Die Privatsekretärin

Die Privatsekretärin


Der Redner kannte die London and Southern Bank, weil er dort selbst ein kleines Konto hatte. Auch Mr. Baide, den Direktor der Piccadilly-Filiale, kannte er dem Aussehen nach, denn er hatte selbst einmal eine Zeitlang eine verhältnismäßig billige Wohnung in der St. James Street gehabt. Der Hauseigentümer kam ihm mit der Miete entgegen, da er die Anwesenheit eines so hohen Polizeibeamten für ein sicheres Abschreckungsmittel gegen Einbrecher hielt.


Wenn Mr. Rater morgens zuweilen am Fenster saß und seine Pfeife rauchte, sah er häufig Mr. Baide, der langsam die St. James Street nach Piccadilly zu ging. Der Bankmann hatte den Zylinder etwas in den Nacken geschoben und trug Sommer und Winter den Mantel offen. Er sah gewöhnlich nachdenklich aus, und der Redner hielt ihn für einen Philosophen.


Es war ein merkwürdiges Zusammentreffen, daß Chefinspektor Rater gerade von der London and Southern Bank zu Hilfe gerufen wurde, als er sich um Mr. Joseph Purdew kümmerte, der früher wegen Betrugs und Vertrauensbruchs eine Strafe im Dartmoor-Gefängnis abgesessen hatte. Jetzt war der Mann Inhaber einer Firma, und Mr. Rater interessierte sich dafür, wie es augenblicklich mit seiner Ehrlichkeit stand. Joe Purdew hatte schöne Büroräume in einer vornehmen Straße im Westen Londons und betrieb dort das Geschäft eines Buchmachers und Kommissionsagenten. Pekuniär ging es ihm gut.


Joe schien sich über den Besuch des Chefinspektors nicht allzusehr zu freuen. Die äußere Herzlichkeit, mit der er ihn begrüßte, täuschte den Redner in keiner Weise.


»Aber treten Sie doch bitte näher, Mr. Rater. Darf ich Ihnen vielleicht ein Glas Wein anbieten?«


Joe war von untersetzter Gestalt und hatte eine etwas rote Gesichtsfarbe. Er lief hierhin und dorthin und gackerte wie eine alte Henne. Schließlich machte er die Mahagonitür sorgfältig zu, die zu dem äußeren Büro führte.


»Sonderbar, daß Sie heute zu mir kommen. Vor ein paar Tagen hatte ich die Absicht, Ihnen zu schreiben.«


»Was für einen Schwindel hatten Sie denn vor?« fragte Rater und machte eine abwehrende Handbewegung, als Joe Purdew eine Weinflasche aus dem Schrank holen wollte.


Joe strahlte.


»Aber Mr. Rater, das ist durchaus kein Schwindel. Ich betreibe ein anständiges Geschäft. Vierhundert der bestsituierten Leute Londons sind meine Kunden. Ich mache etwa tausend Pfund wöchentlich Verdienst. Sie sind alle etwas dumm, diese Leute, aber es ist doch schließlich kein Verbrechen, durch die Dummheit anderer Menschen Geld zu verdienen! Es geht bei mir absolut ehrlich zu, Mr. Rater. Mit den früheren Gewohnheiten habe ich vollständig gebrochen«, erklärte Joe mit tugendhaftem Gesicht. »Ich freue mich, daß ich ruhig in meinem Haus in Bayswater wohnen kann und nicht fürchten muß, daß jeden Augenblick ein Schutzmann kommt, mir auf die Schulter klopft und mich zur nächsten Polizeiwache mitnimmt. Wissen Sie noch, wie Sie mich damals in Southampton verhafteten? Aber Gott weiß, ich trage es Ihnen nicht nach.«


Mr. Rater hatte keinen besonderen Grund für seinen Besuch. Er hatte nur von Joes neuester Beschäftigung gehört und wollte sich einmal bei ihm umsehen.


Als er die Tür zum äußeren Büro öffnete, wäre er beinahe mit einer Dame zusammengestoßen, die gerade eintreten wollte. Sie war groß und stattlich, hatte kastanienbraunes Haar und verstand es ausgezeichnet, sich dezent zu schminken. Da sie außerdem sehr gut gekleidet war, vermutete der Redner, daß sie zu den »vierhundert bestsituierten Leuten Londons« gehörte, die Joe zu seinen Kunden zählte.


Gleichzeitig hatte er den Eindruck, daß er sie schon irgendwo gesehen haben mußte. Das Gedächtnis spielte ihm einen Streich; denn die Erinnerung an sie war mit einer zerbrochenen Glasscheibe verbunden.


Er trat zur Seite, um ihr Platz zu machen, und sie rauschte majestätisch an ihm vorüber.


Als er nach Scotland Yard zurückkehrte, wurde ihm der erste Bericht über den Betrug bei der London and Southern Bank überreicht, der zwar zwei Folioseiten füllte, aber merkwürdig wenig Greifbares enthielt. Der Sachverhalt bestand darin, daß ein Scheck über fünfunddreißigtausend Pfund vorgezeigt und ausgezahlt worden war. Später hatte man festgestellt, daß die Unterschrift gefälscht war.


Mr. Baide kam in das äußere Geschäftszimmer, um Mr. Rater zu empfangen. Er sah sehr bekümmert und versorgt aus. Sein graumeliertes Haar war etwas zerwühlt, und sein müder Blick sprach von einer schlaflosen Nacht.


Die Piccadilly-Filiale der London and Southern Bank war erst kürzlich renoviert worden und bot das Letzte an luxuriöser Vornehmheit. Der Chefinspektor fühlte sich in diesen schönen Räumen wohl.


Mr. Baide führte ihn zu seinem Privatbüro, schloß vorsichtig die Tür und schob dann einen Stuhl für seinen Besucher an den Schreibtisch.


»Es ist eine direkt katastrophale Angelegenheit«, sagte er bedrückt. »Fünfunddreißig Jahre bin ich nun bei der Bank, aber noch niemals ist mir eine Fälschung vorgekommen.«


»Da haben Sie ja Glück gehabt«, meinte der Redner.


Er interessierte sich nicht für die Lebensgeschichte des Mannes, er wollte nur die Tatsachen über den gefälschten Scheck von fünfunddreißigtausend Pfund erfahren. Es stellte sich heraus, daß der Scheck von jemand präsentiert worden war, den niemand gesehen hatte. Der Kassierer hatte ihn nicht ausgezahlt, und die Eintragung in den Büchern war von einem Clerk vorgenommen worden, den keiner kannte …


»Von Mr. Gillans Sekretär erhielten wir die erste Nachricht, daß etwas nicht in Ordnung sei. Er kam zu mir, zeigte mir das Kassabuch und sagte, daß keine Eintragung über fünfunddreißigtausend Pfund darin stände. Wir haben eine Eintragung – allerdings in einer fremden Handschrift. Sehen Sie her.«


Er öffnete ein Kontobuch und deutete auf eine Zeile:


Offener Scheck über £ 35 000.-


»Nach langem Suchen haben wir schließlich auch den Scheck gefunden, der versehentlich falsch abgelegt war. Er ist zweifellos gefälscht. Hier ist er.«


Bei diesen Worten reichte er dem Detektiv ein Formular. Mr. Rater betrachtete es, roch daran, hielt es gegen das Licht und legte es schließlich wieder vorsichtig auf den Schreibtisch.


»Stammt es aus Mr. Gillans Scheckbüchern? Sicher haben Sie doch ein Verzeichnis der Hefte, die Sie Ihren Kunden aushändigen?«


Mr. Baide nickte.


