Geraubt

Am nächsten Morgen blieb Kasperle dabei, er wollte nicht auf den Jahrmarkt gehen. Dem blassen Christli war das schon arg recht. Der hatte sich am Tage vorher sehr nach seinem Kameraden gesehnt, und er freute sich auf den heiteren Gartentag. Die Sonne meinte es besonders gut, sie schien es sich vorgenommen zu haben: Heute scheinst du den Torburgern recht freundlich und warm zu ihrem Jahrmarkt.

Nach Mittag liefen die Leute darum auch alle auf den Platz. Alle fragten sie: »Ob heute Kasperle wohl wieder so pudelnärrisch kaspern wird?« Aber kein Kasperle ließ sich sehen. Das lag im Garten lang auf der Wiese und sah zu, wie Christli kasperte.

Der wollte nämlich von seinem Freund das Gesichterziehen lernen. Kasperle und Marlenchen saßen darum im Grase, sie waren Zuschauer, und Christli war Kasper. Aber es war kein gutes Kasperle, er blieb immer Christli, konnte kein Teufels-, Räuber-, Spitzbubengesicht machen, und wie die Prinzessin Gundolfine konnte er schon gar nicht dreinsehen. Er mühte sich ordentlich ab, aber es ging nicht.

»Ich glaube, es liegt an den Höslein,« sagte Kasperle plötzlich; »wir müssen tauschen.«

»Ach ja,« rief Christli, »jetzt ziehen wir uns um!«

Das war nun wirklich vergnüglich; Christli schlupfte in Kasperles grasgrünes Röcklein, dieser in Christlis feinen weißen Anzug, und dann schauten sie sich beide an, lachten und lachten. Marlenchen lachte mit, und als endlich Christli das Kaspern versuchte, da – konnte er es nicht.

»Fang mit dem Purzelbaum an!« riet Kasperle.

Sie saßen alle am Wiesenhang am Seitenrande des Wäldchens. Innen im kleinen Walde rief und lockte einmal ein Vogel, seltsam klang es, aber die Kinder hörten nicht darauf.

Und nun schoß Christli einen Purzelbaum. Bergab ging es ganz flink und geschickt. Er überschlug sich einmal, noch einmal, drehte sich ein wenig, kam an ein Gebüsch und – weg war er.

»Kasperle,« rief Kasperle, denn die Namen hatten sie auch vertauscht, »nun mußte rauf purzelbaumen.«

Unten blieb alles still.

»Kasperle, komm doch!« lockte Marlenchen.

Wieder blieb es still.

»Er hat sich versteckt,« sagten die beiden zueinander und schwiegen eine Minute.

»Es donnert,« sagte Kasperle plötzlich.

»Ach wo!« Marlenchen schaute zum Himmel empor. Strahlend hell war der. »Es war ein Wagen, – aber wo nur Christli bleibt?«

»Du mußt ‚Kasperle‘ sagen,« verbesserte Kasperle. Da riefen beide aus Leibeskräften: »Kasperle, komm doch!«

Es blieb alles still.

Eine jähe Angst ergriff die Kameraden. Sie rannten den Abhang hinab, suchten und riefen, riefen und suchten. Kein Christli war zu sehen. Einen Fluß, in den er gefallen sein konnte, gab es nicht, ein Erdloch auch nicht. Wo war er nur hin?

»Dort ist er hingelaufen,« rief Kasperle. Ein grünes Schleifchen lag da, eins von denen, mit denen seine Höslein unten geschmückt waren. »Er will uns necken, er ist in den Garten zurückgerannt,« sagten beide und liefen zusammen zurück.

Sie kamen an ihren Spielplatz, kein Christli war da. Die Türe des Gartenhäuschens stand offen. Sie schauten hinein, riefen, aber keine Antwort kam.

»Er ist zu Meister Helmer gelaufen,« riefen die beiden sich tröstend zu. Sie liefen auch zu Meister Helmer. Der saß vor seinem kleinen Haus im bunten Garten; er war allein. Er hatte Christli auch nicht gesehen. Der gute alte Mann geriet in Angst um das Prinzlein. Er ging mit Kasperle und Marlenchen suchen, denn er dachte: Christli ist vielleicht etwas zugestoßen und liegt irgendwo blaß und ohnmächtig. Er suchte und suchte, die beiden Kameraden halfen, aber nirgends war eine Spur von Christli zu erblicken. Nur da, wo Kasperle die Schleife gefunden hatte, sah Meister Helmer, daß jemand mit großen, schweren Schuhen gegangen war. Eine furchtbare Angst überfiel ihn. »Christli ist geraubt worden,« sagte er. »Schnell, schnell, man muß Hilfe holen!«

Marlenchen schluchzte auf, Kasperle brüllte gleich ganz entsetzlich, aber dann lief er doch, als Meister Helmer sagte: »Es eilt!«, um den Fürsten und Meister Severin zu holen. Und wie rannte Kasperle. Er sprang, purzelbaumte, riß beinahe drei Menschen, einen Hund und einen kleinen Herrn um und kam sehr geschwind auf dem Kirchplatz an. Dort geschah noch das letzte Unheil. Er riß einen um, der ihm sehr gewichtig entgegenkam: den Bürgermeister.

Plauz! saß der dicke Herr da. Kasperle aber raste schreiend weiter: »Christli ist geraubt worden, Christli ist geraubt worden!«

Der Bürgermeister wurde so weiß wie sein frischgewaschenes Schnupftuch. Was schrie Kasperle da? Und wie kam Kasperle überhaupt noch hierher?

»Christli ist geraubt worden, Christli ist geraubt worden!« Kasperles Geschrei scheuchte den Fürsten, den Professor und die Waldhausleute auf. Die kamen heraus, und der dicke Bürgermeister konnte sich nicht mehr vor ihnen verstecken. Eigentlich hätte er es gern getan.

»Kasperle, schrei nicht so, rede!« Wenn Meister Severin so sprach, dann wurde das Kasperle meist ganz vernünftig. Er erzählte jetzt auch, freilich mit jämmerlichem Geheul, was geschehen war.

»Mein Christli verschwunden!« Der Fürst wurde totenbleich, und da er den Bürgermeister noch immer auf dem Platz sitzen sah, rief er: »Herr Bürgermeister, haben Sie es gehört: Am hellen Tag wird mein Kind hier in Torburg geraubt!«

»Ach, das schwätzt der Kasper!« brummte der Bürgermeister und sah ganz bissig zu diesem hin.

»Das ist wahr!« Hei, sah Kasperle auf einmal fuchsteufelswild aus! Ordentlich ängstlich wich der Bürgermeister zurück.

»Aber Kasperle, du hast Christlis Anzug an!« rief da Frau Liebetraut.

Kasperle nickte und erzählte, wie das gekommen sei.

»Dann haben sie den Kasper rauben wollen – und«

»Kasperle hat recht gesehen, die Prinzessin Gundolfine war hier in Torburg,« rief der Meister Severin. Dabei sah er unwillkürlich den Bürgermeister an, sah den ganz grün werden, und er dachte bei sich: Er hat ein böses Gesicht – vielleicht auch ein böses Gewissen.

»Man muß suchen,« stotterte der Bürgermeister. »Ich werde sofort reitende Boten überallhin schicken. Aber geraubt, – ich kann es mir nicht denken! Er ist vielleicht in ein Erdloch gefallen.«

»Nä, wir haben alles durchsucht.« Kasperle sah trotzig drein. »Er ist fort.«

»Seit wann denn?«

Ja, das wußte Kasperle nicht genau. Ein paar Stunden mochten während dem Suchen vergangen sein. Der Nachmittag war schon weit vorgerückt, und der Fürst drängte: »Schnell, schnell! Die Polizei soll suchen, Herr Bürgermeister!«

»Ja gewiß, ganz schnell!« rief der.

Aber so arg schnell ging es nicht. Erst müsse der Garten ganz genau abgesucht werden, behauptete der Bürgermeister. Er sagte, am besten wäre es, vorläufig über den Raub zu schweigen. Ja, das wäre schon gegangen, wenn Kasperle nicht gewesen wäre! Der heulte so laut, daß bald ganz Torburg in Aufregung geriet. Es war doch unerhört: Am hellen Tage wurde in der guten Stadt ein Kind geraubt!

»Wir müssen suchen, wir müssen suchen!« rief alles.

»Niemand darf über die Grenze gehen; das ist verboten,« befahl der Bürgermeister.

Ja freilich, das war verboten, aber in der Dämmerung stieg doch die gute Gräfin Agathe in einen Wagen, um Christli nachzufahren. Sie sagte auch wie Frau Liebetraut: »Den hat die Prinzessin Gundolfine rauben lassen. Ich hole ihn; ich werde es schon herausbekommen, ob er im Schloß ist. Und vor mir fürchtet sich der Herzog August Erasmus ein wenig.«

Warum denn? dachte Marlenchen. Sie wußte noch nicht, daß manche, die bös und ungut sein können, sich vor sehr guten Menschen fürchten.

Als der Wagen abfahren sollte, kamen Meister Severin und Frau Liebetraut aus ihrem Hause. Marlenchen stand bitterlich weinend am Wagen, und auf einmal sagte die Gräfin: »Kasperle soll mir noch beschreiben, wie es in den Turm auf Burg Himmelhoch hineingeht. Wo ist er denn?«

Ja, wo war Kasperle.

»Vorhin hat er noch hier gesessen und geweint,« sagte Frau Liebetraut ängstlich.

»Sie haben ihn auch geraubt!« klagte Marlenchen erschrocken.

»Nä!« klang es jämmerlich aus dem Wagen heraus.

»Aber Kasperle, was machst du denn da?«

»Ich will mit, ich – ich – will Christli befreien; ich – ich bin – doch – sein Freund!« Kasperle schluchzte laut.

»O du gutes kleines Kasperle!« sagte der Fürst. In all seiner schweren Sorge um den Liebling war ihm das Kasperle, das so treu die Freundschaft hielt, ein rechter Trost.

»Es ist recht, mein Kasperle; du fährst mit, und wir befreien Christli zusammen. So, nun komm, lege dich unter den Sitz und wickle dich in die Decke, damit dich niemand sieht!« sagte die Gräfin.

Marlenchen schluchzte herzbrechend. »Ich will auch mit!« rief sie. Aber die Muhme Agathe sagte mild: »Du mußt Christlis Vater trösten.«

Da legte Marlenchen ihre kleine Hand in die des Fürsten und sagte: »Ich weiß schon, daß Christli zurückkommt, ich will aber fleißig darum beten.«

Zuletzt stieg Herr Severin, als Diener verkleidet, mit auf den Bock. »Kasperle, wir helfen alle zusammen,« sagte er.

Torburg hatte zwei Tore. Durch eins rannten alle, durch das andere niemand. Durch dieses fuhren an diesem Tag die Gräfin und Kasperle. Der kleine Schelm heulte; tropf, tropf! liefen ihm die Tränen herab, ein Dorfbrünnlein konnte nicht mehr Wasser vergießen.

»Sei ruhig, mein Kasperle!« sagte die Gräfin. »Hab‘ nur keine Angst, ich lasse dich nicht auf Himmelhoch!«

Herr Severin kannte allerlei Seitenwege, denn er lief oft stundenlang spazieren. Die fuhr man entlang. Durch den Wald ging es, da war es still und friedsam. Kasperle durfte unter dem Sitz hervorkriechen, und die Gräfin nahm ihn auf den Schoß. So fuhren sie durch die milde, warme Sommernacht.

Zuletzt versiegten Kasperles Tränen, und er schlief ein, schlief fest und ruhig, und die Gräfin betrachtete sein Gesicht und dachte: Wie hübsch kann doch das Kasperle aussehen! So lieb und brav und so gut ist es. Fährt mit zu dem Herzog, vor dem es doch solche Angst hat, um seines Freundes willen. Wirklich, der Herzog könnte sich eigentlich an Kasperle ein Beispiel nehmen.

Als der Morgen dämmerte, tauchte Burg Himmelhoch auf. Etliche Fenster waren erleuchtet, und die Gräfin dachte: Dort muß etwas geschehen sein. Sie bekam auf einmal heftige Angst um Christli. Der zarte, blasse Bube, – wer weiß, was man mit ihm angefangen hatte! Oh, sie wußte wohl, die Base Gundolfine konnte böse sein!

