9.

Diese Gedanken peinigten und quälten ihn bald mehr, bald weniger, nie aber verließen sie ihn ganz. Er las und dachte, und je mehr er las und sann, desto weiter entfernt von dem verfolgten Ziele fühlte er sich.

Nachdem er sich in jüngster Zeit in Moskau und auf dem Dorfe überzeugt hatte, daß er bei den Materialisten keine Antwort finden werde, las er immer aufs neue wieder Plato und Spinoza, Kant, Schelling, Hegel und Schopenhauer, die Philosophen, welche das Leben nicht materialistisch erklärten. Diese Ideen erschienen ihm fruchtbringend, mochte er nun lesen, oder selbst Gegengründe gegen die Lehren anderer aussinnen, insbesondere gegen die materialistischen. Doch kaum hatte er gelesen und sich selbst eine Antwort auf die Fragen ausgedacht, da wiederholte sich bei ihm stets ein und dasselbe. Indem er der gegebenen Bestimmung unklarer Begriffe, wie »Geist, Wille, Freiheit, Substanz« folgte und absichtlich in die Wörterfalle ging, die ihm die Philosophen oder auch er selbst sich gestellt hatte, begann er einigermaßen zu begreifen.

Aber er brauchte nur den künstlichen Gedankengang zu vergessen, und sich zu dem zu wenden, was im Leben befriedigte, wenn er dem gegebenen Faden folgend, nachdachte – und plötzlich stürzte der ganze kunstvolle Bau zusammen wie ein Kartenhaus, und es wurde ihm klar, daß der Bau aus denselben Worten bestand, die nur umgestellt, und unabhängig waren von Etwas, das im Leben viel bedeutungsvoller war, als der Verstand.

Bei der Lektüre Schopenhauers setzte er einmal an Stelle des Begriffs eigner Wille, den der Liebe, und diese neue Philosophie machte ihm zwei Tage lang, so lange er sich mit ihr beschäftigte, Vergnügen. Sie fiel aber gleichsam zusammen, als er darauf aus dem Leben heraus auf sie blickte, und es zeigte sich wieder jenes kattunene Gewand, das nicht warm hielt.

Sein Bruder Iwanowitsch riet ihm, die theologischen Werke Chomjakoffs zu lesen. Lewin las den zweiten Band derselben und war, ungeachtet der ihn anfangs abstoßenden, polemischen, eleganten und scharfsinnigen Diktion, überrascht von Chomjakoffs Lehrmeinung über die Kirche. Ihn überraschte anfangs die Idee, daß die Erlangung der göttlichen Wahrheiten dem Menschen nicht verliehen sei, sondern nur einer Gemeinschaft von Menschen, vereint in der Liebe – der Kirche.

Er freute sich bei dem Gedanken, wie viel leichter es wäre, an eine vorhandene, gegenwärtig lebendige Kirche zu glauben, welche alle Glaubensbekenntnisse der Menschen in sich begreife, und Gott zum Haupte habe, infolge dessen aber heilig und unfehlbar sei, und von ihr nun den Glauben an Gott erst zu empfangen, den an die Schöpfung, den Sündenfall, und die Erlösung – als wenn man mit Gott, dem weit entfernten, geheimnisvollen Gott, der Schöpfung etc. begänne.

Als er nun aber dann die Kirchengeschichte eines katholischen und die eines rechtgläubigen Schriftstellers las und gewahrte, daß beide Kirchen, jede unfehlbar in ihrem Wesen, sich gegenseitig negierten, da verzweifelte er auch an Chomjakoffs Kirchenlehre und das ganze Gebäude wurde von dem gleichen Staub bedeckt, wie die philosophischen Gebäude.

Während dieses ganzen Frühlings hatte er so mit sich selbst im Kampfe gelegen und schreckliche Augenblicke durchlebt.

»Ohne zu wissen, was ich bin und warum ich hier bin – kann man nicht leben! Erfahren aber kann ich es nicht, folglich kann ich nicht leben,« sprach Lewin zu sich selbst. »In der Unendlichkeit der Zeit, der Unendlichkeit des Stoffes, der Unendlichkeit des Raumes bildet sich die organische Zelle; dieses Bläschen wird eine Zeitlang bestehen und dann zerplatzen; – das bin ich.«

Dies bildete das einzige Resultat jahrhundertelanger menschlicher Denkarbeit nach dieser Richtung.

Es war die letzte Überzeugung, auf welcher sich alle Forschungen des menschlichen Denkens in fast allen ihren Ausläufern aufbauten. Es war die herrschende Überzeugung und Lewin machte dieselbe vor allen anderen Erklärungen als die immer noch klarste, unwillkürlich und ohne zu wissen wann und wie, zu der seinigen.

Aber dies war nicht nur falsch, sondern vielmehr der hartherzige Hohn einer bösen Macht, einer so bösen, widrigen, daß er sich ihr nicht unterordnen konnte.

Man mußte sich befreien von dieser Macht, und die Befreiung lag in den Händen eines jeden. Es galt, diese Abhängigkeit vom Bösen zu beseitigen, und dafür gab es nur ein Mittel – den Tod.

Als glückliches Familienoberhaupt, als ein gesunder Mensch, war Lewin mehrmals dem Selbstmord so nahe, daß er die Schnur versteckte, damit er sich nicht an ihr hing, und sich fürchtete, mit der Flinte zu gehen, um sich nicht zu erschießen.

Doch Lewin erschoß sich weder, noch hing er sich, sondern lebte weiter.

10.

Solange Lewin darüber nachdachte, was er sei und wozu er lebe, fand er keine Antwort und geriet in Verzweiflung, doch als er aufgehört hatte, sich selbst darnach zu fragen, erfuhr er gewissermaßen, was er sei und wozu er lebte, weil er fleißig und zweckmäßig thätig war und lebte. Gerade in dieser jüngsten Zeit hatte er bei weitem konsequenter und zweckbewußter, als früher gelebt.

Im Anfang des Juli aufs Dorf zurückgekehrt, widmete er sich wieder seinen gewöhnlichen Arbeiten. Die Landwirtschaft, die Beziehungen zu den Bauern und Nachbarn, die Hauswirtschaft, die Angelegenheiten seines Bruders und der Schwester, die in seinen Händen lagen, sein Verhältnis zu den Verwandten, zu seinem Weibe, die Sorge um sein Kind, die ihm neue Bienenjagd, der er sich seit dem heurigen Frühling gewidmet hatte, alles das nahm seine Zeit in Anspruch.

Diese Beschäftigungen interessierten ihn nicht deshalb, weil er sie vor sich selbst mit gewissen allgemeinen Anschauungen rechtfertigen konnte, so wie er dies früher gethan hatte, sondern im Gegenteil hatte er jetzt, wo er einerseits durch das Mißlingen seiner einstigen Unternehmungen für das allgemeine Wohl ernüchtert worden, andererseits von seinen Ideen und der Menge der Geschäfte viel zu sehr in Anspruch genommen war, die von allen Seiten auf ihn einstürmten, alle Gedanken über das allgemeine Wohl fahren lassen, und diese Dinge interessierten ihn nur, wie ihm schien, deshalb, weil er eben thun mußte, was er that – weil er nicht anders konnte. Wenn er sich früher bemühte, etwas zu thun (dies hatte fast von seiner Kindheit auf angefangen und sich bis zu seiner vollen Mannbarkeit mehr und mehr entwickelt) was eine Wohlthat für jedermann, für die Menschheit, für Rußland, für das ganze Dorf gewesen wäre – so hatte er bemerkt, daß das Nachdenken darüber ihm angenehm, die Thätigkeit selbst aber stets eine nicht damit harmonierende gewesen war; es hatte die volle Zuversicht dazu, daß die Unternehmung wirklich notwendig sei gefehlt, und die Wirksamkeit selbst, die ihm anfangs so erhaben erschienen war, schwand, immer mehr und mehr abnehmend, in ein Nichts zusammen. Jetzt hingegen, wo er verheiratet war und sein Leben für sich selbst mehr und mehr mit bestimmten Grenzen zu umziehen begonnen hatte, empfand er, obwohl er keine Freude mehr bei dem Gedanken an seine Thätigkeit fühlte, die Überzeugung, daß diese Thätigkeit eine notwendige sei, erkannte er, daß sie weit ersprießlicher, als sie früher war, und größer und größer werde.

Jetzt drang er, gleichsam wider seinen Willen, immer tiefer und tiefer in die Erde ein, wie ein Pflug, so daß er gar nicht wieder heraus konnte, ohne die Furchen aufzureißen.