»Ja, es war der vorletzte Scheck aus einem der Hefte, die wir Mr. Gillan vor einem Monat schickten. Wir übersenden ihm gewöhnlich zehn Hefte zu je hundert Formularen für das halbe Jahr. Mr. Gillan ist ein sehr reicher Börsenmakler am Grosvenor Square und hat sein Privat- und Geschäftskonto bei uns.«


Der Redner prüfte das kleine Blatt noch einmal. Über dem Namen der Bank standen in kleinen Buchstaben die Worte »Konto Thomas L. Gillan«, und in der linken Ecke war der Scheck mit den beiden Buchstaben C. E. gegengezeichnet.


»Wer ist denn C. E.?«


Mr. Baide lächelte schwach.


»Die beiden Buchstaben stehen für die Zahl fünfunddreißigtausend. A bedeutet zum Beispiel eintausend, B zweitausend und so weiter. Das ist ein zur Kontrolle vereinbarter Geheimcode.«


»Wer kennt ihn? Selbstverständlich sind Sie eingeweiht – aber wer sonst noch?«


»Es war nur eine Verabredung zwischen Mr. Gillan und mir selbst. Alle großen Schecks mußten mir vorgelegt werden, damit ich sie prüfen kann. Das Merkwürdige ist aber, daß mir dieser Scheck nicht vorgelegt wurde. Meine Privatsekretärin meinte noch heute morgen, daß ich den Betrug sicher erkannt hätte.«


»Wer ist denn Ihre Privatsekretärin?«


»Ich kann sie ja einmal kommen lassen.«


Mr. Baide drückte auf eine Klingel, und ein paar Sekunden später trat Miss Helen Lyne ein.


Sie war etwas über mittelgroß und sehr schlank. Das dunkle Haar trug sie zurückgekämmt, und die Hornbrille stand ihr vorzüglich. Der Redner hielt sie für etwa vierundzwanzig. Sie sah sehr intelligent und befähigt aus, trat ruhig und selbstbewußt auf und begegnete dem Blick des Detektivs, ohne die geringste Befangenheit zu zeigen.


Mr. Rater begrüßte sie mit einem Kopfnicken.


»Kennen Sie diesen Code?« fragte er dann ohne weitere Einleitung und zeigte auf die beiden großen Buchstaben in der Ecke des Schecks.


Einen Augenblick runzelte sie die Stirn.


»Ach, meinen Sie den Code, den Mr. Gillan für seine Schecks benützt? Ja, der ist mir bekannt.«


Mr. Baide machte ein erstauntes Gesicht.


»Ich habe Ihnen aber doch niemals etwas davon gesagt«, erwiderte er.


Sie lächelte leicht.


»Nein, aber die Sache ist doch so furchtbar einfach, daß ich sehr bald dahinterkam.«


»Der Scheck wurde nicht in Mr. Baides Abwesenheit vorgelegt?«


Sie schüttelte den Kopf.


»Nein, ich habe ihn niemals vorher zu sehen bekommen.«


Der Redner stellte noch einige Fragen an sie. Unwillkürlich hatte er den Eindruck, daß sie sich in gewisser Weise über ihn lustig machte, und wurde ärgerlich. Schließlich entließ er sie und wartete, bis sie die Tür geschlossen hatte. Dann ging er langsam und leise nach und öffnete schnell. Aber die Sekretärin war nicht zu sehen.


»Wann haben Sie diese Dame engagiert?«


Mr. Baide seufzte.


»Sie ist sehr tüchtig, aber ich komme nicht besonders gut mit ihr aus. Vor sechs Monaten wurde sie mir von der Generaldirektion zugewiesen. Ich kann mich allerdings nicht über sie beschweren. Sie ist fleißig und macht öfter Überstunden.«


»Wo bewahren Sie denn Ihre Schlüssel auf?«


Baide führte ihn zu einem Safe, der in die Wand eingelassen war.


»Hier.« Er zeigte auf eine Reihe von ungefähr zwanzig Schlüsseln der verschiedensten Größen, die an Stahlhaken hingen.


»Kann Miss Lyne diesen Safe öffnen?«


»Für gewöhnlich nicht. Ein- oder zweimal habe ich sie geschickt, um einen Schlüssel zu holen. Ich vertraue ihr selbstverständlich in jeder Weise.«


Später vernahm der Redner noch den stellvertretenden Direktor, den Buchhalter und den Kassier, aber am Ende war er ebenso klug wie vorher.


»Der Betrug kann nur von einem Angestellten der Bank begangen worden sein, der Zutritt zu den Büchern hat und auch zu Ihrem Safe«, sagte er zu Mr. Baide, als er ging.


Dieser sah ihn gespannt an, aber wenn er hoffte, daß ihm der Redner seine Ansicht über den Fall mitteilen würde, täuschte er sich sehr.


Mr. Rater ging nach Scotland Yard zurück und teilte seinem Chef alle Einzelheiten mit, die er festgestellt hatte.


»Ach, der Scheck mit Gillans Unterschrift war gefälscht? Das ist merkwürdig. Einen Tag vor der Vorzeigung wurde nämlich Mr. Gillan fälschlicherweise totgesagt. Er sollte bei einem Flugzeugabsturz in Kent getötet worden sein. Aber offenbar handelte es sich um eine Verwechslung.«


Der Redner sah ihn nachdenklich an, schwieg aber.


Als er am nächsten Morgen wieder zur Bank ging, erfuhr er, daß Mr. Baide nicht erschienen war. Der Mann hatte einen Nervenzusammenbruch erlitten, und es ging ihm anscheinend sehr schlecht.


»Nun, Sie können mir sicher auch behilflich sein«, wandte sich der Redner an Mr. Wynne, den stellvertretenden Direktor. »Lassen Sie mir doch eine Liste Ihrer Kunden zusammenstellen, die in den letzten zwölf Monaten gestorben sind –«


Er hörte einen unterdrückten Ausruf hinter sich und drehte sich schnell um.


Miss Lyne war geräuschlos eingetreten und starrte ihn verwundert an. Dann sagte sie etwas, das ihr der Redner nicht verzeihen konnte.


»Wie klug von Ihnen!«


Er sah sie noch sprachlos an und wußte nicht, was er auf diese vorlaute Äußerung erwidern sollte, als ein Angestellter hereinkam.


»Mrs. Luben-Kellner wünscht Sie zu sprechen«, wandte er sich an Mr. Wynne.


Der Name war dem Redner bekannt. Mrs. Luben-Kellner besaß einen Rennstall und hatte einen ganz bestimmten Ruf in der Sportwelt. Ihre Pferde hatten jedoch nur wenig Erfolg, und man hielt ihren Rennstall für einen der schlechtesten in England, obwohl sie große Summen für die Tiere ausgegeben hatte. Nach allgemeiner Ansicht rührten die Mißerfolge davon her, daß sie die Pferde selbst trainierte. Sie war der einzige weibliche Trainer Englands und sehr stolz auf diese Tatsache.


Der Bankmann sah den Chefinspektor zweifelnd an.


»Ich müßte die Dame eigentlich empfangen.«


»Soll ich herausgehen?«


»Nein, das Gespräch ist wohl kaum privat. Wenn Sie nichts dagegen haben, bitte ich sie hier herein.«


Der Redner schüttelte den Kopf. Er hatte niemals etwas dagegen, mit Leuten zusammenzukommen.


Die Dame trat ein, und Mr. Rater war nicht wenig erstaunt, als er dieselbe Frau erkannte, die er vor kurzer Zeit in Joe Purdews Büro getroffen hatte. Das Erkennen war gegenseitig. Sie warf dem Redner einen schnellen Blick zu, und als sie sprach, klang ihre Stimme ein wenig heiser.


»Es tut mir leid, daß ich Sie stören muß, aber – wo ist denn Mr. Baide?«


»Er fühlt sich nicht wohl«, entgegnete sein Stellvertreter. »Aber ich kann ebenso alles erledigen, was Sie wünschen.«


Sie sah wieder zu dem Redner hinüber und zögerte.


