Kapitel 5

 

5

 

So wurde Tre-Bong Smith in das Haus Cäsar Valentines eingeführt. Die Sache hätte für ihn gefährlich werden können, wenn die Polizei Nachforschungen über den plötzlichen Tod Ernests angestellt hätte. Aber es war bekannt, daß der Mann von Zeit zu Zeit epileptische Anfälle hatte und sich ab und zu entsetzlich betrank. Bei mehreren früheren Gelegenheiten hatte Cäsar bereits den Arzt rufen müssen, um ihn wieder zum Bewußtsein zu bringen.

 

Smith konnte nur vermuten, was Ernest zugestoßen war. Sicher hatte er in den frühen Morgenstunden wieder einen Anfall gehabt, war aufgestanden und zu dem Fremdenzimmer gegangen. Cäsar erklärte, daß er früher dort geschlafen hätte und daß ihn der Mann in seiner Not sicher um Hilfe bitten wollte. Die Worte »Cäsar, Cäsar!« bewiesen das ja auch.

 

Die üblichen Nachforschungen wurden von der Polizei angestellt, und Smith war erstaunt, wie leichtgläubig die Beamten die Erklärung Valentines hinnahmen. Solange sie im Haus waren, wurde Smith in einem kleinen Turmzimmer versteckt, das in der äußersten Ecke des Gebäudes lag. Die schweigende Madonna Beatrice brachte ihm sein Essen; andere Dienstboten sah er nicht.

 

Am Abend wurde er wieder in den großen Salon gerufen. Cäsar saß dort in einem bequemen Sessel, rauchte eine große Zigarre und las in einer Sammlung von Gedichten. Als Smith eintrat, sah er auf und lud ihn ein, Platz zu nehmen.

 

»In ein oder zwei Tagen will ich Sie aus Frankreich hinausschaffen. Hoffentlich sind Sie durch die Geschichte nicht nervös geworden? Sie ist wirklich sehr unangenehm.«

 

»Ja, für uns alle«, erwiderte Smith, nahm eine Zigarette vom Tisch und steckte sie an. »Sie haben gestern natürlich noch mit ihm gesprochen, nachdem wir uns getrennt haben?«

 

Cäsar runzelte die Stirn.

 

»Warum sagen Sie ›natürlich‹?«

 

»Weil er starb«, entgegnete Smith schroff. »Sie waren mit ihm zusammen, tranken noch ein Glas Wein mit ihm – und dann starb er.«

 

Valentine schwieg eine Weile.

 

»Wie kommen Sie darauf?« fragte er dann und sah Smith direkt in die Augen.

 

»Ich habe drei Jahre Medizin studiert, und im Verlauf dieser drei Jahre habe ich auch ein Gift kennengelernt, das tödlich wirkt, aber keine Spuren hinterläßt. Nur an Begleitsymptomen kann man es erkennen, und ich habe gesehen, daß Ernest daran gestorben ist.«

 

»So, haben Sie das gesehen?«

 

Smith nickte, und Cäsar lachte, als ob er sich darüber amüsierte.

 

»Dann benachrichtigen Sie am besten gleich die Polizei«, sagte er spöttisch.

 

»Ich habe allen Grund, das nicht zu tun«, erwiderte Smith kühl. »Aber ich halte es für richtig, daß zwischen uns beiden Klarheit herrscht. Legen Sie Ihre Karten auf den Tisch, wie ich es bereits getan habe.«

 

Cäsar erhob sich schnell und ging im Zimmer auf und ab.

 

»Sie sollen alle meine Karten zu gegebener Zeit sehen. Ich brauche einen Mann wie Sie, einen Mann ohne Herz und ohne Mitleid. Und eines Tages werde ich Ihnen ein großes Geheimnis verraten.«

 

Smith sah ihn merkwürdig an.

 

»Ich will Ihnen Ihr Geheimnis sofort sagen«, erklärte er langsam und zeigte auf das Wappen über dem Kamin. »Warum ist das hier angebracht? Warum sind die Bourbonlilien und das C in den Teppich gewebt, Mr. Valentine? Ich weiß allerdings nicht, ob Sie geisteskrank oder klar im Kopf sind.« Smith sprach langsam und überlegt. »Es mag auch nur eine Form von Größenwahn sein. Ich habe schon Leute gesehen, die derartig extravagante Gedanken hatten. Aber ich glaube, ich verstehe Sie.«

 

»Nun, was ist denn das für ein Wappen?« fragte Valentine.

 

»Es ist das Wappen der Borgia. Ein Stier auf goldenem Grund ist das Familienwappen der Borgia; das C unten im Teppich war die Initiale Cesare Borgias.«

 

Valentine wanderte nicht mehr umher. Er blieb stehen und sah Smith mit vorgeneigtem Kopf an.

 

»Ich bin weder verrückt, noch leide ich an Größenwahn«, sagte er ruhig. »Aber ich bin der letzte direkte Nachkomme des berühmten Cesare Borgia, Herzogs von Valentinois.«

 

Smith sprach lange Zeit nicht, denn er hatte genug, um darüber nachzudenken. Während seiner Studienzeit in Oxford hatte er sich mit der Renaissance beschäftigt und kannte die Geschichte der Borgias sehr gut. In seinem damaligen Zimmer hing ein alter Stich an der Wand mit der Inschrift: »Caesare Borgia von Frankreich, Herzog von Valentinois, Graf von Diois und Issaudun, päpstlicher Vicar von Imola und Forli.« Und als er jetzt Cäsar ansah, erkannte er dieselben Züge in dessen Gesicht.

 

Valentine freute sich über die Überraschung, die er dem anderen bereitet hatte. »Nun?« fragte er schließlich.

 

»Es ist merkwürdig«, erklärte Smith. »Von welchem Zweig der Familie stammen Sie denn ab?«

 

»Von Girolamo«, antwortete Cäsar schnell. »Er war der einzige Sohn Cesares. Nach dem Tod seines großen Vaters wurde er nach Frankreich und von dort nach Spanien gebracht, wo ihn ein Kardinal erzog. Er heiratete; sein Sohn ging nach Südamerika und focht für die Spanier in Peru. Die Familie ließ sich dann für zweihundert Jahre in Amerika nieder. Erst mein Großvater kam als Junge nach England, und auch ich wurde dort erzogen.«

 

Die beiden standen einander gegenüber: der Abkömmling Papst Alexanders VI. und der Abenteurer, den dieser sich als Meuchelmörder gedungen hatte.

 

In Cäsars Gesicht zeigte sich ein Ausdruck der Genugtuung.

 

Schon früher hatte er Männern und auch Frauen gegenüber seine Abstammung enthüllt, aber ihnen hatte das Wort Borgia nichts bedeutet; sie ahnten nichts von der einstigen Macht und Größe dieses Geschlechtes.

 

Smith aber wußte es zu schätzen und zu würdigen, und darüber freute sich Cäsar.

