sollten, auch wenn sie von diesen nicht gereizt würden; nichtsdestoweniger marschierten Joliet und Marquette ins Land hinein, um die Urheber der Fußspuren aufzusuchen. Sie fanden sie auch bald und wurden feierlich empfangen und gut behandelt, d. h. falls man von einem feierlichen Empfang reden darf, wenn der Indianerhäuptling, um sich im besten Lichte zu zeigen, seinen letzten Lappen vom Leibe nimmt, sofern es eine gute Behandlung ist, wenn Fisch, Fleischbrühe und andere Speisen, darunter auch Hundefleisch, einem im Überfluß vorgesetzt und diese Dinge einem von den bloßen Fingern der Indianer in den Mund geschoben werden. Am nächsten Morgen begleitete der Häuptling mit sechshundert seiner Stammesgenossen die Franzosen nach dem Flusse zurück und sagte ihnen in freundschaftlicher Weise Lebewohl.

Auf den Felsen oberhalb der jetzigen Stadt Alton fanden die Franzosen einige rohe und phantastische indianische Zeichnungen, die von ihnen beschrieben wurden. Eine kleine Strecke weiter abwärts »stürzte sich ein Strom gelben Schlammes quer in das ruhige blaue Wasser des Mississippi, kochend, brausend und Stämme, Äste und entwurzelte Bäume mit sich führend.« Das war die Mündung des Missouri, »jenes wilden Flusses, der nach seinem tollen Laufe durch ein ungeheures unbekanntes Gebiet des Barbarentums seine trüben Fluten in den Schoß seiner sanfteren Schwester ergießt.«

Dann kamen sie bei der Mündung des Ohio vorbei; sie passierten Rohrdickichte, kämpften gegen die Muskitos, trieben Tag für Tag durch die tiefe Stille und Einsamkeit des Flusses dahin, unter dem dürftigen Schatten der als Notbehelf dienenden Sonnenzelte schlummernd und in der Sonnenhitze bratend; sie trafen noch einen anderen Trupp Indianer, tauschten Höflichkeiten mit denselben aus und erreichten endlich, etwa einen Monat nach dem Aufbruch, die Mündung des Arkansas, wo ihnen eine Schar Wilder mit Kriegsgeheul entgegenstürmte, um sie zu ermorden, doch flehten sie zur heiligen Jungfrau um Hilfe, und anstatt eines Kampfes wurde ein Fest gefeiert, bei welchem freundschaftliche Unterhaltungen geführt und allerlei Kurzweil getrieben wurden.

Nach ihrer Überzeugung hatten sie nachgewiesen, daß der Mississippi sich nicht in den Golf von Kalifornien oder ins atlantische Meer ergösse; sie glaubten, er münde in den Golf von Mexiko, und kehrten um und brachten ihre große Neuigkeit nach Kanada.

Allein der Glaube ist noch kein Beweis, und es war La Salle vorbehalten, diesen Beweis zu liefern. Er wurde in ärgerlicher Weise bald durch diesen, bald durch jenen Unfall aufgehalten, allein schließlich brachte er um das Ende des Jahres 1681 seine Expedition doch in Gang. Mitten im Winter traten er und sein Lieutenant Henry de Tonty, der Sohn Lorenzo Tontys, des Erfinders der Tontine, mit einem Gefolge von achtzehn Indianern, die sie von Neu-England mitgebracht hatten, sowie dreiundzwanzig Franzosen die Reise den Illinois hinab an, und zwar marschierten sie zu Fuß auf der Eisdecke des Flusses hin, während sie ihre Kanoes auf Schlitten hinter sich herzogen.