»Ich möchte die Sache aber mit Ihnen allein und nicht in Gegenwart von Fremden besprechen«, erwiderte sie etwas anmaßend. Ihre Stimme klang hart und gewöhnlich, und in ihrer Erregung zeigte sie, daß ihre Bildung und ihre guten Manieren nur angelernt waren.


Es blieb dem Chefinspektor nichts anderes übrig, als das Büro zu verlassen. Seltsamerweise mußte er bei ihrem Anblick aufs neue an eine zerbrochene Glasscheibe denken.


Nach einer Weile kam Mr. Wynne heraus, ging in Mr. Baides Büro und kehrte dann wieder zu der Dame zurück. Mr. Rater wartete, bis sie gegangen war.


»Wer ist denn das?« fragte er dann.


Mr. Wynne zuckte die Schultern. Er wußte nur, daß sie ein großes Einkommen besaß. Mehr konnte oder wollte er nicht über sie sagen, und Bankiers sind im allgemeinen – besonders Detektiven gegenüber – sehr zurückhaltend mit ihren Angaben über Kunden.


»Sie kam nicht, um etwas Geschäftliches mit mir zu besprechen, sondern um ein Notizbuch zu holen, das sie gestern in Mr. Baides Büro liegenließ.«


Der Redner hatte die Wartezeit dazu benützt, sich etwas eingehender mit der Sekretärin zu beschäftigen. Neue Tatsachen hatte er dabei allerdings nicht ans Licht bringen können. Nachdem er sich von Mr. Wynne verabschiedet hatte, trat er noch einmal bei ihr ein. Sie saß an ihrem Schreibmaschinentisch und hörte ihn nicht, da er die Tür geräuschlos öffnete. Als er sie anredete, schrak sie zusammen und schloß schnell das kleine Notizbuch, in dem sie gelesen hatte. Ihre Bewegung war so hastig, daß er Argwohn schöpfte.


»Was wollten Sie denn eigentlich vorhin mit Ihrer Bemerkung ›Wie klug von Ihnen!‹ sagen?«


Sie wandte sich in ihrem Drehstuhl um und sah ihm offen ins Gesicht. Zu seinem größten Unbehagen glaubte er wieder ein spöttisches Lächeln in ihren Zügen zu bemerken.


»Ich hatte eben die Überzeugung, daß Sie sehr scharfsinnig und geschickt handelten. Sie sind doch Mr. Rater?«


Er nickte.


»Jemand hat mir einmal erzählt, daß Sie sehr schweigsam wären, aber hier bei uns haben Sie eigentlich ziemlich viel geredet.«


Mr. Rater wurde plötzlich rot und war ärgerlich auf sich und auf sie.


»Bisher haben zwei Leute versucht, mich hinters Licht zu führen, und nur einer von ihnen ist dem Galgen entkommen!«


Sie lächelte freundlich.


»Dann gehe ich wahrscheinlich schlechten Zeiten entgegen! Es tut mir leid, Mr. Rater. Ich habe eben nur im Scherz gesprochen. Aber es war wirklich ein sehr kluger Gedanke von Ihnen. Sie haben sich sicher auch überlegt, daß bei einem Todesfall weniger Lärm über einen gefälschten Scheck gemacht wird, als wenn der Betreffende noch höchst lebendig ist und sich selbst um die Sache kümmern kann. Alle Leute glaubten doch, daß Mr. Gillan bei dem Flugzeugunglück umgekommen war. Aber er lebt noch und macht nun einen Mordsspektakel, wenn Sie diesen wenig damenhaften Ausdruck gestatten.«


Der Redner betrachtete sie mit einem sonderbaren Blick.


»Wie klug von Ihnen!« entgegnete er dann. »Sie wissen so viel, daß ich Sie eigentlich mit mir nach Scotland Yard nehmen möchte, um mich einmal gründlich mit Ihnen über den Fall auszusprechen!«


Sie schüttelte den Kopf.


»Das wäre nur Zeitverschwendung. Aber ich kann Ihren Standpunkt sehr gut verstehen. Warten Sie, ich will Ihnen einmal etwas zeigen.«


Sie zog die oberste Schublade ihres kleinen Schreibtisches auf und nahm ein ledergebundenes Notizbuch heraus. Sie blätterte schnell darin und deutete dann auf eine Seite, die ganz mit Zahlen beschrieben war. Er bemerkte, daß die letzte Eintragung »£ 35 000.–« lautete.


»Das ist das Notizbuch, das Mrs. Luben-Keller hier liegenließ… Ich habe gesagt, daß ich es nicht gesehen hätte.«


Der Redner nahm es ihr aus der Hand und steckte es ein.


»Sehr interessant. Aber nun möchte ich Ihnen auch ein paar recht merkwürdige Tatsachen mitteilen. Kennen Sie einen Joe Purdew?«


Zu seinem größten Erstaunen nickte sie.


»Er ist doch ein sehr gerissener Buchmacher?«


»Sehr gerissen!« antwortete sie trocken.


»Und außerdem ein niederträchtiger Charakter. Eine junge Dame geht jeden Abend zu ihm. Ihr Haar ist nicht so glattgekämmt wie das Ihre, und sie trägt auch keine Hornbrille.«


»Vielleicht tut sie das nur in seinem Büro. Sie ist bestimmt kurzsichtig«, erwiderte sie ruhig.


»Sie nennt sich aber nicht Miss Lyne, sondern Miss Larner, wenn ich mich nicht sehr irre.«


Sie lächelte.


»Sie sind wirklich klug«, sagte sie anerkennend.


»Es ist doch nichts Besonderes daran, daß ich Sie beobachtet habe. Aber nun erzählen Sie mir bitte, warum und weshalb Sie abends zu diesem offenkundigen Verbrecher gehen.«


Das Lächeln verschwand aus ihren Zügen.


»Ich führe seine Bücher. Er braucht nicht viel für meine Arbeit zu zahlen, und er hat es schließlich aufgegeben, Annäherungsversuche zu machen – das war zuerst eine recht unangenehme Geschichte.«


»Ist Mrs. Kellner eine Kundin von ihm?«


Sie nickte.


»Seine beste Kundin!«


»Ich kann sie nicht verstehen, und mich selbst begreife ich auch nicht. Sooft ich sie sehe, muß ich an zerbrochenes Glas denken –«


»Von einem Bilderrahmen?« meinte Miss Lyne.


Er sah sie verblüfft an, reichte ihr impulsiv die Hand und drückte sie herzlich.


»Wo wohnt sie?«


»In Pentley, Berkshire, wenn Sie sie besuchen wollen.«


»Ist sie verheiratet?«


»Ja. Sie ist auch beinahe ehrlich«, sagte sie ernst, »aber sie hat diese dumme Eitelkeit mit ihren Pferden – sie ist davon überzeugt, daß sie etwas vom Rennsport versteht. Ich habe den Eindruck, daß sie das Opfer ihres ersten Mannes geworden ist. Haben Sie einmal gesehen, wie ihr zweiter Mann in die Stadt kommt? Er fährt in einem großen Luxusauto, steigt aber jedesmal bei dem Denkmal im Green Park aus und geht den Rest des Wegs zu Fuß –«


Der Redner winkte ihr zu schweigen. Es war ihm peinlich, wenn ihm andere Leute über den Kopf wuchsen. Und diese Miss Lyne wußte wirklich zuviel.


*


Eine gute Stunde von London entfernt liegt ein kleines Dorf am Fuß der Birkshire-Hügel. In der Nähe der Ortschaft steht ein großes, rotes Haus, umgeben von einem schönen Garten. Der Redner fuhr mit seinem Auto nicht am Eingang vor, er machte es vielmehr wie der zweite Mann von Mrs. Kellner und näherte sich dem Gebäude zu Fuß. Von einem Gebüsch aus beobachtete er, daß die Tür weit offenstand, ging in die Diele, ohne zu klingeln, und lauschte.