 

Madonna Beatrice eilte plötzlich in den Salon, ohne anzuklopfen. Cäsar ging sofort zu ihr, als er ihr Gesicht sah, und die beiden unterhielten sich leise miteinander. In Cäsars Zügen zeigte sich Überraschung, dann sah er unschlüssig auf Smith.

 

»Sie soll hereinkommen«, sagte er schließlich.

 

Smith hatte alles gehört und war in größter Spannung. Sollte er die geheimnisvolle Frau sehen, die er während der Nacht im Garten beobachtet hatte? Oder handelte es sich um eine Geliebte dieses letzten Borgia?

 

Madonna Beatrice kam wieder ins Zimmer, und eine große, schlanke junge Dame folgte ihr. Sie war so schön, daß Smith fast der Atem stockte.

 

Sie sah von Cäsar zu ihm herüber und wieder zu Cäsar. Dann ging sie zu ihm und berührte seine Wange leicht mit den Lippen.

 

In Valentines Gesicht spiegelte sich Genugtuung, aber auch ein wenig Ärger. Plötzlich wandte er sich um und zeigte mit der Hand auf seinen neuen Freund.

 

»Stephanie, darf ich dir Mr. Smith vorstellen? Dies ist meine Tochter, Smith.«

 

Seine Tochter! Tre-Bong war erstaunt und überrascht, aber er faßte sich schnell und reichte ihr die Hand, die sie etwas zögernd nahm. Sie streifte ihn mit einem seltsamen Blick und wandte sich dann ab.

 

»Wann bist du nach Paris gekommen?« fragte Cäsar.

 

»Heute abend«, erwiderte sie.

 

Smith war sprachlos über diese Lüge, denn er hatte in ihr die junge Dame in Schwarz erkannt, die in der vergangenen Nacht die Szene am Quai des Fleurs beobachtet hatte. Ihr Blick hatte ihm verraten, daß sie Zeugin des Vorfalls gewesen war.

 

Kapitel 1

 

1

 

Nachdem man auf der internationalen Polizeikonferenz in Genua drei Tage lang die verschiedensten Probleme erörtert hatte, kam man schließlich auch auf Cäsar Valentine zu sprechen. Es lag nichts Besonderes gegen ihn vor; die Beamten tauschten nur im Anschluß an den Fall Gale ihre Meinungen über ihn aus.

 

»Ich verstehe eigentlich nicht, was man diesem Mann vorwirft«, sagte Lecomte von der Pariser Sûreté. »Er ist reich, sehr bekannt und sieht vorzüglich aus – aber das alles kann man doch nicht als ein Verbrechen bezeichnen.«

 

»Wo mag er nur das Geld herhaben?« fragte Leary, der aus Washington kam. »Fünf Jahre lang war er bei uns in den Staaten, aber er hat immer nur Geld ausgegeben.«

 

»Auch das ist weder in Frankreich noch in Amerika ein Verbrechen«, erwiderte Lecomte lächelnd.

 

»Leute, die mit ihm in Geschäftsverbindung standen, hatten das Unglück, plötzlich zu sterben.«

 

Es war Hallett von der Londoner Kriminalpolizei, der diese unfreundliche Bemerkung machte.

 

Leary nickte.

 

»Ja, das stimmt auch mit unseren Beobachtungen überein. Die Vorsehung meinte es sehr gut mit Mr. Valentine. Er hatte sich vor ein paar Jahren auf der Chikagoer Börse in Weizen engagiert, und die Kursentwicklung ging gegen ihn. Die Preise fielen und fielen, und an der Spitze der Baissegruppe stand Burgess. Er war ein persönlicher Gegner Valentines und hätte ihn auch ruiniert, aber eines Morgens wurde er auf dem Boden eines Liftschachtes in seinem Hotel tot aufgefunden. Er war vom neunzehnten Stockwerk in die Tiefe gestürzt.«

 

Lecomte zuckte die breiten Schultern.

 

»Kann das nicht ein Zufall gewesen sein?«

 

»Wenn dies der einzige Fall wäre, könnte man es annehmen«, entgegnete Hallett. »Aber hören Sie weiter. Dieser Mr. Valentine befreundete sich mit dem Bankier George Gale in England. Gale finanzierte ihn mit Bankgeldern, obwohl das niemals bewiesen wurde. Der Mann hatte die Gewohnheit, ein Nervenstärkungsmittel zu nehmen, das er in seinem Büro stehen hatte. Eines Abends wurde er mit der kleinen Flasche in der Hand in seinem Privatkontor tot aufgefunden. Das Etikett trug die Aufschrift der Medizin, aber in Wirklichkeit enthielt die Flasche ein starkes Gift. Als später die Bücher der Bank geprüft wurden, stellte sich heraus, daß eine Summe von hunderttausend Pfund fehlte. Valentines Konto war vollkommen in Ordnung. Man nahm allgemein an, daß Gale Selbstmord verübt hätte, und Valentine schickte zu seiner Beerdigung den größten Kranz.«

 

»Nun, ich will Valentine nicht verteidigen«, entgegnete Lecomte, »aber ich sehe wirklich noch keinen zwingenden Grund, den Mann für einen Verbrecher zu halten. Es mag immerhin. Selbstmord gewesen sein. Können Sie vielleicht das Gegenteil beweisen? Sicher ist der Fall doch mit aller Gründlichkeit von Scotland Yard untersucht worden.«

 

Hallett nickte.

 

»Und es wurde nichts Belastendes gegen Valentine gefunden?« fragte Lecomte. »Sie halten den Mann trotzdem für verdächtig? Nun, wenn das tatsächlich der Fall sein sollte, helfe ich Ihnen mit sämtlichen Beamten der Sûreté. Ich werde ihn das nächste Mal Tag und Nacht bewachen lassen, denn gewöhnlich bringt er sechs Monate des Jahres in Frankreich zu. Aber offen gestanden sähe ich es lieber, wenn Ihr Verdacht besser begründet wäre.«

 

»Er ist mit der Frau eines anderen durchgebrannt«, begann Hallett noch einmal. Lecomte lachte laut.

 

»Verzeihen Sie«, entschuldigte er sich gleich darauf, »aber das ist nach französischem Gesetz kein Verbrechen.«

 

Die allgemeine Unterhaltung wandte sich dann anderen Dingen zu.

 

Ein Jahr später saß Hallett in seinem Büro in Scotland Yard am Schreibtisch und las mit düsterem Gesichtsausdruck einen Bericht durch.

 

Eine halbe Stunde lang dachte er darüber nach, dann klingelte er. Kurz darauf trat jemand in den Raum.

 

»Vor etwa sechs Monaten«, begann der Chef ernst, »haben Sie mir Ihre Ansichten über Mr. Valentine auseinandergesetzt. Bitte unterbrechen Sie mich nicht, hören Sie mich erst zu Ende an. Ich habe Sie gern – das wissen Sie. Und ich vertraue Ihnen, sonst würde ich Sie nicht vor eine so schwere Aufgabe stellen. Ich bin davon überzeugt, daß Ihre Theorien in gewisser Weise begründet sind. Deshalb habe ich mich auch so viel mit Ihnen befaßt und Sie für die Lösung dieser Aufgabe geschult.