Nachdem sie beim Peoriasee offenes Wasser getroffen hatten, ruderten sie von dort nach dem Mississippi und wandten dann den Bug ihrer Fahrzeuge nach Süden. Sie arbeiteten sich durch die treibenden Eisfelder, an der Mündung des Missouri und später auch an derjenigen des Ohio vorüber, »glitten an den Einöden der den Fluß einfassenden Sümpfe vorbei und landeten am 24. Februar bei den ›Dritten Chikasaw-Klippen‹, wo sie Halt machten und das Fort Prudhomne anlegten.«

»Dann – erzählt Parkman – schifften sie sich wieder ein, und mit jedem Schritte ihrer abenteuerlichen Reise enthüllte sich ihnen mehr und mehr das Geheimnis dieser ungeheuren neuen Welt. Immer weiter kamen sie in das Reich des Frühlings: das verschleierte Licht der Sonne, die warme schwüle Luft, das zarte Laubwerk, die sich öffnenden Blüten waren ihnen Zeichen des wiedererwachenden Lebens der Natur.«

Tag für Tag trieben sie im Schatten dichter Waldungen die großen Biegungen des Flusses hinab, bis sie endlich bei der Mündung des Arkansas eintrafen. Anfänglich wurden sie von den Eingeborenen dieser Gegend in derselben Weise begrüßt, wie Marquette von ihnen empfangen war – mit dem Getöse der Kriegstrommel und dem Klirren der Waffen. Bei Marquette hatte die heilige Jungfrau die Schwierigkeit beseitigt, bei La Salle geschah dies durch die Friedenspfeife. Der weiße Mann und die Rothaut reichten sich die Hand und unterhielten sich drei Tage lang miteinander. Dann errichtete La Salle vor den staunend zuschauenden Wilden ein Kreuz mit dem französischen Wappen und nahm – nach der unverschämten Sitte jener Zeit – für den König Besitz von dem ganzen Lande, während der fromme Priester die Räuberei mit einer Hymne segnete. Um die Wilden zu retten, erklärte der Priester ihnen ›mittelst Zeichen‹ die Geheimnisse des Glaubens und entschädigte sie auf diese Weise durch mögliche Besitztümer im Himmel für die wirklichen auf Erden, deren man sie soeben beraubt hatte. Und in derselben Weise veranlagte La Salle diese einfachen Kinder des Waldes durch Zeichen dazu, daß sie Ludwig dem Verdorbenen, der sich jenseit des Wassers befand, huldigten. Niemand lächelte über solche kolossale Ironie.

Diese Förmlichkeiten geschahen an der Stelle, wo später die Stadt Napoleon im Staate Arkansas gebaut wurde. Dort wurde das erste Konfiszierungskreuz an den Ufern des großen Flusses errichtet. Die Entdeckungsreise Marquettes und Joliets endet an demselben Orte – der Stelle der zukünftigen Stadt Napoleon. Auch De Soto befand sich, als er in jenen fernen Zeiten den Blick auf den großen Fluß warf, an demselben Orte – der Stelle der zukünftigen Stadt Napoleon im Staate Arkansas. Mithin sind drei von den vier denkwürdigen Ereignissen, welche mit der Entdeckung und Erforschung des mächtigen Stromes verknüpft sind, zufälligerweise an einem und demselben Orte passiert. Es ist ein höchst seltsamer Zufall, wenn man darüber nachdenkt: Frankreich hat das ungeheure Land an dieser Stelle, der Stelle des zukünftigen Napoleon gestohlen, und später mußte Napoleon selbst das Land zurückgeben, allerdings nicht seinen Eigentümern, sondern den sie beerbenden weißen Amerikanern!

Die Reisenden setzten darauf die Fahrt fort, landeten hier und da, »passierten die später historisch gewordenen Stellen von Vicksburg und Grand Gulf« und besuchten einen mächtigen Häuptling des Tachelandes, dessen ansehnliche Hauptstadt aus Backsteinen bestand, die an der Sonne getrocknet und mit Stroh vermischt waren. Jene Häuser waren meist besser, als man sie heute in der Gegend findet. Die Wohnung des Häuptlings besaß eine Halle von vierzig Quadratfuß Größe, wo derselbe, umgeben von sechzig in weiße Mäntel gehüllten Greisen, Tonty in vollem Staate empfing. Es befand sich auch ein Tempel in der Stadt, von einer Lehmmauer umgeben, die mit den Schädeln der der Sonne geopferten Feinde verziert war.