»Kasperle,« sagte sie ängstlich, »wache auf! Wir sind gleich da.«

»Wo denn?« Kasperle rieb sich die Augen. Erst wußte er gar nicht, wo er war, als aber die Gräfin sagte: »Kasperle, sei brav und schrei nicht! Wir kommen jetzt nach Himmelhoch,« erschrak er gewaltig, und die Gräfin mußte ihm den Mund zuhalten, sonst hätte er losgebrüllt. Ganz ängstlich kroch er wieder unter den Sitz, Gräfin Agathe wickelte ihn in ein Tuch, stellte noch einen kleinen Reisesack vor, und dann mahnte sie noch einmal: »Kasperle, sei vernünftig, schrei nicht, mache keine Dummheiten!«

»Huhu!« stöhnte Kasperle.

»Jetzt fahren wir zum Schloß hinauf, über die Brücke. Kasperle, sei still!«

Da war Kasperle plötzlich muckstill. Der Wagen rollte in den Burghof hinein, Herr Severin knallte mit der Peitsche und rief: »Hollahe, wir sind da!«

Einer kam angerannt, der brummte: »Wer sind denn wir?«

»Ich bin es.« Die Gräfin schaute zum Wagenfenster hinaus, und der Diener blickte sie etwas verdutzt an. »Ich will den Herzog sprechen.«

»Aber der liegt doch im Bett und schläft!«

»Warum ist denn so viel Licht im Schloß?«

»Der Herzog hat doch morgen Geburtstag!« sagte der Diener.

»Aber sprechen muß ich ihn.«

»Das geht nicht.«

Da war die Gräfin schon ausgestiegen, und der Herr Severin setzte ein Pfeiflein an den Mund und pfiff eine lustige Weise. Die lockte und rief.

»Sei stille!« rief der herzogliche Diener.

Da tat sich die Schloßtüre auf und Kasperle hörte eine gute, wohlbekannte Stimme. Der alte Haushofmeister war es. Der erkannte auch gleich die Gräfin, und merkwürdig, er war gar nicht sehr verwundert.

»Der Herzog steht bald auf,« sagte er und führte die Gräfin in das Schloß. Er führte sie durch einen langen Gang, öffnete sein Zimmer und da – lag Christli auf dem Sofa und schlief.

»Christli – also ist er doch hier!« rief die Gräfin.

Der alte Haushofmeister nickte. »Die Prinzessin Gundolfine hat ihn heute nacht gebracht. Sie denkt aber, es sei Kasperle, und sie will ihn morgen dem Herzog zum Geburtstag schenken.«

Christli hatte das Sprechen gehört, er schlug die Augen auf, sah seine gute Muhme und jauchzte: »Du bist da! Oh, mich hat so eine böse, böse Frau gestohlen!« Und dann erzählte er, wie es gekommen war. Er war beim Purzelbaumen ganz dicht an den Waldrand gefallen und hatte gedacht: »Jetzt bin ich mal ein Weilchen ganz still und lasse Kasperle und Marlenchen nach mir rufen.« Und wie er so dagelegen hatte, war plötzlich ein dunkles Tuch über ihn gefallen, und ehe er noch wußte, wie und was, hatte ihn jemand rasch zusammengerollt, hatte ihm etwas in den Mund gesteckt, und dann hatte er gefühlt, wie er fortgetragen wurde. Darauf wurde er in einen Wagen geworfen, und fort ging es.

Und da war es dem armen kleinen Prinzen Christli ganz übel ergangen. Die Prinzessin Gundolfine hatte ihn eingepackt liegen lassen und ihn sogar manchmal mit dem Fuß angestoßen und gefragt: »Na, Kasperle, wie gefällt es dir, daß du nun hier so still liegen mußt? Warte nur, dir soll es noch arg schlimm gehen!«

Christli hatte zwar das dicke Taschentuch, das ihm der Mann in den Mund gesteckt hatte, herausziehen können, er war aber ganz, ganz still gewesen. Sie halten mich für Kasperle, hatte er gedacht. Nun soll die böse Prinzessin auch erst im Schloß sehen, was für ein Kasperle sie gefangen hat.

Endlich hatte jemand gesagt: »Prinzessin, Sie werden Kasperle noch tot machen, er ist sowieso so still.«

Da hatte die Prinzessin den armen Christli liegen lassen, und als sie spät abends angekommen waren, hatte sie Christli eingewickelt, wie er war, in den Keller tragen lassen wollen. Aber da war der Herzog gekommen, und sie hatte nur noch rasch zu dem Haushofmeister gesagt, er solle das Paket gut in acht nehmen, das sei ihr Geburtstagsgeschenk für den Herzog, und im Keller müsse es liegen.

Der Haushofmeister hatte gleich gedacht: Da steckt eine böse Geschichte dahinter. Er hatte das Paket ausgewickelt und den blassen und erschöpften Christli darin gefunden, den er wohl kannte.

»Es ist schon ein Bote an den Fürsten von Wolkenstein unterwegs,« sagte der Haushofmeister. »Ich habe ihm geschrieben, daß Prinz Christli hier ist.«

»Warum haben Sie nicht nach Torburg zu Christlis Vater geschickt?« fragte die Gräfin erstaunt.

»Ei,« antwortete der Haushofmeister, »der Bürgermeister in Torburg ist ein guter Freund der Prinzessin, der hat ihr sicher geholfen, der und auch die alte Kräuterfrau Mummeline aus Waldrast.«

So hatte Kasperle doch recht gehabt mit seiner Angst.

»Armes Kasperle!« sagte Christli traurig.

Die Gräfin lächelte ein wenig. »Kasperle ist so ein guter Freund, wie du einer bist,« sagte sie. »Nun schlafe aber noch, mein Christli! Und wenn dich die Prinzessin Gundolfine holen läßt, dann gehe ich mit. Ich will es dem Herzog einmal sagen, wie böse sie ist!«

»Ich muß aber Christli wieder einpacken, wie er angekommen ist, denn die Prinzessin soll erst in Gegenwart des Herzogs sehen, wen sie mitgebracht hat.« Der alte Haushofmeister sah ordentlich böse drein, als er von der Prinzessin sprach.

»Wenn sie aber vorher hereinkommt?« Christli wurde nun doch ein wenig ängstlich.

»Ich schließe zu, und die Prinzessin mag mich suchen lassen, wo sie will; sie soll mich erst finden, wenn der Herzog schon aufgestanden ist und in den Thronsaal geht,« sagte der Haushofmeister. »Ich weiß schon allerlei Winkel im Schloß, wo man sich verstecken kann. Heute steht der Herzog auch sehr früh auf, weil so viele Leute kommen, um ihm zu gratulieren.«

Der gute alte Haushofmeister brachte selbst noch etwas zu essen herein, einen Krug Milch dazu, dann nahm er Abschied und sagte: »Na, unser Herzog wird Augen machen, wenn er statt Kasperle seines Bruders Sohn sieht! Ich glaube, – er schämt sich gewiß.«

Und dann ging der Haushofmeister hinaus, schloß sorgsam die Türe zu und sagte draußen zu Veit: »Du bleibst immer in meiner Nähe, und wenn die Prinzessin kommt, warnst du mich.«

Das versprach Veit, und just da klingelte der Herzog. Er wollte aufstehen.

Es ist auch Zeit, dachte der Haushofmeister.

Im Garten der Gräfin Rosemarie

Mitten in dem schönen Garten, der das Schloß der Gräfin Rosemarie umgab, stand Schlaupeterle, wie man ihn nannte, und hielt eine Gießkanne in der Hand. Es war auch Wasser in der Gießkanne, aber Schlaupeterle vergaß das Gießen, weil es ihm gar so gut in dem weiten Garten gefiel. Er war zu Besuch zu seinem Großvater, dem Schloßverwalter, gekommen. Als Ferienbesuch in einem Schloß zu wohnen, das lohnte sich schon! Schlaupeterle stand und staunte. Das Schloß war gerade unbewohnt, denn die Gräfin Rosemarie war mit ihrem Manne, dem berühmten Geiger Michael, in die weite Welt gefahren. Hei, dachte Schlaupeterle, in dem Schloß möchte ich immer wohnen.

Er sah zu den Fenstern empor. Bis auf eins waren sie in den oberen Stockwerken alle geschlossen. Auf dieses eine starrte Schlaupeterle wie auf eine Geburtstagstorte. Er überhörte dabei, daß jemand kam, und er erschrak gewaltig, als ihn der Großvater unversehens auf die Schulter schlug. »Willst wohl ’n Loch ins Schloß gucken?« fragte der.

»Wer wohnt denn da?« Schlaupeterle zeigte mit dem Finger auf das eine offene Fenster.

»Niemand,« brummte sein Großvater. »Zuletzt hat Kasperle in dem Zimmer geschlafen.«

»Kaaa . . .«

»Himmel, Bengel, reiß doch den Mund nicht so auf!« rief der Schloßverwalter. »Ist dir was im Halse steckengeblieben?«

Aber Schlaupeterle bekam den Mund nicht gleich zu: »Kaaa . . .« stotterte er wieder, und da lachte sein Großvater. »Du willst wohl sagen: ‚Kasperle‘?« fragte er. »Ja, der hat da drin gewohnt.«

Schlaupeterle tat nun endlich einen tiefen Seufzer. Klapp! ging der Mund zu, klapp! riß ihn der Bube wieder auf und schrie: »Das ist ja ’n Märchen!«

»Unsinn, Wahrheit ist’s! Hast du denn noch nie etwas vom Kasperle gehört?«

»Nä!« schrie Schlaupeterle. »Den gibt’s nicht – nur auf dem Jahrmarkt.«

Da besann sich der Großvater, daß Schlaupeterle von weit hergekommen war und darum nichts von Kasperle wissen konnte. Er setzte sich an ein Beet, auf dem die Tulpen bunt blühten, und sagte: »Stell mal deine Kanne hin, Schlaupeterle; ich will dir von Kasperle erzählen. Aber – «

Vorsicht! konnte der Großvater nicht mehr sagen, denn Kanne und Schlaupeterle waren vor lauter Eifer schon zusammen in das Tulpenbeet gerutscht. »Dumm!« rief der Schloßverwalter, und Schlaupeterle dachte erschrocken: Nun gibt es keine Geschichte.

Es gab aber doch eine. Schlaupeterle mußte sich in die Sonne setzen und sich trocknen lassen, und der Großvater erzählte dazu von Kasperle.

»Vor Jahren, als die Gräfin Rosemarie, der jetzt das Schloß gehört, noch ein Mädchen war, das mit Puppen spielte, hat Meister Friedolin, der in einem Waldhaus wohnt, einmal in einem alten Schrank ein Kasperle gefunden. Ganz verstaubt hat es ausgesehen, aber wie ihm die Sonne auf die Nase geschienen hat, ist es putzlebendig geworden.«

»Nä, das gibt’s nicht!« schrie Schlaupeterle.

»Doch, das gibt es! Halt den Schnabel!« brummte der Schloßverwalter. »Das Kasperle ist vielleicht noch das einzige richtige Kasperle auf der Welt. Es hatte beinahe hundert Jahre in dem Schrank geschlafen, aber nun ist es wieder lebendig und sehr unnütz, Potztausend ja! Erst ist es im Waldhaus ausgerissen, ist nach Protzendorf gekommen und hat dem Bauer Strohkopf den Kuchen vor der Nase weggegessen. Dann ist Kasperle Gänsehirte geworden, hat nichts wie Dummheiten gemacht und ist schließlich dem Grafen von Singerlingen auf den Wagen gesprungen. Hier im Schloß war Hochzeit, und da ist Kasperle mit dem Grafen angekommen. Jemine, was hat er da für Dummheiten gemacht! In die Schlagsahne ist er gefallen, in unseres Herzogs Bett hat er sich gelegt, bestraft sollte er werden, aber die Gräfin Rosemarie hat ihn gerettet und in ihr größtes Puppenbett gelegt. Dann ist Kasperle ausgerissen, ist nach einem Dorf, Waldrast heißt es, zum Schulmeister gekommen, hat dort den Kindern das Kaspern beigebracht. Aber des Schulmeisters Base Mummeline hat Kasperle verraten. Da sind Landjäger gekommen und haben Kasperle fangen wollen, denn der Herzog August Erasmus hat eine hohe Belohnung dem versprochen, der ihm Kasperle bringt. Doch Kasperle ist noch glücklich entwischt, ist weit, weit in den Wald hineingelaufen und hat schließlich nach etlichen Tagen das Michele, einen Geißbuben, getroffen. Der ist nun dem Kasperle ein treuer Freund gewesen und ist es noch, und Kasperle hat ihm auch ein sehr großes Opfer gebracht. Doch das kommt erst später.

