Knabenjahre am Mississippi

Knabenjahre am Mississippi

Als ich ein Knabe war, gab es unter meinen Kameraden in unserem Heimatsort am westlichen Ufer des Mississippi nur einen beständigen Ehrgeiz. Es war der: ein ›Dampfbootmann‹ zu werden. Wohl hatten wir hin und wieder flüchtige Begierden anderer Art, aber sie waren nur vorübergehend. Wenn ein Zirkus erschien und wieder davon zog, so brannten wir eine Zeitlang nach der Lebensstellung eines Clowns. Die erste Negerminstrel-Gesellschaft, welche in unsrer Gegend auftauchte, erweckte die Begierde in uns, es mit diesem Beruf zu versuchen. Und es gab sogar Zeiten, in denen wir ernstlich hofften, Gott würde uns, wenn wir gesund und am Leben blieben, Seeräuber werden lassen. Aber alle diese Wünsche und Träume zerrannen wieder, wie sie gekommen waren. Nur der Ehrgeiz, ein Dampfbootmann zu werden, blieb fest in unsren Seelen.

Einmal an jedem Tag kam ein kleines Packboot stromaufwärts von St. Louis, ein anderes thalabwärts von Keokuk, und legten jedesmal bei unserm Städtchen an. Ehe sich dieses Doppelereignis vollzogen hatte, war alles Leben und Erwartung. Sobald es vorüber war, wurde der Tag öde und leer. Noch heute, nach Verlauf all der Jahre, kann ich mir ein getreues Bild von damals machen: die weißen, im Sonnenschein eines heißen Sommermorgens träumenden Häuser; die Gassen öde oder doch nahezu so; vor den Läden der Uferstraße ein oder zwei Commis, die auf ihren hintenüber an die Wand gelehnten Holzstühlen eingeschlafen waren – das Kinn auf der Brust, den Schlapphut tief über das Gesicht gezogen – rings herum eine Menge Holzschnitzel und Spähne, die über den Zeitvertreib, welcher sie derartig erschöpft hatte, keinen Zweifel ließen; auf dem Seitenweg spazierte ein Mutterschwein mit seinen Jungen und thaten sich an Abfällen von Wassermelonen gütlich; am Landungsplatz lagen zwei oder drei Haufen von Frachtstücken und ein Ballen Häute umher, in deren Schatten der alkoholduftende Trunkenbold des Ortes seinen Morgenrausch verschlief; am Ende der Landungsbrücke schaukelten ein paar Flachboote auf dem Wasser, aber nirgends war eine Menschenseele, um dem leisen Getön der anschlagenden Wellen zu lauschen; und endlich der große und majestätische Mississippi mit seiner meilenbreit in der Sonne leuchtenden Flut, den dichten Waldungen des entgegengesetzten Gestades und seinen Landzungen oberhalb und unterhalb des Städtchens, wodurch er den Blick begrenzt und wie ein stiller und großartiger See erscheint. Plötzlich steigt ein schwarzes Rauchwölkchen hinter einer jener fernen Landzungen empor und ein farbiger Lastträger, weit berühmt durch sein scharfes Auge und seine Stentorstimme, stößt den Ruf aus: »D-a-mpf-b-o-o-t k-o-mmt«, und wie mit einem Zauberschlag ist die Szene verwandelt! Der Ortstrunkenbold reibt sich die Augen; die Ladendiener erwachen; Wagenrasseln und Karrenrollen ertönt; jedes Haus und jeder Laden entsendet einen Beitrag in Menschengestalt zu dem plötzlich das Ufer erfüllenden Leben, und im Handumdrehen ist das ganze Städtchen, eben noch Schlaf und Tod, ganz und gar Leben und Bewegung. Lastwagen, Schubkarren, Packträger, Arbeiter, Männer und Knaben hasten und eilen von allen Seiten her nach dem gemeinsamen Ziel des Landungsplatzes. Dort angelangt heften sich alle Blicke auf das herandampfende Boot, als wäre es ein Wunder, das sich ihnen zum erstenmale enthüllt. Und es ist auch thatsächlich ein wunderhübscher Anblick – dieses Boot, wie es scharf, sicher und selbstbewußt einherbraust. Es hat zwei hohe, oben verzierte Rauchfänge, zwischen denen ein goldenes Emblem in der Sonne glitzert; das ganz aus Glas und zierlichem Holzwerk bestehende Pilotenhäuschen ragt vom obersten Deck wie ein Zuckerbäckerkunstwerk empor; die Radkasten tragen die Namen des Bootes inmitten eines goldenen Strahlenkranzes; die verschiedenen Decks sind von sauberen weißen Geländern eingefaßt; vom Flaggenstock flattert grüßend eine prächtige Flagge hernieder; die Thüren des Heizraumes sind weit geöffnet, und die Feuer glühen lustig; die oberen Decks sind ganz schwarz voll Passagiere; der Kapitän steht oben neben der großen Glocke, stattlich und ruhig – die Bewunderung und der Neid aller; große, schwarze Massen chaotischen Rauches quellen aus den Schornsteinen – ein billiges Schauspiel, das von den Heizern dadurch hervorgebracht wurde, daß sie kurz vor der Ankunft an einem Halteplatz ein Stück harziges Pitch-Pine (das amerikanische Tannenholz) in die Feuer warfen; die Mannschaft ist auf dem Vorderdeck gruppiert; die Landungsbrücke ragt über die Seite des Boots hervor, und der beneidenswerteste aller Matrosen steht, das Ende eines dicken Taues in der Hand, malerisch und weithin sichtbar auf ihr. Jetzt tönt ein lautes Schrillen aus dem kleinen Dampfrohr, der Kapitän hebt die Hand, eine Glocke läutet, die Räder stoppen, dann schlagen sie rückwärts, das Wasser zu Schaum peitschend, und der Dampfer steht regungslos. Nun entsteht ein toller Wirrwarr, indem die einen ans Land, die andern an Bord drängen, und gleichzeitig die Frachtstücke eingeladen und ausgeladen werden; – dazwischen schreit und flucht die Mannschaft, um sich die Arbeit zu erleichtern. Zehn Minuten später, und alles ist vorüber; der Dampfer ist wieder in Fahrt; schon treibt er mitten im Strom dahin, ohne Flagge am Stock und ohne das Schauspiel qualmender Schornsteine. Nach abermals zehn Minuten verschwindet er hinter der entgegengesetzten der beiden Landzungen, und der Ort ist in seine alte Totenstille und der Ortstrunkenbold in seinen Schlummer neben den Häuten zurückgesunken.

Mein Vater war Friedensrichter des Städtchens und ich glaubte nicht anders, als daß er Gewalt über Leben und Tod aller übrigen Menschen besaß, und jeden, der ihn ärgerte, hängen lassen konnte. Das war genug, um mein Selbstgefühl zu befriedigen, aber der Wunsch, ein Dampfbootmann zu werden, machte sich trotzdem mit immer wachsender Stärke geltend. Zuerst wünschte ich Kajütsjunge zu werden, damit ich beim Anlegen des Bootes in einer weißen Schürze erscheinen und ein Tafeltuch über das Geländer hinweg ausschütteln konnte, wo mich alle meine früheren Kameraden sehen konnten. Später hielt ich es für begehrenswerter, der Matrose zu sein, welcher bei Ankunft des Dampfers mit dem Tau in der Hand auf dem Ende des vorgeschobenen Landungssteges steht, weil derselbe ganz besonders auffällt. Aber das waren nur Träume – zu himmlisch, um auch nur ferne die Annahme, daß sie je Wahrheit werden könnten, aufkommen zu lassen.

Eines Tages verschwand einer unserer Kameraden in der geheimnisvollsten Weise. Wochen und Monate hörte man nichts von ihm. Endlich sahen wir ihn wieder – sahen ihn wieder als Maschinistengehilfen auf einem Dampfboot! Dieser Vorfall schlug das ganze Gebäude meiner in der Sonntagsschule erworbenen Moral in Trümmer. Jener Knabe war von jeher ein notorisches Weltkind gewesen – während ich das gerade Gegenteil war. Und doch hatte ihn das Schicksal so hoch gehoben – während es mich in Dunkelheit und Jammer schmachten ließ. Er trug sein Glück und seine Größe ziemlich protzig zur Schau. Er wußte es stets so einzurichten, daß er, während sein Boot anlegte, irgend etwas zu putzen hatte, und dann stellte er sich gerade so zu seiner Arbeit, daß wir ihn alle sehen und beneiden konnten. Und allemal, wenn sein Boot bis zum nächsten Tage rastete, besuchte er seine Eltern und stolzierte in der Stadt herum in seinen schwärzesten und fettigsten Kleidern, so daß es absolut niemandem entgehen konnte, daß er ein Dampfbootmann sei. Zu gleicher Zeit bediente er sich in seiner Ausdrucksweise mit besonderem Fleiß allerlei technischer, auf Dampfschiffen gebräuchlicher Bezeichnungen und Redewendungen, als sei er so daran gewöhnt, daß er an die gewöhnlichen Menschen, welche nichts davon verstanden, gar nicht dachte. Er konnte von der ›Backbordseite‹ eines Pferdes in einer so ungezwungenen und natürlichen Weise sprechen, daß er den Gutmütigsten von uns wütend machte. Und dann schwatzte er immer von ›Saint Lu–u–y‹, mit einer Betonung, als wäre er einer der ältesten Bewohner jener wundervollen Stadt, und erzählte von dem letzten Feuer daselbst, welches er hatte löschen helfen, und rechnete uns vor, wie vielemale unsre Stadt abbrennen müßte, ehe wir den Ruhm einer solchen Feuersbrunst in Anspruch nehmen dürften. Zwei oder drei von uns hatten sich lange eines besonderen Ansehens erfreut, weil sie einmal in St. Louis gewesen waren und eine vage Idee von seinen Wundern hatten – aber mit ihrem Glanze war es nun aus und vorbei. Sie verfielen in demütiges Stillschweigen und suchten sich zu drücken, so oft der widerwärtige ›Maschinistenaffe‹ erschien. Und nicht genug damit, der Bursche hatte auch Geld und Haaröl dazu. Selbst eine höchst anmaßliche Silberuhr mit einer ganz unleidlich blitzenden Tombakkette besaß er. Hosenträger verachtete er und trug statt ihrer einen ebenso albernen wie auffallenden Lederriemen. Wenn je ein junger Mensch von seinen Kameraden bewundert und gehaßt wurde, so war es dieser. Kein Mädchen konnte ihm widerstehen. Er stach jeden Burschen im Orte aus. Als endlich sein Boot in die Luft flog, erfüllte dies unsre Gemüter mit einer stillen Freude und einer Beruhigung, wie wir sie seit Monaten nicht gekannt hatten. Als er aber eine Woche danach wieder leibhaftig im Städtchen ankam, und über und über mit Pflastern und Binden bedeckt am Sonntag in der Kirche erschien, ein strahlender Held, angestarrt und angestaunt von jedermann: da schien es uns denn doch, als habe die Parteilichkeit der Vorsehung für ein unwertes Reptil einen Grad erreicht, daß die übrige Menschheit zur Kritik herausgefordert wurde.

Das Leben und die Laufbahn dieses Geschöpfes konnte nur eine Folge haben, und dieselbe ließ nicht lange auf sich warten. Knabe um Knabe ging auf den Fluß! Der Sohn des Geistlichen wurde Maschinist; die Söhne des Doktors und des Postmeisters erlangten Stellungen als Gepäck- und Frachtschreiber. Der des Spirituosenhändlers brachte es zum Schenkwirt auf einem Missouriboot. Die vier Jungen des Hauptellenwarenhändlers des Ortes und die zwei des Bezirksrichters endlich wurden Lotsen. Lotsen war das Höchste von allem. Selbst in jenen Zeiten der Sparsamkeit und der geringen Bezahlungen erhielt ein Lotse einen fürstlichen Gehalt: hundertfünfzig bis zweihundertfünfzig Dollars den Monat und alles frei. Zwei Monate seines Einkommens kamen dem Jahresgehalt eines Geistlichen gleich! Man denke sich die Verzweiflung derer von uns, die zurückbleiben mußten, die nicht – wenigstens nicht mit dem Willen ihrer Eltern – auf den Fluß durften!

Und so geschah es denn eines Tages – daß ich durchging! Ich schwur mir zu, niemals zurückzukehren, außer als Lotse und in vollster Glorie. Aber wie ernst ich es auch meinte – es wollte und sollte mir damit nicht glücken. Ich machte in aller Bescheidenheit meine Aufwartung an Bord verschiedener Dampfer, welche, Sardinen gleich zusammengeschichtet, längs der Werft von St. Louis lagen und erkundigte mich demütig nach den Lotsen; wurde aber von den Matrosen und sonstigen Angestellten kurz und kühl abgewiesen. Wohl oder übel mußte ich mir diese Behandlung gefallen lassen und tröstete mich mit den Bildern einer besseren Zukunft, wenn ich ein großer und berühmter Lotse sein würde, mit Geld genug, um einem Heer von diesen Matrosen und Schreibern den Garaus zu machen und den Schaden zahlen zu können.

Drei Monate später – und diese und ähnliche Hoffnungen hatten den Todeskampf in mir gekämpft. Ich erwachte eines Morgens ohne irgend einen Ehrgeiz, aber ich schämte mich, nach Hause zurückzukehren. Ich befand mich gerade in Cincinnati und entschloß mich, an die Wahl eines neuen Lebensberufes zu gehen. Der Zufall wollte, daß ich kurz vorher von den neuesten Entdeckungen im Gebiet des Amazonenstromes durch eine von unsrer Regierung dahin entsendete Erforschungsexpedition gelesen hatte. Es war darin gesagt, daß infolge gewisser unüberwindlicher Schwierigkeiten ein Teil des fraglichen Gebietes, der an den Quellen des Stromes etwa 4000 Meilen von seiner Mündung entfernt lag, unerforscht hatte bleiben müssen. Von Cincinnati nach New-Orleans war es nicht ganz fünfzehnhundert Meilen. Ich hoffte bestimmt, dort ein Schiff zu finden, um damit den Rest der acht- bis zehntausend Meilen nach den Quellen des Amazonenstromes zurückzulegen. Ich hatte gerade noch dreißig Dollars übrig – was konnte ich Besseres damit thun, als hingehen und die Erforschung des Amazonenstromgebietes vollenden? Weitere Gedanken machte ich mir bei der Sache nicht. Es ist nie meine Stärke gewesen, mich mit Kleinigkeiten und Einzelheiten abzugeben. Ich packte meinen Handkoffer und nahm auf einem der ältesten ›Kasten‹, der den Ohio und Mississippi damals unheimlich machte, dem ›Paul Jones‹, Passage nach New-Orleans. Für den Betrag von sechzehn Dollars hatte ich den Vorteil, alleiniger Inhaber der verwitterten und abgeschabten Pracht des ›Hauptsalons‹ zu sein, da das Boot jeden Vorzug der Welt besaß, nur den nicht, anspruchsvollere oder weisere Reisende anzuziehen.

Als wir nun den breiten und grünen Ohio hinabkeuchten, wurde ich plötzlich ein neues Wesen und der Gegenstand meiner eignen Bewunderung. Ich war ein Reisender! Nie schien mir ein Wort in meinem Munde einen so wundervollen Klang gehabt zu haben. Ich hatte ein überströmendes Gefühl, ein schwellendes Bewußtsein in mir, mich auf dem besten Wege nach den geheimnisvollsten Ländern, nach den entlegensten Klimaten zu befinden, – ein Gefühl und ein Bewußtsein, wie ich sie seitdem nie wieder gehabt habe. So erhebend und verklärend waren beide, daß alles unedle Fühlen von mir wich, und ich es sogar über mich vermochte, auf die nicht reisende Welt mit einem Mitleid herabzublicken, welches durch keine Beimischung von Verächtlichkeit entadelt wurde. Dennoch konnte ich es mir nicht versagen, wenn wir an kleinen Städtchen und sonstigen Uferplätzen anlegten, mich nachlässig über das Geländer des obern Decks zu lehnen und mich in dem Neide zu sonnen, den ich der am Landungsplatz versammelten Jugend einflößte. Schien es mir, als ob sie mich nicht entdecken wollte, so hustete ich wohl oder schneuzte mich mit möglichster Deutlichkeit, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen, oder suchte mir einen Platz aus, wo nichts sie davor retten konnte, mich zu sehen. Und sobald sie mich sahen, begann ich zu gähnen, mich zu dehnen und zu räkeln, mit einem Wort in allen jenen Kundgebungen zu ergehen, durch die ein Reisender seine Ermüdung und seinen Widerwillen gegen das Reisen zu erkennen zu geben pflegt.

Gleichzeitig hatte ich es mir zur Regel gemacht, barhaupt einherzugehen und mich möglichst an Plätzen aufzustellen, wo Sonne, Wind und Wetter uneingeschränkte Verfügung über mein Gesicht hätten – alles nur, um das Ansehen eines echten, bronzierten, verwitterten Reisenden zu bekommen. Und in der That, ehe der zweite Tag vorüber war, empfand ich eine Genugthuung, die mich ganz und gar mit Seligkeit erfüllte, denn ich bemerkte, daß meine Haut am Hals und im Gesicht sich abzuschälen begann. Ich wollte nur, die Knaben und Mädchen in meiner Heimat hätten mich jetzt sehen können.

Wir kamen rechtzeitig nach Louisville – oder doch wenigstens in die Nähe, gerieten aber auf die mitten im Fluß befindlichen Felsen und blieben hier so fest sitzen, daß wir erst nach vier Tagen weiter kamen. Was mich anbelangt, so erweckten die gemeinsam überstandenen Schwierigkeiten und Gefahren ein ebenso unwillkürliches wie starkes Gefühl der Zugehörigkeit zu dem Fahrzeug und der auf ihm heimischen Personen in mir. Ich kam mir wie eine Art Sohn des Kapitäns oder ein jüngerer Bruder der Offiziere vor, und vergebens würde ich mich bemühen, dem Stolz Worte zu leihen, der ob dieser eingebildeten Würde mein Herz schwellte, oder die Hingebung zu schildern, die mich an diese Menschen kettete. Allerdings wußte ich damals noch nicht, welche geringe Wertschätzung der flußbeherrschende Dampfbootsmann für derartige Empfindungen einer anmaßenden Landratte zu hegen pflegt! Nur zu bald sollte ich es erfahren.

Vor allen Dingen war es der riesige erste Steuermann, von dem ich um’s Leben gern irgend ein geringes Zeichen der Beachtung erhalten hätte. Mit ängstlicher Aufmerksamkeit lauerte ich auf die Gelegenheit, durch eine kleine Gefälligkeit oder einen Dienst mir diese Gunst des Schicksals zu gewinnen. Endlich bot sie sich dar. Unter dem bei dergleichen Anlässen üblichen Spektakel wurde eine neue Spiere (Ladebaum) auf dem Vorderdeck angebracht. Ich stand in bescheidener Zurückhaltung in der Nähe und sah zu, als plötzlich der Steuermann nach einer Handspake rief. Im Nu war ich an seiner Seite: »Sagen Sie nur, wo sie ist, und ich hole sie.« Wenn ein Lumpensammler der New-Yorker Waterstreet sich plötzlich dem Kaiser von Rußland zu einer diplomatischen Sendung zur Verfügung stellen würde, so könnte dieser in kein größeres Erstaunen versetzt werden, als mein riesiger Steuermann durch mein kleines Anerbieten, ihm die Handspake zu holen. Sogar sein Fluch blieb ihm in der Kehle stecken. Er stand regungslos und starrte zu mir nieder. Mindestens zehn Sekunden kostete es ihm, bis er seine gebannten Geister wieder gesammelt hatte. Dann stieß er mit einem mir unvergeßlichen Ausdruck die Worte hervor: » Well, wenn das nicht über den Teufel geht –«, und machte sich wieder an die Arbeit mit der Miene eines Mannes, dem eben etwas ganz Besonderes in die Quere gekommen war.