Seiner Familie zu leben, so wie dies Vater und Mutter gewohnt gewesen waren, das heißt, unter den nämlichen Grundlagen der Bildung und Erziehung der Kinder – war ohne Zweifel die Aufgabe. Dies war ebenso notwendig, wie das Essen, wenn man Appetit hat, und zu diesem Zwecke nun war es ebenso notwendig, wie die Bereitung des Essens, das wirtschaftliche Getriebe in Pokrovskoje so zu leiten, daß Einkünfte flossen.

Ebenso sicher, wie man eine Schuld zurückzahlen muß, war es erforderlich, das angestammte Land immer in dem nämlichen Zustande zu erhalten, damit der Sohn, der das Erbe einmal empfing, dem Vater ebenso Dank wisse, wie Lewin seinem Vater für das, was derselbe gebaut und gepflanzt hatte. Hierzu aber war erforderlich, daß kein Boden mehr verpachtet wurde, sondern man diesen selbst bewirtschaftete, Vieh züchtete, die Felder düngte und Waldungen anlegte.

Es war ihm unmöglich, die Führung der Geschäfte für Sergey Iwanowitsch und seine Schwester und alle Bauern, die gewohnt waren, sich Rats bei ihm zu erholen, aufzugeben, ebenso wie man ein Kind fortwerfen kann, welches man schon auf den Armen hielt. Es galt, für die Bequemlichkeit der eingeladenen Schwägerin mit ihren Kindern zu sorgen, des Weibes mit dem eigenen Kinde, und er mußte auch wenigstens einen kleinen Teil des Tages bei ihnen weilen.

Alles das, zusammen mit der Jagd auf Wild und Bienen, füllte für Lewin ein Leben aus, welches für ihn selbst keinen Sinn mehr hatte, sobald er darüber nachdachte.

Wenn aber Lewin recht gut wußte, was er zu thun habe, so wußte er auch ebenso gut, wie er zu handeln habe und Welches von zwei Geschäften das wichtigere sei. Er wußte, daß er die Arbeiter so billig als möglich mieten müsse, doch sie auf eine Schuldverschreibung annehmen, indem er ihnen Vorschuß gab, war noch billiger; wie viel sie wert waren, brauchte nicht gegeben zu werden, was auch noch vorteilhaft war. Bei Futtermangel konnte er den Bauern Stroh verkaufen, wenn sie ihn dabei auch jammerten, der Gasthof und die Branntweinschenke aber mußten, obwohl sie Einkünfte brachten, beseitigt werden. Gegen das Holzhauen mu0te man so streng wie möglich vorgehen, für vertriebenes Vieh hingegen sollte keine Strafe erhoben werden. Obwohl dies freilich die Karaulschtschiks erbitterte und die Furcht verringerte, mußte man das Vieh laufen lassen.

Dem Peter, welcher an einen Wucherer zehn Prozent monatlich zahlte, mußte er Geld borgen, um ihn davon zu befreien, aber deshalb brauchte er den Bauern noch nicht den Obrok zu erlassen oder den säumigen Zahlern Frist zu bewilligen. Man konnte es dem Verwalter nicht hingehen lassen, daß eine kleine Wiese nicht gemäht wurde und das Gras darauf ungenützt verkam, aber man brauchte wieder nicht die achtzig Desjatinen zu mähen, auf denen junger Wald angepflanzt stand. Man brauchte nicht dem Arbeiter zu verzeihen, der unter der Arbeit nach Hause gelaufen war, weil sein Vater starb – so leid ihm das auch that – und mußte ihn dafür billiger für die kostspieligen Monate ansetzen, in denen es nichts zu thun gab. Aber man mußte gleichwohl den Alten, die zu nichts mehr zu brauchen waren, einen Monatsauszug geben.

Lewin wußte wohl, daß er bei seiner Rückkehr nach Hause vor allem zu seiner Frau gehen mußte, wenn diese unwohl war, aber die Bauern, die schon seit drei Stunden auf ihn gewartet hatten, konnten noch langer warten. Er wußte auch, daß er bei allem Vergnügen, welches er bei dem Einfangen eines Bienenschwarms hatte, sich dieses Vergnügens begeben und es dem Alten überlassen mußte, in seiner Abwesenheit den Schwärm zu fangen, indem er zu den Bauern ging, die ihn im Bienengarten gefunden hatten, um sich zu besprechen.

Mochte er damit gut oder schlecht handeln, er wußte es nicht, und würde jetzt nicht nur nicht den Beweis dafür angetreten, sondern vielmehr alle Gespräche und Gedanken darüber vermieden haben.

Die Grübeleien versetzten ihn in Zweifel und hinderten ihn, zu sehen, was er sehen mußte, oder was nicht. Indem er jedoch nicht mehr dachte, sondern lebte, fühlte er in seiner Seele die stete Gegenwart eines unfehlbaren Richters, der entschied, welche von zwei möglichen Handlungen die bessere und welche die schlechtere war, und sobald er dann nicht so handelte, wie es nötig war, fühlte er dies sogleich.

So lebte er denn ohne die Möglichkeit einer Erkenntnis dessen, zu sehen, was er sei und wozu er auf der Welt lebe, gequält von dieser Unkenntnis bis zu einem Grade, daß er den Selbstmord fürchtete und sich doch zugleich damit fest einen sicheren Weg durch das Leben bahnend.

11.

Gerade an dem Tage, an welchem Sergey Iwanowitsch nach Pokrovskoje gekommen war, befand sich Lewin in einer seiner peinlichsten Stimmungen.

Es war mitten in der Arbeitszeit, wo alles Volk eine so ungewöhnliche Anspannung in der Selbstaufopferung bei der Arbeit zeigt, wie sie sonst unter keinen Bedingungen im Leben erscheint und die hoch geschätzt werden würde, wenn die Leute, welche diese Eigenschaften zeigen, sie selbst schätzten, wenn sich nicht ein und dasselbe alljährlich wiederholte, und die Resultate dieses Kraftaufwands nicht so einfach wären.

Roggen schneiden und Hafer, und ihn hereinzubringen, Wiesen zu mähen, Korn ausdreschen und Wintersaat aussäen – alles das scheint einfach und gewöhnlich; aber um es mit Erfolg zu thun, ist es nötig, daß alle, vom Ältesten an bis zum Jüngsten rastlos, dreimal mehr als gewöhnlich, während drei oder vier Wochen arbeiten, sich nur von Kwas, Zwiebel und Schwarzbrot nährend, dreschend, des Nachts Feime abfahrend und sich zum Schlaf nicht mehr als drei Stunden den ganzen Tag gönnend. Alljährlich ist dies so in ganz Rußland.

Lewin, der einen großen Teil seines Lebens auf dem Dorfe, in nahen Beziehungen zum Volke gelebt hatte, fühlte stets während der Arbeitszeit, daß sich diese allgemeine Regsamkeit der Leute auch ihm mitteile.

Am Morgen fuhr er zum ersten Roggenschnitt oder nach dem Hafer, den man in Feime gesetzt hatte, und kehrte dann, wenn sein Weib und die Schwägerin sich erhoben, heim; trank mit ihnen Kaffee und begab sich dann zu Fuße nach dem Vorwerk, wo man eine neu aufgestellte Dreschmaschine zur Vorbereitung des Samens in Gang setzte.

Diesen ganzen Tag hatte Lewin im Gespräch mit dem Verwalter und den Bauern, zu Hause mit seinem Weib, mit Dolly und ihren Kindern, und mit dem Schwiegervater, immer nur über das Eine nachgedacht, was ihn in dieser Zeit neben seinen wirtschaftlichen Sorgen beschäftigte, und in allem nur die Antwort auf seine Frage gesucht: »Was bin ich, wo bin ich; warum bin ich hier?«

In der Kühle der neugedeckten Trockenscheune stehend, blickte Lewin bald durch die geöffnete Thür hinaus, in welcher der trockene und scharfe Staub vom Dreschen wirbelte, auf das von der glänzenden Sonne beleuchtete Gras der Tenne und das frische Stroh, das soeben erst aus dem Schuppen geholt worden war – bald nach den weißhalsigen Schwalben mit ihren bunten Köpfen, die mit Gezwitscher unter das Dach flogen und mit schlagenden Flügeln an den Fensteröffnungen der Thüre hängen blieben, bald auf die Leute, welche in der dunklen, staubigen Trockenscheune hantierten, und hatte dabei seltsame Gedanken.