Darauf besuchten die Reisenden die Natchez-Jndianer in der Nähe der Stelle, wo jetzt die Stadt dieses Namens steht; sie fanden dort »religiösen und politischen Despotismus, eine von der Sonne abstammende privilegierte Klasse, einen Tempel und ein heiliges Feuer«. Es muß ihnen also geschienen haben, als wären sie wieder in ihre alte Heimat zurückgekehrt, nur mit dem Vorteil, daß Ludwig XIV. hier fehlte.

Nach Verlauf einiger weiterer Tage stand La Salle unter seinem Konfiszierungskreuze am Zusammenfluß der Gewässer aus Delaware, Itaska und von den Bergketten am Pazifik mit denjenigen des Golfs von Mexiko: seine Aufgabe war beendet, sein Ziel erreicht. Parkman sagt am Schluß seiner interessanten Schilderung:

»An jenem Tage erhielt das französische Reich einen ungeheuren Zuwachs. Die fruchtbaren Ebenen von Texas, das ungeheure Becken des Mississippi, von den gefrorenen Quellen im Norden bis zu den heißen Küsten des Golfes, von den bewaldeten Abhängen des Alleghanygebirges bis zu den kahlen Spitzen der Felsenberge, ein Gebiet von Savannen und Wäldern, von der Sonnenhitze gespaltenen Wüsten und mit Gras bewachsenen Prairieen, von etwa tausend Flüssen bewässert und von tausend kriegerischen Stämmen bewohnt, kam unter das Szepter des Sultans von Versailles, und zwar durch eine schwache, menschliche Stimme, die kaum eine halbe englische Meile weit zu hören war.«

Der Entwicklung von Handel und Verkehr schien nun nichts mehr im Wege zu stehen. Allein die Ansiedlung längs der Ufer vollzog sich ebenso ruhig, allmählich und langsam, wie die Entdeckung und Erforschung. Es vergingen siebzig Jahre nach der Erforschung des Flusses, ehe seine Ufer eine nennenswerte weiße Bevölkerung hatten, und beinahe weitere fünfzig Jahre, bis der Fluß einen Verkehr bekam. Der erste Verkehr des Stromes fand in großen Leichtern und Flachboten statt, die von den oberen Flüssen nach New-Orleans hinabtrieben oder segelten, dort ihre Ladungen austauschten und in mühevoller Weise vermittelst ›Warpanker‹ und ›Staken‹ zurückgebracht wurden. Eine Reise den Fluß hinab und wieder zurück nahm zuweilen neun Monate in Anspruch. Mit der Zeit nahm dieser Verkehr zu, bis derselbe ganzen Scharen rauher, abgehärteter Leute Beschäftigung gab, ungebildeten aber braven Burschen, welche die fürchterlichsten Strapazen mit seemännischem Stoicismus ertrugen, stark tranken, an rohen Vergnügungen und Faustkämpfen Gefallen fanden, ihr Geld vergeudeten, am Ende der Reise bankerott waren, barbarischen Schmuck liebten und in der fürchterlichsten Weise prahlten; im großen und ganzen aber Leute, die ehrlich, zuverlässig, pflichtgetreu und oft romantisch großmütig waren.

Nach und nach trat dann das Dampfboot auf. Etwa fünfzehn bis zwanzig Jahre setzten diese Leute ihre Flachbootfahrten stromab noch fort, während die Dampfboote den ganzen Verkehr stromaufwärts besorgten. Die Flachbootbesitzer verkauften ihre Fahrzeuge in New-Orleans und kehrten als Deckspassagiere auf den Dampfern in die Heimat zurück.

Nach einer Weile nahmen die Dampfboote so sehr an Zahl und Schnelligkeit zu, daß sie den ganzen Verkehr bewältigen konnten, und nun ging die Flachbootfahrt ihrer vollständigen Auflösung entgegen. Die Flachbootleute wurden Deckarbeiter, Steuerleute und Lotsen auf den Dampfern, oder suchten, wenn sie auf diesen nicht ankommen konnten, Beschäftigung auf den Pittsburger Kohlenleichtern oder den in den Wäldern am oberen Mississippi gebauten Flößen von Fichtenholz.