Er hörte Stimmen in einem Zimmer jenseits der Treppe, schlich sich leise in die Nähe der Tür und horchte. Er schien sich wenig darum zu kümmern, was geschehen würde, wenn Dienstboten kämen und ihn beobachteten.


Mrs. Luben-Kellner konnte sehr ausfallend und heftig werden:


»… nun sitzt du hier herum und machst ein böses Gesicht, statt ins Büro zu gehen und dich dort zu zeigen …, was soll nun dieser Polizeimensch davon denken …, du wirst mich noch ruinieren! Daß du auch dieses verdammte Notizbuch im Büro liegenlassen mußtest, damit alle Leute es lesen können! Mr. Purdew sagt, daß er auch noch in die Sache hineingezogen wird.«


Der Redner hörte ein undeutliches Stöhnen, dann sprach die Frau wieder mit schriller Stimme weiter.


»Wenn du tust, was Joe – Mr. Purdew sagt, dann geht alles gut. Vor allem mußt du morgen wieder ins Büro gehen … niemand weiß etwas davon, und keinem wird auch nur im Traum einfallen, daß ausgerechnet du –«


In diesem Augenblick öffnete Mr. Rater die Tür. Mr. Baide saß zusammengesunken in einem großen Klubsessel, hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt und das Gesicht in den Händen vergraben.


»Warum habe ich das bloß getan?« fragte er fassungslos. »Du bist an allem schuld, du hast mich dazu getrieben … Ich hasse Pferde und Pferderennen …, ich wünschte, ich hätte dich nie gesehen, ich wünschte, ich könnte dich endlich loswerden!«


»Dazu kann ich Ihnen verhelfen«, erwiderte Rater.


Baide sprang entsetzt auf.


*


»Es tut mir sehr leid, daß ich diese vorlaute Äußerung tat«, sagte Miss Lyne etwas beschämt. »Aber Sie müssen doch bedenken, Mr. Rater, daß ich Sie als einen Eindringling betrachtete. Dobells Detektivagentur bearbeitet diesen Fall nun schon seit zwei Jahren, und Harry Dobell ist mein Bruder. Seit sechs Monaten bin ich in der Bank tätig. Die Generaldirektion der Bank war nämlich schon seit langer Zeit mißtrauisch. Sooft ein Kunde plötzlich starb, gab es mit den Testamentsvollstreckern Auseinandersetzungen über einen großen Scheck, der am Tag vor dem Tode des Betreffenden ausgestellt worden war. Ich glaube, daß das Purdews Idee war. Sie kennen Ihn doch schon lange? Sobald er von einem geeigneten Todesfall hörte, wurde ein Scheck gefälscht, und der arme alte Baide mußte die Auszahlung bewerkstelligen. Manchmal kam es vor, daß kein Protest erhoben wurde, und die ganze Geschichte wäre wahrscheinlich nie ans Tageslicht gekommen, wenn nicht Mr. Gillan fälschlicherweise tot gemeldet worden wäre. Das Merkwürdigste ist aber, daß Mrs. Purdew alle Rennwetten bei ihrem Mann abschloß und obendrein noch erwartete, bei einem Gewinn ausgezahlt zu werden!«


Der Redner strich das Haar aus der Stirn zurück und lächelte etwas verlegen.


»Zu komisch, daß ich mich nicht gleich darauf besann! Ich habe ihr Bild doch in Joe Purdews Koffer gesehen, als ich ihn das letztemal in Southampton verhaftete!«


»Ich möchte überhaupt wissen, wie der arme Mr. Baide unter den Einfluß dieser Frau gekommen ist«, erwiderte Miss Lyne und schüttelte traurig den Kopf. »Er war so ein netter alter Herr. Welche Anklage erheben Sie denn gegen Mrs. Luben-Kellner?«


»Bigamie und Betrug.«


»Sie tut mir leid. Eigentlich ist sie schon gestraft genug. Das können Sie allerdings nicht verstehen, weil Mr. Purdew niemals versucht hat, Ihnen den Hof zu machen.«


Der geheimnisvolle Nachbar

 

Der geheimnisvolle Nachbar

 

Mr. Giles trat selbstbewußt und sicher in das Büro des Chefinspektors Rater. Schon an seiner Haltung war zu erkennen, daß er von Scotland Yard nichts zu fürchten hatte. Ein Lächeln lag auf seinem gesunden, roten Gesicht, und er sah tatsächlich aus wie einer, der ein gutes Gewissen hat.

 

»Guten Morgen, Mr. Rater. Sehr liebenswürdig von Ihnen, daß Sie mich empfangen. Als ich Ihnen schrieb, dachte ich mir, wer weiß, ob der vielbeschäftigte Herr eine Minute Zeit für mich übrig hat.«

 

»Nehmen Sie Platz, Farmer«, erwiderte der Chefinspektor.

 

Der Besucher lächelte strahlend und zog einen Stuhl an den Schreibtisch. Den Spitznamen »Farmer« hatte er wegen seines blühenden Aussehens erhalten.

 

»Sie wissen ja, wie die Dinge in der Welt nun einmal liegen, Mr. Rater. Wenn jemand mal einen kleinen Konflikt mit der Polizei hatte und seine Existenz von neuem aufbaut, kommt er nicht gern wieder mit ihr in Berührung.«

 

»Sind Sie jetzt ordentlich geworden?« fragte der Redner und sah ihn prüfend und argwöhnisch an.

 

»Vollkommen. Wissen Sie, gesetzwidrige Sachen machen sich nicht bezahlt. Das ist Ihnen ja gut genug bekannt. Außerdem habe ich in letzter Zeit noch etwas Glück gehabt. Ein Onkel von mir hat mir das nötige Kapital gegeben, um ein Geschäft anzufangen. Gott sei Dank wußte der nichts von meinen früheren Dummheiten –«

 

»Was für ein Geschäft haben Sie denn?«

 

Der Mann nahm eine große Karte aus seiner Brieftasche und reichte sie ihm über den Schreibtisch hinüber.

 

 

 

J. Giles & Co. (früher Olney, Brown & Sterner)

Vertretungen

479, Cannon Street, E. C.

 

»Vertretungen? Das kann allerhand bedeuten. Was machen Sie denn eigentlich? Sind Sie Buchmacher?«

 

Aber der Farmer war Inhaber einer gutgehenden Generalagentur.

 

»Das Geschäft hebt sich von Monat zu Monat«, erklärte er begeistert. »In anderthalb Jahren habe ich die Firma so in die Höhe gebracht, daß ich den doppelten Umsatz habe wie früher. Mein Onkel … Ach, ich will Ihnen die reine Wahrheit sagen, Mr. Rater – ich habe das Geschäft nämlich mit eigenem Geld gekauft, mit tausendzweihundert Pfund. Ich bin immer vorsichtig gewesen, das wissen Sie. Beizeiten habe ich Geld auf die Seite gelegt. Es hat ja doch keinen Zweck, daß ich Ihnen Märchen erzähle. Sie sind zu klug, Ihnen kann man nichts vorflunkern. Aber ich habe mir schon seit langem vorgenommen, Sie einmal aufzusuchen und mit Ihnen zu sprechen –«

 

»Ich habe Sie neulich in der Stadt erkannt, und Sie haben mich auch bemerkt«, unterbrach ihn der Redner. »Ihre Firma ist vollkommen in Ordnung. Das habe ich schon geprüft.«

 

Der Farmer strahlte.