»Warum geschieht das alles?« grübelte er. »Warum stehe ich hier und lasse arbeiten? Weshalb hasten die alle und mühen sich, mir ihren Eifer zu zeigen? Warum plagt sich die alte Matrjona da, die ich kenne? Ich habe sie ja kuriert, als bei einer Feuersbrunst der Dachbalken auf sie gestürzt war,« dachte er, indem er dem hageren Weibe zusah, welches mit der Schaufel Korn werfend, angestrengt mit den schwarzgebräunten, nackten Füßen auf den unebenen harten Tennenplatz vortrat.

»Sie ist damals wieder gesund geworden, aber dennoch, zwar nicht heute, doch vielleicht nach zehn Jahren verscharrt man sie, und nichts bleibt mehr von ihr; ebensowenig wie von jener Kokette dort im roten Tuch, die mit so gewandter Bewegung die Spreu von den Ähren sondert. Auch sie wird man einscharren, wie den gescheckten Wallachen dort – und sehr bald sogar,« dachte er, auf das mit geöffneten Nüstern schnaubende Pferd mit dem schwerhängenden Bauche schauend, welches um ein liegendes Rad lief, das sich unter ihm bewegte. »Auch das Pferd wird man verscharren und den Fjodor mit seinem krausen, voll Spreu hängenden Barte und dem zerrissenen Hemd auf der hellschimmernden Schulter – man wird sie begraben! Er wühlt die Garben auseinander und ordnet an, ruft den Weibern zu und regelt mit schneller Bewegung den Riemen am Schwungrad. Aber vor allem, nicht nur sie, auch mich wird man einscharren und nichts wird bleiben. Und wozu?« So sann er und schaute dabei nach der Uhr, um zu berechnen, wie viel in einer Stunde gedroschen werde. Er mußte dies wissen, um hiernach das Arbeitspensum für den Tag geben zu können.

»Schon bald eine Stunde und sie haben erst den dritten Feim angefangen,« dachte Lewin, trat zu dem Zugeber und sagte zu ihm, das Geräusch der Maschine überschreiend, er gäbe zu schnell zu.

»Du giebst zu viel hinein, Fjodor – siehst du, sie bleibt hängen und geht daher nicht schnell genug! Du mußt das ausgleichen!«

Fjodor, von dem Staube der ihm am schweißbedeckten Gesicht klebte, schwarz geworden, schrie etwas als Antwort, that aber nicht, wie Lewin wollte.

Dieser trat daher an den Cylinder, ließ Fjodor beiseite treten und begann selbst zuzugeben. Nachdem er bis zu der Mittagspause der Bauern gearbeitet hatte, bis zu welcher nicht mehr viel Zeit war, verließ er zusammen mit dem Zugeber die Trockenscheune und sprach mit ihm.

Der Zugeber war aus einem entfernter liegenden Dorfe, dem nämlichen, in welchem Lewin früher Land zur Bildung der Arbeitsgenossenschaft vergeben hatte. Jetzt war das Land in Pacht gegeben.

Lewin unterhielt sich mit Fjodor über dieses Land und frug ihn, ob Platon, der reiche und tüchtige Bauer jenes Dorfes, für das nächste Jahr welches nehmen werde.

»Der Preis ist zu hoch und Ihr solltet an Platon nicht vergeben,« sagte Fjodor, sich die Ähren von der schweißbedeckten Brust nehmend.

»Aber Kiriloff giebt ihm doch welches?«

»Mitjucha, Konstantin Dmitritsch, warum sollte der es nicht thun! Der drückt die Menschen und nimmt sich schon das Seine. Den dauert kein Christenmensch. Onkel Fokanitsch aber,« so nannte er den Bauern Platon, »zieht der etwa dem Menschen das Fell über die Ohren? Hier giebt er eine Schuldforderung, dort erläßt er – oder nimmt selbst gar nichts. Das ist auch ein Mensch.«

»Aber warum erläßt er Etwas.«

»Nun, die Leute sind eben verschieden. Der eine lebt nur für seinen Leib, wenigstens Mitjucha; der stopft sich nur den Wanst voll, aber Fokanitsch – das ist ein rechtschaffener alter Mann. Er lebt nur für sein Seelenheil, und denkt an Gott!«

»Wie soll er denn an Gott denken? Wie soll er nur für sein Seelenheil leben?« schrie Lewin fast.

»Nun, das ist doch bekannt, nach der Gerechtigkeit, in Gott. Die Menschen sind eben verschieden! Man braucht ja nur Euch anzusehen; Ihr beleidigt auch keinen Menschen.«

»Nun leb‘ wohl,« fuhr Lewin fort, vor Erregung tief Atem holend, ergriff, sich nun umwendend, seinen Stock und schritt eilig dem Hause zu.

Bei den Worten des Bauern, daß Fokanitsch für sein Seelenheil, nach der Gerechtigkeit und in Gott lebe, waren ihm unklare, aber wichtige Ideen in Masse, als hätten sie sich aus einem Gewahrsam freigemacht, gekommen, und diese alle wirbelten nun, nach einem Ziele strebend, in seinem Kopfe herum und blendeten ihn mit ihrem Licht.

10.

Der Maler Michailoff war, wie immer, bei der Arbeit, als man ihm die Karten des Grafen Wronskiy und Golenischtscheffs überbrachte. Er hatte diesen Morgen in seinem Atelier an einem großen Gemälde gearbeitet. Als er in seine Wohnung gekommen war, hatte er sich über seine Frau geärgert, weil diese nicht mit der Hauswirtin umzugehen verstand, die Geld verlangte.

»Zwanzigmal wohl habe ich dir gesagt, laß dich nicht in Erklärungen ein, du bist ohnehin schon dumm genug; willst du aber auf italienisch etwas erklären, dann wirst du noch dreimal dümmer,« sagte er zu ihr nach langem Gezänk.

»Sei lieber nicht so nachlässig! Ich kann doch nicht dafür. Wenn ich Geld hätte« –

»Laß mich in Ruhe, um Gottes willen!« rief Michailoff, Thränen in der Stimme, eilte, sich die Ohren zuhaltend, in sein Arbeitszimmer hinter die Zwischenwand, und schloß die Thür hinter sich. »Einfältige,« sprach er zu sich selbst, ließ sich an seinem Tische nieder, klappte den Karton auseinander und machte sich mit besonderem Eifer an eine schon begonnene Zeichnung.

Niemals arbeitete er mit so großem Eifer und Erfolg, als wenn es ihm im Leben nicht gut ging, besonders aber, wenn er sich mit seiner Frau gezankt hatte.

»Könnte man nur sonstwohin durchbrennen!« dachte er bei seiner Arbeit. Er entwarf eine Zeichnung zu der Figur eines Menschen, der sich im Zornanfall befindet. Die Zeichnung war schon vorher entworfen, aber er war mit derselben nicht zufrieden. »Nein, die andere war besser; wo ist sie denn nur?« Er ging zu seiner Frau, und frug grollend, und ohne aufzublicken, die alte Magd, wo das Papier wäre, welches er ihnen gegeben hätte. Das Papier mit der darauf hingeworfenen Zeichnung fand sich, es war aber beschmutzt und mit Stearin betropft. Gleichwohl nahm er die Zeichnung, legte sie vor sich auf den Tisch, und begann, nachdem er mit den Augen blinzelnd zurückgetreten war, sie zu betrachten. Plötzlich lächelte er und schwenkte freudig mit den Armen. »So ist es, so!« sagte er, und begann, den Bleistift ergreifend, schnell zu zeichnen. Ein Stearinflecken hatte der Figur eine neue Stellung verliehen. Er zeichnete diese neue Stellung und plötzlich fiel ihm das energische Gesicht eines Kaufmanns mit hervorstehendem Unterkinn ein, bei dem er sich seine Cigarren kaufte, und dieses Gesicht, dieses Kinn gab er nun seiner Figur. Er lachte vor Lust; die Gestalt war plötzlich aus einer toten, nur gedachten, lebendig, eine solche geworden, die man nicht mehr verändern konnte. Diese Figur lebte, sie war deutlich und zweifellos bestimmt. Man konnte jetzt wohl noch die Zeichnung ändern, im Einklang mit den Erfordernissen der Gestalt, man konnte wohl selbst die Füße anders stellen, die Haltung des linken Armes gänzlich ändern, die Haare zurücklegen. Brachte man auch diese Verbesserungen an, so veränderte man doch nicht die Figur, sondern nur das, was die Figur verdeckte. Er nahm damit gleichsam nur die Hüllen von ihr ab, wegen deren sie nicht ganz sichtbar war und jeder neue Strich zeigte die ganze Gestalt nur noch mehr in all ihrer energischen Kraft, einer Kraft, die ihm plötzlich von den Stearinflecken hervorgebracht zu sein schien. Sorgfältig beendete er gerade die Figur, als man ihm die Karten brachte.