In der regsten Zeit der Dampfschiffahrt war der Fluß von einem Ende bis zum anderen mit Kohlenleichtern und Holzflößen bedeckt, die sämtlich von Menschenkraft bewegt wurden und großen Scharen jener vorstehend geschilderten, rauhen Charaktere Beschäftigung gaben. Ich erinnere mich wohl noch der mächtigen Flöße, welche während meiner Knabenzeit alljährlich in ganzen Prozessionen bei Hannibal vorbeizugleiten pflegten, jedes von weißen, lieblich nach Harz duftenden Planken, beinahe einen ›Morgen‹ Fläche einnehmend, bedeckt. Sie hatten meistens eine Mannschaft von zwei Dutzend oder mehr Leuten und trugen auf dem geräumigen Deck drei bis vier Hütten zum Schutz gegen Sturm und Wetter. Die rauhen Manieren und prahlerischen Gespräche der Flößer sind mir ebenfalls noch in guter Erinnerung, da wir oft eine Viertelmeile oder weiter in den Fluß hinaus zu schwimmen pflegten, um auf die Flöße zu klettern und eine Strecke mitzufahren.

Vorwort

Vorwort

Lehr- und Wanderjahre II

Das vorliegende Buch ist lediglich eine Erzählung persönlicher Erlebnisse und erhebt keinen Anspruch auf geschichtlichen Wert oder philosophische Tiefe. Dasselbe enthält die Schilderung eines mehrjährigen bunten Nomadenlebens. Trotzdem bietet das Bändchen einige Belehrung und zwar Belehrung über einen interessanten Abschnitt in der Geschichte des fernen Westens, über welchen bis jetzt noch niemand auf Grund eigener Anschauungen und Erlebnisse Bericht erstattet hat. Ich meine damit Entstehung, Wachstum und Höhepunkt des Silberfiebers in Nevada. Es ist dies eine in mancher Beziehung merkwürdige Erscheinung, die bis jetzt die einzige ihrer Art in jenem Lande geblieben ist und dies voraussichtlich auch für alle Zukunft bleiben wird.

Ja, alles in allem, enthält das Buch sogar recht viel Belehrendes. Es thut mir dies herzlich leid, allein es läßt sich wirklich nicht ändern; die Belehrung dringt mir eben, wie es scheint, zu allen Poren heraus. Ich hätte oft gerne alles darum gegeben, meine Kenntnisse für mich behalten zu können, aber es geht nun einmal nicht. Je mehr ich die Quellen verstopfe, desto mehr Belehrung sickert durch. Deshalb kann ich vom Leser nur Nachsicht, keine Verzeihung erwarten.

