Kapitel 10

 

10

 

Ich hatte Sir Philip vorher nur flüchtig gesehen und einen äußerlich guten Eindruck von ihm gehabt. Aber als ich ihn nun aus der Nähe betrachtete, wirkte er weniger günstig auf mich. Er war sehr groß, hatte aber eine verhältnismäßig niedrige Stirn und ein von vielen Falten durchzogenes Gesicht. Sein Blick wanderte ruhelos umher, und er rieb sich nervös die Hände, als Leslie ihm einen Stuhl hinschob.

 

»Guten Morgen«, begrüßte er uns mit rauher, brummiger Stimme. »Wer von Ihnen beiden ist Mr. Stabbat? Ein Bekannter hat Sie mir vor einigen Monaten empfohlen, und ich hätte einen Auftrag für Sie.«

 

»Mr. Stabbat ist aufs Land gefahren«, erklärte Leslie. »Aber ich führe in seiner Abwesenheit das Geschäft.«

 

Der alte Herr sah ihn fragend an. »Können Sie dann den Auftrag entgegennehmen?«

 

»Jawohl.«

 

Ich trank meine Tasse aus und wollte gehen, aber Leslie bat mich durch einen Blick, zu bleiben. Sir Philip schien es jedoch unangenehm zu sein, daß noch ein Dritter bei der Unterhaltung zugegen war. Der Blick, den er mir zuwarf, drückte das deutlich aus.

 

»Ist dieser Herr auch ein Detektiv, ich meine einer von Ihren Leuten?«

 

»Ja, er ist ein Detektiv«, beruhigte ihn Leslie.

 

»Hm«, sagte Sir Philip. »Er sieht intelligent aus.«

 

Ich errötete über die Taktlosigkeit, während Leslie nur mit Mühe ein Lächeln unterdrücken konnte. Sir Philip kam es gar nicht zum Bewußtsein, daß wir uns im stillen über ihn amüsierten.

 

»Da er wahrscheinlich später doch mit der Sache zu tun bekommt, ist es vielleicht besser, wenn er von Anfang an hört, was ich zu sagen habe«, begann er. »Sie wissen wahrscheinlich, daß ich Bankier bin. Ich leite eine der größten Banken in West-England. Vor einigen Jahren starb nun einer meiner Freunde, der mir eine größere Summe schuldete.« Leslie stieß mich unter dem Tisch an.

 

»Er hinterließ eine Tochter, und ich sorgte für die Waise, obwohl mich solche Familiengeschichten nicht gerade interessieren. Ich bin auch zeitlebens Junggeselle geblieben. Damals starb auch meine Schwester, die mir die Wirtschaft geführt hatte, und ich fühlte mich vereinsamt. Es war sehr schwer, mit dem jungen Mädchen auszukommen, obgleich sie mit mir verwandt und mir in mancher Beziehung verpflichtet war. Sie war sehr energisch und eigensinnig.«

 

Er schüttelte vorwurfsvoll den Kopf, und es war deutlich zu erkennen, daß ihm der Charakter seines Mündels durchaus nicht gefiel.

 

»Nach einigen unangenehmen Zwischenfällen gab ich schließlich meine Zustimmung, daß sie eine Wohnung in der Stadt bezog. Abgesehen davon muß ich aber bemerken, daß sie einen sehr verantwortungsvollen Posten in meiner Bank hatte. Vor einem Monat bat sie nun um ihre Entlassung, obwohl ich sie immer sehr zuvorkommend und großzügig behandelt hatte. Früher fuhr sie häufiger nach Paris, um ihre französischen Sprachkenntnisse zu vervollkommnen. Ich hatte ihr auch zugesagt, später die Auslandskorrespondenz durch sie erledigen zu lassen«, erklärte er nachdrücklich. »Ich sah ihren Austritt aus dem Geschäft nur sehr ungern. Damit wäre die Sache nun eigentlich erledigt gewesen. Aber als ich vorige Woche den Inhalt meines Privatsafes prüfte, fand ich, daß zwanzigtausend Pfund fehlten.«

 

Leslie schrieb mechanisch die Summe auf einen Notizblock.

 

»Zur gleichen Zeit erfuhr ich durch einen anonymen Brief, daß Miss Ferrera öfter nach Monte Carlo reiste und dort spielte, während ich sie in Paris vermutete.«

 

Wir schwiegen beide.

 

Mir tat Billy sehr leid. Nun kam doch alles heraus – aber es war noch eine dritte Person im Spiel, jemand, für den sie das alles getan hatte. Wer mochte der anonyme Briefschreiber sein, der sie bei ihrem Onkel verraten hatte? Ich dachte unwillkürlich zuerst an Mr. Thomson Dawkes, aber das hätte sich nicht mit der Haltung vereinbaren lassen, die er in letzter Zeit gezeigt hatte.

 

»Und was soll ich nun für Sie tun?« fragte Leslie. »Die Frage ist nicht so leicht zu beantworten«, entgegnete der alte Herr zögernd. »Am besten würde man sie warnen, nicht wieder nach Elston zu kommen. Ich möchte nicht haben, daß sie unnötig beunruhigt wird. Sie soll auch nicht erfahren, daß ich von ihrer Doppelrolle weiß.«

 

»Wenn wir nun annehmen, daß sie das Geld tatsächlich genommen hat –«, begann ich.

 

»Das brauchen wir gar nicht mehr anzunehmen«, unterbrach er mich. »Die Sache liegt vollkommen klar. Sie war die einzige, die den Safe öffnen konnte, und ich habe die Tatsachen, die in dem anonymen Brief standen, erst nachgeprüft, bevor ich hierherkam. Ich habe die genauen Daten ihrer Besuche in Monte Carlo, und ich weiß auch, daß sie sich dort Miss Hicks nannte. Ich werde Ihnen jetzt eine Adresse geben, unter der Sie das Mädchen meiner Meinung nach bestimmt finden können. Es ist eine kleine Villa in Brixton. Also, wollen Sie den Auftrag übernehmen und ihr ohne Erwähnung der eigentlichen Zusammenhänge beibringen, daß es nicht ratsam für sie ist, sich wieder in Elston sehen zu lassen?«

 

Leslie nickte.

 

Sir Philip nahm einen kleinen Zettel mit der Adresse aus der Brieftasche. Er hätte sich ja die Mühe sparen können, denn ich wußte die Adresse auch. Es war mir allerdings neu, daß sich Miss Ferrera in London aufhielt.

 

»Sie können ihr noch sagen«, fuhr Sir Philip nach einer Weile fort, »daß ich ihr nicht böse bin. Das Testament, in dem ich ihr eine jährliche Rente vermachte, habe ich allerdings vernichtet.«

 

Wir erfuhren später, daß es sich um eine Summe von fünfundsiebzig Pfund im Jahr gehandelt hatte.

 

»Bevor ich nach Elston zurückkehre, werde ich ein anderes Testament aufsetzen und sie darin mit einem Erinnerungszeichen an ihren Wohltäter bedenken.«

 

Leslie begleitete ihn hinaus. Als er zurückkam, sah er mich fragend an.