Ich schlich mich hinweg und begrub mich für den Rest des Tages in die Einsamkeit meiner Koje. Ich ging nicht zum Mittagessen, und selbst am Abendtisch erschien ich erst, als alle übrigen längst fertig waren. Mein Zugehörigkeitsgefühl zu der Schiffsfamilie war jetzt lange nicht mehr so stark wie vordem. Erst allmählich kehrte mein Mut und mein Selbstvertrauen wieder zurück. Es that mir leid, daß ich gegen den Steuermann mit so bitterem Haß erfüllt war, denn man konnte nicht anders als ihn bewundern. Er war sechs Schuh hoch und hatte die Kraft eines Stiers. Sein Gesicht war ganz und gar bärtig. Auf seinem rechten Arm war eine rote und eine blaue Frau tättowiert, jede mit einem blauen, an rotem Seile hängenden Anker zur Seite. Und endlich war er die Vollkommenheit selbst im Fluchen. Wenn unter seiner Aufsicht Ladung gelöscht oder eingenommen wurde, so stellte ich mich immer so, daß ich alles hören und sehen konnte. Er fühlte die ganze Größe seiner Stellung und versäumte auch keine Gelegenheit, sie der Welt fühlbar zu machen. Selbst den einfachsten Befehl erteilte er, als gelte es, einen plötzlichen Blitz zu schleudern und mit einem lange anhaltenden Donner von Verwünschungen zu begleiten. Man konnte nicht umhin, die Art und Weise, in der eine gewöhnliche Landratte einen Befehl erteilen würde, mit der Großartigkeit, mit der dieser Steuermann es that, zu vergleichen. Eine Landratte, die den Landungssteg um einen oder zwei Fuß weiter vorangeschoben haben wollte, würde sich etwa wie folgt ausgedrückt haben: »James oder William – sei einer von euch so gut, das Brett da vorzuschieben!« Mein Steuermann dagegen ließ aus derselben Veranlassung den folgenden Wortkatarakt los: »Hier, Jungens, das Gangbrett voran! Verd–t noch einmal, vorwärts – sag‘ ich. Was sagt er? Haut ihn auf den Schnabel! Hierher – hier! So, Jungens, – noch ein Stück, – noch eins! Verwünscht, Herr, wollen Sie auf dem Brett einschlafen – oder darauf wohnen bleiben? Weiter nach hinten, sag‘ ich. Genug so! Oder soll es gleich hinten über Bord, he? Wohin geht ihr mit dem verd–ten Faß da? Wenn ihr nicht gleich macht, daß ihr mir damit aus den Augen kommt, laß‘ ich’s euch gleich verschlucken oder ich will des Teufels sein, ihr verd–es Zwitterding von Schildkröte und lahmem Esel!«

Und da sollte man dabeistehen und nicht von dem Wunsch verzehrt werden, ebenso sprechen zu können?!

Als sich meine Beschämung und mein Kummer über das Abenteuer mit dem Steuermann etwas zu legen begonnen, richteten sich meine Blicke auf den letzten und bescheidensten Angestellten des Bootes, den Decknachtwächter, und ich beschloß, wenigstens mit diesem ein persönliches Verhältnis zu erzwingen. Zwar wies auch er meine Annäherungsversuche zuerst in der unfreundlichsten Art zurück, als ich ihm jedoch eine neue Thonpfeife schenkte, wurde er weicher. Erst erlaubte er mir, mit ihm auf dem Sturmdeck bei der großen Glocke zu sitzen, dann schmolz seine Zurückhaltung in zusammenhanglos hingeworfene Worte, und endlich schlossen sich diese zu einer vollständigen Unterhaltung zusammen. Es blieb ihm wohl nichts anderes übrig. Ich hing mit solcher Hingebung an seinen Lippen und machte aus meinen Empfindungen so wenig ein Hehl, daß es ihm nicht entgehen konnte, wie sehr mich seine Herablassung beglückte und erhob. Er nannte mir die Namen von dämmernden Ufervorsprüngen und dunkeln Flußinseln, als wir in der feierlichen Nacht unter dem friedlichen Blinken der Sterne daran vorüberglitten, und schließlich kam er auch auf sich selbst zu sprechen. Für einen Menschen, dessen wöchentlicher Gehalt sechs Dollars betrug, war er vielleicht ein wenig zu gefühlvoll, oder richtiger gesagt, er hätte einer ältern und erfahrenern Person als mir leicht so erscheinen können. Aber ich trank seine Worte in mein dürstendes Gemüt und nahm sie mit einer Gläubigkeit auf, die Berge hätten versetzen müssen, wenn man sie hiezu verwendet hätte. Was scherte es mich, daß er schäbig aussah und schmierig war, und daß er auf weite Entfernungen nach Genever duftete? Was scherte es mich, daß seine Grammatik schlecht, seine Aussprache noch schlechter war und daß die Art, wie er das unerläßliche Fluchen betrieb, so sehr jedes künstlerischen Hauches entbehrte, daß es seine Unterhaltung, anstatt ihr einen höheren Reiz zu verleihen, vielmehr beeinträchtigte? Er war ein Mann, dem übel mitgespielt worden war, der stürmische Zeiten gesehen, der gelitten hatte. Das war für mich entscheidend. Als ich seinen Stolz soweit überwunden hatte, daß er mir seine traurige Geschichte erzählte, fielen ihm Thränen von den Wimpern auf die Laterne in seinem Schoß, und ich schluchzte vor Mitgefühl laut auf. Er teilte mir mit, daß er der Sohn eines englischen Edelmanns sei, – er wußte nicht recht, ob eines Grafen oder eines Ratsherrn, meinte aber, wahrscheinlich von beiden. Sein Vater liebte ihn zärtlich, aber seine Mutter haßte ihn von der Wiege an. Noch als kleiner Knabe wurde er nach einem von den »alten, uralten Kolleges geschickt«, – er erinnerte sich nicht mehr recht, nach welchem. Dann starb sein Vater plötzlich, und die Mutter riß das ganze Vermögen an sich und setzte ihn »vor die Thüre«. In dieser Lage boten verschiedene Mitglieder der englischen Aristokratie, mit denen er aufgezogen worden, ihren ganzen Einfluß auf, um eine Volontär-Schiffsjungenstelle auf einem Westindienfahrer zu besorgen. Und so war er aufs Wasser gekommen. Einmal bei diesem Punkt in seiner Lebensgeschichte angelangt, verlor mein Nachtwächter jeden Faden, und die Fortsetzung seiner Erzählung war nur noch ein einziges Chaos von Daten, Örtlichkeiten, Namen und unglaublichen Abenteuern, eine epische Sündflut, so voller Schrecknisse und um eines Haares Breite abgewendeter Lebensgefahren, so strotzend von bewußter und unbewußter menschlicher Schlechtigkeit und so triefend von Blut und Thränen, daß ich sprachlos dasaß, lauschend, bewundernd, staunend und anbetend!

Es war kein kleiner Schmerz für mich, als ich später dahinterkam, daß er ein gemeiner, unwissender, sentimentaler, halbverrückter Schwindler war, ein nie in der Welt gewesener Eingeborner der Wildnisse von Illinois, welcher eine Unmasse von Kolportageromanen verschlungen und ihre Ungeheuerlichkeiten in sich aufgenommen hatte, bis er am Ende aus den verschiedensten Fäden seine eigene wirre Geschichte zusammengewoben, die er unerfahrenem, halb flüggem Volke, wie mir, erzählte, bis er schließlich selbst daran glaubte.

  1. Negro Minstrels = Sängergesellschaft von Negern.

Zehntes Kapitel.

Zehntes Kapitel.

Bereits seit dem Tage vor unserem Eintreffen in Julesburg hatten sich gewiß und wahrhaftig zwei Drittel dessen, was Kutscher und Kondukteur sprachen, mit Slade beschäftigt. Um nun dem Leser ein deutliches Bild von einem ›Desperado‹ des Felsengebirges auf der höchsten Stufe seiner Entwickelung zu verschaffen, will ich die ganze Masse von Geschichten, die bei der Überlandpost über denselben im Umlauf sind, im Nachstehenden zu einer zusammenhängenden Erzählung zusammenfassen:

Slade stammte aus Illinois, von achtbaren Eltern. Mit ungefähr sechsundzwanzig Jahren erschlug er jemand im Streite und floh aus dem Land. In St. Joseph im Staat Missouri schloß er sich einem der ersten Auswandererzüge nach Kalifornien an und wurde mit dessen Führung betraut. Eines Tages bekam er auf der Prairie einen heftigen Zank mit einem seiner Fuhrleute und beide zogen den Revolver heraus. Der Fuhrmann war jedoch der flinkere Künstler und hatte den Hahn an seiner Waffe zuerst gespannt. Deshalb meinte Slade, es sei doch nicht der Mühe wert, einander wegen einer solchen Kleinigkeit die Hälse zu brechen und schlug vor, die Pistolen wegzuwerfen und den Streit mit den Fäusten auszumachen. Arglos ging der Fuhrmann darauf ein und ließ seine Pistole fallen, – woraus ihn Slade unter höhnischem Lachen über seine Einfalt einfach über den Haufen schoß!

Er machte sich daraufhin flüchtig und führte eine Zeit lang ein wildes Leben, das er zur Hälfte mit Indianerkämpfen und zur andern Hälfte mit dem Bestreben zubrachte, einem Gerichtsbeamten des Staates Illinois auszuweichen, der behufs seiner Festnahme wegen seiner ersten Mordthat gegen ihn ausgesandt worden war. Damals soll er in einem Kampfe mit Indianern drei Wilde mit eigener Hand getötet und nachher deren abgeschnittene Ohren dem Häuptling des Stammes mit seinen Grüßen überschickt haben.

Bald stand Slade allenthalben im Rufe furchtloser Entschlossenheit, und dieses Verdienst war hinreichend, um ihm die wichtige Stelle eines Abteilungsagenten bei der Überlandpost in Julesburg als Nachfolger eines gewissen Jules zu verschaffen, der seine Entlassung erhielt. Kurz zuvor war es häufig vorgekommen, daß der Gesellschaft Pferde gestohlen und Kutschen aufgehalten wurden und zwar durch Banden flüchtiger Verbrecher, denen der Gedanke, es könnte jemand so tollkühn sein wollen, derlei Missethaten zu ahnden, stets nur ein höhnisches Lachen entlockte. Slade ahndete dieselben unverzüglich. Das Gesindel hatte bald herausgefunden, daß Slade ein Mann war, der sich vor nichts fürchtete, was da atmete. Wer sich gegen Gesetz und Ordnung verging, mit dem machte er kurzen Prozeß. Das Ergebnis war, daß kein Aufenthalt bei den Postfahrten mehr vorkam, daß das Eigentum der Gesellschaft unangetastet blieb und daß Slades Kutschen stets ohne Störung rechtzeitig eintrafen, einerlei, was dabei vorkam und wer dabei Schaden hatte! Allerdings, um diese heilsame Veränderung zuwege zu bringen, mußte Stade ein paar Menschen aus der Welt schaffen – die einen behaupten drei, andere vier, wieder andere sechs – aber das war ein Verlust, bei dem die Welt nur gewann.

Die erste erhebliche Schwierigkeit hatte er mit dem Ex-Agenten Jules, der selbst im Rufe eines gewissenlosen, verzweifelten Menschen stand. Derselbe hatte auf Slade, der ihn um seine Stelle gebracht, einen tödlichen Haß geworfen und wartete nur auf eine schickliche Gelegenheit, um sich an diesem zu reiben. Endlich lauerte er ihm hinter einer Ladenthür auf und jagte ihm einen Flintenschuß in den Unterleib, allein Slade brachte ihn durch ein paar wohlgezielte Schüsse aus seinem historischen Revolver gleichfalls zu Fall. Jules, der zuerst wieder genas, zog sich ins Gebirge zurück, um dort in Sicherheit Kräfte für den Tag der endgültigen Abrechnung zu sammeln. Nach Jahr und Tag gelang es Slades Myrmidonen, Jules in einem seiner Felsenschlupfwinkel aufzutreiben und gefesselt seinem Todfeind in die Hände zu liefern, der ihn mit teuflischem Behagen langsam abschlachtete.

Inzwischen war Slade, nachdem die Gesellschaft sich überzeugt, daß seine energische Verwaltung auf einer der schlimmsten Strecken ihrer Route Frieden und Ordnung wiederhergestellt hatte, an die Rocky Ridge Division im Felsengebirge versetzt worden; man wollte sehen, ob er imstande sein würde, hier ein kleines Wunderwerk zu verrichten. Diese Strecke war nämlich das reinste Paradies der Gesetzverächter und Desperados. Hier bestand auch nicht der leiseste Schalten von Gesetz und Recht. Gewalt war an der Tagesordnung, Stärke die einzige anerkannte Macht. Die allergewöhnlichsten Mißverständnisse wurden auf der Stelle mit Pistole und Messer ausgemacht. Mordthaten kamen am hellen Tage und zwar recht häufig vor, ohne daß es einem Menschen einfiel, sich darum zu kümmern. Man ging davon aus, daß die Leute, wenn sie einander umbringen, ihre eigenen guten Gründe dazu haben; eine Einmischung Dritter in die Sache würde als Taktlosigkeit erschienen sein. Alles, was die Etikette von Rocky Ridge vom Augenzeugen einer Mordthat verlangte, war, daß derselbe dem Herrn Mörder sein Opfer begraben half – andernfalls würde man seiner Ungefälligkeit beim ersten Anlaß gedacht haben, wo er selber jemand umgebracht hatte und nachbarlichen Beistand zu dessen Beerdigung bedurfte.

In aller Ruhe und Gemütlichkeit schlug Slade seinen Wohnsitz inmitten dieses Bienenstockes von Pferdedieben und Banditen auf, und gleich das allererstemal, wo einer derselben sein unverschämtes Maul in seiner Gegenwart laufen ließ, schoß er ihn nieder. Er begann eine Razzia gegen das gesetzlose Gesindel, und in merkwürdig kurzer Zeit hatte er den Beraubungen des Eigentums der Gesellschaft Einhalt gethan, eine große Zahl gestohlener Pferde zurückerobert, mehrere der schlimmsten Desperados der Gegend aus der Welt geschafft und sich bei den übrigen ein so furchtbares Ansehen errungen, daß sie Achtung, Bewunderung, Furcht für ihn empfanden und ihm Gehorsam leisteten. Er brachte denselben Umschwung in den Verhältnissen der Gemeinschaft zuwege, der seine Verwaltung in Overland City gekennzeichnet hatte. Zwei Bursche, die sich am Eigentum der Gesellschaft vergriffen hatten, fing er ein und henkte sie mit eigener Hand. Er war oberster Richter in seinem Bezirk und zugleich Schwurgericht und Scharfrichter – und zwar nicht nur in Fällen, die seine Brotherren betrafen, sondern auch in Sachen durchziehender Auswanderer.

Im Schießen mit seinem Matrosenrevolver that es niemand Slade gleich. Wie die Sage erzählt, sah er eines Morgens in Rocky Ridge, als er eben recht gut aufgelegt war, einen Mann daherkommen, der ihm einige Tage vorher zu nahe getreten war. Er zog seinen Revolver mit den Worten: »Meine Herren, ein Schuß auf gut zwanzig Schritt – ich halte auf den dritten Rockknopf!« Und er traf den Knopf zur Bewunderung aller Umstehenden. Diese gingen denn auch sämtlich mit zur Leiche. Einmal fiel Slade in die Hände einer Bande, die sich zusammen gethan hatte, um ihn zu lynchen. Er wurde entwaffnet und in einem starken Blockhause bewacht. Da überredete er seine Feinde, seine Frau holen zu lassen, um sie noch ein letztesmal zu sehen. Sie war ein tapferes, mutiges Weib und ihm unbedingt ergeben. Sofort warf sie sich auf ein Pferd und ritt davon auf Leben und Tod. Man ließ sie undurchsucht zu ihm hinein, und ehe man noch die Thür zu schließen vermochte, hatte sie ein paar Pistolen hervorgeholt, unter deren Schutz sie samt ihrem Herrn Gemahl siegreich herausdrang, worauf sie beide unter lebhaftem Feuer ihre Pferde bestiegen und unverletzt davonsprengten!

Fahrplanmäßig waren wir indessen bei einer Poststation angerasselt und ließen uns mit einer halbwilden Gesellschaft bewaffneter bärtiger Gebirgsbewohner, Bauern und Stationsleute, zum Frühstück nieder. Nirgends noch hatten wir einen so anständigen, ruhigen und freundlichen Beamten auf unserer ganzen Reise getroffen, wie den, der hier am Tische obenan saß, Schulter an Schulter neben mir. Wer beschreibt mein Staunen und mein Entsetzen, als ich ihn Slade nennen hörte.

Hier saß der Romanheld, und ich ihm gegenüber Aug‘ in Auge! Ich sah ihn, – berührte ihn – trank sozusagen mit ihm aus einem Glase! Da, dicht neben mir saß der Menschenfresser, der in Gefechten, bei Raufereien und sonstigen Anlässen sechsundzwanzig Menschen das Lebenslicht ausgeblasen hatte, es müßte denn alle Welt an ihm zum Lügner geworden sein. In diesem Augenblick erfüllte mich ein Gefühl des Stolzes, wie es wohl vor mir noch nie ein so junges Bürschchen empfunden hatte, das ausgezogen war, um fremde Länder und merkwürdige Menschen zu schauen.

Er war so freundlich und artig, daß ich mich trotz seiner abstoßenden Lebensgeschichte zu ihm hingezogen fühlte. Man vermochte es nur mit Mühe zu fassen, daß diese angenehme Persönlichkeit die erbarmungslose Geißel verbrecherischen Gesindels, der Popanz und wilde Mann war, mit dem die Mütter im Gebirge ihre kleinen Kinder fürchten machten. Und noch heute wüßte ich von Slade nichts irgend Auffallendes zu berichten, als daß sein Gesicht über die Backenknochen herüber ziemlich breit war, während diese selbst niedrig standen, und daß er auffallend schmale und gerade geschnittene Lippen hatte. Doch genügten diese Züge, um einen nachhaltigen Eindruck auf mich zu machen, denn so ich seither ein Gesicht mit den erwähnten besonderen Merkmalen sehe, muß ich fast immer in dem Besitzer desselben einen gefährlichen Menschen vermuten.

Der Kaffee ging zur Neige. Wenigstens war nur noch eine einzige Blechtasse voll da, welche Slade eben für sich nehmen wollte, als er sah, daß ich eine leere Tasse vor mir hatte. Höflich bot er mir an, mir solche zu füllen, was ich, obwohl ich den Kaffee recht gut brauchen konnte, ebenso höflich ablehnte. Ich fürchtete, daß er an jenem Morgen vielleicht noch niemand umgebracht haben und deshalb einer Zerstreuung benötigen könnte. Allein er bestand mit fester Höflichkeit darauf, mir die Tasse vollzugießen und meinte, ich sei die ganze Nacht durch gefahren und habe es nötiger als er – und unter diesen Worten schenkte er mir den Kaffee bis auf den letzten Tropfen ein. Dankend trank ich denselben aus, allein er schmeckte mir nicht sonderlich, denn ich konnte immer noch nicht gewiß wissen, ob ihn seine Freigebigkeit nicht gereuen und er mich dann etwa umbringen würde, um seine Gedanken von seinem Verluste abzulenken. Es kam jedoch nichts derart vor. Als wir uns von ihm verabschiedeten, hatte er nicht mehr als sechsundzwanzig Blutthaten auf dem Gewissen und ich empfand eine recht angenehme Befriedigung bei dem Gedanken, daß ich durch die weise Rücksicht, die ich der Nummer 1 am Frühstückstisch hatte zu teil werden lassen, mir das Schicksal erspart hatte, Nummer 27 zu werden. Slade kam heraus an den Wagen und sah uns zu beim Wegfahren, nachdem er zuvor die Postsäcke bequemer für uns hatte packen lassen; dann nahmen wir Abschied von ihm, mit der angenehmen Hoffnung, bald wieder etwas von ihm zu vernehmen und waren nur begierig, in welchem Zusammenhang dies der Fall sein werde.