Erstes Kapitel

Erstes Kapitel

Mein Bruder war soeben zum ›Sekretär‹ des Territoriums Nevada ernannt worden – einem Amt von solcher Erhabenheit, daß es die Obliegenheiten und Würden eines Schatzmeisters, obersten Rechnungsbeamten, Staatssekretärs und im Fall der Abwesenheit des wirklichen Gouverneurs auch die dieses letzteren in sich vereinigte. Eine Jahresbesoldung von 1800 Dollars und der Titel ›Mr. Secretary‹ verliehen dieser hohen Stellung eine gewisse Großartigkeit. Jung und unerfahren, wie ich war, beneidete ich meinen Bruder. Seine hervorragende und finanziell glänzende Stellung stach mir in die Augen, ganz besonders aber die lange, eigenartige Reise, die er machen, und die wunderbare neue Welt, die er kennen lernen sollte. Er durfte reisen! Ich war niemals – abgesehen von meinen Fahrten auf dem Mississippi – von Hause weg gewesen, und das Wort ›reisen‹ hatte einen verführerischen Reiz für mich. Gar nicht mehr lange sollte es anstehen, und er wäre hundert und aber hundert Meilen weit fort auf den großen Prairieen und Wüsteneien inmitten der Gebirge des fernen Westens, bekäme Büffel, Indianer, Prairiehunde und Antilopen zu sehen und allerlei Abenteuer zu bestehen, würde vielleicht sogar gefangen oder skalpiert; und dieses herrliche Leben nähme niemals ein Ende, er würde alles nach Hause berichten und ein berühmter Mann werden. Weiter würde er die Gold- und Silberminen sehen und vielleicht am Abend nach vollbrachtem Tagewerk zwei oder drei Körbe voll glänzender gold- und silberhaltiger Klumpen draußen am Bergeshang auflesen. Und mit der Zeit würde er gewaltig reich werden, würde auf dem Seewege heimkehren und imstande sein, so ruhig über San Francisko, den Ozean und den Isthmus zu sprechen, als wäre gar nichts dabei, diese Wunderdinge mit eigenen Augen geschaut zu haben. Die Qualen, die ich litt, wenn ich mir sein Glück ausmalte, kann keine Feder schildern. Wie er mir nun auf einmal in aller Seelenruhe die herrliche Stellung als Privatsekretär unter ihm antrug, war es mir, als schwinde Himmel und Erde dahin, und das Firmament rollte sich vor meinen Augen auf wie ein Pergament! Ich hatte keinen Wunsch mehr. Ich war vollkommen zufrieden. Binnen einer oder zwei Stunden war ich reisefertig. Viel einzupacken brauchte ich nicht, indem wir von der Grenze von Missouri aus mit der Überlandpost nach Nevada fuhren und jeder Passagier nur ganz wenig Gepäck mitnehmen durfte. Eine Pacificbahn gab es zu dieser schönen Zeit noch nicht – noch keine Schwelle dazu war gelegt.

Meine Absicht war, nur drei Monate in Nevada zu bleiben – mich länger daselbst aufzuhalten, kam mir nicht in den Sinn. Ich gedachte innerhalb dieser Zeit soviel Neues und Seltsames zu sehen, als nur möglich; und dann schleunigst wieder an meine Geschäfte nach Hause zurückzukehren. Ich ahnte nicht, daß ich das Ende dieses auf drei Monate berechneten Vergnügungsausfluges erst nach sechs oder sieben ungewöhnlich langen Jahren erleben sollte!

Die ganze Nacht träumte ich von Indianern, Wüsten und Silberbarren und am folgenden Tage schifften wir uns rechtzeitig an der Werfte von St. Louis auf einem den Missouri hinauffahrenden Dampfer ein. Wir brauchten sechs Tage von St. Louis nach St. Joseph – eine Fahrt, so träge, so schläfrig und ereignislos, daß dieselbe nicht mehr Eindruck in meinem Gedächtnis hinterlassen hat, als hätte sie sechs Minuten gedauert anstatt ebenso viel Tage. Keine andere Erinnerung ist mir davon geblieben, als an einen verworrenen Knäuel wildgestalteter Baumwurzeln, über welche wir geflissentlich mit dem einen oder andern Rade hinfuhren; an Riffe, auf welche wir immer und immer wieder aufstießen, um uns dann von denselben zurückzuziehen und besseres Fahrwasser aufzusuchen; endlich an Sandbänke, auf denen wir gelegentlich sitzen blieben und eine unfreiwillige Rast hielten, worauf wir dann unsere Krücken hervorholten und darüber hinweg humpelten. Wahrhaftig, das Boot hätte fast ebenso gut zu Land nach St. Joseph fahren können, machte es doch nahezu die ganze Zeit seinen Weg auf dem Trockenen – indem es mit ebenso viel Geduld als Emsigkeit den ganzen Tag über Riffe kletterte und über Baumstümpfe hinrutschte. Der Kapitän meinte, es sei »das reinste Renommierboot«, es fehle ihm nur mehr Schneid und ein größeres Rad. Mir kam es vor, als hätte dasselbe ein paar Stelzen brauchen können, ich war jedoch weise genug, diesen Gedanken nicht laut werden zu lassen.