 

»Sehen Sie, auf Sie kann man sich verlassen! Ich sagte neulich noch zu meiner Frau – sie ist wirklich eine Lady – ›Molly, es gibt keinen klügeren Menschen als Mr. Rater‹. Das habe ich tatsächlich gesagt.«

 

»Sie sind also verheiratet?«

 

Mr. Giles nickte.

 

»Seit achtzehn Monaten. Kommen Sie doch einmal am Sonntagnachmittag zum Tee zu uns. Meine Frau ist wirklich sehr nett, die wird Ihnen gefallen. Und hübsch ist sie auch. In einer besonders hervorragenden Gegend wohne ich ja gerade nicht – Acacia Street 908. Wir haben ein paar merkwürdige Leute als Nachbarn. An einem der nächsten Tage will ich mir eine Wohnung im Westen mieten. Aber ich sage immer, man soll sich erst das Geld zusammensparen, bevor man es ausgibt!«

 

»Acacia Street 908!«

 

Der Redner hatte wohl Grund, sich zu wundern. Er kannte die Acacia Street. Es war eine lange Straße, an der kleine Einzelhäuser standen. Und er hatte nicht erwartet, den Inhaber der Firma Giles & Co., die in der City Büroräume hatte, in einer solchen Wohnung zu finden.

 

»Sie müssen meinen Standpunkt verstehen.« Der Farmer legte großen Wert darauf, dem Chefinspektor zu erklären, wie bescheiden seine Lebensansprüche waren. »Ich versuche jetzt, mich ehrlich durchzuschlagen. Aber was passiert, wenn ich in den Westen ziehe und eine große Wohnung nehme? Dann fängt die Polizei gleich an, sich zu erkundigen, ich treffe meine alten Freunde wieder, und die Versuchung für mich ist sehr groß. Eines Tages bin ich wieder auf der schiefen Ebene.«

 

»Na, das sind ja sehr solide Anschauungen.«

 

»Sehen Sie, Sie haben mich vollkommen verstanden«, sagte der Farmer, nahm seinen Hut vom Boden auf und strich ihn glatt.

 

»Kennen Sie eigentlich einen gewissen Smith – George Smith?« fragte er noch.

 

Der Redner schaute zur Decke hinauf.

 

»Ein außergewöhnlich seltener Name«, meinte er nachdenklich.

 

Der Farmer grinste.

 

»Der Mann wird Sie interessieren. Er ist mein direkter Nachbar, und es sollte mich sehr wundern, wenn der nicht auch schon im Gefängnis gesessen hätte. Er redet immer so bieder und ehrbar und geht zur Kirche, aber in der Nacht, als der Einbruch in Blackheath verübt wurde, war dieser George Smith die ganze Nacht aus dem Haus. Sie wissen doch, den Jungens sind dabei für achttausend Pfund Juwelen in die Hände gefallen! Um fünf Uhr morgens habe ich ihn nach Hause kommen sehen.«

 

»Ach, haben Sie bis in die frühen Morgenstunden in Ihrem Büro gearbeitet?« entgegnete der Redner langsam.

 

Mr. Giles wurde etwas verlegen.

 

»Nein, aber ich bin ein Frühaufsteher.«

 

»Das waren Sie schon immer«, erwiderte Mr. Rater ironisch und reichte seinem Besuch wenig begeistert die Hand.

 

Acacia Street 908! Und 910 wohnte ein anderer ihm bekannter Mann, der von Beruf Holzschnitzer war, sich nebenbei aber auch als Elektriker betätigte.

 

Das mochte ein Zufall sein – vielleicht aber ein sehr bedeutungsvoller. Jedenfalls dachte der Redner längere Zeit darüber nach.

 

Giles kehrte zu seinem Büro in der Cannon Street zurück, wo er schöne Räume im zweiten Stockwerk eines Geschäftshauses besaß. Er hatte tatsächlich eine Firma, die Pleite gemacht hatte, gekauft und zwei Angestellte übernommen, aber er kümmerte sich verhältnismäßig wenig darum. Die Firma Giles & Co. wurde eigentlich von dem Geschäftsführer geleitet, der alle wichtigen Briefe schrieb und seinem Chef nur Schecks ins Zimmer brachte, die entweder auf der Vorder- oder auf der Rückseite zu unterzeichnen waren. Mr. Giles selbst behielt sich eine andere Tätigkeit vor, von der seine Angestellten nicht die geringste Ahnung hatten.

 

Die Verschiffung gebrauchter Autos nach Indien und dem Fernen Osten ist ein rentables Geschäft, wenn man nicht zuviel für die Wagen zahlt, und Mr. Giles zahlte fast gar nichts dafür. Er besaß eine große Garage in der Nähe der London Docks, wo große Holzkisten für die Autos gemacht wurden, und verdiente ein Vermögen durch diesen unreellen Handel. Wie man dieses Geschäft betrieb, hatte er von einem Leidensgenossen im Dartmoor-Gefängnis erfahren. Er war bereits auf dem Weg, der größte Autohehler Londons zu werden. Merkwürdigerweise entwickelte sich auch seine andere Firma glänzend.

 

In der Nacht vor seinem Besuch bei Mr. Rater war er in einem gestohlenen Wagen nach Sunningdale gefahren. Zwei Komplicen begleiteten ihn, und sie erbeuteten bei einem Einbruch für tausendfünfhundert Pfund Schmuck und Silber. Und dies war nicht sein erstes Abenteuer dieser Art, nachdem er aus dem Gefängnis entlassen worden war.

 

Er hatte sich mit seinen Leuten eine sehr einfache Arbeitsmethode zurechtgelegt. Ein Mitglied der Bande stahl irgendein Auto und nahm in einer stillen Straße im Vorüberfahren zwei Kollegen mit. Dann fuhren sie zu dem Haus, das sie vorher genau ausgekundschaftet hatten. Es war Giles jedoch nicht ganz leichtgefallen, die nötigen Leute aufzutreiben. Higgy James, den er schließlich fand, machte ihm einen Vorwurf.

 

»Sie sind ja recht tüchtig in Ihrem Fach, Farmer, aber Sie haben immer diese verdammte Pistole bei sich. Wenn Sie die nicht zu Hause lassen, mache ich nicht mit. Sie sind schon einmal sieben Jahre ins Loch gewandert, weil Sie einen Schutzmann angeschossen haben, und wenn Sie das nächstemal erwischt werden, bleiben Sie lebenslänglich drin. Und jeder, der mit Ihnen gefangen wird, kann sich auf dasselbe gefaßt machen.«

 

Das Silber aus dem letzten Raub war längst eingeschmolzen, und die Firma Giles & Co. verkaufte die Barren im rechtmäßigen Handel.

 

An diesem Tage verließ der Farmer sein Büro früher und ging zu seiner Wohnung in der Acacia Street. Als er an Nr. 910 vorüberkam, wo sein unliebsamer Nachbar wohnte, blickte er düster nach den dunklen Fenstern.

 

Er schloß die eigene Haustür auf und trat in das Speisezimmer. Helen, seine junge Frau, die neben dem Kamin saß und nähte, erhob sich schnell. Auch ein Fremder, der die Beziehungen dieser beiden Menschen zueinander nicht kannte, hätte unwillkürlich den Eindruck haben müssen, daß sie sich trotz ihres erzwungenen Lächelns entsetzlich vor dem Mann fürchtete. Wenn ihre Schönheit schon nach so kurzer Ehe gelitten hatte, war das nur auf Giles häßliche Behandlung zurückzuführen. Aber die Narbe war fast verschwunden, wie er mit Befriedigung feststellte. Es war doch immerhin möglich, daß dieser verdammte Rater eines Tages seine Einladung ernst nehmen und ihn tatsächlich besuchen könnte.

 

»Bring mir Tee«, sagte er kurz.