Nahe bei Micheles Hüteplatz hat ein Jagdschloß des Herzogs August Erasmus gestanden. In dem hat Kasperle gewohnt, bis auf einmal der Herzog gekommen ist. Kasperle hat sich in einer geheimen Kammer versteckt, und alle haben gedacht, es sei ein Gespenst im Schloß, bis sie gemerkt haben, daß Kasperle die halbe Räucherkammer leer gefressen hatte. Ei du lieber Himmel, war das eine Aufregung im Schloß! Schließlich ist Kasperle doch entwischt, ist nach Torburg geflohen, hat dort bei Meister Helmer, der den allerschönsten Garten weit und breit besitzt, gewohnt, bis er auch da entdeckt worden ist. Meister Severin, ein Geiger, der es versteht, allen Instrumenten eine Seele zu geben, hat gewußt, wo das Waldhaus ist, und der hat das Kasperle endlich heimgebracht.«

»Uff!« Schlaupeterle seufzte tief. »Wohnt er nun wieder da?« fragte er.

»Jetzt, ja. Aber eine Zeitlang ist er beim Herzog August Erasmus auf Burg Himmelhoch gewesen. Inzwischen ist nämlich Michele, den Meister Severin zu sich genommen hatte, ein berühmter Geiger geworden; der hat die schöne Gräfin Rosemarie geliebt.«

»Die spielt doch noch mit Puppen!« schrie Schlaupeterle.

Doch sein Großvater sagte: »Dummpeterle, sie ist halt gewachsen, nur Kasperle nicht. Der ist klein geblieben und ein Schelm dazu. Aber ein gutes Herz hat er, und im Waldhaus haben ihn alle lieb. Herr Severin hat nämlich Meister Friedolins Pflegetochter, die schöne Liebetraut, geheiratet. Und als einmal der berühmte Geiger Michael zu Besuch gekommen ist, hat das Kasperle gehört, daß dessen Geige geweint hat. Und Michele hat ihm von der Gräfin Rosemarie erzählt. Kasperle aber, der gute kleine Schelm, hat einen Brief an den Herzog August Erasmus, der ihn noch immer gern hat haben wollen, geschrieben. Der Brief lautet so:

Hähr Härzog iich Kasperle wil bai diech gomen und fiel Schbaasen magen wen Krefin Rohsemarie heurathen dut main Freund Michele. Un ich reisse niemalen auhs, nuhr wen du sackst: gäh sum Teifele Kasperle. Dan gäht Kasperle – ahber for immer. Schmaise auch ainen Briff übber die Gränze miht dain Wort. Dann gomd bästimt

Kasperle.

Und danach ist das Kasperle wirklich zum Herzog gegangen, und unsere schöne Gräfin Rosemarie hat den Geiger Michael geheiratet. Hier im Schloß war die Hochzeit, und Kasperle ist –«

»Herzog geworden,« schrie Schlaupeterle.

»Gott bewahre! Unser Herzog August Erasmus lebt doch noch. Der ist noch gar nicht so alt, ja, man sagt, er werde bald heiraten, was recht gut wäre. Er ist schon etwas wunderlich, und Kasperle, das arme Kasperle, hat es arg schwer bei ihm gehabt. Die Prinzessin Gundolfine, des Herzogs Base, hat Kasperle nicht leiden können, weil der ihr hier die falschen Haare mit einem Zweig vom Kopf gezogen hat und dann in ihre Haubenschachtel gefallen ist. Auf Burg Himmelhoch haben sie Kasperle in einen Turm, auch mal in ein Kellerloch gesperrt, und der kleine Schelm hat viel ausstehen müssen.«

»Pfui!« rief Schlaupeterle ganz entrüstet, »ich wär‘ davongelaufen!«

»Ja, schlimm war es schon, aber davonlaufen konnte das brave Kasperle nicht; er hatte doch sein Wort gegeben zu bleiben, bis der Herzog ihn selbst zum Teufel schicken würde. Na, und so etwas hat unser Herzog eben nicht gleich gesagt, und es war auch gut; Kasperle hat so das traurige Marlenchen kennen gelernt und hat den Ring gefunden, den der Vater des traurigen Marlenchens, der Herr von Lindeneck, gestohlen haben sollte. Da ist aus dem traurigen Marlenchen ein lustiges Marlenchen geworden, und schließlich ist Kasperle auch frei gekommen. Er hat nämlich den Herzog an der Zehe gefaßt in der Nacht, und da hat der wütend gerufen: ‚Geh zum Teufel!‘ und wutsch! ist mein Kasperle ausgerissen. Nicht zum Teufel, bewahre, sondern zu dem guten Grafen von Singerlingen ist er gelaufen, und der Graf hat ihn ins Waldhaus zurückgebracht. Das war dann eine große, große Freude, als Kasperle ins Waldhaus heimkehrte. So, nun ist’s aus.«

»Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie heute noch,« sagte Schlaupeterle zufrieden.

»Dummer Bub!« rief sein Großvater. »Die Geschichte ist doch erst vorigen Sommer passiert, und natürlich leben alle noch purzelvergnügt im stillen Waldhaus zusammen. Nur unsere schöne Rosemarie und ihr lieber Mann sind just auf der Reise in fremden Ländern.«

»Ich will auch hin,« schrie Schlaupeterle.

»Na, da mußt du noch viel lernen, ehe du in die weite Welt reisen kannst,« brummte der Schloßverwalter.

»Nä, nicht dahin, in das Waldhaus will ich,« rief Schlaupeterle.

»Ach so! Na ja, zum Kasperle würdest du ganz gut passen. Aber damit ist es jetzt nichts; jetzt gieße erst mal die Blumen.«

»Ja,« rief Schlaupeterle, »und dann gehe ich ins Waldhaus.« Er nahm die Gießkanne und goß alles Wasser, das noch darinnen war, einer Tulpe über den Kopf. Die ertrank beinahe, und der Großvater brummte: »Dummpeterle könntest du eher heißen als Schlaupeterle. Laß lieber das Gießen sein! Geh in das Schloß und iß dein Abendbrot!«

Dies ließ sich Schlaupeterle nur einmal sagen. Er ließ die Gießkanne stehen, wo sie stand, lief hinein, aß drinnen einen ganzen Berg Wurstbrote auf, legte sich dann in sein Bett, schlief wie ein Rätzlein und träumte die ganze Nacht von Kasperle, Marlenchen, dem Herzog und der bitterbösen Prinzessin Gundolfine. Es war ein wunderschöner Traum, und als Schlaupeterle aufwachte, wäre er am liebsten eins, zwei, drei in das Waldhaus gelaufen. Doch wo das lag, sagte ihm niemand, sein Großvater hatte es allen verboten. 1

  1. Was der Schloßverwalter hier dem Schlaupeterle von Kasperles Vorgeschichte erzählt, ist kurz der Inhalt der zwei ersten Kasperle-Bände von Josephine Siebe, die ebenfalls im Herold-Verlag Levy & Müller in Stuttgart erschienen sind, und deren Titel »Kasperle auf Reisen« und »Kasperle auf Burg Himmelhoch« lauten.

Eine aufregende Geschichte

Torburg war keine große Stadt, und ein Gerüchtlein lief schnell durch seine Gassen. Die vier Buben Maxel, Hansjörg, Friedel und Fritze erzählten jedermann, der Professor Schnappel wolle das putzlebendige Kasperle von Meister Severin totmachen und in Spiritus setzen. Ein paar lachten darüber, aber alle Kinder glaubten das Gerede. Fritzes Mutter glaubte es auch. Die war eine Frau Bäckermeisterin, bei der viele Torburger ihre Wecken kauften, und an diesem Nachmittag bekamen alle Kunden zum frischen Kaffeeweck die Neuigkeit als Zugabe: »Wissen Sie schon? Das Kasperle soll in Spiritus gesetzt werden!«

»Jemine, wie graulich!« riefen ein paar Frauen, und auf dem Heimweg erzählten die es der Fleischermeisterin Hals an der Ecke vom Neumarkt, der Professor Schnappel wolle Kasperle in Spiritus setzen.

»Ach, Unsinn!« sagte die heitere Frau lachend.

»Ist kein Unsinn,« redete jemand dazwischen. Das war Dörte, des Professors Magd. »Er will es wirklich! Er setzt alles in Spiritus, was er studiert. Und er hat gesagt, er wolle Kasperle studieren. O je, o je, das arme liebe Kasperle! Tot weinen könnt‘ ich mich!«

Na, wenn es die Dörte selbst sagte, dann mußte es doch gewiß stimmen.

Das Gerüchtlein bekam auf einmal Siebenmeilenstiefel, rannte durch alle Gassen, und am Abend redete ganz Torburg davon, der Professor Schnappel wolle das Kasperle in Spiritus setzen. Immer weniger Leute lachten darüber, immer mehr glaubten es. Einige sagten trotzdem: »Unsinn!«, viele verlangten, man müsse es dem Bürgermeister sagen. Ja, zwei Frauen gingen sogar in des Bürgermeisters Haus. Doch der hatte zuviel von seinem Lieblingsgericht gegessen, das lag ihm im Magen, und als die Frauen ihm die schreckliche Geschichte mitteilten, knurrte er: »Meinetwegen kann er den Kasper in die Tinte setzen. Kasperles sind nur unnütze Dinger.«

Das war hart. Alle, die das Gerücht glaubten, bekamen das größte Mitleid mit Kasperle, und die Buben, die sich seine Freunde nannten, wurden von den andern Buben und Mädels lebhaft beneidet. Sie durften Kasperle beschützen, das war doch einmal etwas.

In Meister Severins Hause redete niemand von der furchtbaren Geschichte. Kasperle hatte zwar gesagt, der Professor wolle ihn in Spiritus setzen, doch Meister Severin hatte nur darüber gelacht und die andern mit ihm.

Am Nachmittag nahm Herr Severin das Kasperle mit in sein Zimmer hinauf, er wollte dort auf einer uralten Geige spielen. Da saß Kasperle still und geduldig auf dem Fensterbrett, lauschte den feinen, frommen Tönen und sah ganz, ganz anders aus als sonst. Immer ging es Kasperle so. Wenn Herr Severin oder sein Michele spielten, dann mußte er an die ferne schöne Insel denken, von der er doch gar nicht wußte, wo sie lag. Irgendwo im Weltmeer. Viele Blumen blühten dort, und nur Kasperles wohnten da. Aber alles wußte Kasperle nur wie einen schönen Traum, den er vor langer, langer Zeit geträumt und halt wieder vergessen hatte.

Nachher spielte Kasperle noch ganz brav, ohne lautes Getöse im Garten. Frau Liebetraut, die darinnen mit Mutter Annettchen zusammen saß, rief ein paarmal Kasperle, und dann antwortete Kasperle jedesmal: »Ja.«

Endlich rannte er in das Haus, kam bald wieder zurück und schrie: »Ich kann’s.«

»O lieber Himmel! Was für eine Dummheit kannste wieder?« fragte Mutter Annettchen.

Da setzte sich Kasperle auf einen Stuhl, nahm ein Buch in die Hand und sah dann plötzlich so aus wie drüben der Professor Schnappel.