Elftes Kapitel.

Elftes Kapitel.

Und richtig hörten wir zwei oder drei Jahre darauf wieder von ihm. Da traf die Kunde an den Gestaden des Stillen Ozeans ein, daß er vom Sicherheitsausschuß in Montana (dahin war er von Rocky Ridge aus übergesiedelt) gehenkt worden sei.

Slade hatte sich hier dem Trunke ergeben. Während er in nüchternem Zustand für einen aufmerksamen Ehegatten, einen höchst gastfreien Wirt und einen höflichen Mann gelten mußte, konnte dagegen jeder, der ihm im Branntweinrausch inmitten einer Bande bewaffneter Lümmel begegnete, in ihm nur einen eingefleischten Teufel erblicken. Oft sah man ihn mit einem oder einigen seiner Genossen auf einem und demselben Pferde in der Stadt Virginia erscheinen, wo er unter Jauchzen, Brüllen und Pistolenschüssen durch die Straßen galoppierte. Er ritt dann in Läden hinein, zerbrach die Ladentische, warf die Wagschalen auf die Straße und überschüttete die Anwesenden mit den gröbsten Beleidigungen. Er trat in Schank- und Tanzlokale und schoß nach den Lampen, so daß alles Reißaus nahm. Es war etwas ganz Alltägliches, daß die Kaufleute, wenn Slade ›sich einen Jux machte‹, die Läden schlossen und die Lichter löschten. So machte er sich viele Feinde und schließlich kam es zur entscheidenden Wendung.

Slade war wieder einmal betrunken gewesen und hatte die Stadt zur reinen Hölle gemacht. Am andern Morgen verhaftete ihn der Sheriff und brachte ihn vor Gericht, wo er ihm den Verhaftsbefehl vorzulesen versuchte. Allein Slade, wütend darüber, nahm das Schriftstück, zerriß es und trat es mit Füßen. Gleichzeitig hörte man an den Revolvern aller seiner Gefährten die Hähne knacken; so mußte der Sheriff vorläufig nachgeben und Slade als Herrn der Situation, triumphierend über Gesetz und Recht, ziehen lassen. Damit war der Krieg erklärt. Der Sicherheitsausschuß fühlte, daß jetzt bei diesem Anlaß die Frage zur Entscheidung kommen müsse, ob die gesellschaftliche Ordnung und die gesetzliebenden Bürger oder Slades dreister Übermut die Oberhand behalten sollten. Seinen Tod wollte man noch nicht, nur gezüchtigt und gebändigt sollte er werden. Ein Mitglied des Ausschusses warnte ihn und erteilte ihm den Rat, unverzüglich zu Pferde zu steigen und nach Hause zu reiten. Allein er schlug die Warnung in den Wind. Nun sollte er abermals verhaftet werden, und da man zu zeigen wünschte, daß im ganzen Thale eine und dieselbe Anschauung über die Sache herrsche, so wurde ein Bote nach Nevada geschickt, um die maßgebenden Persönlichkeiten von den Vorgängen zu unterrichten. Darauf traten die Bergleute in Masse zusammen, verließen ihre Arbeit und rückten in einer sechshundert Mann starken Abteilung, sämtlich bis an die Zähne bewaffnet, nach Virginia hinauf. Der Führer kannte die Erbitterung seiner Leute gegen Slade und seine Genossen. Er jagte voraus, rief den Ausschuß zusammen und sagte offen, die Bergleute nehmen die Sache ernst; sich in einem Straßenkampfe von Slade und dessen Leuten totschießen zu lassen, dazu hätten sie keine Lust, sie hätten vielmehr vor, denselben zu fassen und zu hängen. Obwohl der Ausschuß dieses Äußerste nicht wollte, erklärte derselbe schließlich doch, er wolle sich dem Willen der Bergleute fügen und die Sache in deren Hände legen.

Slade befand sich gerade in einem Kaufladen, als die Kolonne der Bergleute im Geschwindschritt vor denselben rückte. Der Vollstreckungsbeamte des Ausschusses trat vor und verhaftete Slade mit der Eröffnung, daß sein Tod beschlossen sei. Dieser war hierüber im höchsten Maße betroffen; er versank in die tiefste Niedergeschlagenheit und bat unaufhörlich um sein Leben sowie um die Vergünstigung, seine Frau sehen zu dürfen, die auf ihrem Rancho am Madisonflusse wohnte. Sie wurde durch einen Boten benachrichtigt, worauf sie sich ohne Besinnen aufs Pferd warf, um die zwölf Meilen rauhen Felsbodens, die sie von dem Gegenstand ihrer heißen Liebe trennten, im Fluge zu durcheilen.

Inzwischen hatte eine Anzahl Freiwilliger die erforderlichen Vorkehrungen für die Hinrichtung getroffen. In einem Viehhof mit hohem Thor wurde dieses letztere zu einem Galgen hergerichtet, indem man den Strick am oberen Querbalken befestigte. Eine Kiste wurde als Tritt darunter gestellt. Hierher wurde Slade von einer starken wohlbewaffneten Mannschaft geleitet. Er hatte sich mit Thränen, Gebeten und Klagen dermaßen erschöpft, daß er kaum imstande war, sich unter dem verhängnisvollen Balken auf den Füßen zu halten. So bot sich auch bei ihm das psychologisch so merkwürdige und doch im Charakter des echten Desperado tief begründete Schauspiel, daß ein Mann, der in den gefährlichsten Lagen des Lebens jederzeit einen bis zur Tollkühnheit gehenden Mut bewiesen, angesichts eines der Aufregung des Kampfes entbehrenden Todes die Fassung völlig verlor. Seine Frau bekam er all seines Bittens und Flehens ungeachtet nicht mehr zu sehen. Dieselbe würde jedenfalls den Versuch gemacht haben, ihn mit Hilfe ihrer Freunde zu befreien, und die Rücksicht auf die damit unvermeidlich verbundenen blutigen Folgen erlaubte es nicht, seinem Verlangen zu willfahren. Sobald alles bereit war, erging der Befehl: »Leute, thut eure Pflicht!« Die Kiste wurde ihm unter den Füßen weggezogen und fast augenblicklich war der Tod eingetreten.

Nach einer Weile wurde der Leichnam abgeschnitten und in einem verdunkelten Zimmer des Virginia-Hotels aufgebahrt. Kaum war man damit zustandegekommen, so kam die unglückliche Lebensgefährtin des Hingerichteten angesprengt, aber nur um sich zu überzeugen, daß alles bereits vorüber und sie Witwe geworden.

Nach langen Jahren.

Nach langen Jahren.

Einundzwanzig Jahre waren gekommen und gegangen, seit ich zuletzt aus den Fenstern eines Ruderhauses geblickt hatte. Da ergriff mich plötzlich eine unwiderstehliche Lust, den Fluß wiederzusehen, die Dampfboote und die alten Kameraden, die etwa noch am Leben sein mochten. Kurz entschlossen brach ich um die Mitte April nach dem Westen auf.

Ich kam gegen Abend nach St. Louis, wo ich im ›Südhotel‹ abstieg. Das ist ein gutes Gasthaus, auch nicht zu neumodisch, was besonders bei den Billardtafeln zu Tage tritt, die noch aus der silurischen Erdperiode stammen, während die Kugeln und Queues der Tertiärformation angehören. Aber solche Altertümer sieht man immer gern; sie machen das Leben behaglich.

Auch das Trinkwasser hatte sich nicht verändert und sah noch ebenso gelbbraun aus wie früher; daran ist der Missouri schuld, der die Ufer unterwühlt und die Erde mit fortschwemmt. Läßt man sein Glas eine halbe Stunde stehen, so scheidet sich das Wasser vom festen Lande, wie bei der Erschaffung der Welt; aber die Einheimischen warten nicht darauf, sondern rühren beides untereinander und trinken den Schlamm wie Haferschleim. Das fällt jedoch den Fremden schwer.

Am nächsten Morgen fuhr ich bei Regenwetter ans, um mir die Stadt anzusehen, fand aber nicht viel Neues. Das kam wohl daher, weil in St. Louis, wie in Pittsburg und London, fortwährend eine schwarze Wolke von Kohlenrauch über den Häusern schwebt und alles neue gleich alt macht. In Wirklichkeit hatte sich die Stadt sehr verändert, sie war fast doppelt so groß als zu meiner Zeit und zählte 400 000 Einwohner. Die schönen vornehmen Wohnhäuser inmitten grüner Rasenplätze, viele prachtvolle öffentliche Gebäude, der Waldpark, der botanische Garten, die glänzende Straßenbeleuchtung, das alles war seitdem entstanden.

Den größten Umschwung fand ich aber auf dem Hafendamm, jedoch im rückschrittlichen Sinne. Wo ich gewohnt war, meilenlange Reihen von Dampfschiffen in voller Thätigkeit zu sehen, lagen jetzt nur noch fünf oder sechs im Halbschlaf. Der lustige Flußschiffer, der vormals hier eine so große Rolle spielte, war wie aus der Welt verschwunden. Sein Geschäft ist ihm genommen, seine Macht ist aus; er ist in der großen Masse untergegangen und arbeitet mit in der allgemeinen Tretmühle. Ein paar träge Dampfer, eine endlose, leere Werft, ein Neger, der lang ausgestreckt seinen Rausch verschlief, und weit und breit lautloses Schweigen, sonst war nichts von den mächtigen Kauffahrteiflotten übrig geblieben, die hier in friedlichem Wettbetrieb miteinander rangen.

Das schlechte Pflaster und der schuhtiefe Schmutz auf dem Dammweg waren mir wohlbekannt, aber mir fehlten die zahllosen Rollwagen und Karren, die sich stoßenden und drängenden Menschen, die Berge aufgetürmter Frachtgüter – wo waren die hingeraten?

Eisenbahn und Schlepper hatten die Sache sehr gründlich in Angriff genommen. Diese trostlose Verödung war ihr Werk. Auch die Riesenbrücke, deren Bogen sich über unsern Häuptern wölbten, trug einen Teil der Schuld an der Zerstörung. St. Louis ist eine blühende Stadt, die stetig fortschreitet, deren Wohlstand wächst, aber ihre Flußschiffahrt liegt im Todesschlaf, und für sie giebt es kein Auferstehen.

Die Dampferfahrt auf dem Mississippi nahm 1812 ihren Anfang und entwickelte sich in einem Zeitraum von dreißig Jahren zu ganz außerordentlicher Ausdehnung und einem großartigen Verkehr. Nach abermals dreißig Jahren war sie tot. Wahrlich, ein ungewöhnlich kurzes Leben für eine Schöpfung von solcher Erhabenheit.

Die veralteten Kielboote fielen den Dampfern zum Opfer, welche die Reisenden in höchstens acht Tagen nach New Orleans beförderten. Als jedoch die Eisenbahn in zwei bis drei Tagen das leisteten, wozu die Dampfboote eine Woche brauchten, war es um letztere geschehen. Dem ehemaligen Güterverkehr aber machte eine Unzahl von Schleppdampfern ein Ende, die sechs oder sieben Schiffsladungen auf einmal für so geringe Kosten den Strom hinabbeförderten, daß von einem Wettbewerb der Dampfboote gar keine Rede mehr sein konnte.

Mein ursprünglicher Plan war gewesen, mich in jeder Stadt zwischen St. Louis und New-Orleans kurze Zeit aufzuhalten. Doch das mußte ich mir aus dem Sinne schlagen, denn die Lokalboote von früher giebt es nicht mehr; nur in längeren Pausen verkehren noch Paketboote zwischen bestimmten Städten. Es traf sich glücklich, daß der ›Goldstaub‹ noch am selben Abend abfahren sollte. Das Boot war sauber und bequem, ich belegte einen Platz bis Memphis und wir dampften pünktlich um acht Uhr in den Fluß hinaus.

Als wir in der dichten Finsternis nach dem anderen Ufer hinüber hielten, blitzte plötzlich ein blendender Strahl elektrischen Lichtes von unserm Vordeck auf und beleuchtete das Wasser und die Speicher am Lande mit Tageshelle. Die Zeiten der flackernden, rauchenden, tröpfelnden Pechfackeln, die doch kein Licht verbreiteten, sind für immer vorbei.

Die Fahrt von St. Louis bis Cairo, eine Strecke von zweihundert Meilen, verlief aufs angenehmste. Die Hügel an beiden Ufern des breiten Flusses prangten im Frühlingsschmuck, es wehte eine leichte Brise und das Wetter war sonnig und klar. Den ganzen folgenden Tag dampften wir weiter den Mississippi hinunter und begegneten nur einem einzigen Dampfboot, das obendrein, wie ich durch das Fernrohr erspähte, meinen Namen trug. Eine so hohe Ehre war mir bisher noch nicht widerfahren.

Früher hätten bei solchem Wasserstande meilenlange Holzflöße und Kohlenleichter zu Dutzenden den Strom bedeckt, nebst zahlreichen kleinen Handelsbooten, die von Farm zu Farm segelten, mit der ganzen Familie des Eigentümers an Bord; von alledem ist aber keine Spur mehr vorhanden.

Bei sinkender Nacht näherten wir uns der ebenso berüchtigten, wie gefürchteten Plumspitze. Aber, sie war kein Gegenstand des Schreckens mehr. Die heutige Regierung hat, so zu sagen, aus dem Mississippi einen zweitausend Meilen langen Fackelzug gemacht. Am Anfang und Ende jeder Windung brennt ein helles Leuchtfeuer; man fährt eigentlich nie im Dunkeln, überall sind Lampen angezündet, voraus, achteraus und querab. Es ist eine förmliche Verschwendung damit getrieben, denn die Leuchtfeuer finden sich auch an Stellen, wo nun und nimmermehr eine Untiefe gewesen ist noch sein wird, und wo jedes Dampfschiff, das den Weg nur einmal gemacht hat, sich mit Leichtigkeit zurechtfinden kann.

Das ist alles recht schön und gut, auch sehr bequem für die Schiffahrt; aber das Lotsenhandwerk hat dadurch seine ganze Romantik verloren. Wenn früher das Boot bei stockdunkler Nacht aus dem Ruder lief, um in die Wälder hinein zu dampfen, so gab das aufregende Momente für den Steuerer. Nicht weniger beängstigend war es, sich in dichter Finsternis durch ein enges Fahrwasser hindurch zu winden; aber jetzt kommt das nicht mehr vor – das elektrische Licht blitzt auf, verwandelt im Nu die Nacht zum hellen Tage, und alle Gefahr und Aufregung hat ein Ende.

In unserer Zeit fortwährender Neuerungen hat die Anker-Linie den Kapitän über den Lotsen gestellt, indem sie jenem ein höheres Gehalt giebt. Das war schon an sich ein starkes Stück, aber damit nicht genug, ist auch noch die Verordnung erlassen worden, daß der Lotse auf dem Posten bleibt und seine Wache weiter geht, mag nun der Dampfer am Ufer anlegen oder in Fahrt sein. Einst waren wir die Vornehmsten auf dem Flusse, jetzt darf unsereins nicht mehr zu Bette gehen, während die Ladung zu Hunderten von Tonnen an Bord geschafft wird; nein, wir müssen im Steuerhäuschen sitzen und obendrein die Augen offen halten. Wahrhaftig, so behandelt man kaum den gewöhnlichsten Steuermann oder Maschinisten! – Die Regierung hat unserm Beruf alle Romantik genommen, die Anker-Linie aber nimmt uns Rang und Würde. Bei Nacht sah die Plumspitze noch gerade so aus wie ehedem, nur daß jetzt Leuchtfeuer in der Kreuzung brannten, und eine Menge anderer Lichter auf der Spitze und am Ufer entlang. Die letzteren blinken herüber von der Flotte der Vereinigten-Staaten-Strombau-Kommission, und aus den Wohnhäusern und Bureaus, die dort am Lande für ihre Beamten gebaut worden sind. Die Militäringenieure der Kommission haben die Arbeit übernommen, den Mississippi umzumodeln und zur Ordnung zu bringen, eine Aufgabe, die fast so groß und erhaben ist wie das Werk, ihn ursprünglich zu erschaffen. Man legt Fangdämme an, um die Strömung abzulenken, errichtet Deiche, welche sie in engere Grenzen einzwängen, und noch andere Deiche, um den Fluß im neuen Bette festzuhalten. Unzählige Meilen am Mississippi entlang werden die Wälder umgehauen; man will die Ufer in einer Breite von fünfzig Metern völlig kahl scheren, um sie dann, wie ein schräges Hausdach, bis zum Tiefwassermark herunter abzutragen und mit Steinen zu belasten. Andere, der Überschwemmung ausgesetzte Strecken schützt man wiederum durch eingerammte Pfähle.

Wer aber den Mississippi kennt, wird sich gleich sagen – nicht laut, aber leise – daß zehntausend Strombaukommissionen, und wenn ihnen sämtliche Goldminen der Erde zur Verfügung ständen, den eigenwilligen Strom nicht zähmen werden. Er läßt sich nicht Gewalt anthun und einengen; man kann ihm nicht befehlen: fließe hier, fließe dort, und ihn zum Gehorsam zwingen. Ein Uferland, das er fortschwemmen will, vermag niemand zu retten, jedes Hindernis, das seinen Lauf hemmen soll, reißt er nieder oder springt darüber hinweg und spottet des ohnmächtigen Versuchs.

Doch darf man dergleichen nicht unbedingt behaupten; ein verständiger Mann behält seine Meinung für sich, gegenüber der höheren Weisheit der Herren Ingenieure von der Militärakademie, die an Gelehrsamkeit nirgends ihresgleichen haben. Wenn sie glauben, daß sie den Strom bemeistern können, so thut der Laie am besten zu schweigen und abzuwarten.

Ich sprach darüber mit ›Onkel‹ Mumford, (so wurde der zweite Offizier an Bord allgemein genannt) und will hier seine Ansicht genau wiedergeben.

»Seit dreißig Jahren,« sagte Onkel Mumford, »bin ich Schiffsmaat und habe den Strom beobachtet und studiert. Meint Ihr, ich hätte mehr davon auf der Militärakademie gelernt? Aus all den Büchern und Lehrstunden in West-Point kann man in vier Jahren mancherlei lernen, das geb‘ ich zu – aber den Strom – bah, wer’s glaubt! –

»Ja, wenn’s so ein kleiner europäischer Fluß wäre, mit seinem festen Grund und klaren Wasser, das gäb‘ einen Sonntagsspaß für die Kommission, den einzudämmen, zu pfählen, zu deichen, ihn zu zähmen, zu meistern, hierhin und dorthin zu leiten, und ihn so gefügig zu machen, daß er blindlings alles thäte, was man von ihm verlangt. Aber mit unserm Mississippi ist das ein ander Ding. Die Leute haben ihre Arbeit in der besten Meinung und mit großer Zuversicht angefangen, aber, sie bringen’s nicht fertig, verlaßt euch drauf. Seht nur einmal näher zu, wie sie’s machen.