 

»Was halten Sie von der ganzen Sache?«

 

»Ein erstaunliches Zusammentreffen. Sie werden natürlich seinen Auftrag ausführen?« Leslie schüttelte den Kopf.

 

»Ich weiß nicht, was ich tun soll. Billy steht auf dem Standpunkt, daß man das Vertrauen eines Kunden unter allen Umständen respektieren muß. Im Falle von Miss Ferrera hat er allerdings eine Ausnahme gemacht, das gebe ich zu. Und ich muß auch sagen, daß ich mich in bezug auf die Anklage, die Sir Philip gegen die junge Dame erhoben hat, eigentlich nicht zum Schweigen verpflichtet fühle. Ich werde mich jedenfalls erkundigen, ob sie die Absicht hat, nach Elston zu gehen. Warum nur hat er ihr nicht selbst geschrieben oder ihr das alles persönlich mitgeteilt… Ach so, sie soll ja nicht erfahren, daß er über die Entwendung des Geldes unterrichtet ist.«

 

Ich verabschiedete mich von Leslie, der sofort Miss Ferrera aufsuchen wollte, und besuchte Mr. Thomson Dawkes. Er wohnte in einem großen Haus in der Nähe von Regent’s Park, und ich hatte Glück, daß ich ihn zu Hause antraf. Als ich ihm in seinem Arbeitszimmer gegenüberstand, bemerkte ich jedoch, daß er sehr gut aussah.

 

»Hallo, Mr. Mont, was führt Sie denn zu mir? Kann ich etwas für Sie tun? Nehmen Sie doch bitte Platz und rauchen Sie eine Zigarre.«

 

»Es ist nichts Besonderes geschehen, ich wollte Sie nur etwas wegen Miss Ferrera fragen.«

 

Er verzog das Gesicht.

 

»Ich hoffte, der Name dieser jungen Dame würde nicht mehr genannt werden. Die Sache ist mir unangenehm, das wissen Sie natürlich selbst sehr gut. Sie sind ja in alles eingeweiht. Ich habe übrigens Jennings von alledem nichts gesagt.«

 

Ich drückte meine Dankbarkeit darüber aus und erklärte ihm dann den Grund meines Besuches.

 

»Sie entsinnen sich doch, daß Miss Ferrera in Framptons Bank in Elston angestellt war, und ebenso ist Ihnen bekannt, daß sie in Monte Carlo sehr hoch spielte.«

 

Er nickte.

 

»Natürlich«, entgegnete er mit einem müden Lächeln.

 

»Nun hat Sir Philip entdeckt, daß eine Summe von zwanzigtausend Pfund aus seinem Safe entwendet wurde. Seiner Meinung nach kommt nur Miss Ferrera als Täterin in Betracht. Er weiß auch, daß sie an der Riviera hoch gespielt hat. Das hat er durch einen anonymen Brief erfahren. Ich möchte Sie nun offen fragen, ob Sie der Schreiber sind?«

 

»Nein, natürlich nicht! Das wäre doch eine Gemeinheit gewesen. Wenn ich Miss Ferrera irgendwie hätte schaden wollen, so hätte ich das doch viel leichter als Zeuge bei der Gerichtsverhandlung tun können. Glauben Sie mir, nach allem, was ich durchgemacht habe, würde ich mich nicht zu einer so niederträchtigen Handlungsweise herbeilassen.«

 

»Davon war ich auch überzeugt, Mr. Dawkes. Aber haben Sie eine Ahnung, wer den Brief geschickt haben könnte?«

 

»Vielleicht ist sie in Monte Carlo von jemand erkannt worden. Es kommen ja viele Engländer dorthin …«

 

»Aber dann sollte man doch nicht annehmen, daß der Betreffende gleich einen anonymen Brief schriebe.«

 

»Da mögen Sie recht haben«, gab Dawkes zu. »Es ist eine sehr unangenehme Geschichte. Jeden Abend, wenn ich mich schlafen lege, muß ich an unseren armen Freund Billington Stabbat denken. Eigentlich sollte ich an seiner Stelle sein. Die Tatsache, daß Miss Ferrera auf mich geschossen hat, kann man allerdings nicht aus der Welt schaffen.«

 

»Ist das wirklich so sicher?«

 

»Darüber besteht doch nicht der leiseste Zweifel. Ich habe das Mündungsfeuer deutlich gesehen. Gibt sie es denn nicht zu?« fragte er überrascht.

 

Ich schüttelte den Kopf.

 

»Sie weiß nicht, ob sie es getan hat. Offenbar haben Sie etwas gesagt, was sie in größte Empörung brachte.«

 

Er hob abwehrend die Hand.

 

»Erinnern Sie mich bitte nicht daran, ich habe mich wirklich nicht sehr fair benommen. Wenn ich ihr das nächste Mal begegne, muß ich sie um Verzeihung bitten für alles, was vorgefallen ist.«

 

Als ich Mr. Thomson Dawkes verließ, war er mir lange nicht mehr so unsympathisch wie früher. Ich war ihm direkt wohlgesinnt. Meiner Erfahrung nach gibt es überhaupt kaum Menschen, die vollkommen unverbesserlich wären.

 

An diesem Abend erhielt ich die Nachricht, daß ich zum Inspektor befördert worden war, weil ich den Fall Stabbat so glatt erledigt hatte. Das war allerdings eine Ironie des Schicksals. Inspektor Jennings begegnete mir, als ich die Treppe in Scotland Yard hinunterging, und gratulierte mir mit sauerem Gesicht.

 

»Ich habe gehört, daß Sie eine Stufe höher gekommen sind. Nun, es ist Ihnen ja sehr leicht gefallen. Manche von uns müssen jahrelang warten und hart arbeiten, manche werden vom Schicksal bevorzugt und überspringen andere tüchtige Beamte.«

 

»Ich danke Ihnen für Ihre Gratulation«, erwiderte ich höflich. »Und da wir jetzt den gleichen Rang haben und unter vier Augen miteinander sprechen, möchte ich Ihnen in aller Liebenswürdigkeit sagen, daß ich mich den Teufel um Ihre Glückwünsche kümmere.«

 

Er machte ein böses Gesicht und drehte mir den Rücken.

 

Ich speiste zu Hause und hatte die Mahlzeit noch nicht beendet, als das Telefon klingelte. Mary Ferrera sprach von einer Fernsprechzelle aus; ihre Stimme klang froh und vergnügt.

 

»Ich habe gerade den geheimnisvollen Mr. Leslie Jones gesehen. Er hat mich gefragt, ob ich die Absicht hätte, nach Elston zurückzukehren. Selbstverständlich kommt das nicht in Frage, aber ich möchte doch gern von Ihnen erfahren, warum er das wissen wollte.«

 

»Das weiß ich nicht. Leslie ist ein ziemlich neugieriger Mensch«, entgegnete ich vorsichtig.

 

»Er muß aber doch irgendeinen Grund gehabt haben.«

 

»Er tut nie etwas ohne Grund. Er ist der konsequenteste Mensch, den ich kenne.«

 

»Ich habe ihn heute gesehen«, sagte sie nach einer kurzen Pause.