»Sogleich, sogleich!«

Er eilt zu seiner Frau.

»Laß es gut sein, Sascha, sei nicht mehr böse!« sagte er zu ihr, schüchtern und zärtlich lächelnd, »du warst schuld und ich war schuld; ich will schon alles in Ordnung bringen.« Nachdem er sich mit seiner Frau ausgesöhnt hatte, zog er einen olivenfarbigen Paletot mit Sammetkragen an, setzte seinen Hut auf, und begab sich nach seinem Atelier. Die so wohlgelungene Figur hatte er bereits vergessen. Es erfreute und erregte ihn jetzt nur der Besuch seines Ateliers seitens dieser vornehmen Russen, die im Wagen angekommen waren.

Über sein Gemälde, dasselbe, welches jetzt auf seinem Platze stand, hatte er auf dem Grunde seines Herzens nur ein Urteil – dies, daß ein ähnliches Gemälde bisher noch niemand gemalt habe. Er wähnte nicht, daß sein Bild besser sei als alle Rafaelschen, er wußte nur, daß das, was er auf demselben wiedergeben wollte, noch nie jemand wiedergegeben hatte. Dies wußte er genau und er wußte es schon lange, seit jener Zeit, da er es zu malen begonnen hatte. Aber die Urteile der Menschen hatten für ihn, wie sie auch sein mochten, gleichwohl eine ungeheure Wichtigkeit, und sie regten ihn bis auf den Grund seiner Seele auf. Jede Bemerkung, selbst die allergeringste, welche bewies, daß seine Kritiker auch nur den kleinsten Teil von dem erkannten, was er in diesem Gemälde gesehen hatte, regte ihn bis auf den Grund seiner Seele auf.

Seinen Kritikern maß er stets größere Tiefe an Verständnis bei, als wie er selbst besaß, und er erwartete von ihnen stets etwas, was er selbst noch nicht in seinem Gemälde gesehen hatte. Oft fand er dies auch, wie ihm schien, in den Urteilen der Beschauer.

Schnellen Schrittes näherte er sich der Thür seines Ateliers; und trotz seiner inneren Erregtheit, frappierte ihn die matte Beleuchtung der Gestalt Annas, wie sie im Schatten der Einfahrt stand und dem eifrig ihr etwas auseinandersetzenden Golenischtscheff zuhörte, zu gleicher Zeit aber auch offenbar wünschte, den herankommenden Künstler zu sehen.

Er selbst war sich dessen gar nicht bewußt geworden, daß er an sie herantretend, diesen Eindruck erfaßt und sich zu eigen gemacht hatte, ebenso wie das Unterkinn jenes Kaufmanns der ihm Cigarren verkaufte, und er barg ihn nun an eine Stelle, von der er ihn wieder hervorholen würde, sobald er ihn brauchte. Die Besucher, schon vorher durch Golenischtscheffs Erzählung über den Künstler ernüchtert, wurden dies noch mehr durch dessen äußere Erscheinung.

Von mittlerer Große, gedrungen, mit schwankendem Gang, machte Michailoff in seinem zimmetfarbenen Hut, dem olivengrünen Paletot und den engen Beinkleidern – man trug zu dieser Zeit längst schon weite –- insbesondere aber durch das Gewöhnliche seines breiten Gesichts und einen Ausdruck, in welchem sich Schüchternheit mit dem Wunsche, seine Würde zu beobachten, vereinigte, einen nicht eben augenehmen Eindruck.

»Bitte ergebenst,« sagte er, sich bemühend, gleichmütig, zu erscheinen, und zog, in den Hausflur tretend, einen Schlüssel aus der Tasche um die Thür zu öffnen.

4.

Während des Aufenthalts in der Gouvernementsstadt ging Sergey Iwanowitsch nicht ans Buffett, sondern schritt auf dem Bahnsteig auf und nieder.

Als er zum erstenmal am Coupé Wronskiys vorüberkam, bemerkte er, daß das Fenster zugezogen war, bei nochmaligem Passieren desselben indessen erblickte er die alte Gräfin am Fenster, welche Koznyscheff zu sich rief.

»Ich fahre auch mit und begleite ihn bis Kursk,« sagte sie.

»Ich habe schon gehört,« antwortete Sergey Iwanowitsch, an ihrem Fenster stehen bleibend und in dasselbe hineinblickend. »Welch schöner Zug von ihm,« fügte er hinzu, nachdem er bemerkt hatte, daß Wronskiy nicht im Coupé war.

»Ja, was blieb ihm nach seinem Unglück zu thun übrig?«

»Welch furchtbares Ereignis!« sagte Sergey Iwanowitsch.

»O, was habe ich durchgemacht; aber bitte, tretet doch ein! – O, was habe ich durchgemacht!« wiederholte sie, nachdem Sergey Iwanowitsch eingetreten war und sich neben ihr auf das Polster gesetzt hatte. »Das vermag sich niemand vorzustellen. Sechs Wochen hat er mit niemand gesprochen und nur erst dann gegessen, wenn ich ihn darum angefleht. Nicht eine Minute durfte man ihn allein lassen. Wir haben alles weggenommen, womit er sich hätte ein Leids anthun können; wir wohnten in der niederen Etage; es ließ sich eben nichts voraussehen. Ihr wißt ja, daß er sich schon einmal ihretwegen geschossen hat,« sprach sie, und die Brauen der alten Frau zogen sich finster zusammen bei dieser Erinnerung. »Ja; sie hat geendet, wie solch ein Weib enden mußte. Selbst den Tod hat sie sich gemein und niedrig erwählt!« –

»Wir dürfen nicht richten, Gräfin,« sagte Sergey Iwanowitsch seufzend, »doch ich begreife, wie schwer dies für Euch gewesen sein muß.«

»O, sprecht nicht davon! Ich wohnte auf meinem Gute, und er war gerade bei mir. Da bringt man ein Billet. Er schreibt Antwort und sendet sie ab. Wir ahnten nicht, daß sie schon da auf der Station war. Abends – ich hatte mich soeben zurückgezogen – erzählt mir meine Mary, daß sich auf der Station eine Dame unter dem Eisenbahnzug gestürzt hätte. Dies traf mich wie ein Donnerschlag! Ich erkannte das müsse sie gewesen sein, und das erste, was ich sagen konnte war: Nur ihm nichts mitteilen! – Doch hatte man es ihm schon gesagt. Sein Kutscher war dort gewesen und hatte alles gesehen. Als ich auf sein Zimmer kam, war er nicht mehr bei Sinnen – er war furchtbar anzusehen. Kein Wort hat er gesprochen und ist fortgesprengt. Was dort geschehen ist, ich weiß es nicht, aber sie haben ihn wie einen Toten gebracht. Ich hätte ihn nicht erkannt. – › Prostration complète!‹ erklärte der Arzt. Dann brach fast eine Tobwut aus. Doch, was soll ich da erzählen!« sprach die Gräfin mit der Hand abwehrend. »Eine entsetzliche Zeit! Nein, was Ihr auch sagen mögt, es war ein schlechtes Weib! Und was waren das auch für verzweifelte Leidenschaften! Das mußte auf etwas Absonderliches hinauslaufen und sie hat es auch bewiesen. Sie hat sich vernichtet und zwei edle Männer – ihren Gatten und meinen unglücklichen Sohn!«

»Was sagt denn ihr Gatte dazu?« frug Sergey Iwanowitsch.