 

Bei solchen Fällen muß man vor allem Geduld haben. Chefinspektor Burns schickte einen Mann nach den Minenfeldern, um einen Mörder zu suchen. Als Anhaltspunkt hatte der Beamte nur eine kleine Fotografie, auf der ein Teil der rechten Gesichtshälfte des Täters zu sehen war. Es dauerte drei Jahre, bis er ihn fassen konnte.

 

Lecomte von der Sûreté wartete fünf Jahre, bis er Madame Serpilot verhaftete. Als ich noch ein junger Beamter war, verfolgte ich die Bande von Cully Smith drei Jahre und acht Monate lang; erst dann gelang es mir, Cully zu überführen. Vielleicht kostet es Sie ebensoviel Zeit, Cäsar Valentine schachmatt zu setzen.«

 

»Wann soll ich beginnen?«

 

»Sofort. Niemand darf Ihren Aufenthalt erfahren, nicht einmal diese Dienststelle. Ihr Gehalt wird Ihnen jeden Monat postlagernd zugesandt, und in den Akten wird hinter Ihrem Namen die Bemerkung stehen: ›Sonderauftrag im Ausland‹.«

 

»Manches wird sehr schwierig sein. Mein Name –«

 

»Sie haben keinen Namen. Von jetzt ab heißen Sie Nummer Sechs, und niemand außer uns beiden weiß, wer Sie sind. Ich werde Auftrag geben, daß Scotland Yard aufgrund Ihrer Nachrichten, Wünsche – oder auch Hilferufe handelt. Gehen Sie nun und versuchen Sie, mit Valentine fertig zu werden. Vielleicht ist er tatsächlich der gefährlichste Mensch auf der ganzen Welt; andererseits wäre es aber auch möglich, daß die Gerüchte, die wir über ihn gehört haben, nicht auf Wahrheit beruhen. Sie übernehmen eine schwere Aufgabe. Man kann einen Mann nicht ins Gefängnis werfen, weil er viel Geld ausgibt, oder weil er mit der Frau eines anderen durchbrennt. Natürlich ist er bei den Männern nicht beliebt, und Leute, die hassen, nehmen es mit der Wahrheit nicht zu genau. Sie müssen kühn, aber vollständig unauffällig vorgehen, denn ich glaube, er hat überall auf der Welt seine Verbindungen. Zu meinem größten Erstaunen entdeckte ich, daß er sogar hier in diesem Amt einen Mann bestochen hatte, der ihm Nachrichten zukommen ließ. Dadurch wurden mir die Augen geöffnet, und ich erkannte, wie schwer es sein wird, diesen Fall aufzuklären. Ein Mann bezahlt nicht Tausende von Pfund, um einen Spion hier im Polizeipräsidium zu haben, wenn er nicht etwas zu fürchten hat.«

 

Nummer Sechs nickte.

 

»Also, die Welt steht Ihnen offen, und Sie können auf eine große Belohnung rechnen, wenn Sie Erfolg haben. Suchen Sie vor allem seine Freunde – Sie können in alle Gefängnisse Englands gehen und die Verbrecher verhören, die etwas von ihm wissen. Vielleicht hilft Ihnen das weiter.«

 

»Es ist eine sehr große Aufgabe, vor die Sie mich stellen, aber es ist die einzige auf der Welt, die ich mir wünsche.«

 

»Das weiß ich«, erwiderte Hallett. »Sie werden eine sehr einsame Zeit durchmachen, aber wahrscheinlich von allerlei Leuten unterstützt werden – ich denke an die Männer und Frauen, die Valentine ruiniert hat, die Väter junger Mädchen und die Männer von Frauen, denen er nachstellte. Sie werden gute Verbündete sein. Gehen Sie jetzt.«

 

Er stand auf und reichte Nummer Sechs die Hand.

 

»Also, leben Sie wohl, und viel Glück, Nummer Sechs«, sagte er lächelnd. »Wenn ich Sie von jetzt ab irgendwo auf der Straße treffe, werde ich Sie nicht erkennen. Sie sind für mich ein Fremder, bis Sie durch Ihre Zeugenaussage vor dem Kriminalgericht in Old Bailey Mr. Valentine für immer ausschalten.«

 

Nummer Sechs verließ das Büro, und Hallett trug in die amtliche Geheimliste hinter dem Namen von Nummer Sechs die Bemerkung ein:

 

»Mit Sonderauftrag im Ausland. Dieser Agent darf in keinem Bericht erwähnt werden.«

 

Ein Jahr später ließ Hallett Sergeant Steel in sein Büro kommen und erzählte ihm über die geheime Mission von Nummer Sechs soviel, als ihm ratsam erschien.

 

»Ich habe seit Monaten nichts mehr von Nummer Sechs gehört«, sagte er dann. »Fahren Sie nach Paris und beobachten Sie Cäsar Valentine.«

 

»Sagen Sie mir doch wenigstens, ob Nummer Sechs ein, Mann oder eine Frau ist?«

 

Hallett grinste.

 

»Das will Cäsar auch schon seit Monaten wissen. Ich habe drei Beamte entlassen müssen, weil sie versuchten, das Geheimnis herauszubringen. Ich warne Sie also, nicht in denselben Fehler zu verfallen, sonst bliebe mir nichts anderes übrig, als auch Ihnen den Laufpaß zu geben.«

 

Kapitel 10

 

10

 

Smith fuhr mit einem Taxi nach Portland Place Nr. 409. Mr. Valentine war nicht zu Hause, wie ihm der Diener mitteilte, und wollte auch erst spät am Abend wiederkommen. Smith ließ sich daher bei der jungen Dame melden, die zugegen war, und gab dem Mann eine Karte mit der Aufschrift »Lord Henry Jones«.

 

Er wurde ins Wohnzimmer geführt. Kurz darauf erschien Stephanie mit seiner Karte in der Hand. Sie blieb an der Tür stehen, als sie ihn sah. Smith verstand es, mit Frauen umzugehen, aber die Gegenwart dieses jungen Mädchens machte ihn befangen.

 

»Ach, Sie sind es!« rief sie.

 

»Ja.« Er war verlegen wie ein Schuljunge. »Ich wollte Sie in einer wichtigen Angelegenheit sprechen.« Zufällig sah er auf ihre Hand und bemerkte einen Verband an einem Finger. Nun lachte er und gewann seine Haltung wieder.

 

»Mein Vater ist ausgegangen«, erklärte sie abweisend, »und ich fürchte, daß ich nichts für Sie tun kann.«

 

»O doch, Sie können mir sogar sehr viel helfen, Miss Valentine«, entgegnete er kühl. »Zum Beispiel können Sie mir einige Informationen geben.«

 

»Worüber?«

 

»Zunächst einmal über Ihren Finger. Haben Sie sich sehr verletzt?«

 

»Wie meinen Sie das?« fragte sie schnell.