 

»Ich weiß, Sie haben es mir eben gesagt.«

 

»Ach, ich meine doch nicht Mr. Leslie Jones. Ich habe – Billington gesehen.«

 

»Ist das möglich?« fragte ich überrascht. »Wo denn?«

 

»In Wormwood Scrubbs«, erwiderte sie etwas erregt. »Heute abend wird er nach Dartmoor gebracht. Ich muß mit Ihnen sprechen, Mr. Mont.«

 

»Ich komme morgen zu Ihnen.«

 

Mein Vorschlag schien ihr jedoch nicht zu passen.

 

»Sie sollen nicht den weiten Weg hierher machen. Ich komme morgen nachmittag in Ihr Büro.«

 

»Ich habe kein eigenes Privatbüro, und die Zimmer in Scotland Yard sind alle so düster und unfreundlich. Vielleicht könnten wir uns in Billys Büro treffen? Leslie hat sicherlich nichts dagegen und wird uns eine ausgezeichnete Tasse Tee servieren.«

 

Ich hatte das unbestimmte Gefühl, einen Fehler zu machen, als ich das sagte, und plötzlich fiel mir auch wieder ein, daß sich der alte Frampton ebenfalls für morgen nachmittag angemeldet hatte.

 

»Nein, kommen Sie morgen nicht«, sagte ich hastig.

 

»Um vier Uhr bin ich dort. Versuchen Sie nicht, die Sache rückgängig zu machen, Mr. Mont. Anscheinend liegt Ihnen nicht sehr viel daran, mich wiederzusehen?«

 

»Ich versichere Ihnen, Miss Ferrera, daß mir sehr viel daran liegt, aber –«

 

»Ich will von keinem Aber hören. Also, guten Abend.« Damit brach sie das Gespräch ab.

 

Die beiden brauchten sich ja nicht unbedingt zu treffen, überlegte ich später, denn es standen drei Büroräume zur Verfügung. Allerdings würde sie nach ihrem traurigen Erlebnis wohl kaum in Billys Zimmer gehen wollen.

 

Am folgenden Morgen hatte ich in Scotland Yard reichlich zu, tun, fand aber doch Zeit, Leslie anzurufen und ihn von der Verabredung zu verständigen, die ich mit Mary Ferrera getroffen hatte.

 

»Gut, das ist in Ordnung. Übrigens ist sie schon ziemlich lang in London und hat nicht die geringste Absicht, nach Elston zu fahren. Hat sie Ihnen das auch gesagt?«

 

»Ja.« Ich berichtete ihm, was ich am Telefon mit ihr gesprochen hatte.

 

»Es ist doch großartig, daß sie ihn im Gefängnis aufgesucht hat«, meinte er bewundernd. »Er muß übrigens ganz gut behandelt werden, wenn man ihm erlaubt, zu beliebigen Zeiten Besuch zu empfangen.«

 

An demselben Tag wurde das Parlament eröffnet, und ich mußte in Whitehall für Ruhe und Ordnung sorgen. Zum erstenmal trug ich dabei meine neue Uniform, und wurde daher weder von Sir Philip Frampton noch von Mary Ferrera erkannt, als ich ihnen in der John Street begegnete. Sie standen an der Ecke der Chandos Street und sprachen miteinander. Später erfuhr ich, daß sie sich zufällig unten am Themseufer getroffen hatten. Der alte Herr war sehr ärgerlich. Als ich vorüberging, sagte Mary Ferrera gerade:

 

»Ich habe nie etwas von dir erwartet, Onkel.«

 

Gleich darauf sprach er wieder, und ich fing noch das Wort »Testament« auf. Das alles war erstaunlich.

 

Ich ging nach Hause und zog Zivilkleider an. Um drei Uhr nachmittags machte ich mich dann auf den Weg zu Leslie Jones, um meine Verabredung mit ihm und Miss Ferrera einzuhalten. Ich traf Leslie auf der Treppe. Ein guter Freund hatte ihn bei Tisch aufgehalten.

 

»Der Alte kommt nicht. Er hat mich heute vormittag angerufen. Wir haben also viel Zeit für Miss Ferrera.«

 

Als wir auf dem ersten Treppenpodest ankamen, hörten wir, daß jemand eilig herunterkam. Ich schaute hinauf und sah zu meinem größten Erstaunen Mary Ferrera. Sie war bleich und verstört, antwortete nicht, als ich sie ansprach, und trachtete nur danach, an uns vorbeizukommen. Ich starrte ihr entsetzt nach.

 

»Was mag bloß geschehen sein?« fragte ich Leslie. Er schwieg eine Sekunde.

 

»Wir werden ja sehen«, sagte er dann.

 

Die Tür zu Billys Privatbüro lag direkt dem Treppenaufgang gegenüber. Weiter rechts befand sich Leslies Büro und ein anderer Raum, in dem die Besucher von einem Angestellten empfangen wurden. Wir traten in Leslies Zimmer, und gleich darauf erschien der Angestellte in der Tür.

 

»Wer war denn hier?« fragte Leslie scharf.

 

»Die junge Dame, die schon öfter herkam, und der alte Herr.«

 

»Der alte Herr?« wiederholte Leslie ungläubig.

 

»Ja. Sie sind beide drüben.« Er zeigte mit dem Kopf auf die Tür zu Billys Arbeitszimmer.

 

»Die junge Dame ist auf keinen Fall dort. Die ist uns eben auf der Treppe begegnet.«

 

»Nun, der alte Herr ist jedenfalls noch da. Er kam vor etwa einer halben Stunde und fragte mich, ob er einen Brief schreiben könnte. Ich führte ihn darauf in Mr. Stabbats Büro.«

 

»Wie kommen Sie denn dazu?« fuhr ihn Leslie an. »Wenn Sie solchen Unsinn machen, können Sie sich gleich nach einer anderen Stelle umsehen. Was ist denn geschehen?«

 

»Die junge Dame kam später«, entgegnete der junge Mann mürrisch. »Sie ging in Ihr Zimmer, aber ich glaube, die Tür zu dem großen Arbeitszimmer von Mr. Stabbat stand auf. Sicher hat sie den alten Herrn dort gesehen. Auf jeden Fall ging sie hinein und schloß die Tür. Sie müssen auch jetzt noch dort sein«, erklärte er hartnäckig.

 

Das war also der Grund für Marys Aufregung und Ärger.

 

»Das ist mir furchtbar unangenehm«, sagte Leslie. »Jetzt glaubt sie wohl, wir hätten ihr eine Falle gestellt. Ich möchte nur wissen, was er zu ihr gesagt hat.«

 

Er riß die Tür auf und trat in Billingtons Büro. Plötzlich blieb er stehen. Mitten im Zimmer lag Sir Philip Frampton auf dem Boden. Er hatte einen Einschuß über der linken Augenbraue.

 

Kapitel 11

 

11

 

Leslie taumelte, und ich fürchtete, er würde ohnmächtig werden.