Zweites Kapitel

Zweites Kapitel

Das erste, was wir an dem Abend unserer glücklichen Ankunft in St. Joseph thaten, war, im Sturmschritt nach dem Postamt zu laufen und uns zwei Karten, jede für 150 Dollars, zur Fahrt mit der Überlandkutsche nach Carson City in Nevada zu nehmen. In der Frühe des nächsten Morgens nahmen wir zunächst hastig ein Frühstück ein und eilten dann nach dem Abfahrtsplatze. Nun zeigte sich eine Widerwärtigkeit, die wir vorher nicht gebührend bedacht hatten, nämlich, daß ein schwerer Reisekoffer nicht für fünfundzwanzig Pfund Gepäck mitgehen kann, weil er eben viel schwerer ist. Aber es half nichts – mehr als fünfundzwanzig Pfund auf die Person war nicht zulässig. So mußten wir unsere Koffer aufschnallen und in gehöriger Schnelligkeit eine Auswahl treffen. Wir packten unsere vorschriftsmäßigen fünfundzwanzig Pfund in einen Mantelsack zusammen und schickten die Koffer zu Schiffe nach St. Louis zurück. Es war ein trauriger Abschied, denn nun hatten wir ja keine Fräcke und weißen Glacéhandschuhe mehr für die Abendgesellschaften bei den Pawnees im Felsengebirge, keine Angströhren und Glanzlederstiefel und was sonst dergleichen für die Ruhe und den Frieden des irdischen Daseins unentbehrliche Dinge sind. Wir waren auf Feldration gesetzt. Wir legten jeder einen schweren, groben Anzug an, dazu ein wollenes Soldatenhemd und Aufschlagstiefel, in den Mantelsack stopfen wir einige weiße Hemden, etwas Unterzeug und dergleichen. Mein Bruder, der Sekretär, nahm ungefähr vier Pfund Regierungsverordnungen und ein sechspfündiges Wörterbuch mit, wir wußten ja nicht, wir armen, grünen Jungen – daß man das alles in San Francisco bestellen und in wenigen Tagen in Carson City haben konnte. Meine Bewaffnung bestand in einem elenden, kleinen, siebenläufigen Revolver von Smith & Wesson mit Kugeln von der Größe homöopathischer Pillen, die alle sieben nötig waren, um einem Erwachsenen genug zu geben. Trotzdem hielt ich denselben für etwas Großartiges und meinte, es sei eine ganz gefährliche Waffe. Er hatte nur einen Fehler – man traf schlechterdings nichts damit. Einer unserer Kondukteure zielte eine zeitlang mit demselben auf eine Kuh, und so lange dieselbe still stand und sich ruhig verhielt, blieb sie unversehrt; sobald sie jedoch anfing sich herumzubewegen und er nach anderen Zielen schoß, kam sie zu Schaden. Der Sekretär hatte zum Schutz gegen die Indianer einen Colt-Revolver umgeschnallt, den er zur Verhütung von Unfällen ohne aufgesetzte Zündhütchen trug. Herr Georg Bemis aber – dies war der Name unseres Reisegeführten, den wir zuvor noch nie gesehen hatten, – war furchtbar gewappnet. Er trug im Gürtel einen Allen-Revolver von jenem ursprünglichen Bau, welcher von respektlosen Menschen gerne als ›Pfefferbüchse‹ bezeichnet wird. Sobald man den Drücker zurückzog, krachte die Pistole los. Beim Zurückziehen des Drückers fing nämlich der Hammer an, sich zu heben und die Trommel sich zu drehen, dann fiel der Hammer sogleich wieder herunter und die Kugel war draußen. Daß man hätte zielen können, während die Trommel herum ging, und das Ziel getroffen hätte, das war bei einem Allenn-Revolver vermutlich auf der ganzen Welt überhaupt noch nicht vorgekommen. Trotzdem war der unseres Georg eine ganz vertrauenswürdige Waffe, indem derselbe, wie einer unserer Postillone später einmal meinte »in jedem Falle irgend etwas traf,« wenn er auch das nicht bekam, worauf er zielte. Und so war es auch. Einmal zielte sein Besitzer mit demselben auf ein an einen Baum genageltes Pique-Aß und traf einen Maulesel, der etwa dreißig Ellen links davon stand. Bemis brauchte den Maulesel nicht, allein der Eigentümer erschien mit einer Doppelbüchse und überredete ihn, denselben trotzdem zu kaufen. Ja, es war eine herrliche Waffe, der ›Allen‹. Manchmal gingen alle sechs Läufe auf einmal los, und dann war man in der ganzen Umgegend nirgends seines Lebens sicher, außer in einiger Entfernung hinter demselben.