»An der Teufelsinsel im obern Fluß, zum Beispiel, da soll das Wasser links herum fließen, statt rechts. Sie errichteten eine Steinmauer und wollten es zwingen. Aber, was kehrt sich mein Fluß an eine Mauer! Als sie fertig war, brach er mitten hindurch. Sie können’s ja noch einmal versuchen, vielleicht gelingt’s dann besser. – Am untern Fluß schlagen sie Spundwände, um die Ufer zu schützen und das Wasser abzulenken. Was hilft’s? – Es fackelt nicht lange und reißt das Land an einer andern Stelle mit fort. Will man etwa die Ufer des ganzen Flußlaufes mit Pfählen bestecken? – Meiner Treu, da thäte man besser, man kaufte sich Grund und Boden und machte einen ganz neuen Mississippi – das käme viel billiger zu stehen.«

Als noch viertausend Boote den Strom hinunter schwammen, nebst zehntausend riesigen Kohlenleichtern und ungezählten Flößen und Handelskähnen, da gab es nicht eine lumpige Laterne, von St. Paul bis New-Orleans. Heutzutage fahren zwar nur noch ein paar Dutzend Boote auf dem Mississippi. und die Flöße und Kohlenleichter sind ganz verschwunden, aber die Regierung thut viel für den Strom und giebt Unsummen aus, um ihn zu beleuchten, auszubaggern und einzudämmen. Wenn’s erst einmal überhaupt keine Dampfer mehr auf dem Mississippi giebt, dann hat es die Kommission sicherlich so weit gebracht, daß die Stromfahrt vollkommen gefahrlos ist und man sich dabei so ruhig und geborgen fühlt, wie in Abrahams Schoß.

Anhang.

Anhang.

Ein mißlungener Feldzug.

Sommer 1861 wälzte sich die erste Kriegswoge an das Ufer von Missouri. Unionstruppen waren in den Staat eingefallen und hatten St. Louis nebst andern festen Plätzen in ihre Gewalt bekommen. Zu ihrer Abwehr rief der Gouverneur Claib Jackson sofort durch eine Proklamation 50 000 Mann Milizen unter die Waffen.

Ich hielt mich damals vorübergehend in dem zum Bezirk Marion gehörigen Städtchen Hannibal auf, wo ich meine Knabenzeit verlebt hatte. Als der Aufruf erschien, veranstaltete ich mit mehreren Kameraden eine nächtliche Zusammenkunft an einem geheimen Ort. Wir bildeten eine Kompagnie, zu deren Hauptmann ein gewisser Tym Lyman gewählt wurde, der zwar keine militärische Erfahrung, aber viel Mut besaß; mich machte man zum Unterlieutenant. Einen Oberlieutenant hatten wir nicht, wie das kam, habe ich vergessen – es ist zu lange her. Wir waren unser fünfzehn und ein wackerer Bursche aus unser Mitte schlug vor, wir sollten uns die ›Schützen von Marion‹ nennen. Der Name gefiel uns und keiner wußte etwas dagegen einzuwenden. Nach dem jungen Menschen, der den Rat gegeben, konnte man sich ungefähr einen Begriff machen, wie unser ganzes Korps beschaffen war. Jung, unwissend, gutmütig, oberflächlich, voll bester Absichten und romantischer Gefühle, schwärmte er meist für Ritterromane und melancholische Liebeslieder. Er besaß entschieden vornehme Neigungen und verabscheute unter anderm seinen eigenen Namen Dunlap, der in jener Gegend fast so verbreitet war wie Smith und für sein Ohr einen zu gemeinen Klang hatte. Um ihm einen feineren Anstrich zu geben, schrieb er sich d'Unlap. Das war nun dem Auge zwar wohlgefällig, aber im übrigen wenig befriedigend, denn die Leute sprachen den neuen Namen ganz ebenso aus wie den alten, mit dem Nachdruck auf der ersten Silbe. Zuletzt verstieg er sich zu einer That, die man als wahrhaft heldenkühn bezeichnen muß, wenn man bedenkt, wie sehr die Welt alle Ziererei und Unnatur haßt und verdammt: er nannte sich nämlich d'Un Lap.

Das war eine großartige Erfindung. Mit unermüdlicher Geduld ertrug er allen Spott und Hohn, die sie ihm einbrachte, überzeugt, daß wenn er nur den Mut hätte zu warten, der Sieg ihm nicht fehlen könne. Er erlebte es auch wirklich, daß der Name durchdrang und daß Leute, die ihn von klein auf kannten und mit dem Geschlecht der Dunlaps so vertraut waren wie mit Regen und Sonnenschein, den Nachdruck auf die letzte Silbe legten, wie er es eben haben wollte. Er behauptete nämlich, er habe in einer alten französischen Chronik entdeckt, daß die richtige Schreibart des Namens ursprünglich d'Un Lap gewesen sei, was in der Übersetzung soviel wie Peterson bedeute. Lap, aus dem Lateinischen oder Griechischen stammend, heiße Stein oder Fels, wie das französische pierre, also Peter; d' von, un einer oder einem, also d'Un Lap: von einem Stein oder einem Peter, das heißt der Sohn eines Steins – eines Peter – Peterson. – In der Kompagnie hatten wir keine Gelehrten und die Erklärung ging über unser Verständnis, so nannten wir ihn denn Peterson Dunlap.

Ein anderer der Kameraden, Ed. Stevens, war der Sohn eines Goldschmieds von Hannibal, hübsch und zierlich von Gestalt und sauber wie ein Kätzchen; ein begabter Mensch, auch wohlunterrichtet, doch nahm er nichts ernsthaft im Leben und war stets zu allerlei Unfug aufgelegt. Auch den Feldzug betrachtete er nur wie eine Art Feiertagsspaß. Das ging übrigens den meisten von uns nicht viel anders – mit oder ohne Bewußtsein. Aus Überlegung zu handeln war überhaupt nicht unsere Sache, wir waren’s nicht imstande. Was mich betraf, so machte es mir ein kindisches Vergnügen, daß ich nicht mehr wie auf dem Dampfer um Mitternacht und um vier Uhr morgens aus dem Bette mußte; ich freute mich über die Abwechslung, über den neuen Schauplatz meiner Thätigkeit und jedes neue Lebensinteresse. Was die Zukunft im einzelnen bringen könnte, bedachte ich nicht – man thut das selten mit vierundzwanzig Jahren.

Ein Bursche ganz anderer Art war Smith, der Lehrling des Hufschmieds. Diesem großen Esel fehlte es, trotz seiner langsamen, schwerfälligen Natur, nicht an Kraft und Mut, auch hatte er ein weiches Herz. Gelegentlich schlug er wohl ein Pferd zu Boden, wenn es nicht parieren wollte, ein andermal aber bekam er Heimweh und fing an zu weinen. Zuletzt ward ihm noch eine Auszeichnung zu teil, deren sich nur wenige von uns rühmen konnten: er blieb dem Kriegshandwerk treu und fiel auf dem Schlachtfeld.

Jo Bowers, auch einer aus der Kompagnie, war ein vierschrötiger, flachshaariger Schlingel, gefühlvoll, träge, meist mit allem unzufrieden und ein harmloser Prahlhans. Das Lügen betrieb er mit großartiger Frechheit; wie fleißig er sich aber darin übte, es glückte ihm trotzdem selten, denn seine Erziehung war vernachlässigt worden, man hatte ihn eigentlich wild aufwachsen lassen. Er nahm das Leben ziemlich ernst und es behagte ihm oft ganz und gar nicht; im übrigen war er ein guter Kamerad und recht beliebt. Er wurde zum Sergeanten und Ordonnanzoffizier gemacht; Stevens ernannten wir zum Korporal.

Nach den eben beschriebenen Exemplaren kann man sich von den übrigen leicht eine Vorstellung machen. Was ließ sich wohl von einer derartigen zusammengelaufenen Herde im Kriege erwarten? – Jeder that sein Bestes, aber was konnte dabei herauskommen? Gar nichts, sollte ich meinen – und das traf auch zu.

In einer dunklen Nacht begaben wir uns von verschiedenen Punkten aus, so vorsichtig und heimlich wir konnten, paarweise nach dem Griffith-Platz außerhalb der Stadt und traten von dort unsern gemeinsamen Marsch an. Hannibal liegt in dem südöstlichen Winkel des Bezirks Marion und unser Bestimmungsort war New-London, zehn Meilen weiter im Bezirk Ralls.

Beim Abmarsch waren wir alle voll Lachen und Scherz und trieben nichts als Tollheiten. Doch, das dauerte nicht lange. Das fortgesetzte Marschieren war uns bald eine Arbeit und mit dem Spiel war es vorbei. Auch die Stille des Waldes und das nächtliche Dunkel übte eine niederschlagende Wirkung auf unsere Lebensgeister. Die allgemeine Unterhaltung geriet ins Stocken, jeder versank in seine eigenen Gedanken und wohl eine halbe Stunde lang sprach kein Mensch ein Wort.

Wir näherten uns jetzt einem Blockhaus, in welchem, wie man munkelte, eine Wache von fünf Unionssoldaten postiert war. Hier im Dunkel der Waldbäume, deren herabhängende Zweige uns verbargen, gebot unser Führer Lyman Halt. Dann teilte er uns im Flüsterton mit, sein Plan sei, das Haus zu erstürmen – was uns die Finsternis ringsum noch schwärzer erscheinen ließ. In diesem entscheidenden Augenblick ward uns klar, daß es sich um bittern Ernst handle – wir standen dem Kriege sozusagen Auge in Auge gegenüber. Doch verloren wir unsere Fassung nicht, wir waren auf alles gerüstet. Entschlossenen Muts erwiderten wir ohne Zaudern, wenn sich Lyman selbst mit den Unions-Soldaten einlassen wolle, so möge er nur tapfer darauf losgehen, doch könne er lange warten, bis wir ihm folgen würden.

Lyman bat und beschwor, er versuchte uns zu beschämen, aber alles vergebens. Nichts konnte uns von dem einmal gefaßten Plan abbringen: wir wollten das Blockhaus zur Seite liegen lassen und nur von außen umgehen. Und das thaten wir.

Unter großer Mühsal schlugen wir uns quer durch den Wald; bald stolperten wir über Wurzeln, bald verwickelten wir uns in Schlinggewächsen oder blieben am Dorngestrüpp hängen. Endlich erreichten wir einen offenen Platz in sicherer Gegend, wo wir uns erhitzt und atemlos niedersetzten, um uns abzukühlen und unsere Schrammen und sonstigen Verletzungen zu besichtigen. Lyman war ärgerlich, wir andern aber guten Mutes; weshalb sollten wir auch die Köpfe hängen lassen – unsere erste militärische Unternehmung war ja geglückt: wir hatten das Blockhaus umgangen und konnten wohl zufrieden sein. Scherz und Lachen begann von neuem, der Kriegszug wurde wieder zum Festtagsspaß.

Nach kurzer Rast marschierten wir abermals weiter, zwei Stunden lang, zuletzt in dumpfem Schweigen. Als der Morgen dämmerte, zogen wir erschöpft, beschmutzt und mit wunden Füßen in New-London ein; wir waren alle schlecht gelaunt und schimpften heimlich auf den Krieg; nur Stevens hatte seine gute Stimmung behalten. Nachdem wir unsere alten, schäbigen Flinten in der Scheune des Obersten Rall, eines Veteranen aus dem mexikanischen Krieg, zusammengestellt hatten, frühstückten wir alle gemeinsam in seinem Hause. Später führte er uns auf eine einsame Waldwiese und hielt uns dort, im Schatten eines Baumes, eine hochtrabende Rede voll Ruhm und Pulverdampf, in der es von Beiwörtern, bildlichen Anspielungen und schwungvollen Phrasen wimmelte – das gehörte mit zur Beredsamkeit in jener alten Zeit und entlegenen Gegend. Er ließ uns dann auf die Bibel schwören, daß wir dem Staate Missouri treu bleiben und alle Eindringlinge verjagen wollten, von welcher Seite sie auch kämen und unter welcher Fahne sie marschierten. Dies verwirrte uns einigermaßen, denn wir begriffen nicht recht, zu wessen Dienst wir uns eigentlich verpflichtet hatten; Oberst Rall aber, der erfahrene Politiker und Wortverdreher, war darüber gar nicht in Zweifel. Er wußte genau, daß er uns für die Sache des Südbunds angeworben hatte. Zuletzt gürtete er mir noch ein Schwert um, welches Oberst Brown, sein Nachbar, in Mexiko getragen hatte, und endete die Feierlichkeit durch einen großartigen Wortschwall.

Hierauf marschierten wir in Reih und Glied nach einem grünen, schattigen Waldrevier, am Rande einer weiten, blumengeschmückten Wiese. Es war ein herrlicher Schauplatz für den Krieg – wie wir ihn betrieben. Ins Innere des Waldes eindringend, bezogen wir eine feste Stellung, die im Rücken durch niedere, bewaldete Felsberge geschützt war und vor uns durch einen klaren sprudelnden Bach. Sofort schwamm die Hälfte unseres Kommandos im Wasser, während sich die übrigen auf den Fischfang begaben. An dem Platz, wo wir unser Lager aufschlugen, war ehemals Ahornzucker gesiedet worden; die verfaulten Tröge lehnten noch an den Bäumen. Nicht weit davon lag ein alter Kornspeicher, in welchem das Bataillon sein Nachtquartier nahm. Gegen Mittag kamen die Farmer von allen Seiten mit Pferden und Mauleseln herbei, die sie uns für die Dauer des Krieges leihen wollten, auf etwa drei Monate, wie sie meinten. Es waren Tiere von der verschiedensten Größe, Farbe und Zucht, meistens jung und unbändig, so daß kein einziger aus unserm Kommando sich lange im Sattel halten konnte; wir Städter waren im Reiten noch ungeübt. Ich erhielt ein kleines Maultier zugeteilt, welches, rasch und lebhaft in seinen Bewegungen, mich ohne alle Schwierigkeit jedesmal wieder abwarf, wenn ich aufgestiegen war. Dann reckte es den Hals, spitzte die Ohren, riß die Kinnladen auf, daß man ihm tief in den Schlund sehen konnte, und ließ sein Triumphgeschrei hören. Es war ein widerwärtiges Tier in jeder Beziehung; faßte ich es beim Zügel, um es aus der Wiese zu führen, so stemmte es sich mit aller Kraft dagegen und war nicht vom Fleck zu bringen. Das gewöhnte ich ihm aber gründlich ab, denn auf einige militärische Kniffe verstand ich mich doch. Ich hatte in meinem Leben schon manchen festgefahrenen Dampfer wieder flott werden sehen, da wurde es mir nicht schwer, so ein störriges Maultier flott zu machen. Bei dem Kornspeicher war ein Brunnen; ich nahm also statt des Halfters einen dreißig Faden langen Strick, verfuhr damit wie bei der Ankerwinde und schaffte das Tier ohne Aufenthalt nach Hause.

An Korn für die Pferde war kein Mangel; wir füllten es in die alten Zuckertröge, die uns dazu sehr gelegen kamen. Als ich aber Bowers befahl, mein Maultier zu füttern, erwiderte er, ich dächte wohl, er ziehe in den Krieg um den Pferdeknecht zu spielen – das sollte ich mir nur vergehen lassen. Ich hielt dies eigentlich für Insubordination, doch waren mir die militärischen Begriffe noch so wenig geläufig, daß ich lieber stillschweigend darüber hinwegging, da ich meiner Sache nicht gewiß war. Nun richtete ich den gleichen Befehl an Smith, den Hufschmiedslehrling, der aber sah mich nur kalt lächelnd an und wandte mir höhnisch den Rücken. Schließlich begab ich mich zum Hauptmann, um ihn zu fragen, ob mir nicht von Rechts wegen eine Ordonnanz zugewiesen werden müsse. Lyman bejahte dies, meinte aber, da sich im ganzen Korps nur eine Ordonnanz befinde, könne er Bowers in seinem Stabe nicht entbehren. Bowers war jedoch anderer Meinung, er sagte, es fiele ihm gar nicht ein, in irgend einem Stabe zu dienen; es solle doch einmal jemand kommen und versuchen, ihn dazu zu zwingen. – Unter diesen Umständen blieb nichts übrig als die Sache auf sich beruhen zu lassen.

Auch das Kochen wollte keiner übernehmen, man hielt es für entwürdigend und wir mußten uns ohne Mittagessen begnügen. Den Rest des schönen Tages vertrödelte jeder ans seine Weise, einige schliefen unter den Bäumen, andere rauchten ihre Thonpfeifen, wobei sie von ihren Liebchen und dem Kriege plauderten, noch andere trieben allerlei Spiele. Als es Zeit zum Abendessen war, hatten wir solchen Hunger, daß alle Hand anlegten und, ohne Unterschied des Ranges, Holz sammelten, Feuer anmachten und das Essen bereiteten. Eine Weile ging nun alles gut, dann brach aber zwischen dem Sergeanten und dem Korporal ein Streit aus, wer von ihnen die höhere Charge habe. Das wußte jedoch niemand und Lyman mußte sich zuletzt ins Mittel legen und erklären, daß beide auf der gleichen Rangstufe ständen. Ein Befehlshaber so unwissender Truppen hatte Nöte und Ärgernisse zu bestehen, die in einer regulären Armee wahrscheinlich niemals vorkommen können. Als wir später am Lagerfeuer saßen, uns Geschichten erzählten und Lieder sangen, waren bald alle wieder heiter und guter Dinge. Dann harkten wir das Korn an einem Ende des Speichers zurecht und legten uns schlafen. Draußen vor der Thür stand ein Pferd angebunden, damit es wiehern sollte, wenn jemand den Versuch machte einzudringen. – Ich glaubte das wenigstens damals und erfuhr erst lange nachher, daß das Tier nur aus Versehen die Nacht über dort geblieben war.

Am Vormittag machten wir unsere regelmäßigen Reitübungen, und wenn wir auch niemals Meister wurden in dieser Kunst, so erlangten wir doch einige Fertigkeit. Den Nachmittag pflegten wir zu Ausflügen in die Umgegend zu benutzen; wir ritten in einzelnen Trupps mehrere Meilen weit, besuchten die Töchter der Farmer, ließen uns das Mittagessen oder Abendbrot, das man uns auftrug, trefflich schmecken, unterhielten uns aufs beste und kehrten dann wohlgemut in unser Lager zurück.

Eine Zeitlang schwelgten wir in diesem köstlichen Müßiggang, alles ging nach Wunsch und nichts störte unser Vergnügen. Da brachten die Farmer beunruhigende Nachrichten; es hieß, der Feind hätte die Richtung nach unserer Gegend genommen und käme durch Hydes Wiesengrund herangezogen. – Das war ein rauhes Erwachen aus süßen Träumen und wir wußten in unserer Bestürzung nicht gleich, wohin wir den Rückzug antreten sollten. Bei der Unbestimmtheit des Gerüchts wollte Lyman anfänglich überhaupt nichts von einem Rückzug hören, doch sah er bald ein, daß er nicht wagen dürfe, auf seinem Kopf zu bestehen. Das Kommando war nicht in der Stimmung, sich eine Insubordination gefallen zu lassen. Er gab daher nach und rief einen Kriegsrat zusammen, bei dem, außer ihm selber, nur noch drei Offiziere zugegen sein sollten. Die Gemeinen waren jedoch so aufgebracht über diesen Beschluß, daß wir ihnen gestatten mußten, dazubleiben und sich an der Beratung zu beteiligen, was sie mit großem Eifer thaten. Es handelte sich um die Frage, auf welchem Wege wir uns zurückziehen wollten; bei der Aufregung, die in der Versammlung herrschte, war jedoch niemand imstande einen Vorschlag zu machen. Nur Lyman erklärte kaltblütig, wenn wir nicht nach Hydes Wiesengrund marschierten und so dem Feinde entgegengingen, sei es ganz gleichgültig, welchen Weg wir zum Rückzug wählten. Wie klug und richtig das war, leuchtete uns auf der Stelle ein und wir priesen unseres Hauptmanns Scharfsinn. Gemeinsam ward nun beschlossen, Zuflucht bei einem Freunde unserer Sache, dem Farmer Mason zu suchen, dessen Gut eine halbe Meile zu unserer Linken lag. Inzwischen war die Dämmerung hereingebrochen, und da wir nicht wußten, wie bald der Feind eintreffen könne, hielten wir es für das beste, den Marsch sofort anzutreten und unsere Pferde und sonstigen Habseligkeiten zurückzulassen.