 

»Um Himmels willen!« flüsterte er, wandte sich um und packte den Angestellten an der Hand, der auch hereingekommen war. »Haben Sie einen Schuß gehört?«

 

»Nein«, erwiderte der junge Mann bestürzt und furchtsam. »Ich hörte wohl ein Geräusch, aber ich glaubte, die Tür wäre heftig zugeschlagen worden.«

 

Leslie eilte zu der Tür, die auf den Korridor, führte. Sie war nicht verschlossen, nur angelehnt. Wir hätten das auch bemerkt, wenn uns nicht die plötzliche Begegnung mit Mary abgelenkt hätte.

 

»Wie lang ist es denn her?« fragte Leslie, aber der Angestellte konnte keine genauen Angaben machen. Es mochten vor unserer Ankunft fünf Minuten verstrichen sein, oder auch zwei. Er war seiner Sache nicht sicher.

 

Leslie untersuchte das ganze Büro in größter Eile, während ich mich mit einem Hospital in Verbindung setzte und einen Arzt mit einem Krankenwagen bestellte.

 

»Sehen Sie, Mont, er hat hier am Tisch geschrieben.« Es lag ein Briefbogen auf der Platte, daneben ein Kuvert, das an eine Rechtsanwaltsfirma adressiert war. Der Anfang des Schreibens lautete:

 

Sehr geehrter Mr. Tranter,

 

ich habe die Bestimmungen für mein neues Testament überlegt. Das frühere habe ich vernichtet. Ich möchte –

 

Hier endete der Brief; die Tinte war noch naß. Leider entdeckten wir nicht, daß die Feder alt und verdorben war, obgleich das ein wichtiger Anhaltspunkt für uns gewesen wäre.

 

Wir hatten noch einige Minuten Zeit, bevor der Arzt erschien, und wir mußten diese kurze Spanne nützen.

 

»Was sollen wir jetzt tun?« fragte Leslie verzweifelt. »Ich wüßte wirklich nicht, was wir machen sollten«, erklärte ich vollkommen hoffnungslos.

 

»Aber wir dürfen doch nicht untätig bleiben. Billy bricht das Herz, wenn dem Mädchen etwas passiert. Überlegen Sie doch, Mont! Um Himmels willen, denken Sie sich etwas aus! Sie war mit ihm hier im Zimmer, das können wir nicht abstreiten. Und sie lief fort, nachdem er ermordet wurde. Wer weiß denn eigentlich, daß sie hier war?« fragte Leslie plötzlich.

 

Ich glaubte einen Augenblick, er könne infolge der Aufregung nicht mehr klar denken.

 

»Der junge Mann weiß es doch«, sagte ich ruhig. »Wir müssen den Tatsachen ins Gesicht sehen. Es hat keinen Zweck, daß wir uns selbst täuschen, es bleibt nur übrig, Mary Ferrera zu verhaften oder ihr zur Flucht aus dem Land zu verhelfen. Aber diesmal läßt es sich nicht umgehen, daß ihr Name in Verbindung mit dem Mord genannt wird.«

 

Leslie verbarg das Gesicht in den Händen, und in dieser Haltung traf ihn auch der Doktor. Während der Arzt den Toten untersuchte, winkte mir Leslie.

 

»Sie gehen am besten zu ihr und sprechen mit ihr, Mont«, sagte er unsicher. »Und dann tun Sie, was Sie für das richtige halten.«

 

Als ich zu ihrer Wohnung in Brixton kam, war sie nicht zu Hause, und ich mußte eine halbe Stunde warten. Sie warf den Kopf in den Nacken, als sie mich sah.

 

»Diesen Besuch habe ich wirklich nicht erwartet«, sagte sie ablehnend. »Aber vielleicht wissen Sie nichts von Leslies Plan.«

 

»Ich weiß nicht, was Sie meinen«, entgegnete ich kurz.

 

Sie nahm ihren Hut ab und legte ihn auf die Couch.

 

»Ich hätte niemals geglaubt, daß Leslie Jones einen Auftrag annehmen würde, mich zu beobachten! Und ich habe es mir niemals träumen lassen, daß Sie mit Sir Philip Frampton unter einer Decke steckten –«

 

»Sie dürfen nicht so verächtlich von einem Toten sprechen, Miss Ferrera«, unterbrach ich sie.

 

»Tot?« wiederholte sie ungläubig und wurde bleich. »Sir Philip ist doch nicht tot! Ich habe ihn noch heute nachmittag gesehen.«

 

»Als wir in das Büro kamen, lag er auf dem Boden und hatte eine Schußwunde im Kopf.«

 

Sie sank in einen Sessel.

 

»Erklären Sie mir das. Ich kann es noch nicht fassen«, sagte sie langsam. »Sie gingen nach oben und fanden ihn tot?«

 

Ich nickte.

 

Sie sah mich bestürzt an und sprang wieder auf.

 

»Dann sind Sie hergekommen, um mich zu verhaften?«

 

»Ich bin gekommen, um Sie entweder festzunehmen oder Ihnen bei Ihrer Flucht behilflich zu sein«, erklärte ich schroff. »Das letztere bedeutet für mich natürlich, daß ich meinen Dienst bei der Polizei aufgeben muß. Ich kann unmöglich im Amt bleiben, nachdem ich Ihnen zur Flucht verholfen habe.«

 

»Glauben Sie, daß ich Sir Philip ermordet habe?«

 

Ich sagte nichts darauf.

 

»Glauben Sie wirklich, daß ich es getan habe?« drängte sie.

 

»Wenn Sie mir versichern, daß Sie unschuldig sind, will ich Ihnen glauben«, erwiderte ich. Es kam wieder etwas Farbe in ihr Gesicht.

 

»Sie sind wirklich sehr gut zu mir, Mr. Mont.« Bei diesen Worten legte sie die Hand auf meine Schulter. »Ich danke Ihnen. Ich habe Sir Philip nicht umgebracht. Er hat mich sehr geärgert, aber ich habe ihn nicht erschossen.«

 

»Dann müssen Sie machen, daß Sie fortkommen, denn wir fahnden doch bereits nach Ihnen –«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Ich gehe nicht fort. Armer Mont, nun müssen Sie mich auch verhaften«, entgegnete sie lächelnd. »Setzen Sie sich bitte einen Augenblick«, bat sie. »Ich muß Ihnen eine sonderbare Geschichte erzählen. Als mich Sir Philip Frampton in sein Haus nahm, tat er es nur sehr widerwillig. Aber mit der Zeit erkannte er wohl, daß er in mir einen Freund und Mitarbeiter hatte. Schließlich war ich direkt mit ihm verwandt, und außerdem war ich ihm zu großem Dank verpflichtet. Er hatte meinem Vater nämlich früher sechshundert Pfund geliehen. Nun faßte er einen Plan, den er mir nach einiger Zeit mitteilte. Sir Philip war ein großer Mathematiker und hatte sich viel mit Wahrscheinlichkeitsrechnung beschäftigt. Infolgedessen interessierte er sich auch für das Glücksspiel. In der kleinen Stadt hatte er keine Gelegenheit selbst zu spielen, außerdem hätte er seines Rufes wegen davon absehen müssen. Aber theoretisch gab er sich viel damit ab und war vielleicht die größte Autorität auf dem Gebiet des Roulette und des Trente et Quarante. Wenn er abends um sieben gegessen hatte, arbeitete er gewöhnlich alle möglichen Kombinationen des Roulettespiels aus. Er besaß sogar genaue Aufzeichnungen über die Spielresultate in Monte Carlo während der letzten dreißig Jahre. Vor sechs Jahren stellte er schließlich ein System auf, das er für unfehlbar hielt.