Zum Schutz gegen Frostwetter im Gebirge nahmen wir zwei oder drei Wolldecken mit. Was Luxusgegenstände betraf, so waren wir bescheiden; außer ein paar Pfeifen und fünf Pfund Rauchtabak nahmen wir keine solchen mit. Dagegen hatten wir zwei große Lederflaschen bei uns, um darin zwischen den Stationen auf der großen Ebene Wasser mitzuführen, außerdem nahmen wir noch ein Säckchen mit Silbergeld mit für die täglichen Ausgaben beim Frühstück und Mittagessen. Um acht Uhr befand sich alles reisefertig auf der anderen Seite des Flusses. Wir hüpften in den Wagen, ein Peitschenknall des Kutschers, und wir rasselten dahin und ließen die ›Staaten‹ hinter uns.

Es war ein prachtvoller Sommermorgen und die ganze Landschaft erglänzte im Sonnenschein. Dabei war es so frisch und lustig, und wir hatten ein Gefühl der Befreiung von Sorgen und Verantwortlichkeiten aller Art, das uns beinahe die Empfindung gab, als seien all die Jahre, die wir in der heißen Stadt unter Qual und Arbeit verbracht hatten, verloren und weggeworfen. Wir schoben uns weiter durch Kansas und nach Verlauf von anderthalb Stunden waren wir schon ziemlich weit auf der großen Ebene. Hier begann gerade das wellenförmige Gelände – eine großartige Folge regelmäßiger Hebungen und Senkungen, soweit das Auge reichte – ein Wogen und Schwellen, gewaltig, wie auf dem Busen des Ozeans nach dem Sturm. Dazwischen allenthalben Kornfelder, durch ihr tieferes Grün die endlose Grasfläche unterbrechend; dann aber verlor dieses wasserlose Meer plötzlich wieder seine wogende Oberfläche, um sich siebenhundert Meilen weit, flach wie die Dielen eines Stubenbodens, hinzustrecken.

Unsere Kutsche war ein großer schwankender und schaukelnder Kasten mächtigen Kalibers – eine gewaltige Wiege auf Rädern. Sie wurde von sechs hübschen Pferden gezogen, und neben dem Kutscher saß der ›Kondukteur‹, unter dessen Leitung bestimmungsgemäß das Ganze stand, soferne ihm die Besorgung der Briefpost, der Packereien, des Eilguts sowie der Passagiere oblag. Wir drei waren bis jetzt die einzigen. Wir saßen innen auf dem Rücksitz. Fast der ganze übrige Innenraum war von Postsäcken eingenommen, wir nahmen nämlich die liegengebliebene Post von drei Tagen mit. Eine senkrechte Wand von Poststücken, an welche wir fast mit den Knieen anstießen, erhob sich beinahe bis zum Dach des Wagens. Auf dem letzteren war ebenfalls ein großer Haufen davon aufgeschnallt. Die vordere wie die hintere Schoßkelle waren damit angefüllt. Siebenundzwanzighundert Pfund davon hatten wir bei uns, wie der Kutscher sagte – »ein wenig für Brigham, für Carson und Frisco, aber das Meiste für die Indianer, die gewaltig eklig werden, wenn sie nicht immer eine Masse Zeug zu lesen haben.« Dabei verzog er jedoch sein Gesicht gräßlich, offenbar als Einleitung zu einem markerschütternden Ausbruch seiner Heiterkeit, und daran merkten wir, daß seine Bemerkung spaßhaft gemeint gewesen war, und hatte besagen sollen, wir würden unsere Postsachen zum größten Teile irgendwo auf der Ebene für die Indianer oder anderweitige Liebhaber abladen.