Nur Flinten und Schießbedarf mit uns führend, brachen wir auf; der Weg war höchst mühselig, steil und steinicht, dazu stockfinstere Nacht und strömender Regen. Der vorderste von unsern Leuten stolperte und fiel, sein Hintermann über ihn her und der nächste wieder über diesen, bis zuletzt Bowers, der das Pulverfaß trug, an den schlüpfrigen Abhang kam, auf dem das ganze Kommando am Boden lag, Arme und Beine in einem Knäuel durcheinander. Natürlich fiel auch er mit dem Fäßchen und brachte das ganze Korps ins Rutschen, bis es unten in einem Bach landete. Nun geriet der Haufen in Bewegung; wer zu unterst war, raufte, biß und kratzte den, der über ihm lag, es entstand eine allgemeine Prügelei und jeder verschwor sich hoch und teuer, käme er nur diesmal glücklich aus dem Bach, so zöge er nun und nimmermehr wieder in den Krieg. Ob das Land zu Grunde gehe, sei ihm einerlei, der Feind kümmere ihn ganz und gar nicht – und was dergleichen Redensarten mehr waren. Während wir sie anhörten und in leisem Flüsterton mit einstimmten, wurde uns ganz jämmerlich zu Mute an dem schauerlich dunkeln Ort, zumal wir durch und durch naß waren und obendrein den Feind höchst wahrscheinlich auf den Fersen hatten.

Pulver und Flinten waren verloren gegangen und das Schimpfen und Brummen nahm kein Ende; die Leute tasteten auf dem sumpfigen Erdreich nach ihren Waffen umher oder versuchten sie aus dem Bach zu fischen, was viel Zeit kostete. Plötzlich vernahmen wir ein Geräusch, hielten den Atem an und lauschten, ob es der nahende Feind sei. Es klang ganz wie das Brüllen einer Kuh, aber wir konnten nicht warten, um es näher zu untersuchen. So gaben wir denn Fersengeld und trachteten Masons Pachtgut zu erreichen, so rasch das im Dunkeln möglich war. Wir verirrten uns jedoch etlichemale in den vielen Felsschluchten und es hatte schon neun Uhr geschlagen, als wir endlich an den Heckenzaun gelangten. Eben wollten wir uns als Freunde zu erkennen geben und hatten schon den Mund zur Parole geöffnet, da kam mit schrecklichem Gebell und Geheul eine Meute Hunde über den Zaun gesetzt; jeder Hund kriegte einen Soldaten von hinten am Beinkleid zu packen und lief mit ihm davon. Wir konnten die Hunde nicht totschießen, aus Furcht, die Personen zu treffen, in die sie sich festgebissen hatten; so standen wir denn ratlos und hilflos einem Schauspiel gegenüber, das so kläglich und beschämend war, wie vielleicht kein zweites im ganzen Bürgerkrieg. Auch an Beleuchtung fehlte es dabei nicht, denn der alte Mason und seine Söhne kamen auf den Lärm mit Lichtern vor das Haus gelaufen. Es gelang ihnen leicht, die Hunde loszumachen, bis auf Bowers Bulldogge, die ganz mit ihm zusammengewachsen schien und erst losließ, als man sie mit kochendem Wasser begoß, wobei Bowers auch seinen Teil abbekam und sich gebührend bedankte.

Im Hause angekommen, wurden wir mit einer Flut von Fragen bestürmt, bis sich herausstellte, daß wir gar nicht wußten, vor wem wir eigentlich die Flucht ergriffen hatten. Das ging dem alten Mason doch über den Spaß; er meinte, wir wären Soldaten von echtem Schrot und Korn; keine Regierung sei ja imstande das Schuhleder zu bezahlen, das es kosten würde, immer hinter uns drein zu laufen und da müsse der Krieg wohl bald von selber aufhören. Dann fragte er, warum wir keine Wachen am Wiesengrund aufgestellt hätten oder Kundschafter ausgeschickt, um Näheres über die Stärke und Ausrüstung des Feindes zu erfahren, statt auf ein bloßes Gerücht hin unsere feste Stellung zu verlassen und das Hasenpanier zu ergreifen. Je mehr er sprach, um so erbärmlicher ward uns zu Mute – das war noch ein weit schlimmerer Willkommen als der Angriff der Hunde.

Beschämt schlichen wir zu Bette, um uns von allem, was wir durchgemacht hatten gründlich zu erholen und auszuruhen. Allein unser Schlummer war nur von kurzer Dauer, die Leiden jener Nacht hatten noch kein Ende. Gegen zwei Uhr ertönte plötzlich von der Straße her ein Warnungsruf, in den die ganze Hundeschar laut heulend mit einstimmte; schon im nächsten Augenblick war alles auf den Beinen, um zu sehen, welcher Feind im Anzuge sei. Ein Reiter hatte die Nachricht gebracht, daß eine Abteilung Unionstruppen von Hannibal heranmarschiere und strengen Befehl habe, alle Banden wie die unserige, auf welche sie stoßen würde, gefangen zu nehmen und ohne Barmherzigkeit aufzuknüpfen. Wollten wir der Gefahr entrinnen, so war keine Zeit zu verlieren. Farmer Mason geriet jetzt selbst in die größte Aufregung und jagte uns förmlich zum Haus hinaus. Ein Neger sollte uns an eine Bergschlucht führen, damit wir uns samt unsern verräterischen Gewehren verstecken könnten.

Draußen floß der Regen in Strömen; rasch ging es den Heckenweg hinunter, dann durch steinichtes Ackerland, wo bald der eine, bald der andere stolperte und auf dem nassen Boden lag. Wer zu Fall gekommen war, schimpfte auf den Krieg und auf alle, die Schuld hatten an seinem Anfang und Fortgang, am meisten aber verwünschte jeder seine eigene Thorheit, je daran teil genommen zu haben. Als wir den waldigen Eingang der Schlucht erreicht hatten, schickten wir den Neger wieder nach Hause. Dicht aneinander gedrängt standen wir unter den regentriefenden Bäumen und verbrachten eine entsetzliche Nacht. Die Wasser drohten uns zu ersäufen, das Heulen des Sturms, das Krachen des Donners betäubte uns, die zuckenden Blitze blendeten unsere Augen. Doch klapperten und bebten wir nicht vor Nässe und Kälte allein, weit schlimmer noch war unsere Angst vor der hänfenen Schlinge, die unserm Leben ein Ende zu machen drohte. Die Möglichkeit eines so schmachvollen Todes hatten wir nicht bedacht; sie verdarb die Romantik des ganzen Feldzugs und verwandelte unsere Träume von Ehre und Ruhm in entsetzliche Schreckgespenster. Daß jener barbarische Befehl wirklich erteilt worden sei, bezweifelte keiner aus unserer Schar.

Die lange Nacht ging schließlich doch vorüber und beim Morgengrauen brachte der Neger die Nachricht, das Gerücht sei falsch, es habe sich nicht bestätigt und bald werde das Frühstück fertig sein. Auf der Stelle waren wir wieder frohen Mutes, die Welt schien voll Glanz und Heiterkeit und das Leben so schön und hoffnungsreich wie immer – denn damals waren wir jung. Das ist schon lange her – über vierundzwanzig Jahre.

Ein Frühstück, wie es uns die Masons nun auftischten, bekommt man nur in Missouri. Knusprigen Zwieback und Weizenbrot, heiß aus dem Ofen mit dem hübschen Gittermuster verziert, frische Maiskuchen, gebratene Hühner, Speck, Kaffee, süße Milch, Eier, Buttermilch u. s. w. Wir brauchten das alles zu unserer Stärkung und ließen es uns trefflich schmecken.

Unser Aufenthalt bei Mason dauerte nur wenige Tage; die leblose Stille und Langeweile dieses schläfrigen Pachtguts ist mir aber die vielen Jahre hindurch in der Erinnerung geblieben, sie lastet noch heute mit einem Druck auf meinem Geist wie Trauer und Tod. Es gab da nichts zu denken, nichts zu thun, keinerlei Lebensinteresse. Die Männer waren den ganzen Tag über auf dem Felde, auch die Frauen gingen ihren Geschäften nach und man bekam sie nicht zu Gesichte. Der einzige Laut, der sich vernehmen ließ, war das einförmige Schnurren eines Spinnrads. Es klang aus einem entlegenen Zimmer mit so jammervollem Klageton zu uns herüber, daß wir meinten, vor Heimweh vergehen zu müssen.

Bei Dunkelwerden pflegte sich die Familie zur Ruhe zu begeben und wir mußten wohl oder übel dem Beispiel folgen. Schlaflos wälzten wir uns die ewig langen Stunden auf unserm Lager umher und zählten die Glockenschläge; eine solche Nacht dauerte hundert Jahre.

Zuletzt konnten wir es an dem Ort nicht länger aushalten und empfanden eine förmliche Freude als es hieß, daß uns der Feind wieder auf den Fersen sei. Unser kriegerischer Geist erwachte, wir waren wie neugeboren, stellten uns schnell in Reih und Glied und marschierten in unser früheres Lager zurück.

Hauptmann Lyman hatte sich jedoch Masons Winke wohl gemerkt; er gab jetzt Befehl, daß Wachen ausgestellt werden sollten, um uns vor Überrumpelung zu schützen. Ich hatte den Auftrag, für einen Posten an der Gabelung des Weges in Hydes Wiesengrund zu sorgen. Als die Nacht dunkel und drohend hereingebrochen war, befahl ich dem Sergeanten Bowers, die Wache dort bis zwölf Uhr zu übernehmen; allein er erwiderte, das thäte er nicht – wie ich von vornherein erwartet hatte. Ich versuchte noch einige andere zu überreden, aber alle schlugen es mir ab. Zwei oder drei entschuldigten sich wegen des schlechten Wetters, die übrigen aber erklärten freimütig, sie würden unter keiner Bedingung Folge leisten. – Das klingt uns jetzt sonderbar und wie ein Ding der Unmöglichkeit, damals aber war es gar nicht überraschend, sondern ein höchst natürliches und alltägliches Vorkommnis. Die jungen Leute, die sich durch ganz Missouri in kleinen Lagerplätzen, wie der unsrige, versammelt hatten, waren viel zu selbständig und unabhängig aufgewachsen, um sich den Befehlen von Tom, Dick oder Harry zu fügen, mit denen sie ihr Lebenlang auf du und du gestanden hatten. Im ganzen Süden wird es wohl ähnlich hergegangen sein – versteht sich nur während der ersten Monate des Krieges.

Das Oberkommando über sämtliche Milizen unserer Gegend führte der Brigadegeneral Thomas Harris, ein ausgezeichneter Mann und allgemein beliebt. Wir hatten ihn aber gut gekannt, als er noch der einzige Telegraphenbeamte in Hannibal war, der für geringen Sold wöchentlich meist eine Depesche abzuschicken hatte, und zwei, wenn die Geschäfte sich besonders drängten. Als er daher eines Tages plötzlich in unserer Mitte erschien und uns mit militärischer Würde Verhaltungsmaßregeln überbrachte, wunderte sich niemand über die Antwort, welche er von dem versammelten Korps erhielt:

»Na, wenn wir aber nun nicht wollen, Tom Harris – was dann?«

Mit Leuten solchen Schlages in den Krieg zu ziehen, scheint ein völlig hoffnungsloses Beginnen. Dennoch haben einige meiner damaligen Kameraden später das blutige Handwerk trefflich erlernt; sie sind tüchtige Soldaten geworden, welche gehorchten wie die Maschinen, den Krieg bis zu Ende mitmachten und mit Ehren entlassen wurden. Ein Bursche zum Beispiel, der mich damals einen Schafskopf nannte, weil ich glaubte, er werde tollkühn genug sein, um den gefährlichen Posten zu beziehen, hat sich, ehe er noch ein Jahr älter war, durch Mut und Unerschrockenheit ganz besonders hervorgethan.

Es gelang mir an jenem Abend doch noch, Bowers zu bewegen, mit mir den Nachtdienst zu versehen. Ich schlug ihm nämlich vor, den Rang mit ihm zu tauschen und ihn als Untergebener zu begleiten. In pechfinsterer Nacht und bei strömendem Regen verbrachten wir ein paar erbärmliche Stunden zu Pferde. Bowers schimpfte ohne Unterlaß auf das Wetter und den Krieg, bis wir einzunicken begannen und uns kaum mehr im Sattel halten konnten. Nun quälten wir uns nicht länger, sondern ritten ins Lager, ohne auf Ablösung zu warten. Der Feind hätte es mit Leichtigkeit ebenso machen können, denn niemand hielt uns an oder fragte nach unserm Begehr; nirgends ließ sich eine Schildwache blicken, alles lag in festem Schlaf. Auch wurde, so viel ich weiß, nie wieder der Versuch gemacht, zur Nachtzeit einen Posten auszustellen, nur bei Tage hielten wir Wache.

In dem Kornspeicher, wo das Kommando schlief, entstand gewöhnlich großer Lärm, bevor noch der Morgen graute. Zahllose Ratten waren dort einquartiert; sie kletterten zu aller Ärger und Verdruß auf den Schläfern herum und liefen ihnen ohne weiteres über das Gesicht. Bald bissen sie diesen, bald jenen Soldaten in die Fußzehe, der fluchend aufsprang und im Dunkeln mit Maiskolben um sich warf; die waren zwar nicht ganz so hart wie Ziegelsteine, aber wen sie trafen, dem that es doch weh. Das wollte sich keiner gefallen lassen; ehe fünf Minuten vergingen, lag ein Nachbar dem andern in den Haaren und es entstand eine allgemeine Rauferei. So kam es, daß im Kornspeicher viel Blut vergossen wurde, das war aber auch das einzige, welches ich fließen sah, solange ich am Kriege teilnahm. – Nein, halt, das ist nicht die volle Wahrheit! Einmal floß doch Blut, und wie das geschah, will ich jetzt erzählen:

Wir wurden, wie bereits gesagt, häufig durch allerlei Gerüchte erschreckt. Von Zeit zu Zeit tauchte immer wieder die Nachricht auf, daß der Feind heranrücke und wir zogen uns vor ihm stets in ein anderes Lager zurück. Da es sich jedoch jedesmal erwies, daß es nur blinder Lärm gewesen, wurden wir schließlich gleichgültig dagegen. Als nun eines Abends ein Neger wieder mit dem alten Liede gegangen kam, daß der Feind in der Nähe lauere, sagten wir: ›Schon gut!‹ und beschlossen, uns in unserer Ruhe und Bequemlichkeit nicht stören zu lassen. Über diesen echt kriegerischen Beschluß empfanden wir im ersten Augenblick ein wahres Hochgefühl. Wir waren gerade sehr lustig und guter Dinge gewesen und hatten allerlei Possen getrieben; damit war es für jetzt freilich vorbei – Scherz und Lachen klang nur noch gezwungen, bald verstummte es ganz und tiefe Stille herrschte in der Kompagnie. Wir hatten einmal gesagt, daß wir dableiben wollten und konnten unser Wort nicht brechen, doch wären wir wohl zu überreden gewesen, das Lager zu verlassen, wenn nur einer den Mut gehabt hätte, es vorzuschlagen. Lange verharrten wir in ängstlichem Schweigen am selben Platze, dann begann eine fast geräuschlose Bewegung im Dunkeln, zu welcher kein Befehl erteilt worden war. Bald merkte ein jeder, daß er nicht der einzige sei, der leise nach der Vorderwand gekrochen war, um durch ein Astloch oder einen Spalt zu spähen. Nein, wir waren alle da und starrten mit klopfendem Herzen nach der Stelle hin, wo der Fußpfad in den Wald einmündete. Ringsum war alles still und man konnte bei dem bleichen Schein des Mondes nur die allgemeinen Umrisse der Gegenstände unterscheiden. Da ließ sich auf einmal ein dumpfer Ton vernehmen, der wie Hufschlag klang. Nach einer Weile sahen wir eine nebelhafte Gestalt auf dem Waldpfad auftauchen, die immer näher kam. Es war ein Mann zu Pferde, und wie mir schien, ritten noch andere hinter ihm drein. Ein jäher Schrecken fuhr mir durch die Glieder; ohne recht zu wissen was ich that, griff ich nach meiner Flinte und steckte den Lauf durch einen Spalt in der Wand. »Feuer!« gebot eine Stimme und ich drückte los. Mir war, als sähe und hörte ich es hundertmal blitzen und knallen – gleich darauf fiel der Mann aus dem Sattel.

Verwundert über den gelungenen Schuß, wollte ich, mit dem Instinkt des Jägers, im ersten Augenblick hinzueilen, um mich meiner Beute zu versichern; da hörte ich neben mir jemand flüstern: »Bravo – den haben wir – jetzt kommen die übrigen an die Reihe.« Wir warteten und lauschten, aber die andern ließen sich nicht blicken. Kein Laut war zu hören, nicht ein Blatt bewegte sich; die Stille ward immer unheimlicher. Endlich ertrugen wir es nicht länger; wir krochen verstohlen hinaus und näherten uns der mondbeschienenen Stelle, wo der Mann auf dem Rücken lag, die Arme von sich gestreckt, mit offenem Mund und keuchender Brust, das weiße Vorhemd von Blut überströmt. Siedend heiß fuhr mir der Gedanke durch den Kopf, daß ich ein Mörder war, daß ich einen Menschen getötet hatte, der mir nie etwas zu Leide gethan. Es ging mir durch Mark und Bein. Verzweifelnd kniete ich neben ihm und streichelte ihm Stirn und Wangen – ich hätte alles darum gegeben und mit Freuden mein eigenes Leben geopfert, um ihn wieder heil und gesund zu machen, wie er es noch vor wenigen Minuten gewesen. Alle Kameraden schienen mein Gefühl zu teilen, sie beugten sich mitleidig über den Verwundeten, versuchten ihm auf jede Weise beizustehen und drückten das innigste Bedauern aus. An den Feind dachte niemand mehr, sie sahen in diesem Gegner nur den einzelnen, beklagenswerten Menschen. Das brechende Auge des Sterbenden schien noch mit einem Blick des Vorwurfs auf mir zu ruhen, der mich wie ein Dolchstoß traf. Als ich ihn nun gar, wie im Traum, etwas von Weib und Kind murmeln hörte, ergriff mich neues Entsetzen: So sollten also die Folgen meiner Missethat auch auf das Haupt jener Unschuldigen fallen, die mir nie etwas Böses zugefügt hatten!