 

Eines Abends zog er mich ins Vertrauen. Ich mußte ihm versprechen, niemand etwas davon zu sagen, bevor er mir das System erklärte. Er selbst war nie in Monte Carlo gewesen, aber er hätte es zu gern praktisch erprobt. Da er sehr reich war, hätte er sich über die öffentliche Meinung hinwegsetzen können. Aber es war eine persönliche Schwäche von ihm, stets auf andere Leute zuviel Rücksicht zu nehmen und ihre Kritik zu fürchten. Deshalb schlug er mir vor, daß ich mit den von ihm ausgearbeiteten Spielplänen nach Monte Carlo reisen sollte. Sooft ich nach Südfrankreich fuhr, nahm ich eine Million Franc mit. Und mit einer einzigen Ausnahme gewann ich damit eine Million fünfhunderttausend Franc. Auch dieses eine Mal hätte ich nicht verloren, wenn Sir Philip sich nicht geirrt und mir falsche Zahlen aufgeschrieben hätte. Als ich damals zurückkam und ihm von meinem Verlust erzählte, geriet er außer sich und behauptete, ich hätte nicht nach seinem System gespielt. Schon damals wohnte ich nicht mehr bei ihm, weil er sich nicht beherrschen konnte und mir dauernd Vorwürfe machte. Ich erklärte ihm dann, daß ich nicht mehr nach Monte Carlo reisen würde. Er selbst war so bestürzt über meinen Mißerfolg, daß er viele Abende mit eifrigen Kalkulationen zubrachte. Schließlich entdeckte er seinen Irrtum, war sehr beschämt und bat mich, doch wieder für ihn an die Riviera zu reisen. Ich gab seinem Drängen schließlich nach.«

 

»Einen Augenblick«, unterbrach ich sie. »Eins ist mir noch nicht klar. Pontius hat mir erzählt, daß Sie geheimnisvolle Briefe erhielten, und zwar immer, bevor Sie nach Monte Carlo reisten.«

 

Sie lächelte.

 

»Das waren Zahlentabellen und Instruktionen, die er mir schickte. Mir selbst war die ganze Geschichte verhaßt, und ich hatte mich fest entschlossen, meine Stellung bei der Bank aufzugeben, sobald die Schuld meines Vaters abgetragen war. Sie wissen ja, daß ich meinen Vorsatz auch ausführte. Ich schrieb ihm einen Brief und teilte ihm mit, daß ich nicht mehr für ihn in Monte Carlo spielen würde. Das muß ihn sehr verärgert haben. Vielleicht fürchtete er auch, ich könnte ihn bloßstellen, denn in seiner Antwort beschwor er mich, nichts von seinem Geheimnis zu verraten. Er drohte mir sogar, mich bei Gericht anzuzeigen und ins Gefängnis zu bringen, wenn ich mein Schweigen brechen würde. Aber ich glaube, er hätte es nie gewagt, diese Drohung auszuführen!«

 

»Da irren Sie sich. Er ging zu Leslie Jones und beauftragte ihn, Sie vor einer Rückkehr nach Elston zu warnen.«

 

»Nun verstehe ich alles«, entgegnete sie. »Ich habe Ihnen beiden unrecht getan.«

 

Lange saß sie am Tisch und stützte das Kinn in die Hand:

 

»Ich bin wirklich nicht traurig, daß er tot ist«, meinte sie dann. »Er war ein harter, ungerechter Mann. Ich erhielt zehn Pfund für jede Reise. Die beiden letzten Male verdoppelte er meine Bezüge, so daß ich jedesmal zwanzig Pfund verdiente. Aber er zahlte mir das Geld nicht aus, sondern buchte es von dem Konto meines Vaters ab.«

 

Sie erhob sich schnell.

 

»Mr. Mont, sagen Sie mir, was ich mitnehmen muß. Sie wissen ja in solchen Dingen Bescheid.«

 

»Wohin wollen Sie denn?«

 

»Ins Gefängnis.«

 

Eine Stunde später verließ ich in ihrer Begleitung die Wohnung. Ich trug die kleine Handtasche, in der sie das Nötigste mitnahm, brachte sie zur Polizeistation in Cannon Row und zeigte sie dort wegen vorsätzlichen Mordes an Sir Philip Frampton an, obwohl ich von ihrer Unschuld völlig überzeugt war.

 

Kapitel 12

 

12

 

Ich hatte bei all diesen Ereignissen gerade keine sehr heldenhafte Rolle gespielt, aber ich tat das einzig Mögliche. Wäre ich einer jener romantischen Romanhelden gewesen, so hätte ich die Geliebte meines Freundes der ganzen Welt zum Trotz in Sicherheit gebracht. Aber als prosaischer Mensch sorgte ich nur dafür, daß sie eine Zelle mit einem guten Bett bekam, und beauftragte meine Rechtsanwälte telegrafisch, den besten Vertreter für ihre Verteidigung zu engagieren.

 

Ich hatte zwei Beamten den Auftrag gegeben, das Büro genau nach der Waffe und anderen Anhaltspunkten zu durchsuchen. Nachdem ich Mary Ferrera zur Polizeistation gebracht hatte, fuhr ich direkt in die Bond Street und fand dort den Sergeanten Merthyr und den Polizisten Doyne. Sie aßen in Leslies Büro belegte Brote. Leslie saß bei ihnen und verfluchte den Tag, an dem die Firma Stabbat und Jones ihre behaglichen Räume in der Cork Street aufgegeben hatte. Er schaute ängstlich auf, als ich eintrat.

 

»Ich habe Miss Ferrera verhaften müssen«, sagte ich.

 

Er nickte traurig.

 

»Ja. Ich wüßte auch nicht, was Sie sonst hätten tun sollen.«

 

»Haben Sie etwas gefunden?« wandte ich mich an Merthyr.

 

Der Sergeant verneinte meine Frage.

 

»Haben Sie denn die Waffe, mit der Sir Philip niedergeschossen wurde? Haben Sie Miss Ferreras Wohnung durchsucht?« fragte er dann.

 

»Die Wohnung habe ich durchsucht, aber ich habe nichts entdeckt.«

 

Ich hatte mir nicht die Mühe gemacht, die Zimmer Mary Ferreras einer Prüfung zu unterziehen oder das Mädchen persönlich zu kontrollieren. Es war ja auch sehr unwahrscheinlich, daß Mary einen anderen Revolver gekauft hätte oder daß sie zwei Schußwaffen besaß. Der Revolver, den sie das erstemal bei sich hatte, lag auf dem Boden des Heizungsschachts.

 

Plötzlich kam mir eine Idee. Die beiden Beamten hatten sich gerade entfernt, und ich war allein mit Leslie.