 

»Als Sie heute morgen meine Ledermappe aufschnitten, ist Ihnen wohl das Messer oder die Schere ausgeglitten; ich habe einen Tropfen Ihres kostbaren Bluts auf meiner Schreibunterlage gefunden.«

 

Sie wurde dunkelrot und sehr verlegen, war aber klug genug, nichts darauf zu erwidern.

 

»Wollen Sie mir keinen Stuhl anbieten?« fragte er.

 

Sie wies mit der Hand auf einen Sessel.

 

»Was hofften Sie denn in meiner Mappe zu finden? Etwa Beweise für meine Verbrechertätigkeit?«

 

»Die habe ich bereits. Sie vergessen anscheinend, daß ich in jener Nacht am Quai des Fleurs war.«

 

Sie sagte nicht, welche Nacht sie meinte, aber er brauchte sie um keine weitere Erklärung zu bitten. Smith wunderte sich über ihre außerordentliche Ruhe und Gelassenheit. Sie zitterte nicht, und doch mußte das, was sie gesehen hatte, für sie ein schreckliches Verbrechen bedeuten. Und nun sprach sie ganz nebenbei von »jener Nacht«, als ob sie selbst Mittäterin statt Zuschauerin gewesen wäre.

 

»Ja, ich erinnere mich. Merkwürdig, daß ich dergleichen nicht vergesse.«

 

Seine Ironie machte keinen Eindruck auf sie.

 

»Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten, Mr. Smith?«

 

Er nickte zustimmend.

 

Sie klingelte, ging dann zu ihrem Stuhl zurück und schaute ihn lächelnd an.

 

»Sie halten mich also für eine Einbrecherin, Mr. Smith?«

 

»Nein, so würde ich es nicht bezeichnen. Aber ich dachte, Ihr Vater hätte Sie vielleicht gebeten, in mein Zimmer zu gehen …« Er brach ab, weil ihm die rechten Worte fehlten.

 

»Ja, wir sind merkwürdige Leute«, sagte sie unvermittelt. »Mein Vater, Sie und auch ich.«

 

»Und Mr. Ross«, fügte er leise hinzu.

 

Sie sah ihn einen Augenblick bestürzt an.

 

»Gewiß«, entgegnete sie dann schnell. »Auch Mr. Ross. Mr. Valentine hat Sie doch im nächsten Zimmer einquartiert, damit Sie ihn überwachen sollen?«

 

Ihre Worte brachten ihn aufs neue in Verwirrung, aber er wußte seit langem, daß der Angriff die beste Verteidigung ist.

 

»Ich halte es eigentlich für unnötig, Mr. Ross im Auftrag Ihres Vaters zu beobachten«, erwiderte er etwas von oben herab, »besonders wenn er es hier in seiner Wohnung ebensogut tun kann wie ich.«

 

»Wie meinen Sie das?«

 

»Nun, Mr. Ross kommt doch zu Besuch hierher«, entgegnete er unschuldig.

 

»Mr. Ross?«

 

Sie schaute ihn scharf an, und plötzlich schien sie zu verstehen. Nur einen Augenblick gelang es ihr, sich zu beherrschen, dann lehnte sie sich im Stuhl zurück und lachte.

 

»Fabelhaft!« sagte sie. »Mr. Ross in diesem Haus! Haben Sie ihn denn kommen sehen?«

 

»Ja«, antwortete Smith kühl.

 

»Haben Sie auch beobachtet, wie er wieder fortging?«

 

»Nein.«

 

»Solange hätten Sie aber warten sollen«, meinte sie mit erkünsteltem Ernst. »Sie hätten doch aufpassen müssen, bis er wieder herauskam. Dann hätten Sie ihn zum Hotel begleiten und ins Bett bringen müssen. Dazu sind Sie doch angestellt?«

 

Smith fühlte sich unbehaglich. Er wußte nicht, ob sie zornig war, oder ob sie nur Spaß machte.

 

»Sie haben also gesehen, wie Mr. Ross hierherkam«, sagte sie nach einer Weile. »Haben Sie das meinem Vater erzählt?«

 

»Nein.«

 

Ihre Unterhaltung wurde unterbrochen, denn ein Diener rollte den Teewagen herein. Als er wieder gegangen war und sie eingegossen hatte, lehnte sie sich zurück. Sie hielt den Blick zu Boden gesenkt, als ob sie über ein Problem nachdächte.

 

»Mr. Smith, Sie halten mich wahrscheinlich für entsetzlich schlecht, weil ich so leichtfertig über die schreckliche Szene am Quai des Fleurs spreche. Aber ich habe Grund dazu.«

 

»Ich glaube diesen Grund zu kennen«; entgegnete er ruhig.

 

»Wirklich? Eigentlich sollte ich mich vor Ihnen hüten und nach der Polizei rufen, wenn Sie in meine Nähe kommen. Sie sind wirklich ein schlimmer Verbrecher, nicht wahr?«

 

Smith grinste verlegen. Von allen Menschen glückte es ihr allein, ihn ständig in Verwirrung zu bringen.

 

»Ja, vielleicht haben Sie recht, obwohl ich –«

 

»In England noch nicht in den Akten geführt werde – ich weiß.«

 

Er starrte sie betroffen, an. Woher kannte sie diese Redewendung, die er selbst gebraucht hatte?

 

»Ich bin ein merkwürdiges junges Mädchen, weil ich ein merkwürdiges Leben hinter mir habe. Meine Jugend verbrachte ich in einer kleinen Stadt in New Jersey …«

 

»Seltsam!« erwiderte Smith, während er den Tee umrührte.

 

»Werden Sie bitte nicht ironisch«, entgegnete sie lächelnd. »Ich war sehr, sehr glücklich in Amerika, obwohl ich keine Eltern zu haben schien. Nur mein Vater kam gelegentlich, und er ist wie soll ich sagen – ziemlich kühl und unnahbar.«

 

Smith nickte.

 

»Ich hätte lange Zeit in New Jersey bleiben können, vielleicht mein ganzes Leben, denn ich liebe die Gegend. Aber –« sie zögerte einen Augenblick – »ich machte eine schreckliche Entdeckung.«

 

»Und was war das?« fragte er interessiert.

 

»Das will ich Ihnen nicht sagen, wenigstens im Augenblick noch nicht.«

 

Seine Neugierde war in hohem Maße erregt.

 

»Vielleicht könnten Sie mir und auch sich selbst sehr viel helfen, wenn Sie es mir sagten.«

 

Sie sah ihn unschlüssig an und schüttelte dann den Kopf. »Ich will Ihnen etwas davon erzählen, und ich verlange nicht einmal von Ihnen, daß Sie darüber schweigen. Sicherlich tun Sie das ohne Aufforderung, denn ich kenne ja auch ein Geheimnis von Ihnen.«

 

»Ich fürchtete schon, Sie würden mich verraten –« begann er, aber sie brachte ihn durch eine Handbewegung zum Schweigen.