»Er hat ihr Kind zu sich genommen. Mein Aleksander war in der ersten Zeit mit allem einverstanden, doch jetzt quält es ihn furchtbar, daß er einem fremden Menschen seine Tochter übergeben hat. Sein Wort zurücknehmen aber kann er nicht. Karenin kam auch zum Begräbnis, doch bemühten wir uns, ihn nicht Aleksander begegnen zu lassen. Für ihn, den Ehemann, war es immerhin doch noch leichter zu ertragen. Sie hat ihn ja erlöst, aber mein armer Sohn hatte sich ihr so ganz dahingegeben. Alles hatte er für sie aufgegeben, seine Carriere, mich, und dabei hatte sie noch nicht einmal Mitleid mit ihm, sondern hat ihn mit Berechnung noch völlig gemordet. Nein, was Ihr auch sagen mögt, selbst ihr Tod – ist nur der Tod eines abscheulichen Weibes, das keine Religion besaß! Möge Gott mir verzeihen, aber ich muß ihr Angedenken hassen, wenn ich auf den Untergang meines Sohnes schaue.«

»Und wie trägt er es jetzt?«

»Gott hat uns geholfen – dieser serbische Feldzug ist gekommen. Ich bin ein greises Weib, und verstehe nichts davon, aber Gott hat ihm dies gesandt. Mir als Mutter ist es natürlich entsetzlich, und, was die Hauptsache ist, man sagt ce n’est pas très – bien vu à Pétersbourg – aber – was thun! Dies allein nur konnte ihn wieder aufrichten. Jaschwin – sein Freund – hat alles verspielt und sich nach Serbien begeben; er ist zu ihm gekommen und hat ihn überredet. Jetzt beschäftigt ihn die Sache doch. Unterhaltet Euch, bitte, mit ihm, ich will ihn zerstreuen. Er ist so schwermütig. Unglücklicherweise hat er auch noch Zahnschmerzen bekommen. Über Euch wird er sich recht sehr freuen. Bitte sprecht mit ihm; dort drüben geht er.«

Sergey Iwanowitsch sagte, es würde ihm Freude machen und begab sich auf die andere Seite des Zuges.

5.

In dem schrägen Abendschatten von Säcken, welche auf dem Bahnsteig aufgetürmt lagen, ging Wronskiy in seinem langen Überrock, mit bedecktem Kopfe und die Hände in den Taschen hin und her, wie ein wildes Tier im Käfig, sich alle zwanzig Schritte schnell wieder wendend. Als Sergey Iwanowitsch sich Wronskiy näherte, schien ihm, als ob ihn dieser sehe, sich jedoch stelle, als bemerke er ihn nicht. Sergey Iwanowitsch war dies ganz gleichgültig. Er stand außerhalb aller persönlicher Beziehungen mit Wronskiy.

In dieser Minute war Wronskiy in seinen Augen ein wichtiger Faktor in dem großen Werke und Koznyscheff hielt es für seine Pflicht, ihn anzufeuern und aufzumuntern. Er trat zu ihm.

Wronskiy blieb stehen, blickte auf, erkannte Sergey Iwanowitsch und drückte demselben, indem er ihm einige Schritte entgegentrat, warm die Hand.

»Ihr habt vielleicht nicht mit mir sprechen wollen,« sagte Sergey Iwanowitsch, »aber kann ich Euch nicht nützlich sein?«

»Mit niemand könnte es mir angenehmer sein, zusammenzutreffen, als mit Euch,« sagte Wronskiy, »entschuldigt mich, aber Erfreuliches giebt es für mich nicht mehr im Leben.«

»Ich verstehe; ich wollte Euch meine Dienste anbieten,« sagte Sergey Iwanowitsch, Wronskiy in das sichtlich leidende Gesicht blickend. »Habt Ihr nicht einen Brief für Ristitsch, oder an Milan nötig?«

»O nein!« antwortete Wronskiy, fast als werde es ihm schwer, zu verstehen: »Wenn es Euch gleich ist, so spazieren wir ein wenig. In den Waggons herrscht eine solche Schwüle! Ob ich ein Schreiben brauche? Nein; ich danke Euch, zum Sterben braucht man keine Empfehlungen. Nur gegen die Türken« – sagte er lächelnd, mechanisch. Seine Augen hatten noch immer ihren Ausdruck von Erregtheit und Leiden.

»Es wird Euch aber leichter werden, mit vorbereiteten Persönlichkeiten die Beziehungen anzuknüpfen, welche doch jedenfalls erforderlich sind. Indes, wie Ihr wollt. Ich hatte mich sehr gefreut, von Eurem Entschluß zu hören. Giebt es doch schon so viele Angriffe auf die Freiwilligen, daß ein Mann wie Ihr, dieselben in der öffentlichen Meinung nur heben kann!«

»Ich bin als Mensch,« sagte Wronskiy, »nur insofern brauchbar, als das Leben mir nichts mehr wert ist. Nur, daß physische Energie genug in mir ist, ein Carré zu sprengen, und es zu zerschmettern, oder zu fallen – das weiß ich! Ich freue mich darüber, daß es etwas giebt, wofür ich mein Leben opfern darf, das mir nicht allein überflüssig, nein, interesselos geworden ist. So kommt es doch noch jemand zu nutze.«

Er bewegte ungeduldig die Kinnbacken, infolge des beständigen, nagenden Zahnschmerzes, der ihn sogar daran hinderte, mit dem Ausdruck zu sprechen, den er beabsichtigte.

»Ihr werdet wieder genesen, ich prophezeie es Euch,« sagte Sergey Iwanowitsch, mit einem Gefühl von Rührung. »Die Erlösung unserer Mitbrüder von einem Joch ist ein Ziel, würdig des Todes wie des Lebens. Verleihe Gott Euch äußeren Erfolg und inneren Frieden,« fügte er hinzu und reichte ihm die Hand hin.

Wronskiy drückte warm die dargebotene Hand Sergey Iwanowitschs.

»Ja, als Waffe – kann ich noch zu etwas taugen. – Aber als Mensch – bin ich eine Ruine« – sprach er in Absätzen.

Der quälende Schmerz des Zahnes, welcher ihm den Mund mit Speichel füllte, hinderte Wronskiy am Reden. Er schwieg, nach den Rädern eines langsam und gleichmäßig auf den Schienen hinrollenden Tenders blickend, und plötzlich ließ ihn eine andere Qual, nicht ein Schmerz, sondern ein allgemeines, inneres Unbehagen auf einen Augenblick seinen Zahnschmerz vergessen.

Der Anblick des Tenders und der Schienen, der Einfluß des Gesprächs mit einem Bekannten, welchen er nach dem Verhängnis, das ihn betroffen, nicht begegnet war, brachte ihm ihr Angedenken plötzlich wieder in die Erinnerung, oder vielmehr das, was ihm von ihr noch geblieben war, als er wie ein Wahnsinniger in den Schuppen der Eisenbahnstation gelaufen kam: Auf einem Tische in demselben, schmählich von den Händen Fremder ausgestreckt, ihr blutiger Leib, noch voll von dem kaum entflohenen Leben; der nach hinten geworfene, unversehrt gebliebene Kopf mit seinen schweren Flechten und wallenden Locken an den Schläfen, und auf dem reizvollen Antlitz, mit dem halbgeöffneten roten Munde, der erstarrte, seltsame, klägliche Ausdruck der Lippen, der furchtbar in den nichtgeschlossenen Augen lag, und wie mit Worten das furchtbare Wort aussprach, daß er bereuen solle – das Wort, welches sie während ihres Streites zu ihm gesagt hatte.

Und er bemühte sich, sie so in sein Gedächtnis zurückzurufen, wie sie gewesen, als er ihr zum erstenmal, gleichfalls auf der Eisenbahnstation, begegnet war, ihr, der Geheimnisvollen, der Reizenden, der Liebevollen, Glücksuchenden und -spendenden, aber nicht der hartherzig Quälenden, als die sie ihm aus der letzten Minute ins Gedächtnis kam.

Er suchte sich der seligsten Minuten mit ihr zu erinnern, doch diese waren ihm auf ewig vergiftet. Er rief sie sich nur als die Triumphierende ins Gedächtnis zurück, welche ihre Drohung, ausgeführt hatte, die niemand nützte und durch Reue nicht auszugleichen war. Den Zahnschmerz fühlte er nicht mehr, aber Schluchzen verzerrte sein Gesicht.

Nachdem er zweimal wortlos an den Säcken vorübergeschritten war, wandte er sich, nachdem er seine Selbstbeherrschung wiedergewonnen hatte, ruhig an Sergey Iwanowitsch.

»Habt Ihr keine Depesche seit der gestrigen erhalten? Der Feind ist zwar zum drittenmal geschlagen, aber morgen erwartet man die Entscheidungsschlacht.«

Nachdem sie noch über die Proklamation des Königs Milan und die weittragenden Folgen, welche dieselbe haben könne, gesprochen hatten, trennten sich beide nach dem zweiten Glockensignal und gingen nach ihren beiderseitigen Waggons.

6.

Da Sergey Iwanowitsch nicht wußte, wann er Moskau würde verlassen können, hatte er nicht an seinen Bruder telegraphiert, daß man ihn abhole.

Lewin war nicht daheim, als Katawasoff und Sergey Iwanowitsch in einem kleinen Tarantaß, der auf der Station gemietet worden war, staubbedeckt wie Araber um zwölf Uhr mittags vor der Freitreppe des Herrenhauses von Pokrowskoje vorfuhren.