 

»Was haben Sie denn?« fragte Leslie, der mich erstaunt ansah. »Mont, diese Geschichte wird unserer Firma ungeheuer schaden.«

 

»Darüber reden wir jetzt nicht. Wohin führt dieser Schacht?«

 

»Welchen Schacht meinen Sie?«

 

»Waren Sie nicht im Zimmer, als Billington den Revolver in die Öffnung an der Fensterwand warf?«

 

»Welche Öffnung?«

 

Wir traten in Billingtons Büro. Leslie drehte das Licht an, und mit Hilfe eines Brieföffners gelang es mir, die kleine Tür zu öffnen. Leslie schaute hinunter.

 

»Ich möchte nur wissen, wohin der Schacht führt«, sagte er nachdenklich, nahm eine Kupfermünze, ließ sie fallen und lauschte.

 

Er sah mich überrascht an, als er sich umdrehte.

 

»Sie ist direkt bis in den Keller gefallen.«

 

Ich erklärte ihm nun, daß es sich nach Billys Meinung hier um die frühere Heizung handelte. Leslie kannte den Portier; wir gingen beide nach unten und ließen uns von Mr. Bolt den Keller aufschließen. Der Mann zeigte uns den Raum, in dem zum Teil die Kessel noch standen. Er war durch die beiden Unglücksfälle, die im Haus passiert waren, etwas nervös geworden.

 

»Sie glauben doch nicht etwa, daß noch jemand umgebracht worden ist, den man unten im Keller begraben hat?« fragte er ängstlich.

 

»Nein, das ist nicht anzunehmen.«

 

Er blieb aber vorsichtshalber an der Tür und begleitete uns nicht nach innen. Wir hatten den Schacht bald gefunden, und als ich mit der Taschenlampe den Fußboden ableuchtete, entdeckte ich, was ich suchte.

 

»Da liegt die Waffe«, sagte Leslie, bückte sich und nahm sie auf.

 

Der Hahn war noch gespannt. Behutsam ließ ich ihn wieder herunter und steckte die Waffe in die Tasche.

 

»Hier ist auch das Kupferstück!« rief Leslie.

 

Wir kehrten in die Büroräume zurück, und ich legte den Revolver auf den Tisch unter die Leselampe. Bei näherer Betrachtung stellte ich fest, daß noch alle sechs Patronen vorhanden waren. Daraufhin untersuchte ich die Waffe genauer und fand, daß sie überhaupt nicht abgeschossen worden war.

 

Billy hatte voreilig gehandelt! Als er Mary die Waffe aus der Hand nahm und sie in den Keller warf, beseitigte er damit den Beweis ihrer Schuldlosigkeit.

 

Mir war es ganz klar, daß der Mann, der auf Thomson Dawkes geschossen hatte, auch der Mörder Sir Philip Framptons sein mußte. Auf keinen Fall aber konnte es Mary Ferrera gewesen sein.

 

»Sie werden die Sache niemals ganz aufklären können, Mont«, sagte Leslie schließlich. »Es gibt nur einen Mann, der dieses Geheimnis lösen könnte, und der sitzt jetzt in Dartmoor. Wir müssen ihn unter allen Umständen herausbringen.«

 

Ich sah ihn verblüfft an.

 

»Wie meinen Sie denn das?«

 

»Genauso, wie ich eben sagte. Miss Mary hat ihm doch schon früher den Vorschlag gemacht, aus dem Gefängnis auszubrechen. Ich hielt das damals nicht für möglich oder notwendig. Aber jetzt ist die Sache sehr ernst geworden, und wir müssen alles daransetzen, daß er aus dem Gefängnis kommt.«

 

Ich hörte wohl, was Leslie dann noch sagte, konnte mir aber nicht denken, daß der Plan gelingen würde.

 

»Wir werden ja sehen«, erklärte er schließlich.

 

Einen Gefangenen aus dem Gefängnis in Dartmoor zu befreien, das mag ja noch angehen, aber es ist unendlich schwierig, ihn aus dieser großen, einsamen Heide fortzubringen.

 

An diesem Abend schlief ich lange nicht ein und zergrübelte mir den Kopf, wie wir unseren Plan ausführen könnten.

 

Das Verhör Mary Ferreras vor dem Polizeigericht war merkwürdig und unterschied sich von allen anderen, die ich bisher erlebt hatte. Gewöhnlich werden bei dem ersten Verhör nur die notwendigsten Zeugen vernommen, aber in diesem Fall hatte man auch den Rechtsanwalt Mr. Tranter vorgeladen, an den der Ermordete kurz vor seinem Tod geschrieben hatte.

 

»Haben Sie den Toten wiedererkannt?« fragte der Staatsanwalt.

 

»Ja.«

 

»Wer ist es?«

 

»Sir Philip Frampton.«

 

»Besaß er ein großes Vermögen?«

 

»Soviel ich weiß, war er sehr reich. Er hatte ungefähr vier bis fünfhunderttausend Pfund.«

 

»Hat er ein Testament hinterlassen?«

 

»Nein. Vor drei Jahren haben wir in seinem Auftrag ein Testament aufgesetzt. Verschiedene der Bestimmungen paßten ihm aber in letzter Zeit nicht mehr, und er wollte sie ändern. Wir gaben ihm zu Anfang den Rat, einen Nachtrag zu machen, aber das wollte er nicht. Er vernichtete das Testament und war gerade im Begriff, ein anderes aufzustellen, als er ermordet wurde.«

 

»Dann existierte also im Augenblick des Todes kein gültiges Testament?«

 

»Nein, es war keines vorhanden.«

 

»Wer ist unter diesen Umständen sein Erbe?«

 

»Miss Mary Ferrera.«

 

Sie erhob sich von der Anklagebank und starrte den Rechtsanwalt mit weitaufgerissenen Augen an.

 

»Ich – ich wußte das nicht«, stammelte sie.

 

Ihr Verteidiger gab ihr einen Wink, sich wieder zu setzen.

 

»Welche Bestimmungen des Testaments wollte Sir Philip ändern?«

 

»Er hatte der Gesellschaft zur Unterdrückung des Glücksspiels fünftausend Pfund vermacht; diese Schenkung wollte er zurückziehen.«

 

Mit dieser unerwarteten Antwort endete die Verhandlung für diesen Tag.

 

Mary Ferrera war also eine reiche Frau! Das war allerdings ein sehr ungünstiger Umstand für sie, denn darin würde das Gericht wahrscheinlich ein Motiv für das Verbrechen sehen. Leslie war auch zugegen gewesen, aber nicht als Zeuge vernommen worden. Die Verhandlung wurde auf eine Woche vertagt, damit die Staatsanwaltschaft weiteres Material herbeischaffen konnte.

 

Ich trat mit Leslie auf die Straße.

 

»Ich gab Ihnen doch damals dreihundert Pfund, die Billy gehörten?« sagte er.

 

»Ja. Hundert Pfund überließ ich Miss Ferrera.«

 

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, möchte ich Sie jetzt um den Rest bitten. Wir müssen alles Geld zusammenkratzen, das wir bekommen können. Die Sache wird mindestens viertausend Pfund kosten.«

 

»Was meinen Sie denn – doch nicht die Verteidigung?«

 

»Ich denke vor allem daran, Billy aus dem Gefängnis zu befreien. Das ist ein Teil der Verteidigung – ja, es ist sogar die einzige Verteidigung, die uns bleibt.«

 

Kapitel 1

 

1

 

Ich weiß nicht genau, welcher Nation Billington Stabbat angehörte; er mochte Engländer, Amerikaner, Kanadier oder Australier sein. Zufällig nur erfuhr ich, daß er in Lima, der Hauptstadt von Peru, geboren wurde. Er konnte stundenlang über Peru sprechen und wußte in der Geschichte dieses Landes sehr gut Bescheid.