 

»Darüber wollen wir nicht sprechen. An einem der nächsten Tage werden Sie sowieso eine Überraschung erleben.«

 

»Was haben Sie in New Jersey entdeckt?«

 

»Nach dem Tod meiner Mutter fuhr mein Vater nach Europa«, entgegnete sie langsam. »Er ließ eine Anzahl von Sachen in der Obhut seines Rechtsanwalts Cramb zurück. Dieser bezahlte meine Auslagen und auch die Kosten des Haushaltes. Als ich später alt genug war, um selbst Geld zu verwalten, erhielt ich jeden Monat eine bestimmte Summe von ihm. Während Mr. Valentine nun in Europa war, starb der alte Herr plötzlich und seine Praxis ging in fremde Hände über. Der neue Inhaber sandte mir eine Kassette zurück, die Mr. Cramb aufbewahrt hatte. Mein Geld erhielt ich von da ab durch eine Bank. Die neuen Rechtsanwälte wollten in dem Büro aufräumen, in dem sich allerhand Akten und andere Dinge angesammelt hatten.

 

Ich hatte nicht die leiseste Idee, was ich damit machen sollte. Mrs. Temple, die damals den Haushalt führte, redete mir zu, die Sachen als eingeschriebenes Paket an meinen Vater nach Europa zu schicken. Ich suchte aber aus Neugier einen Schlüssel, um die Kassette zu öffnen, und das gelang mir auch. Sie war mit Papieren und Dokumenten gefüllt, die mit Ausnahme von ein paar losen Schriftstücken und Fotografien sorgfältig gebündelt waren. Ich nahm sie heraus und schickte sie meinem Vater. Als ich dann die losen Dokumente durchsah, fand ich eines darunter, das mich veranlaßte, nach Europa zu fahren. Vater hatte mich schon oft darum gebeten, aber ich glaubte nicht, daß er es ernst meinte. Aber nun war mein Entschluß gefaßt.«

 

»Wie lange ist das denn her?«

 

»Etwa zwei Jahre.«

 

»Das erklärt allerdings viel. Und was machen Sie nun hier in England?«

 

Er erhielt eine Antwort, auf die er nicht gefaßt war.

 

»Ich modelliere in Wachs. Hat Ihnen das mein Vater nicht erzählt?«

 

»Sie modellieren?«

 

»Gewiß. Ich will es Ihnen zeigen, wenn Sie sich dafür interessieren.«

 

Sie führte ihn zu einem kleinen Raum, der auf der Rückseite des Hauses lag und wie eine Werkstatt ausgestattet war.

 

Er betrachtete erstaunt die hübschen Plastiken, die zum Teil noch unvollendet waren.

 

»Sie sind ja eine Künstlerin, Miss Stephanie – Miss Valentine«, verbesserte er sich.

 

»Sie können ruhig Miss Stephanie sagen«, entgegnete sie mit einem bezaubernden Lächeln. »Halten Sie mich wirklich für eine Künstlerin?«

 

»Ja, selbstverständlich, wenn ich auch nicht viel von Kunst verstehe.«

 

»Aber Sie wissen doch vermutlich, was Ihnen gefällt? Nun haben Sie mich enttäuscht, Mr. Smith. Ich dachte, ein Mann von Ihrer Bildung würde etwas Originelleres sagen.«

 

Sie hatte tatsächlich Talent, das bewiesen ihre Arbeiten. Smith kam aus dem Staunen nicht heraus.

 

Plötzlich schrak sie leicht zusammen. Smith folgte der Richtung ihres Blicks und sah auch nach dem Schrank, der in einer Ecke stand. Rasch machte sie die Schranktür zu, schloß ab und steckte den Schlüssel in ihre Tasche. Als sie sich umdrehte, glühte ihr Gesicht.

 

»Was haben Sie denn da zu verstecken?«

 

Sie sah ihn argwöhnisch an.

 

»Das Familiengespenst«, versuchte sie zu scherzen. »Aber jetzt wollen wir zu unserem Tee zurückgehen.«

 

Smith sah ihre Verlegenheit. Was mochte der geheimnisvolle Schrank enthalten? Warum hatte sie gelacht, als er ihr erzählte, daß er Mr. Ross bis zu diesem Haus verfolgt hatte? Sie war wirklich ein merkwürdiges junges Mädchen!

 

»Das Familiengespenst«, wiederholte sie nach einer Weile unvermittelt. »Wir haben überhaupt viel zu verbergen, Mr. Smith.«

 

»Das ist wohl in allen Familien so«, entgegnete er etwas lahm.

 

»Aber bei uns – Borgias ist es ganz besonders schlimm.«

 

»Borgia? Warum erwähnen Sie diese alte Familie?«

 

»Wußten Sie denn das nicht? – Aber natürlich wissen Sie es«, erwiderte sie vorwurfsvoll. »Haben Sie noch niemals von dem alten, berühmten Geschlecht der Borgias gehört? Können Sie begreifen, daß mich mein Vater nicht Lucretia genannt hat?«

 

»O ja, das kann ich begreifen.« Er nickte bedächtig.

 

»Wie erklären Sie es sich denn?«

 

»Die Erklärung dafür lag wahrscheinlich in der Kassette, die Sie vor zwei Jahren aufräumten.«

 

Sie erhob sich und reichte ihm die Hand.

 

»Ich hoffe, es hat Ihnen hier gefallen. Aber jetzt müssen Sie wohl zum Hotel zurückgehen.«

 

Smith stand bereits auf der Straße, bevor ihm zum Bewußtsein kam, daß sie ihn fortgeschickt hatte.

 

Kapitel 11

 

11

 

Ein Wärter weckte John Welland aus einem unruhigen Schlaf. Die Beamten der Anstalt kannten ihn nicht als John Welland, aber der Name, den er sich zugelegt hatte, ist nebensächlich.

 

»Sechs Uhr«, sagte der Wärter kurz und ging wieder hinaus.

 

Welland erhob sich und kleidete sich an. Um halb zwölf passierte er das kleine, schwarze Tor und ging die Straße entlang zu einer Haltestelle.

 

Ein Gefangener, der am gleichen Morgen entlassen worden war und noch mit einigen Bekannten sprach, zeigte mit dem Kopf nach ihm und sagte ein paar Worte, durch die alle anderen auf ihn aufmerksam wurden.

 

Welland stieg in eine Straßenbahn, fuhr zur City und nahm dort ein Auto. Damit fuhr er eine Strecke zurück, entließ den Wagen, legte ein langes Stück Weg zu Fuß zurück und suchte durch möglichst unerwartete Änderungen der Richtung Leute abzuschütteln, die ihm vielleicht folgten.

 

Schließlich kam er in eine ruhige Straße und trat in ein kleines Haus. Niemand begrüßte ihn, aber in der Küche brannte der Gasofen, und jemand hatte das Geschirr zurechtgestellt. Er setzte den Wasserkessel auf, stieg dann die steile Treppe zu seinem Schlafzimmer hinauf und zog sich dort um.