Kity, welche mit ihrem Vater und der Schwester auf dem Balkon gesessen hatte, erkannte den Schwager und eilte hinunter, ihn zu bewillkommen.

»Wie unrecht von euch, uns nicht Nachricht zu geben,« sagte sie Sergey Iwanowitsch die Hand reichend und ihm die Stirn darbietend.

»Wir sind ganz wohlbehalten hierher gelangt und haben euch nicht erst Umstände gemacht,« antwortete Sergey Iwanowitsch. »Ich bin so voll Staub, daß ich mich fürchte, jemand anzurühren. Ich war auch so beschäftigt, daß ich nicht einmal wußte, wann ich mich würde losmachen können. Aber ihr haltet es nach altgewohnter Weise,« lächelte er, »ihr freut euch eures stillen Glückes fern von Zeitläuften in eurem stillen Heim. Da hat sich auch mein Freund Fjodor Wasiljewitsch endlich mit aufgemacht.«

»Ich bin indessen kein Neger, sondern werde mich waschen – und dann einem Menschen ähnlich sehen,« sagte Katawasoff mit seinem gewohnten Humor, einen Händedruck wechselnd und mit seinen schimmernden Zähnen in dem geschwärzten Gesicht eigentümlich lächelnd.

»Mein Konstantin wird sich sehr freuen. Er ist nach dem Vorwerk hinaus und muß bald kommen.«

»Er beschäftigt sich nur mit der Landwirtschaft; so macht man es eben hier,« sagte Katawasoff, »bei uns in der Stadt aber ist außer dem serbischen Kriege auch nichts weiter zu sehen. Wie geht es denn meinem Freunde? Was macht er? Ein wenig Sonderling, nicht?« –

»Nun, ja, ein wenig;« antwortete Kity etwas verlegen werdend, mit einem Blick auf Sergey Iwanowitsch, »doch ich will nach ihm schicken. Auch Papa ist bei uns auf Besuch. Er ist erst unlängst aus dem Ausland angekommen.«

Nachdem Kity befohlen hatte, nach Lewin zu schicken, die staubbedeckten Gäste zur Toilette zu führen, den einen in das Kabinett, den anderen in Dollys ehemaliges Zimmer, und ein Frühstück für sie zu servieren, eilte sie, wieder in dem Vollbesitz hurtiger Beweglichkeit, dessen sie in der Zeit ihrer Schwangerschaft beraubt gewesen war, auf den Balkon hinauf.

»Es ist Sergey Iwanowitsch und Katawasoff, der Professor,« sagte sie.

»O weh,« sagte der Fürst.

»Er ist aber sehr liebenswürdig, Papa, und Konstantin hat ihn sehr lieb,« sagte Kity lächelnd, ihm gleichsam zuredend, indem sie den Ausdruck von Ironie auf dem Gesicht des Vaters bemerkte.

»Nun, meinetwegen.«

»Geh doch zu ihnen Herzchen,« wandte sich Kity zu ihrer Schwester, »und unterhalte sie. Sie haben Stefan auf der Station gesehen, er befindet sich wohl. Ich aber will zu Mita laufen. Wie unangenehm aber, ich habe seit dem Thee nicht wieder angelegt. Der Kleine wird jetzt wach geworden sein und wahrscheinlich schreien,« und mit schnellen Schritten ging sie, den Andrang der Milch verspürend, nach der Kinderstube.

Sie hatte in der That den Andrang der Milch nicht bloß vermutet – sie legte das Kind noch an – sondern kannte an dem Andrang der Milch bei ihr die Zeit des Bedürfnisses bei demselben genau.

Sie wußte, daß der Kleine schrie, noch bevor sie zur Kinderstube gelangt war. Und wirklich schrie er. Sie vernahm seine Stimme und beschleunigte ihren Schritt, aber je schneller sie ging, um so lauter schrie das Kind. Seine Stimme war gut, gesund, nur hungrig und ungeduldig.

»Schreit es schon lange?« frug Kity eilig die Kindermuhme, sich auf einen Stuhl setzend und zum Anlegen vorbereitend. »Gebt es schnell her. Ach, Muhme, wie langweilig Ihr doch seid; nun, bindet doch das Häubchen später!«

Das Kind zappelte schreiend vor Gier.

»Das geht aber nicht, Matuschka,« sagte Agathe Michailowna, die fast stets in der Kinderstube zugegen war. Man muß es hübsch ordentlich putzen;« »Eia, eia«, sang sie über dem Kinde, ohne von der Mutter Notiz zu nehmen.

Die Kinderfrau trug das Kind zu der Mutter. Agathe Michailowna folgte ihm mit vor Zärtlichkeit leuchtenden Zügen.

»Es weiß es ja, er weiß es; glaubt mir bei Gott, Matuschka Katharina Aleksandrowna, er hat mich erkannt!« rief Agathe Michailowna dem Kinde zu.

Doch Kity hörte ihre Worte nicht. Ihre Ungeduld war ebenso hoch gestiegen, wie die des Kindes, und vor Ungeduld wollte die Sache lange nicht von statten gehen. Das Kind faßte nicht, wo es fassen sollte und wurde ungebärdig.

Endlich aber, nach einem verzweifelten, erstickten Schrei und hohlklingenden Schmatzen war es gelungen, und Mutter wie Kind fühlten sich gleichzeitig befriedigt und wurden still.

»Er ist doch ganz in Schweiß gebadet, der arme Kleine,« sprach Kity, das Kind befühlend. »Weshalb denkt Ihr denn, daß das Kind euch kennt?« fügte sie hinzu, seitwärts auf die verschmitzt, wie ihr schien, unter dem emporgerückten Häubchen hervorschauenden Äuglein des Kindes, die taktmäßig schwellenden Bäckchen und sein Ärmchen mit der roten Hand blickend, mit dem es kreisende Bewegungen machte. »Kann nicht sein! Wenn es schon jemand erkännte, so müßte es mich erkennen,« sagte Kity auf die Versicherung Agathe Michailownas hin und lächelte.

Sie lächelte darüber, daß sie, wenn sie auch sagte, es könne noch niemand erkennen, in ihrem Herzen wußte, es kenne nicht nur Agathe Michailowna, sondern wisse und verstehe alles, wisse und verstehe noch mehr von Dingen, die niemand kenne, und die nur sie, die Mutter selbst, nur dank dem Kinde kennen lernte und begriff. Für Agathe Michailowna, die Kinderfrau, den Onkel und selbst ihren Vater war der kleine Mitja nur ein lebendiges Wesen, welches für sich lediglich materielle Pflege verlangte, aber für die Mutter war es schon längst ein Geschöpf mit Charakter, in dem sich bereits eine ganze Geschichte seelischer Beziehungen abgespielt hatte.

»Er erwacht, gebe Gott, daß Ihr es selbst seht! Wenn ich es so mache, glänzt er nur so auf, der Liebling. Er glänzt so auf wie der helle Tag,« sprach Agathe Michailowna.

»Nun gut, gut; wir werden ja dann sehen,« flüsterte Kity, »geht jetzt; der Kleine schläft ein.«

1.

Die Fürstin Schtscherbazkaja fand, daß es unmöglich sei, die Hochzeit vor den Fasten, bis zu denen noch fünf Wochen waren, zu feiern, da die eine Hälfte der Ausstattung bis dahin nicht fertig zu stellen war; doch konnte sie nicht umhin, sich mit Lewin einverstanden zu erklären, daß es nach den Fasten wieder viel zu spät werden würde, da eine alte Tante des Fürsten Schtscherbazkiy sehr krank war und bald sterben konnte, und alsdann die Trauer die Hochzeit noch weiter verzögert haben würde. Die Fürstin erklärte sich infolge dessen, nachdem sie die Mitgift in zwei Partieen – eine große und eine kleine geteilt hatte, damit einverstanden, daß die Hochzeit zu den Fasten gefeiert würde. Sie beschloß den kleineren Teil der Mitgift schon jetzt bereit zu machen, während der größere später folgen würde, und war sehr erbost über Lewin, weil dieser ihr durchaus nicht ernsthaft zu antworten vermochte, ob er hiermit einverstanden sei oder nicht. Diese Ordnung der Dinge war um so bequemer, als die jungen Eheleute sogleich nach der Hochzeit auf das Land gingen, wo die große Mitgift gar nicht erforderlich war.