Wenige Augenblicke später stieß der Mann den letzten Seufzer aus. Er war im Kriege getötet worden nach Brauch und Recht – sozusagen auf dem Schlachtfeld gefallen; und dennoch beklagte ihn die feindliche Macht wie einen Bruder. Wohl eine halbe Stunde lang standen die Kameraden tief bewegt neben der Leiche und besprachen den Trauerfall in allen Einzelheiten. Sie fragten sich, wer der Mann wohl sein möge; ob er nicht doch vielleicht ein Spion gewesen? Hätten sie ihn wieder lebendig machen können, sie würden ihm sicherlich kein Haar gekrümmt haben.

Bald stellte sich heraus, daß außer mir noch fünf Soldaten Feuer gegeben hatten; nicht weniger als sechs Kugeln waren abgeschossen worden. Diese Teilung der Schuld gewährte mir eine große Erleichterung bei der Last, welche mich niederdrückte. Im Augenblick der That war ich so wenig bei Besinnung gewesen, daß ich in meiner erhitzten Einbildungskraft die ganze Salve für einen einzigen Schuß aus meiner Flinte gehalten hatte.

Der Mann trug weder Waffen noch Uniform. Er war in der Gegend völlig unbekannt und wir haben nie etwas Näheres über ihn erfahren. Mich quälte die Erinnerung an ihn Tag und Nacht, ich konnte sie nicht wieder los werden, konnte die peinigenden Gedanken nicht verscheuchen; daß wir einem harmlosen Menschen das Leben genommen hatten, schien mir so sündhaft, so zwecklos. Und war dies nicht ein Bild des Krieges überhaupt? Was thut man denn anderes im Kriege, als Leute umbringen, gegen die man keine persönliche Feindschaft hegt – Fremde, denen man unter andern Umständen beistehen würde, wenn sie in Not gerieten, und die auch uns Hilfe leisten würden wenn wir ihrer bedürften? Mit meiner Freude an dem Feldzug war es vorbei. Ich besaß die erforderliche Ausrüstung nicht für dies grimme Handwerk; zum Kriege brauchte man Männer, und ich hatte die Kinderschuhe noch nicht ausgetreten. So beschloß ich denn, das unwürdige Soldatenspiel aufzugeben, um nicht meine ganze Selbstachtung einzubüßen. Vernünftigerweise hätte ich mich eigentlich von den selbstquälerischen Gedanken losmachen sollen, denn im Grunde meines Herzens glaubte ich fest, daß nicht meine Hand des Mannes Blut vergossen hatte. Es war im höchsten Grade unwahrscheinlich, daß meine Kugel ihn auch nur gestreift hatte, da es mir bei allen meinen Schießübungen noch nie gelungen war, einen Gegenstand zu treffen, nach dem ich zielte – und ihn hatte ich genau aufs Korn genommen, das wußte ich. Leider gewährte mir diese Überzeugung keinen Trost. Wann hätte sich auch eine kranke Einbildungskraft je durch Vernunftgründe heilen lassen? –

Wir fuhren nun fort wie bisher das Land auszusaugen und bei jeder beunruhigenden Nachricht unser Lager zu wechseln. Die Farmer waren unermüdlich in ihrer Gastfreundschaft und Zuvorkommenheit gegen uns, während sie uns von Rechts wegen hätten zum Henker wünschen müssen. Auf unsern Kreuz- und Querzügen waren wir eines Tages in dem Bezirk Monroe angelangt und hatten in einem Hohlweg bei dem Dorfe Florida, wo ich geboren bin, unser Lager aufgeschlagen – es war das letzte, welches ich bezog. Hier erfuhren wir, daß ein Oberst mit einem ganzen Regiment Unionstruppen auf uns heranmarschiere. Damit war nicht zu scherzen; wir beratschlagten schnell, was zu thun sei, und verkündigten rasch den übrigen Kompagnien, die unser Lager teilten, daß wir nichts mehr mit dem Krieg zu schaffen haben wollten und entschlossen seien, unser Korps aufzulösen. Die Leute standen eben selbst im Begriff, sich zurückzuziehen und suchten uns zu bereden, noch auf den General Tom Harris zu warten, der jeden Augenblick eintreffen müsse. Wir hielten das aber für unnützen Zeitverlust. Nach der vielen Übung, die wir gehabt hatten, verstanden wir uns so gut auf den Rückzug, daß wir nicht erst auf einen General zu warten brauchten, um uns darüber belehren zu lassen. So stiegen wir denn auf und ritten davon – das heißt, etwa die Hälfte unseres Korps, mich eingeschlossen; die übrigen ließen sich überreden, dazubleiben – und machten den ganzen Krieg mit.

Unterwegs trafen wir auf General Harris, der uns befahl, wieder umzukehren; wir aber erzählten ihm, daß ein Oberst mit einem ganzen Regiment Unionstruppen im Anmarsch sei. Da würde es gewiß Mißhelligkeiten geben und wir hielten es für besser, nach Hause zu gehen. Harris geriet zwar in Zorn, aber das nützte nichts, denn unser Beschluß stand fest. Wir hatten das unsrige gethan, hatten einen Mann getötet – die übrigen Feinde konnte Harris nun selbst umbringen, damit der Krieg bald zu Ende wäre.

Wer aber war jener Oberst der Union, welcher mich so in Schrecken jagte, daß ich um seinetwillen dem Süden meine wertvollen Kriegsdienste entzog? Kein anderer als General Grant, wie ich später erfuhr. Damals war sein Name freilich fast ebenso unbekannt wie der meinige – was uns jetzt kaum glaublich erscheint. Wir waren nur wenige Meilen von einander entfernt und ich hatte die beste Gelegenheit, mit ihm zusammenzutreffen – aber ich ging nach der entgegengesetzten Richtung.

Über den vorstehenden Bericht wird wohl mancher Leser den Kopf schütteln, aber er hat dennoch seinen Wert und seine Berechtigung. Er giebt ein wahrheitsgetreues Bild von dem Thun und Treiben der Milizen während der ersten Monate des Bürgerkriegs und von Vorgängen, die durchaus nicht vereinzelt dastanden. Hat die Geschichte bisher darüber geschwiegen, so war das ein Mangel, welcher dringend der Ergänzung bedurfte. Aus den jungen, ungeübten Rekruten, die ohne Zucht, ohne erfahrene Führer, vor unbekannten Schrecknissen zurückbebten, sind später doch noch wackere Krieger geworden, welche mitgeholfen haben, die großen Entscheidungsschlachten zu schlagen. Auch ich würde mit der Zeit das Soldatenhandwerk wohl noch gelernt haben; in einem Stück hatte ich es ja schon ziemlich weit gebracht: ich wußte genau, wie man einen Rückzug ausführen muß.

Der Fluß und seine Erforscher.

Der Fluß und seine Erforscher.

La Salle suchte bei Ludwig XIV. unseligen Andenkens um gewisse wichtige Privilegien nach, die ihm vom Könige auch gnädigst gewährt wurden. Das hauptsächlichste derselben war das Recht, das Land fern und nah zu erforschen, Forts zu bauen, Kontinente abzustecken und sie dem Könige zu übergeben. Die Kosten mußte er selbst tragen. Als Gegenleistung erhielt er dafür einige kleine Vorteile der einen oder anderen Art und darunter namentlich das Monopol der Büffelhäute. La Salle brauchte mehrere Jahre und verschwendete fast sein ganzes Geld, um einige gefährliche und aufreibende Reisen von Montreal nach seinem von ihm am Illinois erbauten Fort zu machen, ehe es ihm schließlich gelang, seine Expedition in solchen Stand zu bringen, daß er mit derselben nach dem Mississippi aufbrechen konnte.

Mittlerweile hatten aber andere mehr Glück gehabt. Im Jahre 1673 durchkreuzten der Kaufmann Joliet und der Priester Marquette das Land und erreichten die Ufer des Mississippi. Sie hatten den Weg über die großen Binnenseen gemacht und dann von ›Green Bay‹ die Reise in Kanoes den Fox River und den Wiskonsin hinab fortgesetzt. Marquette hatte am Fest der unbefleckten Empfängnis den Schwur abgelegt, daß, wenn die heilige Jungfrau ihn den großen Fluß entdecken ließe, er denselben ihr zu Ehren Empfängnisfluß nennen wolle, und er hielt sein Wort, In damaliger Zeit gehörte zur Ausrüstung einer jeden Expedition eine Anzahl Priester; De Soto hatte deren vierundzwanzig und auch La Salle hatte einige bei sich. Oft fehlte es den Expeditionen an Fleisch und mangelte es ihnen an Kleidungsstücken, allein stets befanden sie sich im Besitz der für die Messe erforderlichen Gegenstände und Requisiten, und waren, wie einer der wunderlichen Geschichtsschreiber jener Zeit sich ausdrückte, immer bereit, »den Wilden die Hölle zu erklären.«

Am 17. Juli 1673 erreichten Joliet und Marquette nebst fünf Genossen in ihren Kanoes die Vereinigung des Wiskonsin mit dem Mississippi. »Vor ihnen – erzählt Parkman – kreuzte ihren Weg ein breiter und rascher Strom, der am Fuße von hohen, mit dichten Waldungen bedeckten Hügeln dahinfloß. Dann wandten sie sich seitwärts und ruderten den Strom hinab, an welchem die Einsamkeit auch nicht durch die allergeringste Spur von Menschen gestört wurde.«

Während der Fahrt stieß ein großer Fisch, wahrscheinlich ein cat-fish, gegen das Kanoe Marquettes und erschreckte ihn, nicht ohne Grund, da er von den Indianern gewarnt und darauf aufmerksam gemacht worden war, daß er eine tollkühne und sogar gefährliche Reise mache, denn der Fluß enthalte einen Dämon, »dessen Gebrüll aus weiter Ferne zu hören sei und der ihn in den Abgrund, wo er sich aufhalte, hinabziehen werde.« Ich selbst habe im Mississippi einen Fisch dieser Art von mehr als sechs Fuß Länge und zweihundertundfünfzig Pfund Gewicht gesehen, und wenn der Fisch Marquettes von ähnlicher Größe war, so konnte letzterer mit gutem Recht glauben, daß der brüllende Dämon des Flusses gekommen sei.

Endlich begann der Büffel sich zu zeigen, der auf den damals den Fluß begrenzenden Prairieen in Herden graste. Marquette beschreibt das wilde und bestürzte Aussehen der alten Bullen, »als sie durch wirre, sie fast blind machende Mähnen nach den Eindringlingen stierten.«

Die Reisenden drangen vorsichtig weiter: »sie landeten bei Nacht und zündeten Feuer an, um ihre Abendmahlzeit zu kochen; löschten das Feuer dann aus, schifften sich wieder ein, ruderten eine Strecke weiter und legten sich dann im Strome vor Anker, während ein Mann bis zum nächsten Morgen Wache hielt.«

Dies geschah Tag für Tag und Nacht für Nacht, und nach Ablauf von zwei Wochen hatten sie kein menschliches Wesen gesehen. Der Fluß war damals eine schreckliche Einöde und ist es auf einem Teile seines Laufes noch heute.

Gegen Ende der zweiten Woche entdeckten sie aber eines Tages im Schlamm am westlichen Ufer menschliche Fußspuren. Man hatte sie vor den Indianern am Flusse gewarnt, die so wild und erbarmungslos wie der Flußdämon sein und alle Fremdlinge vernichten sollten, auch wenn sie von diesen nicht gereizt würden; nichtsdestoweniger marschierten Joliet und Marquette ins Land hinein, um die Urheber der Fußspuren aufzusuchen. Sie fanden sie auch bald und wurden feierlich empfangen und gut behandelt, d. h. falls man von einem feierlichen Empfang reden darf, wenn der Indianerhäuptling, um sich im besten Lichte zu zeigen, seinen letzten Lappen vom Leibe nimmt, sofern es eine gute Behandlung ist, wenn Fisch, Fleischbrühe und andere Speisen, darunter auch Hundefleisch, einem im Überfluß vorgesetzt und diese Dinge einem von den bloßen Fingern der Indianer in den Mund geschoben werden. Am nächsten Morgen begleitete der Häuptling mit sechshundert seiner Stammesgenossen die Franzosen nach dem Flusse zurück und sagte ihnen in freundschaftlicher Weise Lebewohl.

Auf den Felsen oberhalb der jetzigen Stadt Alton fanden die Franzosen einige rohe und phantastische indianische Zeichnungen, die von ihnen beschrieben wurden. Eine kleine Strecke weiter abwärts »stürzte sich ein Strom gelben Schlammes quer in das ruhige blaue Wasser des Mississippi, kochend, brausend und Stämme, Äste und entwurzelte Bäume mit sich führend.« Das war die Mündung des Missouri, »jenes wilden Flusses, der nach seinem tollen Laufe durch ein ungeheures unbekanntes Gebiet des Barbarentums seine trüben Fluten in den Schoß seiner sanfteren Schwester ergießt.«

Dann kamen sie bei der Mündung des Ohio vorbei; sie passierten Rohrdickichte, kämpften gegen die Muskitos, trieben Tag für Tag durch die tiefe Stille und Einsamkeit des Flusses dahin, unter dem dürftigen Schatten der als Notbehelf dienenden Sonnenzelte schlummernd und in der Sonnenhitze bratend; sie trafen noch einen anderen Trupp Indianer, tauschten Höflichkeiten mit denselben aus und erreichten endlich, etwa einen Monat nach dem Aufbruch, die Mündung des Arkansas, wo ihnen eine Schar Wilder mit Kriegsgeheul entgegenstürmte, um sie zu ermorden, doch flehten sie zur heiligen Jungfrau um Hilfe, und anstatt eines Kampfes wurde ein Fest gefeiert, bei welchem freundschaftliche Unterhaltungen geführt und allerlei Kurzweil getrieben wurden.

Nach ihrer Überzeugung hatten sie nachgewiesen, daß der Mississippi sich nicht in den Golf von Kalifornien oder ins atlantische Meer ergösse; sie glaubten, er münde in den Golf von Mexiko, und kehrten um und brachten ihre große Neuigkeit nach Kanada.

Allein der Glaube ist noch kein Beweis, und es war La Salle vorbehalten, diesen Beweis zu liefern. Er wurde in ärgerlicher Weise bald durch diesen, bald durch jenen Unfall aufgehalten, allein schließlich brachte er um das Ende des Jahres 1681 seine Expedition doch in Gang. Mitten im Winter traten er und sein Lieutenant Henry de Tonty, der Sohn Lorenzo Tontys, des Erfinders der Tontine, mit einem Gefolge von achtzehn Indianern, die sie von Neu-England mitgebracht hatten, sowie dreiundzwanzig Franzosen die Reise den Illinois hinab an, und zwar marschierten sie zu Fuß auf der Eisdecke des Flusses hin, während sie ihre Kanoes auf Schlitten hinter sich herzogen.

Nachdem sie beim Peoriasee offenes Wasser getroffen hatten, ruderten sie von dort nach dem Mississippi und wandten dann den Bug ihrer Fahrzeuge nach Süden. Sie arbeiteten sich durch die treibenden Eisfelder, an der Mündung des Missouri und später auch an derjenigen des Ohio vorüber, »glitten an den Einöden der den Fluß einfassenden Sümpfe vorbei und landeten am 24. Februar bei den ›Dritten Chikasaw-Klippen‹, wo sie Halt machten und das Fort Prudhomne anlegten.«

»Dann – erzählt Parkman – schifften sie sich wieder ein, und mit jedem Schritte ihrer abenteuerlichen Reise enthüllte sich ihnen mehr und mehr das Geheimnis dieser ungeheuren neuen Welt. Immer weiter kamen sie in das Reich des Frühlings: das verschleierte Licht der Sonne, die warme schwüle Luft, das zarte Laubwerk, die sich öffnenden Blüten waren ihnen Zeichen des wiedererwachenden Lebens der Natur.«

Tag für Tag trieben sie im Schatten dichter Waldungen die großen Biegungen des Flusses hinab, bis sie endlich bei der Mündung des Arkansas eintrafen. Anfänglich wurden sie von den Eingeborenen dieser Gegend in derselben Weise begrüßt, wie Marquette von ihnen empfangen war – mit dem Getöse der Kriegstrommel und dem Klirren der Waffen. Bei Marquette hatte die heilige Jungfrau die Schwierigkeit beseitigt, bei La Salle geschah dies durch die Friedenspfeife. Der weiße Mann und die Rothaut reichten sich die Hand und unterhielten sich drei Tage lang miteinander. Dann errichtete La Salle vor den staunend zuschauenden Wilden ein Kreuz mit dem französischen Wappen und nahm – nach der unverschämten Sitte jener Zeit – für den König Besitz von dem ganzen Lande, während der fromme Priester die Räuberei mit einer Hymne segnete. Um die Wilden zu retten, erklärte der Priester ihnen ›mittelst Zeichen‹ die Geheimnisse des Glaubens und entschädigte sie auf diese Weise durch mögliche Besitztümer im Himmel für die wirklichen auf Erden, deren man sie soeben beraubt hatte. Und in derselben Weise veranlagte La Salle diese einfachen Kinder des Waldes durch Zeichen dazu, daß sie Ludwig dem Verdorbenen, der sich jenseit des Wassers befand, huldigten. Niemand lächelte über solche kolossale Ironie.

Diese Förmlichkeiten geschahen an der Stelle, wo später die Stadt Napoleon im Staate Arkansas gebaut wurde. Dort wurde das erste Konfiszierungskreuz an den Ufern des großen Flusses errichtet. Die Entdeckungsreise Marquettes und Joliets endet an demselben Orte – der Stelle der zukünftigen Stadt Napoleon. Auch De Soto befand sich, als er in jenen fernen Zeiten den Blick auf den großen Fluß warf, an demselben Orte – der Stelle der zukünftigen Stadt Napoleon im Staate Arkansas. Mithin sind drei von den vier denkwürdigen Ereignissen, welche mit der Entdeckung und Erforschung des mächtigen Stromes verknüpft sind, zufälligerweise an einem und demselben Orte passiert. Es ist ein höchst seltsamer Zufall, wenn man darüber nachdenkt: Frankreich hat das ungeheure Land an dieser Stelle, der Stelle des zukünftigen Napoleon gestohlen, und später mußte Napoleon selbst das Land zurückgeben, allerdings nicht seinen Eigentümern, sondern den sie beerbenden weißen Amerikanern!

Die Reisenden setzten darauf die Fahrt fort, landeten hier und da, »passierten die später historisch gewordenen Stellen von Vicksburg und Grand Gulf« und besuchten einen mächtigen Häuptling des Tachelandes, dessen ansehnliche Hauptstadt aus Backsteinen bestand, die an der Sonne getrocknet und mit Stroh vermischt waren. Jene Häuser waren meist besser, als man sie heute in der Gegend findet. Die Wohnung des Häuptlings besaß eine Halle von vierzig Quadratfuß Größe, wo derselbe, umgeben von sechzig in weiße Mäntel gehüllten Greisen, Tonty in vollem Staate empfing. Es befand sich auch ein Tempel in der Stadt, von einer Lehmmauer umgeben, die mit den Schädeln der der Sonne geopferten Feinde verziert war.

Darauf besuchten die Reisenden die Natchez-Jndianer in der Nähe der Stelle, wo jetzt die Stadt dieses Namens steht; sie fanden dort »religiösen und politischen Despotismus, eine von der Sonne abstammende privilegierte Klasse, einen Tempel und ein heiliges Feuer«. Es muß ihnen also geschienen haben, als wären sie wieder in ihre alte Heimat zurückgekehrt, nur mit dem Vorteil, daß Ludwig XIV. hier fehlte.