 

Als er sich im Spiegel betrachtete, sah er ein graues, von vielen Furchen durchzogenes Gesicht. Lange vor der Zeit war er gealtert. Mit einem Seufzer stieg er wieder hinunter und goß den Tee auf. Dann setzte er sich vor den Gasofen und stützte die Ellbogen auf die Knie.

 

Nach einer Weile hörte er, daß die Haustür aufgeschlossen wurde; er sah sich um, als eine gutmütig aussehende alte Frau mit einem Marktkorb hereinkam.

 

»Guten Morgen«, sagte sie in breitem Dialekt. »Ich wußte, daß Sie heute zurückkommen würden, aber ich dachte nicht, daß Sie so schnell hier wären. Haben Sie sich schon Tee gekocht?«

 

»Ja, das ist schon erledigt«, entgegnete Welland.

 

Sie sprach nicht über seine Abwesenheit; daran war sie vermutlich gewöhnt. Während sie den Korb auspackte, plauderte sie ununterbrochen, so daß es ihm mit der Zeit zuviel wurde. Er ging in das kleine Wohnzimmer und schloß die Tür.

 

Die Frau machte ihre Arbeit, bis sie hörte, daß er Violine spielte. Dann setzte sie sich hin, legte die Hände in den Schoß und lauschte der melancholischen Melodie. Es klang so schwermütig, daß ihr beinahe die Tränen kamen, und sie schüttelte den Kopf.

 

Gleich darauf kam Welland wieder in die Küche.

 

»Ach, das war so schön«, sagte sie. »Ich wünschte nur, Sie würden etwas Lustigeres spielen. Man wird sonst zu traurig.«

 

»Aber das beruhigt mich«, entgegnete er mit einem müden Lächeln.

 

»Sie sind wirklich ein ausgezeichneter Musiker. Und ich habe das Violinspiel so gern. Haben Sie eigentlich schon einmal öffentlich gespielt?«

 

Welland nickte, nahm seine kleine Pfeife vom Kamin und stopfte sie aus einem alten Tabaksbeutel.

 

»Das dachte ich mir doch«, sagte sie triumphierend. »Ich habe meinem Mann heute morgen gesagt –«

 

»Hoffentlich haben Sie dem nicht zuviel von mir erzählt, Mrs. Beck?«

 

»Nein, ich bin sehr vorsichtig. Einem jungen Mann, der gestern herkam, habe ich gesagt –«

 

Welland nahm die Pfeife aus dem Mund und runzelte die Stirn.

 

»Was war denn das für ein junger Mann?«

 

»Er wollte wissen, ob Sie zu Hause seien.«

 

»Hat er meinen Namen genannt?«

 

»Ja. Das war das Merkwürdige. Er ist der erste, der hierherkam und sich nach Ihnen unter Ihrem richtigen Namen erkundigte.«

 

»Was haben Sie ihm denn geantwortet?«

 

»Daß Sie wahrscheinlich morgen wiederkommen würden, vielleicht auch erst nächste Woche, ich wüßte es nicht genau. Sie sind ja auch ziemlich unpünktlich, Mr. Welland. Ich sagte ihm, daß Sie manchmal viele Monate fortbleiben …«

 

Welland preßte die Lippen zusammen. Er wußte ja, daß es nutzlos war, dieser Frau Vorwürfe zu machen.

 

»Es ist gut, Mrs. Beck«, sagte er. »Ich möchte aber nicht, daß Sie über meine Beschäftigung sprechen.«

 

»Das tue ich niemals, Mr. Welland«, erwiderte sie verletzt. »Ich weiß ja auch gar nichts darüber. Es geht mich schließlich nichts an, was Sie mit Ihrer Zeit machen. Sie können ebensogut ein Einbrecher wie ein Polizeibeamter sein, so oft sind Sie von zu Hause fort.«

 

Welland antwortete nicht. Als die Frau ihre Arbeit beendet hatte und nach Hause ging, dachte er wieder an den jungen Mann, der ihn besuchen wollte. Er legte die Kette vor die Tür und war fest entschlossen, sich nicht zu melden, wenn jemand kommen sollte.

 

Bis zum Abend meldete sich auch niemand. Welland saß in seinem Wohnzimmer, hatte die Vorhänge zugezogen und las. Plötzlich wurde an die Tür geklopft. Er legte das Buch hin und lauschte. Das Klopfen wiederholte sich.

 

Vorsichtig trat er auf den Gang hinaus. Jemand schlug mit einem Spazierstock gegen die Tür.

 

»Wer ist da?« fragte Welland.

 

»Lassen Sie mich herein«, erwiderte eine undeutliche Stimme. »Ich möchte mit Ihnen sprechen.«

 

»Wer sind Sie denn?«

 

»Lassen Sie mich ein.«

 

John Welland erkannte jetzt die Stimme; er wurde bleich.

 

Einen Augenblick glaubte er, daß sich alles um ihn drehte, und er mußte sich an der Wand festhalten, um sich zu stützen. Schließlich faßte er sich wieder, aber seine Hände zitterten noch, als er die Kette abnahm und die Tür öffnete. Draußen war es dunkel; er konnte die große Gestalt nur undeutlich sehen.

 

»Kommen Sie herein«, sagte er.

 

»Kennen Sie mich?« fragte der Fremde.

 

»Ja, Sie sind Cäsar Valentine.« Nur mühsam brachte Welland die Worte über die Lippen.

 

Er führte Cäsar ins Wohnzimmer. Nur der kleine Tisch trennte sie, während sie einander gegenüberstanden und sich mit feindseligen Blicken maßen.

 

»Was wollen Sie?«

 

»Ich möchte Sie in einer wichtigen Angelegenheit sprechen«, sagte Cäsar kühl.

 

»Wo ist meine Frau?« fragte Welland und atmete schwer.

 

Cäsar zuckte die breiten Schultern.

 

»Sie ist tot. Das wissen Sie doch.«

 

»Und wo ist mein Kind?«

 

»Warum sprechen Sie über Dinge, die uns beiden doch nur peinlich sind?« entgegnete Cäsar vorwurfsvoll, als ob er selbst der Beleidigte wäre. Er setzte sich, ohne aufgefordert zu sein. »Welland, Sie müssen vernünftig werden. Die Vergangenheit ist tot und erledigt. Warum nähren Sie immer noch Ihren Haß?«

 

»Der Haß ist das einzige, was mich noch am Leben hält, Valentine, und er wird mich aufrechthalten, bis ich Sie umgebracht habe!«

 

Cäsar lachte.

 

»Lassen Sie doch das Theater. Sie wollen mich umbringen? Schön, ich stehe vor Ihnen – warum bringen Sie mich nicht um? Haben Sie denn keinen Revolver oder Dolch? Fürchten Sie sich? Dauernd haben Sie mich bedroht. Jetzt haben Sie die beste Gelegenheit, Ihre Drohung wahrzumachen.«

 

Cäsar nahm einen Browning aus der Tasche und legte ihn auf den Tisch.

 

»Hier, nehmen Sie diese Waffe und schießen Sie mich nieder.«

 

Welland warf einen Blick auf die Pistole, schaute dann wieder zu dem Mann auf, der ihm gegenüberstand, und schüttelte den Kopf.