»Aber Kasperle,« rief Frau Liebetraut, »du sollst doch nicht immer Gesichter schneiden! Der Herr Professor –«

Wutsch! hatte Kasperle ein bitterböses Teufelsgesicht aufgesetzt. »Er will mich in Spiritus tun,« rief er, »er ist schlimm.«

»Bewahre, der ist nicht schlimm!«

Kasperle glaubte sonst der schönen Frau Liebetraut alles, das glaubte er ihr aber doch nicht, und er rief trotzig: »Er ist doch bös!«

Frau Liebetraut antwortete nicht, denn Herr Severin kam gerade in den Garten, schwenkte einen Brief und rief: »Von Michael und Rosemarie.«

Hei! Da vergaß Kasperle allen Ärger über den Professor. Der Michele und seine Frau, die schöne Gräfin Rosemarie, das waren seine lieben, lieben Freunde. Er zappelte auf dem Stuhl herum vor Freude, wie ein Fischlein auf trockenem Land. Endlich hörte er etwas von ihnen! »Hallo, wo sind sie?«

»Kasperle, schrei nicht so arg!« sagte Herr Severin. »In Italien sind sie, und über das Meer wollen sie fahren, nach Ägypten, nach Indien, weit, weit in die Welt hinein.« Und dann las er den Brief vor, und weil Frau Liebetraut so sehr bat, spielte er auf einer kleinen Orgel innen im Haus noch lange schöne Weisen. Da hörte Kasperle wieder zu, und dann ging er brav und still in sein Bett; eins, zwei – da schlief er schon.

Er wachte auch so brav auf, und Frau Liebetraut selbst führte ihn hinüber zu seinem Freund Christli. Weil die Sonne hinter den Wolken Versteck spielte und der ganze Himmel nach Regen aussah, spielten Christli und Kasperle in dem Zimmer. Kasperle kasperte lustig herum. Christli lag auf einem Ruhebett und lachte. So verging beiden die Zeit.

Endlich kam die Gräfin Agathe herein und erzählte: »Kasperle, draußen stehen etliche Buben; sie sagten, sie müßten dich schützen und dich heimholen. Bist doch ein arg dummes Kasperle! Brauchst dich doch nicht zu fürchten!«

Doch Kasperle war das Heimholen schon lieb. Er wurde denn auch mit großem Jubel von seinen Freunden empfangen. Die aber bettelten heut: »Kaspere uns doch einmal etwas vor!«

Ach lieber Himmel, wie konnte da Kasperle nein sagen!

Er schnitt gleich seine allernärrischsten Gesichter, lachte und heulte, sprang und purzelbaumte, erst langsam, dann schneller und schneller und –

Ein gellender Schrei ertönte. Von den Buben unbemerkt war ein Herr über den Kirchplatz gekommen, der nahm das Kasperle am Hosenbödle und sagte: »So, nun hab‘ ich dich wieder.«

Es war der Professor Schnappel.

Ehe Kasperles Beschützer zu Hilfe kommen konnten, klappte die Haustüre, und Kasperle war in des Professors Haus. Nur sein Gebrüll tönte auf dem Kirchplatz, und das fuhr Maxel, Hansjörg, Friedel und Fritze in die Beine. Sie rannten, Hilfe zu holen. Zuerst ging’s auf den Schulplatz. Da quirlten Buben und Mädel herum, und Hansjörg brüllte als erster: »Jetzt steckt er ihn in Spiritus!«

Das Echo seiner Kameraden folgte gleich, und ein paar Augenblicke standen die Kinder alle wie erstarrt. Sie wußten nicht recht, waren die Buben übergeschnappt oder nicht. Aber da begann Hansjörg, der eine Stimme wie ein kleiner Löwe hatte, zu erzählen, und kaum war er fertig, gab es ein Zetergeschrei: »Er darf ihn nicht totmachen und in Spiritus setzen. Wir wollen Kasperle befreien.«

Kasperle war den Torburger Kindern eine ungeheuer wichtige Persönlichkeit geworden seit dem Tage seiner Ankunft. Recht gesehen hatten ihn freilich nur die vier Buben, aber geredet hatten sie alle von ihm. Und neugierig waren sie alle, und riesengroßes Mitleid hatten sie auch alle. Mädel, Buben, Große, Kleine, alle schrien sie aufgeregt durcheinander. Alle wollten gleich vor des Professors Haus ziehen, doch da rief Maxel bedeutsam: »Es müssen Große mitgehen.«

Ja, Große, ganz Torburg mußte mitlaufen, dann würde der Professor schon das Kasperle herausgeben.

»Wir laufen über den Markt.« Hansjörgs Stimme schrillte wieder.

»Aber vielleicht sitzt er schon im Spiritus!« ertönte es klagend. Die kleine Lisabeth, die ein sehr weiches Herzelein hatte, rief es. Und tropf, tropf! rannen ihr auch schon ein paar Tränlein aus den Augen.

Das steckte an: drei, vier Mädel schluchzten auf, doch Hansjörg brüllte: »Stille! So fix kommt er doch nicht in Spiritus. Marsch jetzt!«

»Übern Markt, übern Markt!« brüllten die andern, und die ganze Gesellschaft setzte sich in Bewegung. Es war gerade Wochenmarkt gewesen. Die Verkäuferinnen rüsteten sich just zum Abräumen und Einpacken, als heidi! mit Gelärm und Geschrei die ganze Kinderschar dahersauste. »Er setzt ihn in Spiritus, er setzt ihn in Spiritus! Hilfe, Hilfe!«

»Gott bewahre mich!« Die dicke Händlerin Freudenreich setzte sich gleich platt auf einen Haufen zusammengekehrter Marktreste nieder. »Was soll das? Was heißt das? Wer sitzt im Spiritus?«

»Kasperle, Kasperle!« kreischten die Kinder. »Der Professor Schnappel setzt ihn in Spiritus.«

»Unsinn!« rief eine handfeste Bäuerin. »Er will ihn gewiß nur abwaschen.«

»Nein, er macht ihn tot.«

»Unsinn!« riefen noch zwei andere Frauen, aber da kreischten die Kinder so mörderlich »Hilfe, Hilfe!«, daß es den Marktfrauen himmelangst wurde.

»Erzählt mal!« rief die Bäuerin. Und weil sie sah, daß Hansjörg seinen Schnabel am allerweitesten aufreißen konnte, nahm sie den Buben beim Genick, stellte ihn auf einen abgeräumten Tisch und gebot: »Der erzählt, ihr andern haltet’s Maul! Verstanden?«

Das war deutlich. Die Torburger Kinder schwiegen denn auch plötzlich muckstill, und Hansjörg begann zu erzählen. Als er in seiner Rede bei dem Ergreifen Kasperles durch den Professor Schnappel anlangte und beweglich Kasperles Gebrüll nachahmte, fielen alle Kinder ein: »Hilfe, Hilfe! Er steckt ihn in Spiritus!«

»Potz Donnerwetter! Was ist das für ein ungehöriger Lärm?« dröhnte eine laute Stimme in das Gekreisch hinein. Der Polizeiwachtmeister Stöterlein stand da und sah ungeheuer grimmig aus.

Die Händlerin Freudenreich, die eben erst von ihrem Gemüsehaufen aufgestanden war, plumpste vor Schreck gleich wieder um. Die Kinder aber ließen sich durch den barschen Ton nicht abschrecken. Der Wachtmeister Stöterlein kam ihnen gerade recht. Sie brüllten ihm in die Ohren: »Er steckt ihn in Spiritus; er macht ihn tot.«

»Wer? Was? Heiliger Bimbam! Was soll das heißen?«

Und wieder sagte die handfeste Bauersfrau: »Stille, ihr andern. Der da soll erzählen.«

Da kam Hansjörg wieder auf den Tisch, und er erzählte mit noch mehr Wichtigkeit als vorher das schreckliche Geschehen. Geraubt hatte der Professor Schnappel das Kasperle, und in Spiritus wollte er es stecken.

Die Kinder kreischten, ihre Stimmen gellten über den Markt, gellten den würdigen Ratsherren und dem Bürgermeister in die Ohren. Die kamen gerade von einer wichtigen Sitzung und beschauten sich etwas verwundert das ungewöhnliche Getriebe auf dem Platz.

»Komm mal mit!« Hansjörg schwebte durch die Luft, der Wachtmeister Stöterlein hatte ihn am Kragen gepackt, schwenkte ihn wie eine Fahne und setzte ihn gerade vor die weisen Herrn vom Rat der guten Stadt Torburg nieder. »Da, der soll’s sagen!« brummte der Wachtmeister.

Hansjörg war wie ein Held an diesem Tage. Alle guten Geister – konnte der kleine Dreikäsehoch schreien! Seine Stimme schmetterte den Ratsherren in die Ohren, und kaum war wieder der Schluß da, als Kinder und Marktfrauen aufkreischten: »Er setzt ihn in Spiritus, er macht ihn tot!«

»Zum Kuckuck, was geht uns so ein dummer Kasper an!« rief der Herr Bürgermeister.

Doch da wandten sich alle entrüstet dem Stadtoberhaupt zu, und selbst die Bauersfrau, die zuerst »Unsinn!« gesagt hatte, rief nun, dies sei nicht recht, man dürfe das Kasperle nicht so im Stich lassen. In Spiritus dürfe er nicht gesetzt werden, außerdem würde dann die neue Fürstin bitterböse werden, denn die habe gesagt, das Kasperle könnte sie gut leiden.

»Man muß ihn retten, man muß ihn retten!« Immer mehr Menschen fanden sich dazu, voller und voller wurde der Markt. Die Marktfrauen kümmerten sich weder um ihre Körbe, noch um ihre Wagen. Stehlen war in Torburg nicht Mode. Alle dachten nur an das Kasperle, und als der Bürgermeister sah, es würde ein richtiger Volksauflauf, herrschte er den Wachtmeister Stöterlein an: »Die andern sollen kommen! Wir wollen mal nach dem Rechten sehen.«

Hurra, das war ein Wort! Hansjörg hob vor Freude gleich ein Bein in die Luft, und dabei verlor er das Gleichgewicht und fiel dem dicksten Ratsherrn an den Bauch. Klatsch, klatsch! Da brannten dem Helden Hansjörg auf einmal beide Backen feuerrot, und da der Ratsherr drohte: »Es gibt mehr,« verschwand der kleine Held für ein paar Minuten im Getümmel.

»Jetzt kommt die Polizei!« Ein Jubelrufen tönte auf, und wieder gellte Hansjörgs Stimme hervor: »Hilfe, Hilfe! Wir retten Kasperle!«

»Donnerwetter, du infamer Bub! Laß doch das Gebrüll!«

Klatsch, klatsch! Diesmal sauste eine Ratsherrenhand auf Hansjörgs Hosenbödle nieder. Da blieb dem das Hilfegeschrei vor Schreck im Munde stecken.

Wahrlich, die vier Freunde mußten an diesem Tag viel leiden für Kasperle. Nach Hansjörg bekam Maxel von Wachtmeister Stöterlein einen Puff, der ihn gleich zehn Schritte weiter beförderte, und da Friedel und Fritze ihr Hilfeschreien unermüdlich fortsetzten, schlug der Herr Bürgermeister eigenhändig jedem auf den Mund, aber ordentlich. Da verging den Buben das Rufen, und so kam es, daß die vier wackeren Helfer ein Weilchen muckstill waren.

Freilich – es dauerte nicht lange.

Als sich der Zug nach dem Kirchplatz in Bewegung setzte, waren alle vier wieder voran und brüllten lauter als vorher. Sie brüllten ein paar Frauen vom Kochherd weg, brüllten den Meister Christoph aus seiner Schmiede heraus und brüllten auf dem Kirchplatz so sehr, daß es sogar die Waldhausleute, die alle in der Gartenstube saßen, hörten. Meister Severin hörte »Kasperle!« rufen. Da lief er flink hinaus und sagte erschrocken im Flur zu seiner Frau Liebetraut: »Wenn unser Kasperle nur keine Dummheit gemacht hat!«

Als Herr Severin auf den Kirchplatz trat, war der voller Menschen. Aus allen Gäßlein, die nach dem sonst so stillen Platze führten, strömten die Menschen herbei. Es war ein ungeheurer Lärm.

Herr Severin wurde aus dem Geschrei nicht klug. Hatte nun Kasperle etwas getan oder war Kasperle etwas geschehen? Doch ehe er das noch erfahren hatte, betrat der Bürgermeister des Professors Haus. Dörte hatte schreckensbleich ob des Getöses die Türe geöffnet. Als sie aber die vielen, vielen Menschen sah, flüchtete sie schreiend in ihre Kammer. Dem Bürgermeister aber folgten die Ratsherren, ihnen nach drängten die andern Leute, am heftigsten jedoch drängten die Kinder voran. Und trotzdem die drei Polizisten von Torburg Katzenköpfe rechts und links austeilten, es half alles nichts. Wer einen Katzenkopf erwischte, schrie »Au!« und puffte sich weiter durch.