 

Über seine Eltern habe ich nie etwas gehört, und über sein früheres Leben ist mir nicht viel bekannt. Er war fast in der ganzen Welt umhergereist, als ich ihn während des Weltkriegs in Frankreich traf. Damals diente er bei der amerikanischen Armee und war im Großen Hauptquartier tätig. Es wird allgemein behauptet, daß er der beste Nachrichtenoffizier war, den Pershing, der amerikanische Oberbefehlshaber, hatte.

 

Verbrechen aufzuklären bedeutete für Billy nichts Neues. Schon in Toronto hatte er als Detektiv gearbeitet. Er war ein tüchtiger Mann, und gerade befördert worden, als der Krieg ausbrach.

 

Viele Leute haben von der Briscoe-Bande gehört, zum mindesten alle Kanadier. Die Mitglieder dieser Bande waren äußerst geschickte Verbrecher. George Briscoe und sein Bruder Tom waren die Führer. Alle Bankdirektoren von Halifax bis nach Victoria haßten die Briscoes. Jeder der beiden Brüder war ein Genie in seiner Art. Sie brachen die Safes auf, ohne Stemmeisen oder Schneidbrenner zu benützen. Sie gingen in die Banken, öffneten einfach die Geldschränke oder Stahlkammern, nahmen, was sie wollten, und verschlossen die Türen wieder. Niemals hinterließen sie Spuren; es fehlten nur später Geld oder Papiere in den Safes. Es sah jedesmal so aus, als ob Bankbeamte, die im Besitz der Schlüssel waren und die Kombinationen der Buchstabenschlösser kannten, den Raub begangen hätten. Ein Bankdirektor, den man verdächtigte, wurde so nervös, daß er sich erschoß.

 

Die Briscoes waren zäh, weitsichtig und ungewöhnlich begabt und gewandt. Aber Billy fing sie eines Tages trotzdem, und zwar überraschte er Tom mit vier Komplicen bei einem Einbruch. George verhaftete er in einem Hotel in Ottawa, aber das Beweismaterial genügte nicht zu einer Verurteilung. Tom dagegen erhielt zwanzig Jahre Zuchthaus und erhängte sich in seiner Zelle.

 

Eines Tages traf ich Leslie Jones auf der Treppe zu Billys Büro. Leslie ist nicht groß und hat unglaublich breite Schultern, so daß er noch viel kleiner und beinahe verwachsen aussieht. Er hat ein langes Gesicht mit einer großen Nase und einem breiten, unsymmetrischen Mund, und wenn er lacht, zieht er den einen Mundwinkel höher als den anderen, so daß aus dem Lachen ein Grinsen wird.

 

Ich war erstaunt, ihn hier zu sehen, freute mich aber, daß ich ihn traf. Vor dem Krieg hatte er einen Posten in einem Detektivbüro, und ich wußte nicht, daß er jetzt mit Billy zusammenarbeitete.

 

»Jones! Das ist aber eine großartige Überraschung! Ich dachte schon, Sie wären gestorben.«

 

»Nein, wie Sie sehen, bin ich noch sehr lebendig. Ich bin jetzt bei Mr. Billington Stabbat.«

 

»Wie sind Sie denn mit dem in Verbindung gekommen?«

 

»Wir lernten uns während des Krieges kennen. Er hat mir das Leben gerettet.«

 

»Bei welchem Gefecht denn? Ich wußte überhaupt nicht, daß Sie an der Front waren?«

 

»Ich habe doch nichts von einem Gefecht gesagt, sondern nur, daß er mir das. Leben gerettet hat. Als ich eingezogen wurde, traf ich ihn, und er besorgte mir einen Posten beim Proviantamt in Plymouth. Er ist wirklich ein famoser Kerl. Er hat sich nicht geändert und wird sich auch nicht ändern. Er gibt sein Letztes für einen Freund, und für eine Frau würde er sogar zum Galgen pilgern. Diese Schwäche den Frauen gegenüber wird ihn auch noch ruinieren. Vorige Woche hatten wir einen großen Verlust. Wir haben eine Frau beobachtet, die ihren Mann hinterging, und als wir dann eindeutige Beweise in der Hand hatten, fiel Billy plötzlich um und arbeitete Tag und Nacht, um ein Alibi für die Frau zu schaffen. Sie war nämlich zu ihm gegangen und hatte ihm etwas vorgeweint. Zwei Tränen hingen an den Wimpern, und je zwei rollten die Wangen hinunter. Im ganzen vier Tränen. Die haben uns achthundert Pfund gekostet. Macht pro Tag zweihundert Pfund. Als Billy nachher zurückkam, konnte er nur mit gebrochener Stimme von ihr sprechen. Er sagte, der Mann, der uns den Auftrag gegeben hätte, wäre ein gemeiner, schrecklicher Kerl, der eine solche Frau gar nicht verdiente. Ja, so ist Billy«, meinte Leslie mit melancholischer Bewunderung und zog mich zur Seite, damit ein Arbeiter in weißem Kittel die Treppe hinaufsteigen konnte. »Passen Sie auf, Mr. Mont. Heute wird die Büroeinrichtung fertig. Das war eben einer von den Elektromonteuren.«

 

Ich sah gleichzeitig auf den Mann, der vorüberging. Er war bleich und hatte einen kurzen roten Bart.

 

»Jetzt muß ich aber gehen«, erklärte Leslie. »Wir müssen einen Auftrag in Whitechapel ausführen, eine Versicherungsgesellschaft hat uns damit beauftragt. Billy kann Ihnen Näheres darüber erzählen.«

 

Wir verabschiedeten uns, und ich stieg die Treppe hinauf.

 

Als ich ins Büro trat, saß Billington am Schreibtisch. Er war etwas über mittelgroß und sah gut aus – glattrasiertes Gesicht, eine hohe, gewölbte Stirn, blaue Augen und ein festes, eckiges Kinn. Manche Leute glaubten, daß er nicht lächeln könnte. Ich kannte ihn aber besser und wußte, wie herzlich er sich über einen Scherz freuen konnte. Er war durchaus kein Spielverderber.

 

Im Büro machte alles einen neuen Eindruck. Es roch überall nach Lack und frischer Farbe. Bill hatte sich bei der Ausstattung viel Mühe gegeben und alles behaglich und freundlich eingerichtet. Drei Fenster des großen, hohen Raumes führten nach der Bond Street. Früher hatte ein Fotograf sein Atelier hier gehabt. Das Haus besaß keinen Aufzug, und seine Kunden hatten sich häufig darüber beschwert, daß sie drei Treppen hinaufsteigen mußten.

 

Auf dem Boden lag ein blauer Teppich; auch die Tapete war auf diesen Grundton abgestimmt.