 

»Nein, nicht auf diese Weise. Aber wenn die Zeit gekommen ist, werden Sie sterben, und Sie sollen mehr leiden, als ich in all den Jahren gelitten habe.«

 

Ein längeres Schweigen trat ein, dann sprach Welland weiter.

 

»Ich freue mich, daß ich Sie wiedergesehen habe«, sagte er halb zu sich selbst. »Sie haben sich nicht geändert. Sie sind noch derselbe, der Sie früher waren, Valentine. Sie sollten eigentlich glücklich sein, denn Ihr ganzes Leben haben Sie sich immer das genommen, was Sie haben wollten. Und ich habe alles verloren!« Er bedeckte das Gesicht mit den Händen, und Cäsar betrachtete ihn neugierig. Schließlich nahm er die Pistole wieder und steckte sie in die Tasche.

 

»Wenn also die Zeit gekommen ist, werde ich sterben« sagte er höhnisch. »Eben hatten Sie eine gute Chance. Außerdem hatten Sie schon einmal eine Möglichkeit, die ganze Sache zu erledigen. Ich habe Sie doch darum gebeten, sich von Ihrer Frau scheiden zu lassen.«

 

»Scheiden!« stöhnte Welland.

 

»Sie hätte dann wieder heiraten und glücklich werden können. Wollen Sie jetzt wenigstens vernünftig sein?«

 

»Haben Sie mir weiter nichts zu sagen? Dann gehen Sie. Es war eine Genugtuung für mich, Sie wiederzusehen, denn all meine Hoffnungen und Pläne sind dadurch aufs neue belebt worden, Cäsar Valentine. Sie haben mir das Leben zur Hölle gemacht. Ich habe mehr gelitten, als Sie ahnen können, aber der eine Tag wird kommen …!«

 

Trotz aller Ruhe und Selbstsicherheit überlief Cäsar ein Schauder. Er war wütend darüber, daß ein anderer Mann ihm Furcht eingeflößt hatte.

 

»Sie haben Ihre Chance gehabt und nicht ausgenützt, Welland. Das war Ihr Fehler. Nun will ich offen mit Ihnen sprechen. Soviel ich weiß, sind Sie irgendwie im Regierungsdienst tätig. Ich habe Grund zu der Annahme, daß Sie mich ausspionieren sollen. Aber ich sage Ihnen, daß der Mann noch nicht geboren ist, der es mit Cäsar Valentine aufnehmen kann.«

 

Er schlug mit der Faust auf den Tisch, daß die Lampe tanzte.

 

»Es war Unsinn, daß ich Sie in Ruhe ließ, daß ich mich nie um Sie kümmerte. Ich hätte das Spiel in der Hand gehabt, wenn ich selbst gehandelt hätte, statt darauf zu warten, daß Sie Ihrer Frau die Freiheit geben.«

 

Cäsar war um den Tisch herumgegangen und stand nun dicht neben dem Mann, dem er so schweres Unrecht zugefügt hatte. Plötzlich packte er ohne die geringste Warnung Welland an der Kehle. Welland war kein Schwächling, aber Cäsar besaß geradezu übermenschliche Kräfte und schleuderte ihn zu Boden. Welland wehrte sich verzweifelt, aber vergeblich. Cäsar drückte ihm die Arme mit den Knien nieder und würgte ihn.

 

»Morgen wird man Sie hier aufgehängt finden«, flüsterte er.

 

In dem Augenblick klopfte es an der Tür, und er sah sich um.

 

»Sind Sie noch auf, Mr. Welland?« fragte eine Frauenstimme. »Ich habe noch Licht gesehen. Ich bin es – Mrs. Beck.«

 

Cäsar ließ sein Opfer los und schlich aus dem Zimmer, während sich Welland taumelnd aufrichtete. Er war halb besinnungslos und konnte weder sprechen noch schreien. Valentine ging ins Zimmer zurück und knipste das Licht aus, dann eilte er geräuschlos zur Tür und öffnete.

 

»Alles finster?« fragte die Frau. »Ich hätte doch darauf schwören können, daß ich Licht sah.«

 

Cäsar ließ sie im Dunkeln an sich vorübergehen, dann sprang er hinaus und schlug die Tür hinter sich zu.

 

Kapitel 12

 

12

 

»Sie sehen aus, als ob Sie eine schlechte Nacht gehabt hätten«, sagte Smith.

 

»Eine schlechte Nacht?« fragte Cäsar zerstreut. »Ich …, ach ja, ich bin erst spät in die Stadt zurückgekommen.«

 

»Haben Sie Mr. Weiland aufgesucht?«

 

Cäsar antwortete nicht.

 

»Vermutlich waren Sie bei ihm, und ich nehme an, die Unterredung war so unangenehm, daß Sie am liebsten nicht mehr daran denken möchten.«

 

Cäsar nickte.

 

»Ich bin neugierig, was Weiland tun wird«, sagte er nach einer Weile. »Wenn ich nicht unterbrochen worden wäre, wüßte ich es jetzt.«

 

Smith sah ihn scharf an.

 

»Das klingt ja, als ob Sie ein gefährliches Abenteuer gehabt hätten. Würden Sie nicht so liebenswürdig sein, mir zu erzählen, was sich zwischen Ihnen und diesem interessanten Mr. Weiland abgespielt hat?«

 

»Ich hätte Sie hinschicken sollen«, erklärte Cäsar düster. »Wir Borgia haben eine gewisse Schwäche, eine krankhafte Sucht nach theatralischen Effekten. Sie hätten wahrscheinlich keinen Fehler gemacht.«

 

Er berichtete in kurzen Worten, was vorgefallen war.

 

Smith wurde ernst.

 

»Unglaublich! Sie sind doch sonst ein Künstler darin, andere Leute aus dem Weg zu schaffen, und nun schweben Sie in Gefahr, jeden Augenblick wegen dieses blödsinnigen Angriffs verhaftet zu werden! Das durfte nicht kommen.«

 

Cäsar schüttelte den Kopf.

 

»Er wird mich nicht anzeigen. Der Mann ist fanatisch. Er hofft, mich eines Tages umzubringen – mit weniger gibt er sich nicht zufrieden. Jede andere Lösung lehnt er ab.«

 

»Besser, er bringt Sie um als mich. Aber ich möchte Ihnen doch den Rat geben, in Zukunft vorsichtiger zu sein. In England können Sie sich derartige Dinge nicht ungestraft leisten. Und sollte Welland tatsächlich Nummer Sechs sein, so kommen Sie in Teufels Küche.«

 

»Welland ist Nummer Sechs. Die Detektive haben doch Nachforschungen in meinem Auftrag angestellt. Der Mann reist im Land umher und ist oft mehrere Tage von zu Hause fort, manchmal sogar Wochen und Monate. Außerdem noch ein wichtiger Punkt – er besucht die Gefängnisse.«

 

»Meinen Sie, daß er dort eingesperrt wird?« fragte Smith.