So wälzte sich die Menschenmasse durch den weiten Hausflur bis zu der breiten Türe hin, die zu Professor Schnappels Studierzimmer führte. Und just an der Tür bekam ein Ratsherr einen Stoß, er wußte nicht von wem, aber unwillkürlich schubste er den Bürgermeister, und der flog wie eine Schwalbe am blauen Sommertag in das Zimmer hinein.

Von hinten tönten Stimmen: »Sitzt er schon in Spiritus?«

Aber Kasperle saß nicht in Spiritus. Der saß höchst gemütlich auf des Professors Schreibtisch und – fraß Kuchen. Denn »essen« konnte man das Geschlinge bei ihm nicht nennen.

Erst hatte Kasperle ungeheuerlich geschrien: »Ich will nicht in Spiritus, ich will nicht in Spiritus!« und es hatte ein Weilchen gedauert, bis der Professor verstanden hatte, was das Geschrei bedeuten sollte. Da hatte er mit dem Kopf geschüttelt, hatte den Finger an die Nase gelegt und gefragt: »Kasperle, willst du Kuchen essen?«

Wann hätte Kasperle da jemals nein gesagt! Er nickte also sehr eifrig, und als Dörte einen riesengroßen Napfkuchen brachte, vergaß Kasperle halb und halb seine Sorge. Nach dem ersten Viertel schon war er mit dem Professor gut Freund, und gerade hatte er den Napfkuchen halb aufgefuttert, als der Bürgermeister, die Ratsherren, die Polizei und die vielen, vielen Leute erschienen.

»Er ißt Kuchen, er steckt nicht in Spiritus!« schrie Hansjörg. Der war wieder einmal voran und seine lustige Himmelfahrtsnase tauchte neben dem Bürgermeister auf.

»Er ißt Kuchen – er sitzt nicht in Spiritus!« Verwundert, fast ein wenig enttäuscht kam es aus der Menge.

»Wir haben ihn gerettet! Hurra, wir haben ihn gere –«

»Heilloser Bengel, du, halt doch den Schnabel!« Klatsch! bekam Hansjörg wieder eins auf den Mund. Der Bürgermeister selbst schlug diesmal zu, denn in dem stieg ein gewaltiger Ärger empor.

Was weiß aber ein dummes, unnützes Kasperle davon, wie ärgerlich es für einen Bürgermeister und seine Ratsherren ist, auf ein törichtes Gerücht hereinzufallen! Dem Kasperle kam die ganze Sache höchst spaßhaft vor. Er machte noch einmal schluck, schluck! und dann – lachte er, lachte, wie es nur ein Kasperle kann, mit weit aufgerissenem Munde.

Zuerst lachten alle Kinder mit, dann fielen die Erwachsenen ein. Das Kasperle selbst schüttelte sich, Hansjörg wackelte wie ein Uhrpendel hin und her, Maxel bog sich wie ein Bäumchen im Winde, Friedel setzte sich auf die Erde und Fritze fiel vor Lachen auf den Bauch.

Und auf einmal fing auch der Professor zu lachen an, so herzhaft, wie er in seinem ganzen Leben nicht gelacht hatte.

Selbst die Ratsherren schmunzelten, einer lachte sogar gerade heraus. Nur der Bürgermeister lachte nicht. Der war böse, arg böse. Jemine, bei unserem Bürgermeister gibt es bald ein Donnerwetter! dachte der Wachtmeister Stöterlein, der sich seinen Säbel vor das Gesicht hielt, weil er meinte, da könnte ihn niemand dahinter lachen sehen.

Und es gab ein Donnerwetter mit Blitz und Krach und großem Geschrei. Der Bürgermeister hatte das Kasperle vom Schreibtisch gerissen, der Kuchen purzelte hinterher, und eben holte er zu einem tüchtigen Hieb aus, als der Professor ihm die Hand festhielt. »Es ist doch nur ein Kasperle!« sagte er. »Wenn der auf einen solchen dummen Gedanken kommt, ich wolle ihn in Spiritus setzen, dann ist es eben ein Kasperlegedanke. Hm, freilich, mir scheint, andere Leute haben auch manchmal Kasperlegedanken!«

Wutsch! lief da einer zum Hause hinaus, noch einer. Der Wachtmeister Stöterlein war plötzlich verschwunden, drei Ratsherren sagten, sie hätten es sehr eilig. Die Stube leerte sich, das Haus leerte sich. Meister Severin konnte hineinkommen, und im Flur traf er mit dem Bürgermeister zusammen. Der sah aus wie eine dicke, zornige Hornisse. Er rannte ohne Gruß an jedem vorbei, rannte über den Kirchplatz, und zuletzt blieben nur die Kinder übrig. Professor Schnappel wurde sie nicht los, erst als Meister Severin sagte: »Kasperle, renne du voran, aber gleich nach Hause, ja nicht aufhalten!« da rannten auch die Kinder weg.

Sie wollten alle Kasperle in der Nähe sehen. Der purzelbaumte aber eins, zwei, drei! über sie hinweg und wutschte in Meister Severins Haus hinein; ehe Hansjörg ihn noch erreicht hatte, war er schon drin.

Frau Liebetraut, die just auch hatte auf den Kirchplatz hinausgehen wollen, verschloß flink die Türe. Kasperle aber steckte den Kopf durch ein kleines Flurfenster, schnitt erst ein Räubergesicht, dann grinste er, und zuletzt versprach er ihnen: »Heute nachmittag komme ich raus.«

»Hurra, hurra!« brüllten die Kinder. »Fein wird das, fein!« Hansjörg aber versuchte gleich einen Purzelbaum zu schießen. Er stieß dabei Maxel an die Nase, verlor das Gleichgewicht und kollerte eine kleine Anhöhe hinab. Und die andern alle, Buben und Mädel, kollerten ihm vergnügt nach, gerade an des Bürgermeisters Hause vorbei.

Der sah es, hörte das Geschrei und brummte finster vor sich hin: »Ich werde der Prinzessin doch schreiben!« Was, das sagte er aber wieder nicht, das schluckte er wieder hinab.

Das feine Marlenchen kommt

Auf einmal hatte Kasperle viele gute Freunde in Torburg gewonnen, denn die ganze Stadt lachte über die Spiritusgeschichte. Da gab es gute Freunde, die jedesmal, so oft sie nur konnten, über den Kirchplatz liefen. Es gab Freunde, die Zuckerplätzchen mitbrachten und die Kasperle Dreierbrezeln schenkten. Es gab solche, die bettelten: »Mutter hat Kuchen gebacken, komm doch zu uns!« Es gab alte und junge Leute, die stehenblieben, wenn sie Kasperle trafen, ihm zuwinkten und fragten: »Wie geht’s, Kasperle?« So viele Freunde hatte Kasperle in seinem Leben noch nicht gehabt. Christli wurde ordentlich eifersüchtig, aber Kasperle sagte stets zu ihm: »Du bist mein bester Freund.«

Viele Freunde hatte Kasperle, aber auch einen bitterbösen Feind. Das war der Bürgermeister. Der vergaß die Spiritusgeschichte nicht. Und da er ein etwas rachsüchtiger Mann war, sann er darüber nach, wie er Kasperle aus Torburg entfernen könnte.

Davon ahnte Kasperle nichts. Der verlebte lustig seine Tage. Wenn er jetzt zu Christli wollte, dann machte er die Reise über des Professors Gartenmauer. Hopps! war er drüben, dann gab es ein Schwätzlein, und dann ging es weiter. Kasperle hatte keine Furcht mehr vor dem Professor. Viel eher hatte er ein wenig Angst vor Christlis Vater, weil der immer so ernst, fast finster dreinsah und dann so sehr dem Herzog August Erasmus glich. Aber bei Christli war es immer vergnüglich. Die Gräfin Agathe, die eigentlich noch eine recht hübsche, stattliche Frau war, war lieb und gütevoll zu dem Kasperle und sah seine Streichlein eben als rechte Kasperlestreichlein an.

Kam Kasperle aus des Fürsten Haus, dann warteten schon seine zweitbesten Freunde Hansjörg, Maxel, Fritz und Friedel auf ihn, und vor dem Mittagessen tobten sie erst noch einmal durch die Gassen.

Meister Severin ließ das Kasperle herumspielen, soviel es wollte. Die Waldhausleute wußten ja nun, in Torburg geschah Kasperle nichts, und das Fortlaufen, ja, davon hatte es genug. Nach dem Walde sehnten sie sich freilich alle, auch Kasperle, und es kam einmal vor, daß er bitterlich zu weinen anfing, als Christli vom Waldhaus erzählt haben wollte.

Ach, das Waldhaus stand ja nicht mehr! Und da sich, trotzdem die Prinzessin Maria nicht den Herzog August Erasmus geheiratet hatte, doch der Herzog mit seinem Nachbar aussöhnte, hätte Kasperle gar nicht mehr im Waldhaus wohnen können. Der Kasperlemann hatte berichtet, der Herzog sei eifriger denn je bemüht, das Kasperle zu fangen. Aber nach Torburg durfte er nicht hinein, das hatte der Fürst verboten. Darum konnte Kasperle im Städtchen herumkaspern, soviel er wollte. Es gab nur ein paar brummige Grillenfänger, die das Kasperle nicht leiden mochten, die meisten hatten den kleinen Schelm gern und freuten sich, wenn sie ihn in seinem grasgrünen Kittel von weitem sahen.

Kasperle trug ein grasgrünes Wämslein nach dem andern ab, aber er wollte keine andere Farbe, und als ihm einmal Frau Liebetraut ein blaues nähen wollte und er das dem Christli erzählte, bettelte der »Grün, ach bitte, grün!«

Christli war noch immer ein sehr blasser Knabe. Er spielte wohl einmal ein wenig auf dem Kirchplatz mit den andern Kindern, aber viel Lust hatte er nicht dazu. Am liebsten war er mit Kasperle allein, wie das Marlenchen. Von der kleinen gemeinsamen Freundin sprachen die beiden oft, und vielleicht kam darum Marlenchen eines Tages angefahren, weil sie so große Sehnsucht spürte.

Wieder einmal kopfkegelte Kasperle in Christlis Gärtchen hinein, und er rollte noch über den kleinen Rasenfleck, als er auf einmal ein Glöckchen klingen hörte, fein und hell. Da streckte er sich lang aus, starrte um sich, denn wo war er auf einmal?

Und da sah er Marlenchen stehen. Die lachte über des Kasperles großes Erstaunen, kam näher und tippte ihn sacht mit einem Fingerlein an. »Kasperle, kennst mich wohl nicht mehr?«

Jemine, Kasperle und das Marlenchen nicht kennen! Heidi, hopsassa! sprang er empor, und im nächsten Augenblick tanzte er mit dem Marlenchen im Garten umher und sang dazu:

»Marlenchen ist da,
Trallalala!«

»Was schreit Kasperle nur gar so arg?« fragte die Gräfin, die in den Garten kam.

Marlenchen hielt sich beide Hände vor ihr Gesichtlein und rief kichernd: »Aber er singt doch!«

Ja, wenn Kasperle sang, das klang freilich nicht so schön, wie wenn es Frau Liebetraut tat. Er sang aber gleich noch einmal, als Marlenchen erzählte, sie würde nun vier lange, schöne Sommerwochen bleiben. »Bis Jahrmarkt gewesen ist,« fügte sie hinzu.

Richtig, es stand ja Jahrmarkt bevor in Torburg. Der war weit bekannt, und viele Leute kamen dazu in die Stadt.

»Was willste denn auf dem Jahrmarkt?«

»Doch mal ein Kasperle sehen!« rief Marlenchen schelmisch.