Nach Verlauf einiger weiterer Tage stand La Salle unter seinem Konfiszierungskreuze am Zusammenfluß der Gewässer aus Delaware, Itaska und von den Bergketten am Pazifik mit denjenigen des Golfs von Mexiko: seine Aufgabe war beendet, sein Ziel erreicht. Parkman sagt am Schluß seiner interessanten Schilderung:

»An jenem Tage erhielt das französische Reich einen ungeheuren Zuwachs. Die fruchtbaren Ebenen von Texas, das ungeheure Becken des Mississippi, von den gefrorenen Quellen im Norden bis zu den heißen Küsten des Golfes, von den bewaldeten Abhängen des Alleghanygebirges bis zu den kahlen Spitzen der Felsenberge, ein Gebiet von Savannen und Wäldern, von der Sonnenhitze gespaltenen Wüsten und mit Gras bewachsenen Prairieen, von etwa tausend Flüssen bewässert und von tausend kriegerischen Stämmen bewohnt, kam unter das Szepter des Sultans von Versailles, und zwar durch eine schwache, menschliche Stimme, die kaum eine halbe englische Meile weit zu hören war.«

Der Entwicklung von Handel und Verkehr schien nun nichts mehr im Wege zu stehen. Allein die Ansiedlung längs der Ufer vollzog sich ebenso ruhig, allmählich und langsam, wie die Entdeckung und Erforschung. Es vergingen siebzig Jahre nach der Erforschung des Flusses, ehe seine Ufer eine nennenswerte weiße Bevölkerung hatten, und beinahe weitere fünfzig Jahre, bis der Fluß einen Verkehr bekam. Der erste Verkehr des Stromes fand in großen Leichtern und Flachboten statt, die von den oberen Flüssen nach New-Orleans hinabtrieben oder segelten, dort ihre Ladungen austauschten und in mühevoller Weise vermittelst ›Warpanker‹ und ›Staken‹ zurückgebracht wurden. Eine Reise den Fluß hinab und wieder zurück nahm zuweilen neun Monate in Anspruch. Mit der Zeit nahm dieser Verkehr zu, bis derselbe ganzen Scharen rauher, abgehärteter Leute Beschäftigung gab, ungebildeten aber braven Burschen, welche die fürchterlichsten Strapazen mit seemännischem Stoicismus ertrugen, stark tranken, an rohen Vergnügungen und Faustkämpfen Gefallen fanden, ihr Geld vergeudeten, am Ende der Reise bankerott waren, barbarischen Schmuck liebten und in der fürchterlichsten Weise prahlten; im großen und ganzen aber Leute, die ehrlich, zuverlässig, pflichtgetreu und oft romantisch großmütig waren.

Nach und nach trat dann das Dampfboot auf. Etwa fünfzehn bis zwanzig Jahre setzten diese Leute ihre Flachbootfahrten stromab noch fort, während die Dampfboote den ganzen Verkehr stromaufwärts besorgten. Die Flachbootbesitzer verkauften ihre Fahrzeuge in New-Orleans und kehrten als Deckspassagiere auf den Dampfern in die Heimat zurück.

Nach einer Weile nahmen die Dampfboote so sehr an Zahl und Schnelligkeit zu, daß sie den ganzen Verkehr bewältigen konnten, und nun ging die Flachbootfahrt ihrer vollständigen Auflösung entgegen. Die Flachbootleute wurden Deckarbeiter, Steuerleute und Lotsen auf den Dampfern, oder suchten, wenn sie auf diesen nicht ankommen konnten, Beschäftigung auf den Pittsburger Kohlenleichtern oder den in den Wäldern am oberen Mississippi gebauten Flößen von Fichtenholz.

In der regsten Zeit der Dampfschiffahrt war der Fluß von einem Ende bis zum anderen mit Kohlenleichtern und Holzflößen bedeckt, die sämtlich von Menschenkraft bewegt wurden und großen Scharen jener vorstehend geschilderten, rauhen Charaktere Beschäftigung gaben. Ich erinnere mich wohl noch der mächtigen Flöße, welche während meiner Knabenzeit alljährlich in ganzen Prozessionen bei Hannibal vorbeizugleiten pflegten, jedes von weißen, lieblich nach Harz duftenden Planken, beinahe einen ›Morgen‹ Fläche einnehmend, bedeckt. Sie hatten meistens eine Mannschaft von zwei Dutzend oder mehr Leuten und trugen auf dem geräumigen Deck drei bis vier Hütten zum Schutz gegen Sturm und Wetter. Die rauhen Manieren und prahlerischen Gespräche der Flößer sind mir ebenfalls noch in guter Erinnerung, da wir oft eine Viertelmeile oder weiter in den Fluß hinaus zu schwimmen pflegten, um auf die Flöße zu klettern und eine Strecke mitzufahren.

Vorwort

Vorwort

Lehr- und Wanderjahre II

Das vorliegende Buch ist lediglich eine Erzählung persönlicher Erlebnisse und erhebt keinen Anspruch auf geschichtlichen Wert oder philosophische Tiefe. Dasselbe enthält die Schilderung eines mehrjährigen bunten Nomadenlebens. Trotzdem bietet das Bändchen einige Belehrung und zwar Belehrung über einen interessanten Abschnitt in der Geschichte des fernen Westens, über welchen bis jetzt noch niemand auf Grund eigener Anschauungen und Erlebnisse Bericht erstattet hat. Ich meine damit Entstehung, Wachstum und Höhepunkt des Silberfiebers in Nevada. Es ist dies eine in mancher Beziehung merkwürdige Erscheinung, die bis jetzt die einzige ihrer Art in jenem Lande geblieben ist und dies voraussichtlich auch für alle Zukunft bleiben wird.

Ja, alles in allem, enthält das Buch sogar recht viel Belehrendes. Es thut mir dies herzlich leid, allein es läßt sich wirklich nicht ändern; die Belehrung dringt mir eben, wie es scheint, zu allen Poren heraus. Ich hätte oft gerne alles darum gegeben, meine Kenntnisse für mich behalten zu können, aber es geht nun einmal nicht. Je mehr ich die Quellen verstopfe, desto mehr Belehrung sickert durch. Deshalb kann ich vom Leser nur Nachsicht, keine Verzeihung erwarten.

Erstes Kapitel

Erstes Kapitel

Mein Bruder war soeben zum ›Sekretär‹ des Territoriums Nevada ernannt worden – einem Amt von solcher Erhabenheit, daß es die Obliegenheiten und Würden eines Schatzmeisters, obersten Rechnungsbeamten, Staatssekretärs und im Fall der Abwesenheit des wirklichen Gouverneurs auch die dieses letzteren in sich vereinigte. Eine Jahresbesoldung von 1800 Dollars und der Titel ›Mr. Secretary‹ verliehen dieser hohen Stellung eine gewisse Großartigkeit. Jung und unerfahren, wie ich war, beneidete ich meinen Bruder. Seine hervorragende und finanziell glänzende Stellung stach mir in die Augen, ganz besonders aber die lange, eigenartige Reise, die er machen, und die wunderbare neue Welt, die er kennen lernen sollte. Er durfte reisen! Ich war niemals – abgesehen von meinen Fahrten auf dem Mississippi – von Hause weg gewesen, und das Wort ›reisen‹ hatte einen verführerischen Reiz für mich. Gar nicht mehr lange sollte es anstehen, und er wäre hundert und aber hundert Meilen weit fort auf den großen Prairieen und Wüsteneien inmitten der Gebirge des fernen Westens, bekäme Büffel, Indianer, Prairiehunde und Antilopen zu sehen und allerlei Abenteuer zu bestehen, würde vielleicht sogar gefangen oder skalpiert; und dieses herrliche Leben nähme niemals ein Ende, er würde alles nach Hause berichten und ein berühmter Mann werden. Weiter würde er die Gold- und Silberminen sehen und vielleicht am Abend nach vollbrachtem Tagewerk zwei oder drei Körbe voll glänzender gold- und silberhaltiger Klumpen draußen am Bergeshang auflesen. Und mit der Zeit würde er gewaltig reich werden, würde auf dem Seewege heimkehren und imstande sein, so ruhig über San Francisko, den Ozean und den Isthmus zu sprechen, als wäre gar nichts dabei, diese Wunderdinge mit eigenen Augen geschaut zu haben. Die Qualen, die ich litt, wenn ich mir sein Glück ausmalte, kann keine Feder schildern. Wie er mir nun auf einmal in aller Seelenruhe die herrliche Stellung als Privatsekretär unter ihm antrug, war es mir, als schwinde Himmel und Erde dahin, und das Firmament rollte sich vor meinen Augen auf wie ein Pergament! Ich hatte keinen Wunsch mehr. Ich war vollkommen zufrieden. Binnen einer oder zwei Stunden war ich reisefertig. Viel einzupacken brauchte ich nicht, indem wir von der Grenze von Missouri aus mit der Überlandpost nach Nevada fuhren und jeder Passagier nur ganz wenig Gepäck mitnehmen durfte. Eine Pacificbahn gab es zu dieser schönen Zeit noch nicht – noch keine Schwelle dazu war gelegt.

Meine Absicht war, nur drei Monate in Nevada zu bleiben – mich länger daselbst aufzuhalten, kam mir nicht in den Sinn. Ich gedachte innerhalb dieser Zeit soviel Neues und Seltsames zu sehen, als nur möglich; und dann schleunigst wieder an meine Geschäfte nach Hause zurückzukehren. Ich ahnte nicht, daß ich das Ende dieses auf drei Monate berechneten Vergnügungsausfluges erst nach sechs oder sieben ungewöhnlich langen Jahren erleben sollte!

Die ganze Nacht träumte ich von Indianern, Wüsten und Silberbarren und am folgenden Tage schifften wir uns rechtzeitig an der Werfte von St. Louis auf einem den Missouri hinauffahrenden Dampfer ein. Wir brauchten sechs Tage von St. Louis nach St. Joseph – eine Fahrt, so träge, so schläfrig und ereignislos, daß dieselbe nicht mehr Eindruck in meinem Gedächtnis hinterlassen hat, als hätte sie sechs Minuten gedauert anstatt ebenso viel Tage. Keine andere Erinnerung ist mir davon geblieben, als an einen verworrenen Knäuel wildgestalteter Baumwurzeln, über welche wir geflissentlich mit dem einen oder andern Rade hinfuhren; an Riffe, auf welche wir immer und immer wieder aufstießen, um uns dann von denselben zurückzuziehen und besseres Fahrwasser aufzusuchen; endlich an Sandbänke, auf denen wir gelegentlich sitzen blieben und eine unfreiwillige Rast hielten, worauf wir dann unsere Krücken hervorholten und darüber hinweg humpelten. Wahrhaftig, das Boot hätte fast ebenso gut zu Land nach St. Joseph fahren können, machte es doch nahezu die ganze Zeit seinen Weg auf dem Trockenen – indem es mit ebenso viel Geduld als Emsigkeit den ganzen Tag über Riffe kletterte und über Baumstümpfe hinrutschte. Der Kapitän meinte, es sei »das reinste Renommierboot«, es fehle ihm nur mehr Schneid und ein größeres Rad. Mir kam es vor, als hätte dasselbe ein paar Stelzen brauchen können, ich war jedoch weise genug, diesen Gedanken nicht laut werden zu lassen.

Zweites Kapitel

Zweites Kapitel

Das erste, was wir an dem Abend unserer glücklichen Ankunft in St. Joseph thaten, war, im Sturmschritt nach dem Postamt zu laufen und uns zwei Karten, jede für 150 Dollars, zur Fahrt mit der Überlandkutsche nach Carson City in Nevada zu nehmen. In der Frühe des nächsten Morgens nahmen wir zunächst hastig ein Frühstück ein und eilten dann nach dem Abfahrtsplatze. Nun zeigte sich eine Widerwärtigkeit, die wir vorher nicht gebührend bedacht hatten, nämlich, daß ein schwerer Reisekoffer nicht für fünfundzwanzig Pfund Gepäck mitgehen kann, weil er eben viel schwerer ist. Aber es half nichts – mehr als fünfundzwanzig Pfund auf die Person war nicht zulässig. So mußten wir unsere Koffer aufschnallen und in gehöriger Schnelligkeit eine Auswahl treffen. Wir packten unsere vorschriftsmäßigen fünfundzwanzig Pfund in einen Mantelsack zusammen und schickten die Koffer zu Schiffe nach St. Louis zurück. Es war ein trauriger Abschied, denn nun hatten wir ja keine Fräcke und weißen Glacéhandschuhe mehr für die Abendgesellschaften bei den Pawnees im Felsengebirge, keine Angströhren und Glanzlederstiefel und was sonst dergleichen für die Ruhe und den Frieden des irdischen Daseins unentbehrliche Dinge sind. Wir waren auf Feldration gesetzt. Wir legten jeder einen schweren, groben Anzug an, dazu ein wollenes Soldatenhemd und Aufschlagstiefel, in den Mantelsack stopfen wir einige weiße Hemden, etwas Unterzeug und dergleichen. Mein Bruder, der Sekretär, nahm ungefähr vier Pfund Regierungsverordnungen und ein sechspfündiges Wörterbuch mit, wir wußten ja nicht, wir armen, grünen Jungen – daß man das alles in San Francisco bestellen und in wenigen Tagen in Carson City haben konnte. Meine Bewaffnung bestand in einem elenden, kleinen, siebenläufigen Revolver von Smith & Wesson mit Kugeln von der Größe homöopathischer Pillen, die alle sieben nötig waren, um einem Erwachsenen genug zu geben. Trotzdem hielt ich denselben für etwas Großartiges und meinte, es sei eine ganz gefährliche Waffe. Er hatte nur einen Fehler – man traf schlechterdings nichts damit. Einer unserer Kondukteure zielte eine zeitlang mit demselben auf eine Kuh, und so lange dieselbe still stand und sich ruhig verhielt, blieb sie unversehrt; sobald sie jedoch anfing sich herumzubewegen und er nach anderen Zielen schoß, kam sie zu Schaden. Der Sekretär hatte zum Schutz gegen die Indianer einen Colt-Revolver umgeschnallt, den er zur Verhütung von Unfällen ohne aufgesetzte Zündhütchen trug. Herr Georg Bemis aber – dies war der Name unseres Reisegeführten, den wir zuvor noch nie gesehen hatten, – war furchtbar gewappnet. Er trug im Gürtel einen Allen-Revolver von jenem ursprünglichen Bau, welcher von respektlosen Menschen gerne als ›Pfefferbüchse‹ bezeichnet wird. Sobald man den Drücker zurückzog, krachte die Pistole los. Beim Zurückziehen des Drückers fing nämlich der Hammer an, sich zu heben und die Trommel sich zu drehen, dann fiel der Hammer sogleich wieder herunter und die Kugel war draußen. Daß man hätte zielen können, während die Trommel herum ging, und das Ziel getroffen hätte, das war bei einem Allenn-Revolver vermutlich auf der ganzen Welt überhaupt noch nicht vorgekommen. Trotzdem war der unseres Georg eine ganz vertrauenswürdige Waffe, indem derselbe, wie einer unserer Postillone später einmal meinte »in jedem Falle irgend etwas traf,« wenn er auch das nicht bekam, worauf er zielte. Und so war es auch. Einmal zielte sein Besitzer mit demselben auf ein an einen Baum genageltes Pique-Aß und traf einen Maulesel, der etwa dreißig Ellen links davon stand. Bemis brauchte den Maulesel nicht, allein der Eigentümer erschien mit einer Doppelbüchse und überredete ihn, denselben trotzdem zu kaufen. Ja, es war eine herrliche Waffe, der ›Allen‹. Manchmal gingen alle sechs Läufe auf einmal los, und dann war man in der ganzen Umgegend nirgends seines Lebens sicher, außer in einiger Entfernung hinter demselben.

Zum Schutz gegen Frostwetter im Gebirge nahmen wir zwei oder drei Wolldecken mit. Was Luxusgegenstände betraf, so waren wir bescheiden; außer ein paar Pfeifen und fünf Pfund Rauchtabak nahmen wir keine solchen mit. Dagegen hatten wir zwei große Lederflaschen bei uns, um darin zwischen den Stationen auf der großen Ebene Wasser mitzuführen, außerdem nahmen wir noch ein Säckchen mit Silbergeld mit für die täglichen Ausgaben beim Frühstück und Mittagessen. Um acht Uhr befand sich alles reisefertig auf der anderen Seite des Flusses. Wir hüpften in den Wagen, ein Peitschenknall des Kutschers, und wir rasselten dahin und ließen die ›Staaten‹ hinter uns.

Es war ein prachtvoller Sommermorgen und die ganze Landschaft erglänzte im Sonnenschein. Dabei war es so frisch und lustig, und wir hatten ein Gefühl der Befreiung von Sorgen und Verantwortlichkeiten aller Art, das uns beinahe die Empfindung gab, als seien all die Jahre, die wir in der heißen Stadt unter Qual und Arbeit verbracht hatten, verloren und weggeworfen. Wir schoben uns weiter durch Kansas und nach Verlauf von anderthalb Stunden waren wir schon ziemlich weit auf der großen Ebene. Hier begann gerade das wellenförmige Gelände – eine großartige Folge regelmäßiger Hebungen und Senkungen, soweit das Auge reichte – ein Wogen und Schwellen, gewaltig, wie auf dem Busen des Ozeans nach dem Sturm. Dazwischen allenthalben Kornfelder, durch ihr tieferes Grün die endlose Grasfläche unterbrechend; dann aber verlor dieses wasserlose Meer plötzlich wieder seine wogende Oberfläche, um sich siebenhundert Meilen weit, flach wie die Dielen eines Stubenbodens, hinzustrecken.

Unsere Kutsche war ein großer schwankender und schaukelnder Kasten mächtigen Kalibers – eine gewaltige Wiege auf Rädern. Sie wurde von sechs hübschen Pferden gezogen, und neben dem Kutscher saß der ›Kondukteur‹, unter dessen Leitung bestimmungsgemäß das Ganze stand, soferne ihm die Besorgung der Briefpost, der Packereien, des Eilguts sowie der Passagiere oblag. Wir drei waren bis jetzt die einzigen. Wir saßen innen auf dem Rücksitz. Fast der ganze übrige Innenraum war von Postsäcken eingenommen, wir nahmen nämlich die liegengebliebene Post von drei Tagen mit. Eine senkrechte Wand von Poststücken, an welche wir fast mit den Knieen anstießen, erhob sich beinahe bis zum Dach des Wagens. Auf dem letzteren war ebenfalls ein großer Haufen davon aufgeschnallt. Die vordere wie die hintere Schoßkelle waren damit angefüllt. Siebenundzwanzighundert Pfund davon hatten wir bei uns, wie der Kutscher sagte – »ein wenig für Brigham, für Carson und Frisco, aber das Meiste für die Indianer, die gewaltig eklig werden, wenn sie nicht immer eine Masse Zeug zu lesen haben.« Dabei verzog er jedoch sein Gesicht gräßlich, offenbar als Einleitung zu einem markerschütternden Ausbruch seiner Heiterkeit, und daran merkten wir, daß seine Bemerkung spaßhaft gemeint gewesen war, und hatte besagen sollen, wir würden unsere Postsachen zum größten Teile irgendwo auf der Ebene für die Indianer oder anderweitige Liebhaber abladen.

Alle zehn Meilen wechselten wir die Pferde, einen Tag wie den andern, und flogen lustig auf der harten ebenen Straße dahin. So oft der Wagen hielt, sprangen wir hinaus, um unsere Beine zu recken, und so fand uns die Nacht noch frisch und unermüdet.