 

»Ja, sofort.«

 

Als sie zur Tür ging, rief er sie zurück.

 

»Hat sich der Kerl von nebenan hier herumgetrieben?«

 

»Nein, er hat nicht mit mir gesprochen, und ich habe ihn auch nicht gesehen …«

 

»Lüg mir bloß nichts vor«, erwiderte er drohend. »Wenn ich einmal nach Hause komme und dich abfasse, wenn du mit ihm über die Gartenmauer schwätzt, dann kannst du was erleben!«

 

Sie antwortete nicht, wurde aber bleich, während sie noch an der Tür wartete.

 

»Ich habe dich aus dem Rinnstein aufgelesen – du warst doch weiter nichts als eine verhungerte Verkäuferin. Bis über die Ohren hast du in Schulden gesteckt! Warum ich dich überhaupt geheiratet habe, ist mir selbst ein Rätsel. Wahrscheinlich habe ich damals eine Art Sonnenstich gehabt. Dann habe ich so einem hergelaufenen Ding wie dir eine schöne Wohnung eingerichtet und dir alles gegeben, was man sich nur wünschen kann!«

 

»Ich bin dir ja auch sehr dankbar dafür«, entgegnete sie schnell, aber er brachte sie durch eine abwehrende Handbewegung zum Schweigen.

 

»Bring mir jetzt endlich den Tee!«

 

Er wachte oft morgens auf und ärgerte sich, daß er dieses junge Mädchen geheiratet hatte. Männer sollten sich eigentlich nur um ihr Geschäft kümmern, und er war nun einmal ein Einbrecher. Mit Bigamie sollte er sich nicht befassen. Dadurch hatte er auch Scotland Yard einen Grund gegeben, einzugreifen, sobald etwas von seiner ersten Ehe bekannt wurde. Und diesen Unsinn hatte er gerade in dem Augenblick gemacht, als er die ersten dreitausend Pfund beiseite geschafft und bei einer Bank eingezahlt hatte. Je mehr er über die Gefahr nachdachte, die ihm von dieser Seite drohte, desto mehr haßte er seine Frau. Aber trotzdem paßte es ihm durchaus nicht, daß sich sein Nachbar um sie kümmerte. Er hätte den Mann vielleicht für seine eigenen Zwecke benützen können, wenn der alte Narr nicht eines Nachts an die Wand geklopft hätte und später selbst erschienen wäre. Smith hatte einen Mantel über seinem Pyjama an und fragte, was denn das Schreien zu bedeuten hätte. Der Mann sah nicht schlecht aus, nur war er schon etwas grau und verschlossen. Als der Farmer ihn an der Kehle nahm und auf die Straße werfen wollte, hatte ihn Smith einfach am Kragen gepackt und zu Boden geworfen.

 

Giles schaute grübelnd ins Feuer, bis die junge Frau das Tablett mit dem Tee brachte und auf den Tisch setzte.

 

Lange Zeit übersah er ihre Anwesenheit vollständig, und als er dann zu ihr sprach, würdigte er sie keines Blicks.

 

»Es ist möglich, daß ein gewisser Rater hier Besuch macht. Das ist ein Mann von Scotland Yard und ein alter Freund von mir. Ich kenne alle Beamten im Polizeipräsidium, das bringt mein Geschäft mit sich. Aber du wirst ihm nichts über mich erzählen – verstanden?«

 

»Ja«, sagte sie schüchtern.

 

»Womit verdient der Kerl von nebenan eigentlich seinen Unterhalt?«

 

»Das weiß ich nicht, Joe.«

 

»Das weiß ich nicht, Joe!« ahmte er sie höhnisch nach. »Du weißt überhaupt nichts, dumme Gans!«

 

Sie schrak vor seiner erhobenen Faust zurück, und er lachte laut auf.

 

»Benimm dich, dann tu ich dir nichts. Heute abend kommt ein Herr zu mir. Sobald er hier erscheint, verschwindest du oben im Schlafzimmer. Wenn ich dich brauche, rufe ich dich.«

 

Er sah auf die Uhr und gähnte, ging nach oben zum Badezimmer, zog sich um und sagte dann, daß er eine Stunde lang Spazierengehen wollte. Als sie noch jung verheiratet waren, hatte sie einmal den Fehler begangen und gefragt, wohin er ginge. Das hatte sie nicht wieder getan.

 

Sie wartete, bis er die Haustür zuwarf, und schaute ihm hinter den Vorhängen des Wohnzimmers nach. Dann eilte sie durch die Küche und ließ alle Türen offen, damit sie hören konnte. Sie wußte, daß ihr Nachbar das Zuwerfen der Haustür auch gehört haben mußte.

 

Er wartete bereits im Garten auf sie. Im Schatten sah seine Gestalt düster und dunkel aus.

 

»Ich mußte ihn belügen, Mr. Smith. Ich sagte, ich hätte nicht mit Ihnen gesprochen. Aber was soll ich nun tun?«

 

Ihre Stimme zitterte vor Verzweiflung, und doch fühlte Helen eine gewisse Erleichterung, daß sie sich diesem Manne anvertrauen konnte. Jeden Abend ging sie um dieselbe Stunde in den Garten und besprach mit dem Nachbarn ihre trostlose Lage.

 

»Schon gut, Sie haben ja heute auch noch nicht mit mir geredet«, beruhigte er sie. Seine Stimme klang etwas rauh, aber freundlich. »Hat er Sie wieder geschlagen?«

 

Sie schüttelte den Kopf. Es war gerade noch hell genug, daß er das sehen konnte.

 

»Nein, seitdem Sie neulich kamen, hat er mich in Ruhe gelassen. Ich weiß wirklich nicht, was ich tun soll, Mr. Smith. Ich fürchte mich so entsetzlich vor ihm. Er gibt mir überhaupt kein Geld, ich kann also nicht von ihm fort. Und wenn ich meine alte Stelle bei Harridge wieder annähme, würde er mich sicher bis dorthin verfolgen. Ich habe schon oft daran gedacht, einfach den Gashahn aufzudrehen. Dann hätte doch dieses Elend ein Ende.«

 

»Das ist aber vollkommen verkehrt gedacht«, sagte der Mann energisch. »Ich werde schon einen Ausweg für Sie finden –«

 

»Wer ist eigentlich Mr. Rater von Scotland Yard?« fragte sie plötzlich.

 

»Wie kommen Sie denn darauf?« entgegnete er, offenbar ziemlich bestürzt.

 

»Joe sprach heute über ihn. Er sagte, daß der Herr wahrscheinlich zu uns kommen würde. Kennen Sie ihn?«

 

»Ja, ich kenne ihn«, antwortete er nach einer kleinen Pause. »Ich traf ihn neulich. Wann kommt er denn?«

 

Sein Ton klang beinahe ängstlich, und sie wunderte sich, in welcher Beziehung er zu Mr. Rater stehen mochte.

 

»Ich weiß nicht, ob er überhaupt kommt. Joe sagte nur, daß es möglich wäre. Dann fragte er auch noch, womit Sie Ihr Geld verdienen.«

 

Mr. Smith lachte leise vor sich hin.

 

»So, das möchte er wissen? Nun, da können Sie ihm ganz wahrheitsgemäß sagen, daß ich ein Holzschnitzer bin. Er hat mich doch oft genug an meiner Arbeitsbank gesehen. Außerdem habe ich noch eine Privatbeschäftigung, aber die geht niemand etwas an, und darüber spreche ich nicht.«

 

»Dazu haben Sie vermutlich auch allen Grund, Sie gemeiner Lump!«

 

Helen schrie auf und wandte sich entsetzt um. Ihr Mann stand direkt hinter ihr. Er hatte sich leise herangeschlichen und den letzten Teil ihrer Unterhaltung gehört. Sie wollte an ihm vorübereilen, aber er packte sie so fest am Arm, daß sie wieder laut aufschrie.