Alle zehn Meilen wechselten wir die Pferde, einen Tag wie den andern, und flogen lustig auf der harten ebenen Straße dahin. So oft der Wagen hielt, sprangen wir hinaus, um unsere Beine zu recken, und so fand uns die Nacht noch frisch und unermüdet.

Nach dem Abendessen stieg eine Frauensperson ein, die ungefähr fünfzig Meilen weiter zu Hause war und wir drei andern mußten nun abwechselnd beim Kutscher und Kondukteur Platz nehmen. Offenbar gehörte sie nicht zu den gesprächigen weiblichen Wesen. Da saß sie in dem immer mehr verblassenden Dämmerlicht und heftete ihre starren Augen auf eine Stechfliege, die sich an ihrem Arm festsog, dann erhob sie langsam die andere Hand, bis sie die Entfernung richtig abgemessen hatte, und versetzte ihr einen Schlag, der eine Kuh hätte zu Boden strecken können; hierauf betrachtete sie den Leichnam mit ruhiger Befriedigung – sie fehlte ihre Fliege niemals und traf ihr Ziel mit todbringender Sicherheit. Die Leiche beseitigte sie nie, ließ sie vielmehr als Köder liegen. Ich saß neben dieser grimmen Sphinx und sah zu, wie sie dreißig bis vierzig Fliegen totschlug – sah zu und wartete auf ein Wort aus ihrem Munde, jedoch vergeblich. So begann ich selbst endlich die Unterhaltung. Ich sagte:

»Die Stechfliegen sind recht schlimm hier herum, Madam.«

»Ah was!«

»Wie meinten Sie, Madam?«

»Ah was!«

Nun wurde sie munter und sagte, um sich blickend:

»Ich will verdammt sein, wenn ich euch Kerle nicht für Taubstumme gehalten habe. Ja, bei Gott. Da bin ich gesessen und gesessen und habe Fliegen totgeschlagen und mir den Kopf zerbrochen, was euch fehlt. Erst dachte ich, ihr wäret taubstumm, dann, ihr wäret krank oder verrückt oder so ‚was, und nach und nach kam ich darauf, ihr müsset ein paar traurige Narren sein, die nichts zu reden wissen. Woher kommt ihr?«

Die Sphinx war keine Sphinx mehr! Die Brunnen der großen Tiefe waren bei ihr aufgegangen und sie ließ alle neun Redeteile vierzig Tage und vierzig Nächte lang auf uns herab regnen, bildlich gesprochen, und übergoß uns mit einer solchen trostlosen Sintflut trivialen Geschwätzes, daß aus der tosenden Wüste von grammatischen Fehlern und schlechter Aussprache nicht einmal eine Felsspitze oder Zacke mehr hervor schaute, an die sich eine Erwiderung hätte knüpfen lassen. Was mußten wir erdulden! Stunde für Stunde machte sie fort, bis es mir leid that, daß ich überhaupt die Moskitofrage eröffnet und ihr damit den Anstoß gegeben hatte. Erst, als sie gegen Tagesanbruch an ihrem Ziele anlangte, hörte sie endlich auf; beim Aussteigen weckte sie uns (wir waren nämlich eben ein wenig eingenickt) und sagte:

»Nun, steiget in Cottenwood aus, ihr Kerle, und bleibet ein paar Tage dort liegen, ich komme dann abends eine Weile hinüber, und wenn es euch recht ist, daß ich hie und da ein Wort dazwischen rede, so bin ich bereit dazu. Die Leute werden euch sagen, daß ich für eine Hinterwäldlerin immer etwas Vornehmes und Besonderes an mir gehabt habe, und so bin ich auch gegen das Lumpenpack und so muß ein Weibsbild auch sein, wenn sie was sein will, aber wenn Leute daherkommen, die meinesgleichen sind, so bin ich, glaub‘ ich, eigentlich ein ganz zuthuliches Kühlein.«

Wir beschlossen, in Cottenwood nicht liegen zu bleiben.

  1. Brigham Joung, das bekannte Oberhaupt der Mormonen.
  2. Abkürzung von San Francisco.