 

Ein großer Marmorkamin mit zwei mächtigen Löwenfiguren schmückte die eine Wand.

 

Als ich eintrat, erhob sich Billy und begrüßte mich freundlich.

 

»Das freut mich aber, Mont!« rief er, als er mir die Hand drückte. »Kommen Sie doch herein. Allerdings müssen Sie auf dem Teppich Platz nehmen, da die Stühle noch nicht geliefert worden sind. Wie gefällt Ihnen mein neuer Geschäftsraum?«

 

Nachdem er mich begrüßt hatte, kehrte er beinahe hastig hinter seinen Schreibtisch zurück.

 

»Setzen Sie sich doch bitte auf das Fensterbrett. Augenblicklich stehen Sie nämlich in meiner Schußlinie.«

 

»In Ihrer Feuerlinie?« Ich wollte meinen Ohren nicht trauen.

 

»Ja«, erwiderte Billy ruhig. »Haben Sie noch nie etwas von einer Schußlinie gehört?«

 

Ich setzte mich also auf das Fensterbrett, betastete es aber vorher vorsichtig, denn Fensterbretter trocknen in renovierten Wohnungen gewöhnlich als letztes. Dann sah ich ein rotes Seidentaschentuch auf Bills Schreibtisch, unter dem ein Browning hervorschaute. Ich wunderte mich darüber. Er sah zur Tür, und als ich mich umdrehte, entdeckte ich, daß der Handwerker mit dem roten Bart ins Zimmer gekommen war. Der Mann betrachtete das Deckengesims, seine Finger spielten mit einem Zollstock.

 

»George«, sagte Billington ruhig, »kommen Sie hierher und halten Sie Ihre Hände so, daß ich sie sehen kann. Wenn Sie in die Tasche fassen, schieße ich Sie sofort mausetot.«

 

Der andere kam langsam zum Schreibtisch, ohne den Blick von Billy zu wenden.

 

»Ich möchte Sie mit Sergeant Mont von Scotland Yard bekanntmachen«, fuhr Billy fort. »Dies ist Mr. George Briscoe aus Kanada. Wie geht es Ihnen denn jetzt, George?«

 

Der Elektriker biß sich nur auf die Unterlippe und schwieg.

 

»Ich habe nämlich Georges Bruder auf zwanzig Jahre ins Zuchthaus gebracht«, erzählte Billy im Unterhaltungston, als ob er irgendeine alltägliche Sache erklärte. »Deshalb ist George natürlich ein wenig böse mit mir. Vermutlich ist er herübergekommen, um mit mir abzurechnen. Sie hatten bis jetzt noch wenig Gelegenheit dazu, was?«

 

Briscoe erwiderte auch jetzt noch nichts.

 

»Wie geht es übrigens Tom?« fragte Billington.

 

Nun brach der Mann endlich das Schweigen.

 

»Tom ist tot, das wissen Sie ganz genau«, sagte er leise, aber erregt, und ich sah deutlich, daß er zitterte.

 

»Ach, der arme Tom! Er war wirklich ein kluger und gescheiter Junge. Der konnte mehr als Sie, George. Nun, wir können ja nicht ewig leben. Früher oder später muß jeder von uns einmal daran glauben.«

 

Briscoe senkte den Blick.

 

»Ich führe jetzt ein anständiges Leben, Mr. Stabbat. Es ist ein reiner Zufall, daß ich gerade für diese Arbeit engagiert wurde. Vor zwei Jahren kam ich von Kanada herüber, um von neuem anzufangen.«

 

»Vor sechs Monaten sind Sie gekommen«, entgegnete Billy freundlich, »und Sie haben die Stelle erhalten, weil Sie dem Polier eine Zehnpfundnote in die Hand drückten. Und wenn Sie sagen, Sie führen jetzt ein anständiges Leben, so muß ich Sie doch darauf aufmerksam machen, daß Sie sich im vergangenen Dezember an dem Einbruch beim Juwelier Roberts in der Regent Street beteiligt haben. Ich zweifle aber daran, daß Mr. Mont Ihnen das nachweisen kann. Und mich geht die Sache ja nichts an.« Er zuckte die Schultern. »Ich bin jetzt mit friedlichen Nachforschungen beschäftigt und beobachte böse Frauen für ihre tugendhaften Ehegatten oder böse Männer für ihre trostlosen Frauen. Als Privatdetektiv habe ich fast nur noch mit Ehescheidungssachen zu tun.«

 

George fuhr mit der Hand über den Bart.

 

»Sie sind ein tüchtiger Kerl, Stabbat«, sagte er. Seine Stimme verriet, daß er eine gute Erziehung genossen hatte. »Aber glauben Sie mir, früher oder später erwische ich Sie doch noch.«

 

»Wir werden ja sehen«, entgegnete Billy.

 

Diese Redensart führte er dauernd im Munde. Sie gab eigentlich seine Lebensauffassung wieder. Immer wartete er auf das Morgen, ob es ihm eine neue Aufgabe, Arbeit oder Vergnügen, Belohnung oder Gefahr bringen mochte.

 

»Ich mache Ihnen keinen Vorwurf, George«, fuhr er fort, »weil Sie mir das Lebenslicht ausblasen wollen. Im Gegenteil. Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich dasselbe tun. Es ist ein Ausdruck von brüderlicher Liebe, und ich achte Sie deshalb. Es ist etwas Schönes, wenn Brüder zusammenhalten. Aber es war schließlich nicht mein Fehler, daß ich Sie nicht beide zu gleicher Zeit faßte. Aber ob Sie mich erwischen oder ich Sie, das werden wir ja sehen!«

 

»Sie hätten einen guten Partner abgegeben, Stabbat. Es tut mir leid, daß ich gegen Sie vorgehen muß, aber es bleibt mir nichts anderes übrig.«

 

Billy nickte verständnisvoll.

 

»Ich verstehe«, erwiderte er beinahe entschuldigend. »Nun machen Sie aber weiter.«

 

George schien noch etwas sagen zu wollen, änderte jedoch seine Absicht und ging langsam zur Tür. Dort stand er einige Zeit, hielt die Türklinke in der Hand und dachte nach. Als er dann sprach, blitzten seine Augen gefährlich.

 

»Ich bin heute mit meiner Arbeit hier fertig geworden. Sie sind also von meiner Gesellschaft befreit und brauchen sich nicht mehr zu fürchten!«

 

Billington Stabbat lehnte sich in seinem Sessel zurück und lachte.

 

»Im Ernst, George, und von Mann zu Mann gesprochen, glauben Sie wirklich, daß ich mich vor Ihnen fürchte?«

 

Briscoe zögerte.

 

»Nein, ich glaube nicht«, sagte er schließlich. »Vermutlich haben Sie, seit ich hier bin, die Pistole nur aus Gewohnheit auf den Schreibtisch gelegt?«

 

Billy nickte.

 

»Also auf Wiedersehen«, verabschiedete sich George.

 

»Auf Wiedersehen«, entgegnete Billy freundlich.

 

Die Tür schloß sich hinter diesem merkwürdigen Verbrecher. Ich war sehr erstaunt, aber Billy sah mich lachend an.