 

»Du bleibst hier! So treibst du dich also herum, wenn ich abends ausgehe! Mit ihnen rede ich später noch, Smith!«

 

Er zog seine Frau ins Haus und riegelte die Tür zu.

 

Mr. Smith, der sonst kaum empfindlich war, zuckte zusammen, als er Helens Schmerzensschreie hörte …

 

Sie lag auf dem Bett und war schließlich zu schwach, um noch zu schreien oder zu weinen.

 

Mr. Giles knöpfte seine Weste zu und zog seinen Rock an.

 

»So, nun mach, daß du zu Bett gehst, und sei froh, daß ich dir nicht das Genick umgedreht habe!«

 

Er schloß die Schlafzimmertür ab, ging nach unten in die Küche und suchte eine leere Sodawasserflasche. Dann verließ er das Haus und klopfte an Mr. Smiths Tür. Er war befriedigt, daß die Diele dunkel blieb, als sein Nachbar kam und öffnete.

 

»Nun, was gibt’s?«

 

Offenbar hatte der Mann Joe Giles erkannt.

 

»Ich wollte einmal mit Ihnen reden«, erwiderte der Farmer höflich. »Vor allem möchte ich Sie darum bitten, nicht immer mit meiner Frau zu sprechen. Sie ist unvorsichtig, und ich wünsche nicht, daß sie in eine schiefe Lage kommt …«

 

Giles täuschte seinen Nachbarn so vollkommen, daß dieser nicht auf seiner Hut war. Erst als es schon zu spät war, entdeckte Smith die Flasche. Er versuchte noch, den Kopf zur Seite zu drehen, als Giles mit aller Gewalt auf ihn einschlug, fiel dann auf die Knie und brach zusammen. Der Farmer schloß die Tür vorsichtig und ging in sein Haus zurück. Eine halbe Stunde saß er in seinem Wohnzimmer, brütete vor sich hin und war mit sich und der ganzen Welt zerfallen. Was sollte nun werden, wenn der Mann zur Polizei ging und ihn anzeigte? Er hatte wieder einmal eine zu verrückte Sache angestellt!

 

Von Zeit zu Zeit legte er das Ohr an die dünne Trennungswand, und schließlich atmete er erleichtert auf, als sich der Mann im Nebenhaus wieder bewegte und umherging. Er setzte sich so, daß er durch das Fenster die Haustür beobachten konnte, denn er erwartete, daß Mr. Smith nun jeden Augenblick zu ihm kommen würde.

 

Aber es verging eine halbe Stunde, dann eine ganze, und es ereignete sich nichts.

 

Der Farmer lächelte. Sein Nachbar hatte wahrscheinlich guten Grund, nicht zur Polizei zu gehen.

 

Um zehn Uhr kam Higgy, sein treuester Helfer. Sie hatten einen neuen Plan gut vorbereitet. Es handelte sich diesmal um eine große Villa an der Grenze von Horsham. Die Familie war verreist; aber es hielten sich sieben Dienstmädchen und zwei ältere Diener im Haus auf.

 

»Die alte Dame, der der Kasten gehört, ist in Bournemouth«, sagte Higgy. »Sie hat aber ihren ganzen Schmuck in dem Safe zurückgelassen. Für gewöhnlich kann man das Ding nicht sehen, weil es in die Wand eingelassen ist, und zwar direkt hinter dem Bett. Stokey Barmond war gestern dort. Er hat sich mit einer Zofe angefreundet und alles gesehen. Er meint, die Sache sei sehr leicht. Ein alter, französischer Schrank, den man beinahe mit dem Fingernagel aufmachen kann! Genauso altmodisch ist auch der Schmuck, aber die Steine sind gut.«

 

»Wie kommt man am besten mit dem Auto dorthin?«

 

Higgy erklärte es ihm. In einer naheliegenden Nebenstraße konnte man parken. Dann kletterte man über eine niedrige Mauer und war auf dem Grundstück. Er legte einen Plan auf den Tisch, und der Farmer betrachtete ihn genau.

 

»Glänzend«, meinte er dann. »Sagen Sie also Stokey, er soll morgen abend einen Wagen besorgen und mich am Ende von Denmark Hill abholen.«

 

»Aber nehmen Sie ja keine Pistole mit!« warnte Higgy. Das sagte er regelmäßig, wenn sie auf eine Unternehmung auszogen.

 

»Glauben Sie denn, ich wäre so dumm?« fragte der Farmer verächtlich.

 

Als er sich am nächsten Abend in seinem Zimmer fertigmachte, steckte er doch einen Browning ein und sah vorher nach, ob er auch geladen war. Er wußte sehr gut, daß er zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt werden würde, wenn ihn die Polizei das nächstemal faßte. Und das war ihm zu langweilig, dann wollte er lieber gleich an den Galgen kommen.

 

Am Morgen hatte er gesehen, daß sein Nachbar einen Verband über der Stirn trug. Der Schlag hatte Smith nicht mit voller Härte getroffen, sondern nur gestreift. Der Holzschnitzer stand an dem kleinen, eisernen Zaun, der seinen Vorgarten einschloß, und Mr. Giles griff erschrocken nach seinem Totschläger, als er den Mann bemerkte. Diese Waffe trug er stets bei sich.

 

»Guten Morgen«, sagte der Nachbar. »Ich habe ein Hühnchen mit Ihnen zu rupfen.«

 

»Na, los, wenn Sie die Absicht haben«, erwiderte der Farmer, hielt sich jedoch in genügender Entfernung.

 

Aber Mr. Smith schüttelte den Kopf.

 

»Den Zeitpunkt werden Sie selbst bestimmen«, entgegnete er, und mit dieser geheimnisvollen Bemerkung verschwand er in seinem Haus.

 

Tagsüber beobachtete Mr. Smith den Farmer dauernd, und als dieser am Abend ausgegangen war, um seinen schändlichen Plan zur Ausführung zu bringen, ging er zur nächsten öffentlichen Telefonzelle und ließ sich mit Mr. Rater verbinden. Die Trennungswand zwischen den beiden Häusern war nicht sehr stark, und Mr. Smith, der ein Bastler war, hatte sich selbst ein Mikrofon konstruiert …

 

»Ich hätte mir das an Ihrer Stelle nicht bieten lassen, Smith«, sagte der Chefinspektor.

 

»Sie wissen doch ganz genau, daß ich vor Gericht nicht als Zeuge auftreten kann. Darüber habe ich mich schon den ganzen Tag geärgert.«

 

Der Redner wartete nur so lange, bis sich Scotland Yard mit der Sussex-Polizei in Verbindung gesetzt hatte, dann stieg er in ein Dienstauto und fuhr in die Richtung nach Horsham davon.

 

Der Farmer verstand es, derartige Überfälle zu organisieren. Auf die Minute genau wurde er an der angegebenen Stelle abgeholt. Higgy lenkte den Wagen, während Stokey Barmond hinten saß.

 

»Heute abend haben Sie einen guten Wagen erwischt«, meinte Giles gutgelaunt, was ein großes Lob bedeutete.

 

Sie fuhren in einem Regenschauer durch Horsham, der eine Beobachtung durch die Polizei sehr erschwert hätte, auch wenn Higgy nicht schon die Nummer des gestohlenen Wagens geändert und die Spitze des Kühlers mit einer Haube zugedeckt hätte.

 

Als sie in die Nähe des Schauplatzes kamen, erkundigte sich Higgy nochmals ängstlich, ob Giles keine Pistole bei sich hätte.

 

»Was ist denn heute mit Ihnen los?« fuhr ihn der Farmer böse an. »Werden Sie denn dafür bestraft, wenn ich eine Waffe in der Tasche habe? Dafür muß ich doch geradestehen, nicht Sie.«

 

Aber Higgy blieb hartnäckig.