Lewin befand sich noch immer in jenem Zustande der Verzücktheit, in welchem es ihm schien, als ob er und sein Glück den hauptsächlichsten und einzigen Zweck alles Seienden bildete, daß er jetzt an nichts denken, für nichts sorgen dürfe, daß vielmehr alles für ihn von anderen gemacht wurde oder gemacht werden würde. Er hatte durchaus keine Pläne oder Ziele für sein zukünftiges Leben, sondern gab die Entscheidung hierüber anderen anheim in der Überzeugung, es werde schon alles gut gehen. Sein Bruder Sergey Iwanowitsch, Stefan Arkadjewitsch und die Fürstin leiteten ihn an, was er zu thun habe, und er war vollständig einverstanden mit allem, was man ihm vorschlug. Sein Bruder nahm Geld für ihn auf, die Fürstin riet, nach der Hochzeit Moskau zu verlassen, Stefan Arkadjewitsch riet, eine Hochzeitsreise ins Ausland zu machen. Er war mit allem einverstanden. »Thut was Ihr wollt, wenn es Euch Vergnügen macht. Ich bin glücklich, und mein Glück kann nicht großer sein und nicht kleiner, was immer Ihr auch thun möget,« dachte er.

Als er Kity den Rat Stefan Arkadjewitschs mitteilte, eine Hochzeitsreise ins Ausland zu machen, wunderte er sich sehr, daß sie damit nicht einverstanden war, sondern bezüglich des beiderseitigen künftigen Lebens gewisse eigene bestimmte Forderungen stellte. Sie wußte, daß Lewin seine Beschäftigung auf dem Lande hatte, die er liebte. Sie verstand, wie er sah, nicht nur nichts hiervon, sondern wollte auch gar nichts davon verstehen lernen, doch hinderte sie dies nicht, jene Beschäftigung für sehr wichtig zu halten. Sie wußte ferner, daß ihr Haus in einem Dorfe stand, und wünschte nun eben, nicht ins Ausland zu fahren, wo sie ja nicht leben würde, sondern dorthin, wo ihr Haus stand. Dieser bestimmt ausgeprägte Entschluß setzte Lewin in Verwunderung, doch da ihm alles gleichgültig war, bat er sogleich Stefan Arkadjewitsch, als ob dies dessen Verpflichtung wäre, auf das Dorf zu fahren und dort alles vorzubereiten, wie er es verstünde, mit jenem Geschmack, den er in so reichem Maße besäße.

»Höre einmal,« sagte nun eines Tags Stefan Arkadjewitsch zu Lewin, – vom Dorfe zurückgekommen, woselbst er alles für die Ankunft des jungen Paares eingerichtet hatte – »hast du denn ein Zeugnis, daß du gebeichtet hast?«

»Nein. Warum?«

»Ohne dies wirst du nicht getraut!«

»O, o, o,« rief Lewin aus; »ich habe ja schon seit neun Jahren keine Fasten mehr innegehalten. Daran habe ich gar nicht gedacht!«

»Du bist mir Einer,« lachte Stefan Arkadjewitsch, »und mich willst du einen Nihilisten nennen! Aber das geht wirklich nicht – du mußt fasten.«

»Wann denn? Es sind noch vier Tage übrig.«

Stefan Arkadjewitsch ordnete auch dies, und Lewin begann zu fasten. Für ihn, als einen Häretiker, der aber gleichwohl den Glauben anderer achtete, war die Gegenwart und Teilnahme bei jeder Art von kirchlichen Ceremonien sehr lästig. Jetzt, in seiner allen gegenüber gefühlvollen, weichen Seelenstimmung, in der er sich befand, war dieser Zwang zu heucheln, Lewin nicht nur lästig, er schien ihm vielmehr vollständig undurchführbar. Jetzt, in seiner vollen Mannhaftigkeit und Blüte sollte er entweder lügen oder spotten! Er fühlte sich nicht in der Lage, eines von beiden zu thun, aber soviel er Stefan Arkadjewitsch auch anliegen mochte, ob er nicht ein Zeugnis erhalten könne, ohne gefastet zu haben, Stefan Arkadjewitsch erklärte, dies sei unmöglich.

»Und was kann es dir darauf ankommen – zwei Tage? Er ist ein so lieber, verständiger Geistlicher und wird dir diesen Zahn ausziehen, daß du es gar nicht gewahr wirst.«

In der ersten Messe machte Lewin den Versuch, in sich die Erinnerungen an seine Jünglingszeit und jene mächtigen religiösen Gefühlsregungen wieder aufzufrischen, die er in seinem sechzehnten und siebzehnten Jahre durchlebt hatte. Doch alsbald überzeugte er sich, daß ihm dies vollständig unmöglich war. Er versuchte nun, auf alles das zu blicken, wie auf eine eitle Sitte, die keine innere Bedeutung besaß, und Ähnlichkeit mit der Sitte des Visitemachens hatte, empfand aber, daß er auch dies durchaus nicht über sich gewann. Lewin befand sich der Religion gegenüber, wie die Mehrzahl seiner Altersgenossen, auf einem vollständig unbestimmten Standpunkt. Glauben konnte er nicht, war aber bei alledem doch nicht fest überzeugt davon, daß alles Glauben unwahr sei, und so empfand er denn – weder imstande, an die Bedeutsamkeit dessen zu glauben, was er that, noch fähig, gleichgültig darauf zu schauen, wie auf eine leere Formalität – während der ganzen Zeit dieser Fasten ein Gefühl von Unbehagen und Scham, indem er that, was er selbst nicht verstand und was, wie ihm eine innere Stimme sagte, gewissermaßen irrig und nicht gut war.

Während der Kirchenfeier lauschte er bald den Gebeten und bemühte sich, ihnen eine Bedeutung beizulegen, die mit seinen Anschauungen nicht in Konflikt geriet, bald suchte er, in der Empfindung, daß er nichts verstehen könne und sie verwerfen müsse, die Gebete nicht zu hören und beschäftigte sich mit seinen Gedanken, Beobachtungen und Erinnerungen, die mit außerordentlicher Lebhaftigkeit während dieses müßigen Stehens in der Kirche in seinem Kopfe durcheinandergingen.

Er hörte die ganze Messe, die Vigilien und am andern Tage, zeitiger als sonst aufgestanden, begab er sich, ohne den Thee genommen zu haben, um acht Uhr morgens wieder in die Kirche, um die Frühgebete und die Beichte zu hören.

In der Kirche befand sich nur ein armer Soldat, zwei alte Weiber und die Kirchendiener.

Ein junger Diakonus, dessen langer Rücken sich in zwei Hälften scharf unter dem dünnen Leibrock abhob, trat ihm entgegen und begann sogleich, zu einem kleinen Tischchen an der Wand tretend, zu lesen. An der Art seines Lesens, besonders an der häufigen und schnell aufeinanderfolgenden Wiederholung der nämlichen Worte »Herr erbarme dich unser«, die von der Hast völlig entstellt klangen, fühlte Lewin, wie ihr Sinn für diesen Mann verschlossen und versiegelt war, fühlte aber auch, daß es sich nicht zieme, jetzt daran zu rühren, da hieraus nur eine Verwickelung entstehen konnte – und so fuhr er fort, hinter dem Geistlichen stehend, ohne ihn zu hören oder sich in ihn zu versenken, an seine eigenen Angelegenheiten zu denken.

»Es liegt wunderbar viel Ausdruck in ihrer Hand,« dachte er, sich vergegenwärtigend, wie sie gestern beide am Ecktisch gesessen hatten. Zu sprechen hatten sie wenig miteinander gehabt, wie das fast stets während dieser Zeit ist; sie hatte, nur die Hand auf den Tisch legend, diese geöffnet und geschlossen und dazu gelacht, indem sie auf ihre Bewegung blickte. Er dachte daran, wie er die Hand geküßt und dann die ineinanderlaufenden Linien auf der rosigen Handfläche betrachtet hatte.

»Wieder das entstellte ›Herr erbarm dich‹,« dachte Lewin, sich bekreuzend, verbeugend und auf die geschmeidige Bewegung des Rückens des sich beugenden Diakonus schauend. »Sie nahm darauf meine Hand und betrachtete die Linien; ›du hast eine schöne Hand‹, hatte sie gesagt« und er schaute auf seine Hand und auf die kurze Hand des Diakonus. »Ja, nun ist es bald zu Ende,« dachte er, »nein, es scheint wieder von vorn anzufangen,« dachte er, den Gebeten lauschend; »doch, es ist zu Ende, da neigt er sich schon bis zur Erde, das ist stets erst zuletzt der Fall.«

Diskret mit der Hand unter dem Plüschaufschlag ein Dreirubelpapier in Empfang nehmend, sagte der Diakon, er werde nun registrieren und schritt mit seinen neuen Stiefeln schnell und hallend über die Steinplatten der leeren Kirche zum Altar. Nach Verlauf einer Minute schaute er von dort wieder zurück und winkte Lewin. Der Gedanke, welchen dieser bisher in sich verschlossen gehabt, regte sich jetzt wieder in seinem Hirn, doch bestrebte er sich sogleich, ihn von sich zu weisen.