Da drehte und wand sich Kasperle, schnitt Gesichter und schrie: »Dann brauchste nicht auf den Jahrmarkt gehen; hurra, jetzt gibt’s ’ne Vorstellung!«

Und es gab eine lange, lustige Vorstellung, und es gab einen ganz vergnügten Vormittag. Selbst Fürst Helmrich, der in seinem Studierzimmer saß, lachte manchmal, wenn der fröhliche Lärm immer heller anschwoll. Und zuletzt gab es noch eine wundervolle Überraschung. Marlenchens Vater besaß einen Garten vor dem Tore, neben Meister Helmers Garten war er, dort sollten die Kinder von jetzt an spielen. Es war ein richtiger großer Garten, der an dem Stadtwald endete. Man konnte sich darin verstecken, konnte auch bei schlechtem Wetter darin sitzen, denn der Garten hatte ein wunderniedliches, kleines Gartenhaus.

Kasperle wäre am liebsten eiligst hingelaufen, aber erst mußte er Mittag essen, und nachmittags hatte er seinen vier neuen Freunden und Meister Christoph versprochen, ihnen etwas vorzukaspern. Und Marlenchen sagte: »Sein Wort muß man halten. Ich gehe mit dir. Den ganzen Tag darf Christli noch nicht spielen.«

Da kasperte denn Kasperle am Nachmittag in der Schmiede, und das feine Marlenchen im weißen Kleid saß da wie ein Sternenprinzeßlein. Die Buben und Trudel und Marie, Maxels und Hansjörgs Schwestern, staunten sie an. Zuerst sahen sie beinahe nur das Marlenchen, bis das plötzlich zu lachen anfing, weil Kasperle ein Gesicht machte wie ihr guter alter Eicke Pimperling. Und Marlenchens Lachen steckte die andern an. Meister Christoph vergaß seine Arbeit, die Buben ihre Schulaufgaben, so lustig wurde es. Zuletzt vergaßen sogar Trude und Marie ihre Scheu vor dem feinen Marlenchen und hockten sich neben sie, und Marlenchen gab jeder eine Hand, und so saßen sie einträchtig wie alte, gute Freundinnen zusammen.

Hatte je die alte Schmiede so viel Lachen gehört! Es weiß niemand, ob sich die rußgeschwärzte Decke, der Amboß, die alten Holzstühle nicht arg darüber verwunderten. Wer kann so etwas sagen! Das Feuer glimmte nur leise, Kasperle stand im rosenroten Schein und trieb seine Narrenspossen. Aber auch Marlenchen saß fein und weiß im rosigen Licht. Und als sie Kasperle einmal ansah, schrie er plötzlich: »Hach!« und fiel klatsch um.

»O Kasperle, was fehlt dir denn?«

»Er lacht so sehr,« rief Hansjörg. Denn Kasperle hielt sich die Hände vor das Gesicht.

»Nein, er – weint,« sagte Marlenchen tief erschrocken.

Ja wirklich, er weinte. Das lustige, unnütze Kasperle weinte ganz bitterlich.

Warum denn nur? Sie fragten es alle. Und alle Buben wollten Kasperle streicheln und trösten. Aus Marlenchens Gesichtlein aber schwand aller Frohsinn und Trude und Marie streichelten Marlenchen, ja Trude sagte sogar etwas vorwurfsvoll: »Aber Kasperle, Marlenchen wird auch gleich weinen!«

»Nä, das soll se nicht.« Wupps! war Kasperle wieder auf, er wischte sich die Tränen aus den Augen, grinste schon wieder und sagte: »Ich möchte nur mal so aussehen wie – Marlenchen. Immer muß ich ein häääßliches Kasperle sein, huhuhu!« Da ging das Geheule schon wieder los.

»Aber Kasperle,« rief Marlenchen, »so gefällst du mir doch gerade, weil du so ein nettes Kasperle bist!«

Da riß Kasperle seinen Mund wie einen Scheffelsack auf. Hui! flog der Kummer zur Schmiede hinaus, und Kasperle fing wieder an zu kaspern. –

Obgleich nun für Kasperle keinerlei Gefahr mehr bestand, riefen die Buben nachher doch: »Wir schützen dich, wir bringen dich heim.«

»Und wir dich,« sagten Trude und Marie noch ein wenig schüchtern zu Marlenchen.

Und so wanderten sie alle miteinander heim. Voran gingen ganz feierlich und ein wenig steif die drei Mädel, hinterher kamen mit etwas Geschubse und Gepuff, mit Lärm und Lachen die vier Buben und Kasperle. Und als sie um eine Gassenecke bogen, kam es so, daß die braven, feierlichen Mädel schon voran waren und die lachenden, unnützen Buben gerade mit dem Bürgermeister zusammenprallten. Huch, schnitt der ein Gesicht! »Geht aus dem Wege!« raunzte er die fünf an.

Die Mädel drehten sich ganz erschrocken um, und Kasperle, der den Feind im Bürgermeister wohl merkte, zeigte mit dem Fingerlein auf ihn und wollte leise zu Marlenchen sagen: »Das ist er.« Aber ihm rutschte seine Stimme aus wie ein Schlitten auf der Eisbahn, und er brüllte die stille Gasse entlang: »Das ist er!«

»Aber Kasperle!« Marlenchen wurde ganz blaß. Der Bürgermeister aber drehte sich um, hob seinen Stock und – da war die Gasse leer.

Marlenchen wurde von allen Kindern gezerrt und geschoben, denn sie konnte vor Angst kaum gehen. Etwas aufgeregt langte die kleine Schar auf dem Kirchplatz an, über den Frau Liebetraut daherkam. Kasperle lief gleich zu ihr hin und berichtete sein neuestes Erlebnis. »Er kann mich nicht leiden, er ist mein Feind,« sagte er. Dazu setzte er ein bitterböses Prinzessinnengesicht auf.

»Aber Kasperle, in der Stadt zeigt man doch nicht mit – Um Himmels willen, Kasperle, was machst du?«

Ja, was machte Kasperle? Er streckte lang seine Zunge heraus, zog drei tiefe Falten über die Stirn und schrie: »So seh‘ ich ihn ’s nächste Mal an.«

»Das laß du lieber bleiben. Sonst verbietet er dir noch das Wohnen in Torburg,« sagte Frau Liebetraut, »und dann kannst du ja wohl wieder zum Herzog ziehen. Ich glaube, da kommt der Herr Bürgermeister zurück.«

Wutsch! war das Kasperle im Hause verschwunden. Die Kinder lachten alle, Frau Liebetraut lachte mit über das mutige Kasperle, denn just lief keine Maus über den Kirchplatz; von dem gestrengen Herrn Bürgermeister war nicht einmal eine Nasenspitze zu sehen.

»Kasperle, morgen früh auf Wiedersehen!« Marlenchen steckte den Kopf durch die Türe. Da saß Kasperle innen niedergeschlagen auf der Treppe und brummelte unwirsch vor sich hin: »Er ist doch mein Feind!«

»Bewahre, Kasperle!« Marlenchen nickte dem kleinen Unnützling noch zu, dann ging sie in das Haus des Fürsten zurück, denn dort war sie als Gast; die Gräfin Agathe war ihre Tante.

Die andern Kinder liefen auch heimwärts, und die vier Buben spielten an diesem Abend auch »Kasperle« zu Hause. Dabei zerschlug Hansjörg einen Milchkrug, und Fritze fiel mit seinem blonden Schopf in den Suppenteller. Die Eltern sagten, nötig wäre so etwas gerade nicht, aber ein bißchen lachen taten sie doch alle. Und böse waren sie dem Kasperle auch nicht. Nur die Eierfrau Grumbach, die neben Fritzes Elternhaus ihr Büdchen hatte, schalt, es sei gerade so, als ob in Torburg ein Gespenst herumgeisterte, denn etwas wie ein Gespenst sei das Kasperle.

»Ha, fein!« schrie Fritze. »Ich will ihn mal fragen, ob er bei dir herumgeistern will. Dann sollste mal sehen!«

Doch davon mochte die Eierfrau nichts wissen. Ja, sie zeterte, und als sie am nächsten Morgen etliche zerbrochene Eier aus ihrem Eierkorb heraussuchte, da rief sie: »Gewiß hat der Kasper heute nacht hier herumgegeistert!«

»Ich sag’s ihm!«

Daß der Fritze doch auch alles hören mußte! Frau Grumbach war sehr ärgerlich, und sie rief dem Buben noch nach: »Ich werfe dem Kasper alle schlechten Eier an den Kopf. Da, wie dir!« Und schwapp, schwapp! warf sie zwei Eier, aber leider traf eins die Frau Bürgermeisterin, die gerade einkaufen wollte, und rann als gelbe Tunke von dem neuen Sommerkleid herab. Das andere fiel dem Schuster Feierabend in den Schoß, der gegenüber auf seiner Hausbank saß und ein paar Schuhe flickte. Wütend warf er Frau Grumbach die Schuhe zu. »Da, das sind Ihre!« Einer davon rutschte in das Sirupfaß, das der Türe nahe stand.

Da gab es viel Geschrei und Geklage im Gäßchen. Und Frau Grumbach blieb dabei, dies alles sei Kasperles Schuld. Auch die Frau Bürgermeister sagte dies zu ihrem Mann. Da schlug der mit der Faust auf den Tisch und schrie: »Ja, er muß fort, er darf nicht in Torburg bleiben.«

»Vielleicht nimmt ihn der Kasperlemann mit, wenn Jahrmarkt ist,« sagte die Frau Bürgermeisterin.

»Oder –« Der dicke Herr Bürgermeister schluckte, und niemand erfuhr, was »oder« bedeuten sollte, selbst seine Frau nicht, soviel sie ihn auch fragte. Wenn der Bürgermeister nicht reden wollte, sagte er »Punktum!«, und dann half alles Gefrage eben nichts mehr.

Im Garten vor dem Tore

Von all den Untaten, die man ihm zuschrieb, ahnte das Kasperle nichts; kein Wörtlein wußte er davon. Er wachte putzmunter auf, schmauste vergnügt sein Frühstück, hörte ein Weilchen still und fromm Meister Severin zu, und dann flitzte er in den Garten und purzelbaumte über das Mäuerlein, schwätzte mit dem Professor Schnappel und langte endlich bei Christli und Marlenchen an.

Die standen schon wohlausgerüstet da, der Diener setzte nun Christli, dem das Gehen noch etwas zuviel wurde, in einen kleinen Wagen, und fort ging es durch das Städtchen vor das Tor in des Herrn von Lindeneck Garten. Wer auf der Straße war, schaute dem Zuge nach.

»Das ist Prinz Christli. Wie blaß er noch aussieht!« riefen ein paar Frauen.

»Ei, und das feine Marlenchen ist da!«

»Ja, und sie geht mit dem Kasperle!«

Kasperle blähte sich auf wie ein Fröschlein, das gerade quak, quak! geschrien hat. Er bemerkte wohl die bewundernden Blicke und sah das feine Marlenchen an, als gehöre die ihm ganz allein. Potzhundert, wer hatte im Städtchen noch eine solche Freundin!

»O Kasperle, du fällst ja!«

Da lag Kasperle schon auf seiner Nase, die er allzu hoch in die Luft erhoben hatte. Ein wenig verdattert stand er auf, Marlenchen putzte ihm schnell sein grünes Wämslein zurecht, und weiter ging es.

Ein paarmal mahnte Marlenchen: »Kasperle, du mußt nicht so sehr in die Luft gucken, du fällst ja!« Doch Kasperle fiel nicht mehr, und der kleine Zug gelangte ohne Unfall bei dem alten Gärtner Helmer an.

Der begrüßte alle sehr freundlich. Marlenchen kannte er auch schon, und er sagte, sie sollten nur durch seinen Garten fahren, da ginge es schneller.

Sie fuhren die Wege entlang, die Kasperle so wohlbekannt waren, und kamen in des Herrn von Lindeneck Garten. War der schön! So viele Büsche standen in Blüte, und die Wege säumten bunte Blumen ein. Und dann kam das Gartenhaus. Das war wie ein kleines, zierliches Schloß gebaut. Marlenchen schloß es auf, und Kasperle sah in eine wunderfeine kleine Stube hinein. Da gab es einen zierlichen Tisch, gab vergoldete Stühlchen, gab ein Schränkchen mit feinem Geschirr, und Marlenchen sagte: »Hier schmausen wir.«

»Gleich!« schrie Kasperle.