 

Aber Cäsar war nicht in der Stimmung, zu scherzen.

 

»Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich sehr gut über alles informiert worden bin, was sich in Scotland Yard ereignete. Als Hallett diesem Agenten Nummer Sechs seine letzten Anweisungen gab, war einer meiner Leute in der Bibliothek, die direkt neben Halletts Büro liegt. Er hatte ein Loch durch die Wand gebohrt, das durch einen Bücherschrank in dem Büro und durch ein Regal in der Bibliothek verdeckt wurde. Wenn der Mann an der betreffenden Stelle einige Bücher herausnahm, konnte er alles hören, was nebenan gesprochen wurde.«

 

Smith nickte.

 

»Auf diese Weise ist es also herausgekommen? Das muß allerdings ein sehr tüchtiger Mann gewesen sein. Aber wie verhält sich nun die Sache mit den Gefängnissen?«

 

»Hallett sagte zu dem Agenten – oder der Agentin –, daß er oder sie freien Zutritt zu allen Gefängnissen haben würde. Das geschah natürlich unter der Voraussetzung, daß ich Freunde oder Verbündete dort hätte.«

 

»Das war natürlich eine verrückte Idee. Sie sind nicht der Mann, der sich Zuchthausvögel als Komplicen aussucht!«

 

»Sie habe ich allerdings zu meinem Gehilfen gemacht«, entgegnete Cäsar ein wenig taktlos.

 

Smith lachte.

 

»Ich war noch nie im Gefängnis – wenigstens bis jetzt. Sie sind also davon überzeugt, daß Welland Nummer Sechs ist? Und zwar nur deshalb, weil er häufig Gefängnisse aufsucht?«

 

»Ist nicht gerade er der Mann, der eine solche Aufgabe übernehmen würde? Hallett sagte doch, daß sein Agent ein Amateur wäre. Alles weist auf Welland hin.«

 

Smith war an diesem Morgen eigentlich nach Portland Place gekommen, um das junge Mädchen zu sehen, und nicht, um mit ihrem Vater zu sprechen.

 

»Wo ist Welland jetzt?«

 

»In Lancashire, wie ich …« Cäsar brach plötzlich ab und starrte auf den Schreibtisch. »Das habe ich vorher nicht gesehen.«

 

»Was meinen Sie denn?«

 

Cäsar nahm einen versiegelten Briefumschlag von der Schreibunterlage. Das Kuvert glich genau dem anderen, das er im Green-Park aufgehoben hatte. Er riß es hastig auf und las die mit Maschine geschriebene Mitteilung laut vor:

 

»Cäsar, auch Sie sind nur ein gewöhnlich Sterblicher! Denken Sie daran!

Nummer Sechs.«

 

Betroffen starrte er auf das Papier, dann sank er schwer in einen Sessel.

 

Cäsar hatte richtig vermutet: Welland erstattete keine Anzeige, obwohl Mr. Smith es tagelang befürchtete und so nervös wurde, daß er zweimal den Millionär aus dem Auge verlor, den er doch beobachten sollte. Während dieser Zeit passierten zwei Dinge, die ihn beunruhigten.

 

Zunächst erwähnte Cäsar nebenbei, daß Stephanie auf ein paar Tage nach Schottland gefahren wäre. Er schien sich in ihrer Abwesenheit bedeutend wohler zu fühlen. Zweitens hielt sich Mr. Ross dauernd in seinen Räumen auf und kam nicht zum Vorschein. Infolgedessen konnte man ihn nicht beobachten.

 

Am Abend des zweiten Tages wurde das Geheimnis um Mr. Ross nur noch dunkler. Smith war schon während des Essens müde gewesen und zog sich frühzeitig zurück. Er lag auf seinem Bett und war schon halb eingeschlafen, als er hörte, daß die Klinke seiner Tür heruntergedrückt wurde. Gleich darauf trat jemand ein und drehte nach kurzem Zögern das Licht an. In der kurzen Sekunde, bevor es wieder ausgeschaltet wurde, erkannte Smith den alten Mr. Ross in seinem Schlafrock. Die Schritte entfernten sich leise, dann wurde die Tür des Millionärs zugeschlagen und von innen abgeschlossen.

 

Das war an sich merkwürdig genug. Eine erstaunliche Tatsache, daß der Mann, den er bewachen sollte, umgekehrt ihn bewachte. Allem Anschein nach hatte Ross die vermeintliche Abwesenheit seines Beobachters ausnützen und dessen Zimmer durchsuchen wollen. Smith war nun wieder vollkommen wach geworden, ging auf dem Korridor bis zur Tür des Nebenzimmers und dachte darüber nach, welche Ausrede er gebrauchen könnte, um hineinzugehen und seinen Nachbar auszufragen. Er überlegte es sich jedoch anders und ging in die große Halle hinunter. Aber dort erwartete ihn eine große Überraschung, denn vor dem Empfangspult stand Mr. Ross; er hatte einen schweren Mantel an und eine Kappe auf dem Kopf.

 

Smith starrte dem alten Mann ungläubig nach, als dieser zum Lift ging und zu seinem Stockwerk hinauffuhr.

 

»Woher kam Mr. Ross jetzt plötzlich?« fragte er.

 

»Das kann ich Ihnen auch nicht sagen«, entgegnete der Portier. »Ich dachte eigentlich, er wäre in seinem Zimmer. Er ist den ganzen Tag nicht herausgekommen, und ich habe ihn auch nicht fortgehen sehen.«

 

Smith wartete nachdenklich in der Halle. Er war unschlüssig, was er tun sollte. Kurze Zeit später erschien ein Page und ersuchte ihn, zu Mr. Ross zu kommen.

 

Er folgte dem Boten und wurde gleich darauf von dem Millionär empfangen. Der alte Herr trug den Schlafrock, in dem er in Smiths Zimmer erschienen war.

 

»Ich muß mich bei Ihnen entschuldigen«, sagte er brummig. »Nehmen Sie Platz.«

 

Smith folgte der Aufforderung.

 

»Ich war sehr unruhig und wanderte im Hotel auf und ab. Als ich vor ungefähr einer halben Stunde in mein Zimmer zurückkehren wollte, passierte mir leider ein Irrtum, und ich geriet in Ihr Zimmer.«

 

»Und gleich darauf standen Sie in Reisekleidung unten in der Halle!«

 

Mr. Ross lächelte ein wenig.

 

»Sie beobachten aber auch alles, Mr. Smith! Was für einen fabelhaften Detektiv hätten Sie abgegeben!«

 

Meinte er das ironisch? Smith hielt das für wahrscheinlich. Zuerst hatte er sich gewundert, daß der alte Mann nach ihm geschickt hatte, aber als er draußen auf dem Gang leise Schritte hörte, wunderte er sich nicht mehr. Natürlich hatte ihn Mr. Ross in sein Schlafzimmer kommen lassen, damit der Doppelgänger des Millionärs aus dem Nebenraum schlüpfen konnte.