»Es wird sich schon machen,« dachte er und schritt zu dem Altar. Er stieg die Stufen empor und erblickte, sich rechts wendend, den Geistlichen. Der greise Priester mit spärlichem, halbergrautem Bart und mattem gutmütigem Blick stand und blätterte in der Agende. Nachdem er Lewin leicht gegrüßt hatte, begann er mit der gewohnten Stimme sogleich die Gebete zu lesen. Als er hiermit zu Ende war, neigte er sich bis zur Erde und wandte sich hierauf mit dem Gesicht nach Lewin.

»Christus steht unsichtbar hier und nimmt Eure Beichte entgegen,« sprach er, auf das Kruzifix deutend. »Glaubet Ihr an alles, was uns die heilige apostolische Kirche lehrt?« fuhr der Geistliche fort, die Augen von Lewins Gesicht wegwendend und die Arme auf sein Epitrachelion legend.

»Ich habe gezweifelt und zweifle noch an allem,« sagte Lewin mit einer Stimme, die ihm selbst unangenehm war, und schwieg dann.

Der Geistliche wartete einige Sekunden, ob Lewin nicht noch etwas Weiteres sagen würde, und sprach dann, die Augen schließend, in schnellem wladimirschen o-Dialekt:

»Die Zweifel sind der menschlichen Schwachheit eigen, aber wir müssen beten, auf daß der barmherzige Gott uns stärke. Was für besondere Sünden habt Ihr auf Eurem Gewissen?« fügte er hinzu, ohne die geringste Pause dabei zu machen, und gleichsam, als wollte er keine Zeit verlieren.

»Meine vornehmste Sünde ist mein Zweifeln. Ich zweifle an allem, ich befinde mich größtenteils nur in Zweifeln.«

»Der Zweifel ist der menschlichen Schwäche eigen,« wiederholte der Geistliche mit den nämlichen Worten, »aber woran zweifelt Ihr vornehmlich?«

»An allem. Ich zweifle bisweilen selbst an Gottes Dasein,« antwortete Lewin unwillkürlich, und erschrak über das Unziemliche dessen, was er gesprochen hatte.

Auf den Geistlichen machten indessen, wie es schien, die Worte Lewins keinen Eindruck.

»Welche Zweifel können wohl über Gottes Dasein walten?« sagte er schnell und mit kaum merklichem Lächeln.

Lewin schwieg.

»Welchen Zweifel könnt Ihr an dem Weltenschöpfer haben, wenn Ihr seine Werke schaut?« fuhr der Priester in schneller, gewohnheitsmäßiger Sprache fort. »Wer hat den Himmelsdom mit Sternen geschmückt? Wer hat die Welt in ihrer Schönheit gekleidet? Wie sollte das ohne den Schöpfer möglich gewesen sein?« sprach er, fragend auf Lewin schauend.

Dieser fühlte, daß es unschicklich gewesen wäre, einen philosophischen Wortwechsel mit dem Geistlichen zu beginnen und gab deshalb zur Antwort nur, was sich auf die Frage selbst bezog.

»Ich weiß es nicht.«

»Ihr wißt es nicht? Aber wie könnt Ihr dann daran zweifeln, daß Gott alles geschaffen hat?« versetzte heiter-bedenklich der Geistliche.

»Ich begreife nichts,« antwortete Lewin errötend, und im Gefühl, daß seine Worte thöricht waren und in dieser Situation thöricht sein mußten.

»Betet zu Gott und bittet ihn. Auch die Kirchenväter haben gezweifelt und Gott gebeten um Stärkung ihres Glaubens. Der Teufel hat gar große Macht und wir dürfen uns ihm nicht überliefern. Betet zu Gott und bittet ihn. Betet zu Gott,« – wiederholte der Geistliche und schwieg hierauf einige Zeit, als sei er in Nachdenken versunken. »Wie ich vernommen habe, bereitet Ihr Euch vor, in den Ehebund mit der Tochter meines Pfarrbefohlenen und Beichtkindes, des Fürsten Schtscherbazkiy zu treten?« frug er lächelnd, »das ist eine herrliche Jungfrau!«

»Ja,« antwortete Lewin, über den Geistlichen errötend; »wozu brauchte derselbe bei der Beichte hiernach zu fragen?« dachte er bei sich.

Als ob der Geistliche diesen Gedanken beantworten wollte, sagte er zu Lewin: »Ihr bereitet Euch vor, in den Stand der heiligen Ehe zu treten, und Gott kann Euch mit Nachkommenschaft segnen, nicht so? Welche Erziehung könnt Ihr alsdann Euren Kindlein geben, wenn Ihr selbst in Euch nicht die Versuchung des Teufels besiegen wollt, der Euch zum Unglauben verleitet?« frug der Geistliche mit sanftem Vorwurf. »Wenn Ihr Euer Kind liebt, so werdet Ihr, als ein guter Vater, nicht nur Reichtum, Überfluß und Würden Eurem Kinde wünschen; Ihr werdet auch sein Heil wünschen, seine geistige Erleuchtung durch das Licht der Wahrheit. Ist es nicht so? Was werdet Ihr antworten, wenn das unschuldige Kindlein Euch frägt, Vater, wer hat das alles geschaffen, das mich in dieser Welt so sehr ergötzt, Erde, Wasser, Sonne, Blumen und Gräser? Solltet Ihr ihm antworten wollen, ich weiß es nicht? Ihr müßt es wissen, da Gott der Herr in seiner hohen Gnade es Euch geoffenbart haben wird. Oder wenn Euer Kind Euch früge ,was erwartet mich im ewigen Leben? Was werdet Ihr ihm da antworten, wenn Ihr nichts wißt? Wie wollt Ihr ihm einen Bescheid geben? Werdet Ihr ihm den Reiz der Welt und des Teufels zeigen? Das wäre nicht gut,« sagte er und hielt inne, das Haupt auf die Seite neigend und Lewin mit guten sanften Augen anschauend.

Dieser antwortete jetzt nicht; nicht deswegen, weil er etwa nicht in einen Streit mit dem Geistlichen hätte kommen mögen, sondern, weil ihm noch niemand derartige Fragen gestellt hatte, und er, wenn erst einmal Nachkommen sie ihm stellen würden, noch Zeit genug hatte, darüber nachzudenken, was er dann antworten wollte.

»Ihr tretet ein in diejenige Zeit Eures Lebens,« fuhr der Geistliche fort, »da es nötig ist, einen Weg zu wählen und sich auf demselben zu halten. Betet zu Gott, damit er in seiner Güte Euch helfe und sich Eurer erbarme,« schloß er. »Unser Herr und Gott Jesus Christus in seiner göttlichen Gnade und Milde, seiner Liebe zu den Menschen vergebe dir mein Sohn!« und das Sühnegebet beendend, segnete ihn der Priester und entließ ihn.

Als Lewin an diesem Tage heimgekehrt war, empfand er ein freudiges Gefühl darüber, daß diese peinliche Lage nun ihr Ende erreicht hatte, so erreicht, daß er nicht hatte zur Lüge greifen müssen. Daneben aber war in ihm auch eine unklare Erinnerung davon zurückgeblieben, daß das, was jener gute und liebenswerte Greis gesagt hatte, durchaus nicht so dumm gewesen war, als es ihm anfänglich geschienen, und daß es etwas hierbei gebe, was der Aufklärung bedürfe.

»Natürlich nicht jetzt,« dachte Lewin, »aber später einmal.« Lewin fühlte jetzt mehr, als früher, daß in seiner Seele etwas unklar und unrein sei, und daß er sich in Bezug auf die Religion in der nämlichen Lage befinde, die er so klar bei andern erkannt und nicht eben gern gesehen hatte, wegen deren er seinem Freunde Swijashskiy Vorwürfe gemacht.

Lewin war, den Abend mit seiner Braut bei Dolly verbringend, ausnehmend heiter, und sagte, als er Stefan Arkadjewitsch von der gährenden Gemütsverfassung Mitteilung machte, in der er sich befand, daß er sich wohl befinde wie ein Hund, den man durch den Reifen zu springen gelehrt habe und der nun, nachdem er endlich begriffen und ausgeführt hat, was von ihm verlangt wurde, winselt, und schweifwedelnd vor Entzücken auf Tische und Fenster spring.