»Nein, aber Kasperle, du kannst doch noch nicht hungrig sein!«

Marlenchen sah ihr Kamerädle ein wenig vorwurfsvoll an, und Kasperle setzte sich beschämt auf einen Stuhl.

Ja, aber was war denn das? »Dideldideldei, dumdumdalla!« klang es, und Kasperle blickte sich ganz verdutzt um. Wer spielte denn da?

Marlenchen und Christli lachten, und da merkte Kasperle endlich, das Stühlchen, auf dem er saß, spielte. War das fein! Am liebsten hätte sich nun Kasperle immerzu auf den Stuhl gesetzt, doch Marlenchen mahnte: »Wir wollen wieder in den Garten hinausgehen!«

Christli wurde in die Sonne gefahren, und nun fing ein fröhliches Spielen an. Die Stunden rannten davon, husch, vorbei! husch, vorbei! Und auf einmal sagte Marlenchen: »Jetzt essen wir Mittag!«

»Ich muß nach Hause!« schrie Kasperle erschrocken. Doch Meister Helmer, der mit einem verdeckten Korb in den Garten kam, sagte, Herr Severin wisse ja, wo Kasperle sei, er solle nur hier bleiben.

»Muhme Agathe hat es Frau Liebetraut gesagt,« rief Marlenchen, »wir dürfen den ganzen Tag bleiben.«

Den ganzen Tag im Garten bleiben dürfen, das war so schön, wie im Waldhaus zu sein.

Nach Tisch mußte Christli schlafen. Marlenchen und Kasperle aber liefen stille, schattige Wege entlang. Sie kamen an ein winziges Wäldchen, hörten ein Quellchen rinnen und sahen plötzlich auf eine weite Wiese. Dahinter lag Wald, stiegen Berge an, und Marlenchen zeigte mit der Hand dorthin: »Da liegt Schloß Lindeneck.«

»Und Himmelhoch.« Kasperle sah gleich wieder bitterböse aus, aber Marlenchen strich ihm mit einem Fingerlein über die krause Stirn. »Darfst nicht so böse dreinsehen.«

»Er ist doch böse, und sie ist noch böser!«

Marlenchen wußte gleich, daß ihr Freund den Herzog und die Prinzessin Gundolfine meinte, und sie sagte bedrückt: »Ja, böse sind sie schon. Aber weißt du, ich denke immer, der Herzog hat nur sein Herztürle zugeschnappt. Macht er’s auf, dann wär‘ es schon gut.«

»Nä, der hat gar keine Türe,« brummte Kasperle.

»Was denn?«

»Ein Kellerloch!«

Da mußte Marlenchen lachen, und Kasperle lachte mit. Sie setzten sich beide auf die niedrige Mauer, schauten über die Wiese nach dem Walde hin, und Marlenchen erzählte ihrem kleinen Freund von Christli, seinem Vater und von der guten Muhme Agathe, ihres Vaters Base. Deren Schwester war Christlis Mutter gewesen. Weil sie aber nur Gräfin, nicht Prinzessin gewesen war, hatte Prinzessin Gundolfine so lange gescholten und dem Herzog die Ohren vollgebrummt, bis der sich mit seinem Bruder gezankt hatte. Damals war der Fürst Helmrich nach Torburg gezogen. Ein Jahr vor Kasperles Ankunft bei Meister Helmer war es gewesen.

»O je,« schrie Kasperle, »da hätte ich ja Christli schon besuchen können!«

»Aber du dummes Kasperle! Da hat er ja noch gar nicht gelebt!« Kasperle seufzte schwer, und dann fing er herzbrechend zu weinen an.

»Kasperle, was fehlt dir? Dummes Kasperle, mußt nicht weinen!«

»Ich bin schon so alt,« schluchzte Kasperle, »und – und – ihr wachst alle groß und – ich – ich bleib‘ immer klein!«

»Aber ich bleibe doch deine Freundin wie Rosemarie und Frau Liebetraut, auch wenn ich groß bin,« versprach tröstend das Marlenchen.

»Aber heiraten tuste mich nicht!« schluchzte Kasperle.

Marlenchen kam es furchtbar komisch vor, daß Kasperle ans Heiraten dachte; sie lachte und lachte. Die Lerchen, die zum blauen Himmel aufflogen, wunderten sich, was da unten am Wiesenrand so wunderlieblich klang. Beinahe ein bißchen eifersüchtig wurden sie. Saß da gar vielleicht eine fremde Lerche auf dem Mäuerlein?

Marlenchens Lachen steckte Kasperle an. Er lachte mit, lachte so laut und vergnügt, daß auf einmal von ferne ein Rufen und Singen kam:

»Wer lacht da so?
Hallallala!
Wer ist so froh?
Tidallala!
Ich kenn‘ die Stimme, kenn‘ den Klang:
Der Kasper lacht am Wiesenhang.«

»Florizel!« schrie Kasperle.

Ja, es war wirklich Florizel, der da vor den Kindern auftauchte. Er setzte sich zu den beiden, erzählte von der Hochzeit im Fürstenschloß und daß er nun eine weite, weite Reise machen wolle.

»Wohin?« fragte Marlenchen.

»Rate einmal!«

»Nach Italien?«

»Falsch! Weiter, weiter!«

»Nach Ägypten wie die Störche?«

»Pah, so nah! Nach Indien will ich mindestens reisen.«

»Suchste meine Insel?« fragte Kasperle nachdenklich.

»Vielleicht finde ich sie, dann hole ich dich. Vielleicht treffe ich in der weiten Welt auch dein Michele und die schöne Rosemarie,« sagte Florizel.

»Nimm mich mit!« bat Kasperle gleich.

»Du kannst doch Marlenchen nicht verlassen und die Waldhausleute!«

Nein, das konnte Kasperle nicht. Er trug aber dem lustigen Spielmann hunderttausend Grüße und noch ein paar darüber auf. Marlenchen pflückte Florizel flink ein Sträußchen zum Andenken, und dann nahm der lustige Spielmann Abschied von den beiden.

Drei Schritte war er gegangen, da drehte er sich noch einmal um und rief: »Kasperle, geh nie allein! Die Prinzessin Gundolfine will dich fangen und dann dem Herzog schenken. Sie denkt nämlich, dann wird er sie zu seiner Frau Herzogin machen.«

»Hach!« Kasperle fiel rückwärts vom Mäuerlein in den Garten zurück, der Spielmann trällerte noch:

»Kasperlein, Kasperlein,
Hüt‘ dich fein
vor der Prinzessin im Nachbarland!
Sie hat eine böse, böse Hand,«

und dann lief er davon.

Kasperle blieb stumm und steif am Boden liegen, und erst allmählich rappelte er sich empor. Er kehrte aber mit Marlenchen so tief betrübt zu Christli zurück, daß der ganz erschrocken nach des Freundes Kümmernissen fragte.

Angst vor der Prinzessin Gundolfine! Diesmal lachte Christli den sonst so lachlustigen Freund aus. »Die darf ja gar nicht ins Land! Der Fürst ist meines Vaters Freund, der hat ihr das Hereinkommen verboten. Vor der Prinzessin brauchst du keine Angst zu haben.«

Kasperles Angst flog denn auch nach diesen Trostworten gleich davon wie ein Schmetterling. Bald dachte er gar nicht mehr daran, und die weiteren Tagesstunden vergingen den drei Kameraden in heiterem Frohsinn.

Viel zu früh, meinten alle drei, war die Heimgehstunde gekommen.

»Noch ein paar Minuten!« bettelten sie.

Doch die Gräfin Agathe, die die drei holen kam, schüttelte den Kopf. Christli mußte ins Bett gehen. Wer so lange krank gewesen war, der mußte noch brav sein und sich pflegen lassen. »Morgen ist wieder ein Tag!«

Ja, morgen und morgen und wieder morgen und immerzu morgen. Heisa! Kasperle machte einen Kopfstand vor Vergnügen über die vielen Tage, die kommen würden.

Nachher tobte er noch ein Weilchen mit seinen andern Freunden auf dem Kirchplatz herum. Der Bürgermeister ging zum ersten Male an diesem Tage über den Platz, und dabei hörte er Kasperle lachen, und er brummte vor sich hin: »Immer lärmt dieses schreckliche Kasperle herum. Ich begreife Meister Severin nicht, daß er sich den Unwirsch im Hause hält.«

Meister Severin aber saß inzwischen an der Orgel in der Kirche und spielte wunderherrlich. Kasperle hörte das Spielen und lief ihm nach. Er stand dann still im Kirchenwinkel, und die schöne Frau Liebetraut fand das kleine Kasperle ganz tränenüberströmt dem Spiele lauschend.

»O Kasperle, was fehlt dir?«

»Ich möcht‘ heim!«

Da fragte Frau Liebetraut nicht: Wohin? Sie ahnte, daß in des Kasperles kleinem Herzen wieder die Sehnsucht nach einer fernen, schönen Urheimat wach geworden war. Sie nahm den kleinen Schelm und führte ihn sacht zu Mutter Annettchen und Meister Friedolin. Die saßen beide geruhsam auf einer Bank im kleinen Gärtchen, und beide riefen sie: »Endlich kommt unser Kasperle!«

Da war das Kasperle einmal wieder daheim bei denen, die es liebten, und es vergaß seinen Kummer und flitzte im Gärtlein auf und ab, flitzte auch über die Mauer und fiel dem guten Professor beinahe in seine Abendsuppe. Doch der schalt nicht, er sah nur das Kasperle wieder einmal kopfschüttelnd an und sagte: »Merkwürdig, sehr merkwürdig! Ich könnte das nicht.«

»So über die Mauer purzelbaumen?« fragte von drüben herüber Meister Friedolin lachend.

Und dann lachten sie alle, hüben und drüben, bei dem Gedanken, der Professor, dieser hochgelehrte Herr, könnte anfangen, Purzelbäume zu schießen.

Kasperle lachte am meisten, und er lachte so lange, bis er vor Müdigkeit beinahe umfiel.

Ihm brauchte nachher niemand mehr ein Wiegenlied zu singen; er schlief im Umsehen ein und schlief einem neuen, schönen Tag entgegen.

Am andern Morgen glänzte die Sonne wieder, und wieder zogen die drei Kamerädles in den schönen Garten. Wieder verlebten sie dort einen wunderschönen Tag, und wieder kam ihnen viel zu früh die Heimgehstunde. Aber wieder blickten viele Menschen den drei Kindern freundlich nach, und wieder brummte der Bürgermeister, als er Kasperles Stimme hörte. Und weil die Kinder gerade Greifen spielten, schrie Kasperle, wobei er Hansjörg meinte: »Da ist er, halt ihn, halt ihn!«

Der Bürgermeister drehte sich wütend um. »Warte du!« rief er wütend.

Aber da jagte die ganze Schar just in ein Gäßlein hinein, und der gestrenge Herr merkte wohl, er war nicht gemeint gewesen. Dies ärgerte ihn noch mehr, und als er am Abend heimkam, ging er in sein Arbeitszimmer und schrieb einen Brief, einen langen, wichtigen Brief.

Am nächsten Morgen, gerade als die drei Freunde nach dem Garten wanderten, trafen sie eine alte Frau. »Hach,« kreischte Kasperle, »das war die Base Mummeline!«

»Wo denn, wo denn?« Marlenchen drehte sich wie ein Kreisel rundum, aber da war niemand und nichts zu sehen. »Kasperle, du träumst,« rief sie.

Da es auch Christli sagte, glaubte Kasperle schließlich selbst, er hätte es geträumt. Und just, als er ein Gesicht wie die Base Mummeline machte, schlich die in des Bürgermeisters Haus hinein und holte den langen, wichtigen Brief, um den heimlich fortzutragen.