Nach dem Abendessen stieg eine Frauensperson ein, die ungefähr fünfzig Meilen weiter zu Hause war und wir drei andern mußten nun abwechselnd beim Kutscher und Kondukteur Platz nehmen. Offenbar gehörte sie nicht zu den gesprächigen weiblichen Wesen. Da saß sie in dem immer mehr verblassenden Dämmerlicht und heftete ihre starren Augen auf eine Stechfliege, die sich an ihrem Arm festsog, dann erhob sie langsam die andere Hand, bis sie die Entfernung richtig abgemessen hatte, und versetzte ihr einen Schlag, der eine Kuh hätte zu Boden strecken können; hierauf betrachtete sie den Leichnam mit ruhiger Befriedigung – sie fehlte ihre Fliege niemals und traf ihr Ziel mit todbringender Sicherheit. Die Leiche beseitigte sie nie, ließ sie vielmehr als Köder liegen. Ich saß neben dieser grimmen Sphinx und sah zu, wie sie dreißig bis vierzig Fliegen totschlug – sah zu und wartete auf ein Wort aus ihrem Munde, jedoch vergeblich. So begann ich selbst endlich die Unterhaltung. Ich sagte:

»Die Stechfliegen sind recht schlimm hier herum, Madam.«

»Ah was!«

»Wie meinten Sie, Madam?«

»Ah was!«

Nun wurde sie munter und sagte, um sich blickend:

»Ich will verdammt sein, wenn ich euch Kerle nicht für Taubstumme gehalten habe. Ja, bei Gott. Da bin ich gesessen und gesessen und habe Fliegen totgeschlagen und mir den Kopf zerbrochen, was euch fehlt. Erst dachte ich, ihr wäret taubstumm, dann, ihr wäret krank oder verrückt oder so ‚was, und nach und nach kam ich darauf, ihr müsset ein paar traurige Narren sein, die nichts zu reden wissen. Woher kommt ihr?«

Die Sphinx war keine Sphinx mehr! Die Brunnen der großen Tiefe waren bei ihr aufgegangen und sie ließ alle neun Redeteile vierzig Tage und vierzig Nächte lang auf uns herab regnen, bildlich gesprochen, und übergoß uns mit einer solchen trostlosen Sintflut trivialen Geschwätzes, daß aus der tosenden Wüste von grammatischen Fehlern und schlechter Aussprache nicht einmal eine Felsspitze oder Zacke mehr hervor schaute, an die sich eine Erwiderung hätte knüpfen lassen. Was mußten wir erdulden! Stunde für Stunde machte sie fort, bis es mir leid that, daß ich überhaupt die Moskitofrage eröffnet und ihr damit den Anstoß gegeben hatte. Erst, als sie gegen Tagesanbruch an ihrem Ziele anlangte, hörte sie endlich auf; beim Aussteigen weckte sie uns (wir waren nämlich eben ein wenig eingenickt) und sagte:

»Nun, steiget in Cottenwood aus, ihr Kerle, und bleibet ein paar Tage dort liegen, ich komme dann abends eine Weile hinüber, und wenn es euch recht ist, daß ich hie und da ein Wort dazwischen rede, so bin ich bereit dazu. Die Leute werden euch sagen, daß ich für eine Hinterwäldlerin immer etwas Vornehmes und Besonderes an mir gehabt habe, und so bin ich auch gegen das Lumpenpack und so muß ein Weibsbild auch sein, wenn sie was sein will, aber wenn Leute daherkommen, die meinesgleichen sind, so bin ich, glaub‘ ich, eigentlich ein ganz zuthuliches Kühlein.«

Wir beschlossen, in Cottenwood nicht liegen zu bleiben.

  1. Brigham Joung, das bekannte Oberhaupt der Mormonen.
  2. Abkürzung von San Francisco.

Drittes Kapitel

Drittes Kapitel

Etwa anderthalb Stunden vor Tagesanbruch rollten wir sanft dahin – so sanft, daß unsere Wiege nur ganz leise und sachte schaukelte. Dies hatte uns allmählich in Schlaf gelullt und unser Bewußtsein umnebelt, als plötzlich etwas unter uns nachgab! Wir hatten wohl eine undeutliche Empfindung davon, die Sache ließ uns jedoch gleichgültig. Jetzt hielt der Wagen an. Wir hörten Kutscher und Kondukteur draußen mit einander reden; sie suchten nach einer Laterne und fluchten, weil sie dieselbe nicht finden konnten – aber wir nahmen keinen Anteil an dem etwaigen Vorkommnis; der Gedanke an diese Leute, die draußen in der finstern Nacht beschäftigt waren, erhöhte nur unser Gefühl von Behaglichkeit und wir schmiegten uns fest in unser Nest hinter den herabgelassenen Vorhängen. Inzwischen hatten sich die beiden, nach dem Geräusch zu schließen, an eine Untersuchung gemacht und man hörte die Stimme des Kutschers sagen: »Bei Gott, der Schwungriemen ist gebrochen!«

Dies riß mich mit einemmale völlig aus dem Schlafe – wie dies stets der Fall ist, wenn das unklare Gefühl über einen kommt, daß ein Mißgeschick passiert ist. Ich hatte noch nicht lange darüber nachgedacht, was wohl ein ›Schwungriemen‹ sein könne, als einer der Vorhänge aufgehoben wurde und das Gesicht des Kondukteurs am Fenster erschien, wobei seine Laterne ihren Schein auf uns und unsere Wand von Postsachen warf. Er sagte: »Herrschaften, Sie werden einen Augenblick aussteigen müssen, der Schwungriemen ist auseinander!« Wir kletterten hinaus in ein frostiges Nebelgeriesel und fühlten uns recht unbehaglich und verdrießlich. Als ich entdeckte, daß der sogenannte Schwungriemen die feste Vereinigung von Riemen und Federn sei, auf denen die Kutsche sich schaukelt, sagte ich zu dem Kutscher: »Ich erinnere mich nicht, je in meinem Leben einen so abgenutzten Schwungriemen gesehen zu haben. Wie ist es denn gekommen?« –

»Nun, es ist gekommen, weil man einer einzigen Kutsche die Post von drei Tagen aufgeladen hat – dadurch ist es gekommen! Und gerade hierher sind alle die Zeitungssäcke adressiert, die wir für die Indianer hinauswerfen sollten, damit sie ‚was zum lesen haben und Ruhe halten. Es ist ein wahres Glück, denn es ist ja so höllisch finster, daß ich unversehens vorbeigefahren sein würde, wäre der Schwungriemen nicht gerissen.«

Ich wußte, daß er jetzt wieder an einem seiner Lachkrämpfe laborierte, obwohl ich sein Gesicht nicht sehen konnte, da er sich zu seiner Arbeit bückte; ich wünschte ihm gute Verrichtung und wandte mich zu den anderen, um ihnen beim Ausladen der Postsäcke zu helfen. Als alles heraus war, bildete es eine hohe Pyramide. Nachdem der Schwungriemen ausgebessert war, füllten wir die beiden Schoßkellen wieder, legten aber oben hinauf nichts mehr und innen hinein nur halb soviel, als zuvor drinnen gewesen war. Der Kondukteur drückte sämtliche Sitzlehnen hinab und füllte die Kutsche von einem Ende zum andern bis zur halben Höhe mit Postsachen an. Wir legten laut Verwahrung ein, denn so hatten wir keine Sitze mehr. Allein der Kondukteur war gescheiter als wir und meinte, ein Bett sei mehr wert als Sitze und außerdem sei bei dieser Einrichtung der Schwungriemen vor Schaden sicher. Jetzt verzichteten wir gerne auf unsere Sitze. Dieses Faulbett war unendlich viel besser. Es verschaffte mir in der Folge manchen recht heiteren Tag, wenn ich auf demselben ausgestreckt in den Statuten und dem Wörterbuch las und mich dabei an dem seltsamen Herumhüpfen der Buchstaben ergötzte. Der Kondukteur erklärte schließlich noch, er wolle von der nächsten Station aus jemand zur Bewachung der zurückgelassenen Poststücke schicken; dann ging es weiter.

Es war jetzt eben Morgendämmerung, und als wir unsere ermüdeten Beine ihrer vollen Länge nach auf den Postsachen ausgestreckt hatten und durch die Fenster über die weiten, öden, grünen, in kühlen, rauchartigen Nebel gehüllten Grasflächen nach dem verheißungsvollen Lichtstreifen am östlichen Himmelsrande hinschauten, ging das vollkommene Wohlbehagen, das wir empfanden, in ein stilles, seliges Entzücken über. Rasselnd sauste der Wagen die Straße entlang, der Luftzug blies die Vorhänge auf und ließ unsere aufgehängten Röcke höchst vergnüglich flattern; die Wiege schaukelte und schwankte großartig, dazu erklang als Musik das Trappeln der Pferdehufe, das Peitschenknallen des Postillons und sein anfeuerndes ›Hü, Hussa‹! Der Boden unter uns und die Bäume an der Straße schienen uns im Vorüberfliegen ein stummes Hurrah zuzurufen, um dann plötzlich zu erlahmen und uns mit einem Ausdruck nachzublicken, von dem man nicht recht wußte, war es Teilnahme oder Neid oder was sonst; und als wir nun so dalagen, die Friedenspfeife rauchend, und alle diese Herrlichkeiten mit den Jahren unseres früheren mühseligen Stadtlebens verglichen, fühlten wir, daß es nur ein vollkommen befriedigendes Glück auf der Welt gebe und daß uns das zuteil geworden.

Nach dem Frühstück auf einer Station, deren Namen mir entfallen ist, kletterten wir drei auf den Sitz hinter dem Kutscher und überließen dem Kondukteur unser Bett zu einem Schläfchen. Als mich die Sonne allmählich schläfrig machte, legte ich mich auf dem Wagendach auf das Gesicht, hielt mich an dem dünnen Eisengeländer fest und gab mich eine Stunde oder mehr dem Schlafe hin. Man wird sich darnach eine Vorstellung von der unvergleichlichen Güte der dortigen Straßen machen, können. Instinktmäßig greift man im Schlafe nach dem Gitter, sobald der Wagen stößt; so lange derselbe bloß wiegt und schaukelt, ist dieses gar nicht nötig. Die Kutscher und Kondukteure der Überlandpost schliefen bei guter Straße oft auf ihrem Sitz in einem Zuge dreißig bis vierzig Minuten lang, während wir acht bis zehn Meilen in der Stunde machten. Das habe ich oft mit angesehen. Es war ganz ungefährlich. Unfehlbar wird sich der Schlafende am Gitter halten, wenn der Wagen stößt. Die Leute hatten strengen Dienst und konnten nicht fortwährend wach bleiben.

Wir fuhren nun nach einander durch Marysville über den Big Blue und den Little Sandy, dann etwa nach einer weiteren Meile waren wir in Nebraska. Nach wiederum etwa einer Meile befanden wir uns am Big Sandy – hundertachtzig Meilen von St. Joseph. Gegen Sonnenuntergang erblickten wir das erste Exemplar eines Tieres, das auf der ganzen zweitausend Meilen langen Strecke von Kansas bis hart an den stillen Ozean unter dem Namen Eselskaninchen bekannt ist. Dieser Name ist ganz bezeichnend. Es gleicht völlig einem gewöhnlichen Kaninchen, nur ist es um ein Drittel größer oder wohl auch doppelt so groß, hat im Verhältnis zu seiner Größe längere Beine und die widersinnigsten Ohren, welche die Natur irgend einem Geschöpfe angesetzt hat außer dem Esel. Wenn es ruhig dasitzt und an seine Sünden denkt oder geistesabwesend ist oder keine Gefahr ahnt, so ragen seine mächtigen Ohren weithin sichtbar auf; allein das Brechen eines Zweiges genügt, um ihm einen tödlichen Schrecken einzujagen und dann legt es seine Ohren hübsch zurück und drückt sich heimwärts, Man sieht zunächst nichts mehr von ihm als seine langgestreckte, graue Gestalt, die blitzschnell durch die niedrigen Salbeibüsche hinschießt. Der Kopf ist aufgerichtet, die Augen stehen gerade aus und die Ohren sind ein wenig nach hinten gesenkt. An letztern bemerkt man stets, wo das Tier sich befindet. Dann und wann setzt es mit seinen langen Beinen hoch über die verdorrten Büsche weg mit einem gewaltigen Sprung, um den ein Pferd es beneiden könnte. Nach einiger Zeit verfällt es in einen anmutigen, gestreckten Trab, um plötzlich in rätselhafter Weise zu verschwinden. Es hat sich hinter einen Salbeibusch geduckt, wo es lauschend und zitternd sitzen bleibt, bis man ihm aus sechs Fuß nahe ist, um dann abermals auf und davon zu gehen. Will man das Tier jedoch in seiner ganzen bezaubernd großartigen Schnelligkeit bewundern, so muß man auf dasselbe schießen.

Wir jagten unser Exemplar gehörig ins Bockshorn, wie unser Kondukteur sich ausdrückte. Der Sekretär jagte es mit einem Schuß aus seiner Waffe auf, dann begann ich mit der meinen nach ihm zu spucken und zugleich krachte die ganze Breitsite des alten ›Allen‹ prasselnd los, und da ist es denn nicht zu viel gesagt, daß das Kaninchen rein toll war. Es senkte die Ohren, hob den Schwanz und verschwand mit Blitzesschnelligkeit in der Richtung auf St. Francisco. Lange nachher hörten wir es noch durch die Luft sausen. Wann wir zuerst auf Salbeigebüsch trafen, weiß ich nicht mehr, allein da ich dasselbe einmal erwähnt habe, so kann ich es auch gleich beschreiben. Das ist leicht gethan, denn man braucht sich nur einen knorrigen, ehrwürdigen Eichbaum zu einem Strauche von zwei Fuß Höhe verkleinert zu denken samt seiner rauhen Rinde, seinem Laubwerk, seinen gewundenen Ästen, kurz allem, was dazu gehört, um sich eine genaue Vorstellung vom Salbeibusch zu machen. Es ist der König der Wälder in höchst zierlicher Miniaturausgabe, dieser Salbeibusch. Sein Laub ist von einem gräulichen Grün und verleiht der Wüste und dem Gebirge allerorten diesen Farbenton. Die Blätter riechen und schmecken wie die des zahmen Salbei. Der Strauch ist eine merkwürdig zähe Pflanze und wächst mitten im tiefen Sande wie in kahlem Felsgestein, wo außerdem vom ganzen Pflanzenreiche höchstens noch das sogenannte Bunchgras sein Fortkommen suchen würde. (Dies letztere wächst an den frostigen Bergabhängen Nevadas und der angrenzenden Gebiete und bietet selbst im Winter unter dem Schnee ein treffliches Viehfutter, das nach der Versicherung der Viehzüchter an Nährwert fast alle sonst bekannten Sorten von Gras und Heu übertrifft.)

Die Büsche stehen drei bis sechs oder sieben Fuß weit von einander und überziehen Gebirge und Wüsten des fernen Westens bis hart an die kalifornische Grenze. Kein Baum irgend welcher Gattung auf Hunderte von Meilen, überhaupt kein Pflanzenwuchs, ist in der richtigen Wüste zu finden, außer dem Salbeibusch und seinem Vetter, dem ›Greasewood‹, der sich kaum merklich von jenem unterscheidet. Lagerfeuer und warmes Nachtessen wären in der Wüste nicht denkbar ohne den freundlichen Salbeibusch. Die Dicke seines Stammes bewegt sich zwischen der Stärke eines Knaben- und der eines Mannesarmes und seine gekrümmten Zweige erreichen die Hälfte dieser Stärke – alles gutes, gesundes, hartes Holz, dem Eichenholz ganz nahekommend.

Wenn man sich lagert, ist das erste, Salbeiholz zu schneiden, und in wenigen Minuten liegt ein reichlicher Haufen zum Gebrauche fertig da. Man gräbt ein Loch von je einem Fuß Breite, einem Fuß Länge und zwei Fuß Tiefe, und verbrennt dann das kleingemachte Salbeiholz in demselben, bis das Loch an den Rand mit glühenden Kohlen gefüllt ist. Dann beginnt das Kochen, bei dem es ohne Rauch und folglich auch ohne Fluchen abgeht. Ein solches Feuer hält mit nur wenigem Nachlegen die ganze Nacht vor; es giebt auch ein höchst gemütliches Lagerfeuer, bei dem man die allerunmöglichsten Erlebnisse glaublich, belehrend und unterhaltend findet.

Der Salbeistrauch liefert also ein vorzügliches Brennholz, als Nährpflanze dagegen verfehlt er seinen Zweck völlig. Kein anderes Wesen verträgt dessen Geschmack als der Esel und sein Bastardkind, das Maultier. Allein das beweist nichts für seine Eßbarkeit, denn diese letzteren sind ja auch imstande, Fichtenholz, Anthracitkohle, Feilspähne, Bleiröhren, alte Flaschen oder was ihnen sonst gerade mundgerecht kommt, zu verzehren und dann mit dankerfüllten Mienen vom Schauplatz abzutreten, als wäre es ein Austernschmaus gewesen. Dem Maultier, dem Esel und dem Kamel ist alles recht zur vorübergehenden Befriedigung ihres unersättlichen Hungers. In Syrien an den Jordanquellen ging einst ein Kamel während des Aufschlagens der Zelte hinter meinen Überzieher, den es mit kritischem Auge und mit einem Interesse durchmusterte, als hätte es vor, sich einen ebensolchen zu bestellen; nachdem es sich denselben dann in seiner Eigenschaft als Kleidungsstück genügend eingeprägt hatte, faßte es ihn als Nahrungsmittel ins Auge. Es trat mit dem einen Fuß darauf, riß sich den einen Ärmel mit den Zähnen ab, und kaute an demselben so lange fort, bis es ihn allmählich drunten hatte, und dabei öffnete und schloß es die ganze Zeit über abwechselnd die Augen wie in himmlischer Verzückung, als hätte es in seinem ganzen Leben nichts so gutes geschmeckt wie diesen Überzieher. Nach mehrfachem Schmatzen ging es an den andern Ärmel. Hierauf kostete es den Sammtkragen, und zwar mit einem so verklärten Lächeln, daß man deutlich sah, es betrachte diesen Teil als das zarteste Stück an einem Überzieher. Jetzt kamen die Schöße daran, in deren Taschen einige Zündhütchen. Hustenzucker und ein Stück Feigenpaste aus Konstantinopel steckten. Dabei fiel eine Anzahl Papiere heraus, und es machte sich gleich darüber her, – es waren meine für die heimischen Zeitungen bestimmten Manuskripte. Allein damit hatte es einen gefährlichen Boden betreten. Es traf in diesen Schriftstücken auf ein solides Wissen, das ihm doch ziemlich schwer im Magen lag, dazwischen hinein bekam es dann und wann einen Witz zu schlucken, worüber es sich schüttelte, bis ihm die Zähne wackelten; die Sache wurde jetzt allmählich bedenklich für das Tier, allein es hielt seine Beute voll Mut und Vertrauen fest, bis es zuletzt über Behauptungen stolperte, die selbst ein Kamel nicht ungestraft verschlucken kann. Es begann zu würgen und nach Luft zu schnappen, die Augen traten ihm heraus, es spreizte die Vorderbeine – und nach etwa einer Viertelminute fiel es um, so steif wie eine Hobelbank, und starb unter unbeschreiblichen Zuckungen. Ich ging hin und nahm ihm das Manuskript aus dem Maul, dabei fand ich, daß das empfindliche Geschöpf an einer der mildesten und zahmsten Behauptungen erstickt war, die ich je einem vertrauensvollen Publikum vorgesetzt hatte.

Vor dieser Abschweifung von meinem Gegenstand hatte ich eben noch bemerken wollen, daß man gelegentlich auch Salbeibüsche von fünf bis sechs Fuß Höhe mit entsprechendem Gezweige und Belaubung findet, allein zwei bis zweieinhalb Fuß ist das Gewöhnliche.