 

»Ich möchte eine klare Antwort hören. Haben Sie eine Schußwaffe bei sich oder nicht?«

 

»Nein, ich habe keine bei mir«, entgegnete der Farmer ärgerlich.

 

Higgy sagte nichts mehr, aber er war nicht überzeugt. Er hatte die Aufgabe, bei dem Wagen zu bleiben, und nahm sich fest vor, mit dem Auto zu verschwinden, sobald irgendein Schuß fallen würde. Dann war er schon halb in Horsham, bevor der Farmer nur auf die Straße kommen konnte, und eine Entschuldigung hatte er sich für diesen Fall auch bereits zurechtgelegt.

 

Der Wagen fuhr in die Nebenstraße ein und kam zum Stehen. Nach einer kurzen, leisen Unterhaltung kletterten der Farmer und Stokey über die Mauer und verschwanden im Dunkeln. Inzwischen wandte Higgy den Wagen, so daß dieser in umgekehrter Richtung stand. Dann wartete er, während er den Motor laufen ließ. Nach einer Viertelstunde hatte ihn das monotone Geräusch beinahe eingeschläfert.

 

Aber plötzlich fuhr er auf, denn er hörte Schritte, und der Schein einer elektrischen Lampe streifte sein Gesicht.

 

»Steigen Sie aus. und machen Sie keinen Lärm!« befahl eine harte Stimme.

 

Higgy sah, daß die Straße von Polizisten wimmelte. Zwei kletterten bereits über die Mauer.

 

Der Farmer hatte mit seinen Hilfsinstrumenten ein Schlafzimmerfenster von außen geöffnet. Der Safe war leicht zu bewältigen, wie er erwartet hatte. In einer Viertelstunde hatte er ihn aufgebrochen und alle Taschen mit den Wertsachen vollgestopft. Als er auf die Veranda hinaustrat, war Stokey, der dort auf Posten gestanden hatte, verschwunden.

 

Giles schwang sich über das Geländer und ließ sich hinunter.

 

Aber unten packte ihn eine Hand am Arm. Wild riß er sich los, als er undeutlich die Umrißlinien eines Helms erkannte. Er war nur noch einige Schritte von der Mauer entfernt, als ihn der Polizist einholte und zu Boden warf. Im nächsten Augenblick war er jedoch schon wieder auf den Füßen.

 

»So, das haben Sie davon!« rief er wütend und schoß zweimal aus der Tasche. Dann eilte er zur Mauer und kletterte hinüber. Auf der anderen Seite wurde er von zwei Beamten in Empfang genommen, die schon auf ihn gewartet hatten.

 

»Es war ein Polizist, mit dem ich gerungen habe«, sagte der Farmer sofort, um seine Unschuld zu beteuern. »Er wollte mir die Pistole wegnehmen, und dabei entlud sie sich.«

 

»Das können Sie ja den Geschworenen erzählen«, erwiderte der Redner eisig.

 

*

 

Es war ein alltäglicher Mord. Nur die Tatsache, daß ein Polizist erschossen worden war, lenkte das allgemeine Interesse auf den Prozeß. Beim Polizeigericht sowohl als auch vor den Geschworenen wurde der Farmer glänzend verteidigt. Da er dreitausend Pfund besaß, konnte er sich das ja leisten. Infolgedessen dauerte der Prozeß statt eines Tages zwei, aber der Ausgang blieb deshalb doch der gleiche. Die Zeitungsberichterstatter spitzten ihre Bleistifte; die Gerichtsdiener lehnten gelangweilt an der Wand; Die Zuhörer und auch die Geschworenen wußten, daß der Prozeß nur mit der Verurteilung des Schuldigen enden konnte. Nur der Richter und der Verteidiger nahmen noch mit einigem Interesse an der Verhandlung teil.

 

Aber als das Todesurteil ausgesprochen war und Giles unter der Aufsicht von drei Wärtern ins Gefängnis von Wandsworth gebracht wurde, hielt er seine Sache noch immer nicht für aussichtslos.

 

Seine Berufung wurde jedoch von der nächsthöheren Instanz verworfen, und nun bat er Mr. Rater um eine Unterredung.

 

Der Chefinspektor suchte den Farmer auch tatsächlich in der Zelle auf und wurde von dem Mann mit einem Grinsen begrüßt.

 

»Nun haben Sie mich also wirklich so weit gebracht, daß ich gehenkt werde, Rater. Aber warum haben Sie denn den Higgy mit drei Jahren davonkommen lassen?«

 

Der Redner schwieg.

 

»Und dann dieser gemeine Kerl, der Smith, der glaubte natürlich, ich hinterlasse meiner Frau das Geld, damit er sie heiraten kann. Aber damit Sie es nur wissen, Mr. Rater, sie ist gar nicht meine Frau. Ich bin nämlich schon vorher verheiratet gewesen. Die Ehe mit ihr ist vollkommen ungültig, und die Frau bekommt keinen Cent!«

 

Er erzählte dem Chefinspektor alle Einzelheiten über seine erste Ehe, aber nicht aus Reue, sondern aus Rache.

 

»Ich werde es ihr schon eintränken. Sie soll nichts von mir haben! Immer war sie ein Mühlstein an meinem Hals!«

 

Auch Mr. Rater hatte er aus reiner Gemeinheit rufen lassen. Der Chefinspektor sagte ihm offen, was er von ihm dachte, aber Giles grinste nur selbstzufrieden.

 

»Smith heiratet sie nicht – wenigstens nicht meines Geldes wegen.«

 

»Über Smith brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen«, begann der Redner, brach aber plötzlich ab.

 

»Der Kerl ist ein Spitzbube«, sagte der Farmer höhnisch.

 

»Ich habe ihn schon lange durchschaut. Er geht immer nachts aus und bleibt ein paar Tage fort. Er lebt ganz allein für sich, und ich gehe mit Ihnen die größte Wette ein, daß Sie Berge von gestohlenen Dingen bei ihm finden.«

 

Der Redner war froh, als er den Farmer verlassen konnte.

 

Über seinen Nachbar ärgerte sich Giles bis zum letzten Augenblick und sprach dauernd mit seinen Wärtern über ihn, aber die Leute hörten ihm kaum zu.

 

»Ich wünschte nur, ich hätte ihm tatsächlich den Schädel eingetrommelt. Man kann mich ja doch nur einmal henken, auch wenn ich fünfzigtausend Menschen umgebracht hätte. Aber die Narbe an der Stirn wird er noch lange herumtragen. Sehen Sie, hier habe ich ihn getroffen.« Er zeigte auf die Stelle.

 

Schließlich kam der letzte Morgen. Mr. Giles ließ geduldig das Gebet des Geistlichen über sich ergehen. Trotz der langen Haft sah er frisch und blühend aus, und er schien nicht die geringste Furcht vor der Hinrichtung zu empfinden. Als der Pfarrer zu Ende war, erhob sich Giles erleichtert.

 

»Nun wollen wir uns einmal den Henker ansehen«, sagte er, aber das Wort erstarb ihm im Munde, denn der Mann trat gerade in seine Zelle ein. Er hatte einen schwarzen Strick in der Hand. Giles starrte ihn entsetzt an. Deutlich erkannte er die Narbe an seiner Stirn. Es war kein Zweifel, das war Smith – sein geheimnisvoller Nachbar!

 

»Donnerwetter!« rief er atemlos. »Das haben Sie also gemeint, als Sie sagten, Sie hätten ein Hühnchen mit mir zu rupfen? Und ich würde den Zeitpunkt selbst bestimmen …«

 

Smith antwortete nicht, denn er sprach niemals während der Geschäftsstunden.