Die Weihnachtswiese

Die Weihnachtswiese

Hier waren noch niemals Kinder gewesen; es war ein unbeschreibliches Glück für die beiden kleinen Reisenden, daß ihnen die Nachtfee erlaubte, dies zu sehen. Der Maikäfer durfte übrigens auch mit, denn es wäre doch leicht möglich gewesen, daß der große Bär ihn tottrat oder vielleicht gar auffraß, wenn er mit ihm eine Weile allein geblieben wäre. Ganz bescheiden krabbelte also der Sumsemann hinter den dreien her, als sie nun auf einem Goldkieswege zwischen kleinen, grünen Tannenbäumchen weiterschritten. Die Luft war erfüllt von herrlichem Kuchenduft. Alle Kuchen der Welt schienen hier zu sein – besonders nach Pfefferkuchen roch es. Ein warmer, leiser Wind, der in den Zweigen der kleinen Tannen säuselte, trug ihnen diesen prächtigen Duft zu. Selbst das Sandmännchen bekam davon Kuchenappetit; es wischte sich den Mund sehr umständlich und tat so, als ob es niesen müßte, damit man’s nicht merken sollte. Der Weg, auf dem sie durch das Tannenwäldchen gingen, war mit vergoldetem Schokoladenplätzchenkies bestreut. Das roch natürlich auch gut. Anneliese schnabulierte schnell mal ein Plätzchen, und Peterchen auch. Wirklich, es waren Schokoladenplätzchen! – und was für welche! – hmmm!

Nun waren sie aus dem Wäldchen heraus. Einen Augenblick blieben sie stehen, vor Erstaunen ganz starr über das, was sie jetzt vor sich sahen. Kein Traum hätte jemals etwas so Schönes zaubern können!

Eine weite, weite Landschaft lag vor ihnen: Gärten und Felder, Wälder und Wiesen, Hügel und Täler, Bäche und Seen, von einem goldenen Himmel hoch überspannt. Eine Spielzeuglandschaft war es, die fast so aussah wie eine richtige Landschaft; und doch anders, ganz anders – viel, viel zauberhafter. Nicht wie in einer gewöhnlichen Landschaft wuchsen da Kartoffeln oder Bohnen, Gras oder Klee, sondern hier wuchs das Spielzeug. Alles, was man sich nur irgend denken kann, wuchs hier; von den Soldaten bis zu den Püppchen und Hampelmännern, von den Murmelkugeln bis zu den Luftballons. Auf bunten Feldern und Wiesen, in niedlichen grünen Gärten, an Sträuchern und Bäumchen, überall sproßte, blühte und reifte es.

Eine Bilderbücherwiese war da, auf der alle Bilderbücher wie Gemüse wuchsen. Das sah sehr bunt und vergnügt aus; manche waren noch nicht entfaltet und wie Knospen in ihren Hüllen, kleine Rollen in allen Farben; manche waren schon auf, schaukelten im Winde und blätterten um. Daneben sah man Beete mit Trompeten und Trommeln. Wie Kürbisse und Gurken kamen sie aus der Erde hervor. Nicht weit davon waren große Rasenfelder mit Soldaten bewachsen, die zum Teil schon weit aus der Erde herausguckten, zum Teil noch bis an den Hals darin steckten oder erst mit der Helmspitze hervorsahen wie kleine Spargel. Dann war ein Feld dort, auf dem die Petzbären wuchsen. Ein kleiner grüner Zaun lief rings herum, denn einige von den drolligen Tierchen waren schon reif, von ihren Wurzeln los und purzelten quiekend herum. Auf der andern Seite wieder waren Gärten mit großen und kleinen Sträuchern, an denen Bonbons in allen Farben und Größen wuchsen. Kleine Teiche von roter und gelber Limonade glänzten zwischen Schilfwiesen, in denen aus den raschelnden Halmen silbrige Schilfkeulen wuchsen – die Zeppelinballons, Niedliche, summende Flugmaschinen flogen dort als Libellen herum. Ganz besonders schön waren auch die großen Tannen, an denen die vergoldeten Äpfel und Nüsse wuchsen, und die Pfefferkuchenbäume. Sie standen meistens in Gruppen auf kleinen, runden Plätzen mit Krachmandelkies. Überall hörte man in Bäumchen und Sträuchern eine süße Zwitschermusik. Die kam von den bunten Spielzeugvögelchen, die zwischen Pfefferkuchenzweigen und Bonbonknospen herumhuschten. Sie hatten dort ihre Nesterchen, in denen sie fleißig Pfefferminzplätzchen legten. Viele brüteten auch, damit noch mehr Vögelchen zu Weihnachten auskröchen. Sie sind ja sehr beliebt bei den Kindern auf der Erde; besonders wenn sie mit Plätzchen gefüllt sind – man weiß das. Das Schönste aber, was man hier sehen konnte, war eigentlich der Puppengarten. Ein ganzer Wald von bunten Büschen und Bäumchen auf grünem Sammetrasen, von einem goldenen Zaun umgeben. An den Büschen und Bäumchen saßen Tausende und aber Tausende von Puppen und Püppchen. Wie kleine Blumen wuchsen sie an den Zweigen; zuerst nur Knospen von Sammet oder Seide, dann Blümchen mit kleinen Gesichtern in der Mitte und dann endlich Püppchen oder Puppen mit Haar, Schuhen und Schleifen in allen Größen und Farben. An feinen, silbernen Stielen hingen sie von den Zweigen und konnten abgepflückt werden. Ein kleiner See war auch im Puppengarten, ganz bedeckt mit wunderschönen Wasserrosen. Wenn die aufblühten und ihre weißen oder gelben seidenen Blätter auseinanderfalteten, so gab es einen kleinen, klingenden Knall, und in der offenen Blume lag ein rosiges Badepüppchen. Sehr lustig war das!

Ja, und dann gab’s noch so einen kleinen, seltsamen Wald, ein wenig versteckt in einem tieferen Tal, so seitwärts, hinter einer Marzipanschweinezüchterei. Ganz kahl war’s da, ohne ein Blättchen; nur Bäumchen mit Ruten. Immerfort pfiff ein Wind, daß die Ruten sich bogen. Kein Vögelchen zwitscherte, kein Flugmaschinchen summte; es war nicht sehr freundlich in dem Wald. Man brauchte ihn eigentlich auch gar nicht zu bemerken, so versteckt lag er. Aber er war doch da auf der Weihnachtswiese – der Rutenwald.

Man kann sich wohl denken, wie den Kindern zumute war, als sie alle diese zauberhaften Dinge sahen, während sie an der Hand des Sandmännchens über Krachmandel- und Schokoladenwege, über Zuckerbrücken und Marzipanstraßen hinwanderten zu einem kleinen sanftleuchtenden Berge, der die Mitte des Ganzen bildete. Dort liefen alle Wege und Straßen zusammen auf einen, von Tannenbäumchen umhegten Platz. Auf diesem Platze aber – ja, das war das Allerschönste! stand die goldene Wiege des Christkindchens. Neben der Wiege, auf einem schönen, himmelblauen Großvaterstuhl saß der Weihnachtsmann in seinem pelzverbrämten Rock mit einer silbergrauen Pudelmütze und schneeweißem Bart. Er hatte eine lange, schöne Pfeife mit bunten Troddeln im Munde, aus der er ab und zu großmächtige Wolken in die Luft paffte. Dazu wiegte er leise die goldene Wiege, und über der Wiege schwebte still ein leuchtender Heiligenschein. Es war sehr feierlich, es war sehr schön!

Nun sah der Weihnachtsmann die kleinen Besucher, die da ankamen. Ein freundliches Lächeln huschte über sein Gesicht – er wußte schon Bescheid-, stand auf, kam ihnen entgegen und sagte:

»Ei, ei, das ist mir eine Freude!
Guten Tag, ihr lieben Kinderchen beide,
Und Sandmännchen, und Maikäfermann;
Willkommen hier auf der Weihnachtswiese!«

Und dann gab er den Kindern die Hand. Peterchen war noch ein wenig schüchtern und Anneliese erst recht; es war auch wirklich ein sehr feierlicher Augenblick. Aber der gute Weihnachtsmann streichelte ihnen die Köpfe und die Bäckchen und sagte:

»Nun Peterchen? – nun Anneliese? –
Jaja, ich kenn‘ euch, wißt ihr’s nicht mehr?
Ich kenne euch gut, noch von Weihnachten her!
Artig wart ihr alle beide;
Ich weiß es, ihr macht eurem Mütterchen Freude.«

Die Kinder erinnerten sich natürlich ganz genau, wie der Weihnachtsmann damals gekommen war mit Nüssen und Äpfeln und das Weihnachtsbäumchen gebracht hatte. Wahrscheinlich hatte er auch die vielen anderen schönen Sachen gebracht, die nachher auf dem Weihnachtstisch lagen. Das dachten sie sich jetzt, nachdem sie gesehen hatten, daß hier alles Spielzeug wuchs. Der Weihnachtsmann hatte nämlich damals lange mit Muttchen gesprochen, nachdem sie ihren Spruch schön hergesagt hatten, und dann aus einem großmächtigen Sack, der ihm über den Rücken hing, alles mögliche herausgenommen. Muttchen hatte das schnell in die Weihnachtsstube gebracht; dann hatte der Weihnachtsmann genickt, genau so freundlich wie jetzt, und war verschwunden. Natürlich kannten sie ihn!

Und so faßte Peterchen sich Mut, erzählte, was er vom vorigen Weihnachten wußte, und Anneliese nickte eifrig mit dem Kopf dazu. Ja, es stimmte! Der Weihnachtsmann bestätigte alles so freundlich, daß die Kinder jede Scheu verloren und sich zutraulich an ihn drängten.

Ein sehr spaßiges Männchen sprang da noch mit einer kleinen Gießkanne bei den Weihnachtsbäumen herum und begoß immerfort. Dazu sang es mit seinem dünnen Stimmchen:

»O Tannebaum, O Tannebaum,
Wie grün sind deine Blätter!
Du grünst nicht nur zur Sommerszeit,
Nein auch im Winter, wenn es schneit;
O Tannebaum, O Tannebaum,
Wie grün sind deine Blätter!«

Peterchen mußte plötzlich laut lachen. Der Weihnachtsmann aber erklärte, dies sei das Pfefferkuchenmännchen, sein Gehilfe, der schrecklich viel zu tun hätte mit dem Begießen und Pflegen all der schönen Sachen. Davon wäre er zu Weihnachten so mürbe und braun. Das Männchen sprang zwischen den Bäumchen herum wie ein kleiner Floh und begoß – mit Zuckerwasser!!

Am meisten aber waren die Kinder jetzt neugierig auf das Christkindchen. Auf den Zehenspitzen schlichen sie näher; denn der Weihnachtsmann sagte:

»Es schläft, um sich das Herz zu stärken,
Zu allen seinen Liebeswerken.
Derweil muß ich es wiegen und warten
Hier oben im stillen Weihnachtsgarten.
Und wenn unsre Stunde gekommen ist,
In der Winterszeit, zum heiligen Christ,
Dann weck‘ ich es ganz leise, leise,
Und wir machen uns auf die weite Reise
Durch Nacht und Wälder, durch Schnee und Wind,
Dorthin, wo artige Kinder sind.«

Ja, da lag es, tief in den schneeweißen Kissen, mit goldblonden, strahlenden Locken und schlief. Die Kinder falteten leise die Hände und knieten ganz von selbst neben der Wiege nieder, so schön und so heilig war es. Als sie aber niederknieten, kniete auch der Weihnachtsmann und das Pfefferkuchenmännchen mit ihnen. In demselben Augenblick ging ein wundersames Klingen durch die Luft, als sängen tausend kleine Weihnachtsengelchen das Weihnachtslied. Als Anneliese und Peterchen es hörten, sangen sie unverzagt mit, und ihre Stimmen klangen so schön mit den Engelstimmchen zusammen, daß sie ganz glücklich waren. Während des Gesanges aber fiel vom Himmel herab ein goldener Schnee, der duftete schöner als alle Blumen der Welt. Auf allen Bäumen und Bäumchen ringsum glühten Lichterchen auf, und große Sterne strahlten vom Wipfel jeder Tanne im Garten. Himmelsschön war es eigentlich und gar nicht zu beschreiben. Es war aber schon wieder Zeit zur Reise. Das Sandmännchen winkte zum Aufbruch, und von fernher hörte man auch den Bären brummen und stampfen, der ungeduldig wurde wie ein Pferdchen, das nicht mehr warten will. So gaben die Kinder dem Weihnachtsmann die Hand und bedankten sich sehr schön. Der lachte freundlich und steckte schnell noch jedem ein ganz frisches Pfefferkuchenpäckchen ins Körbchen. Dann nickte er dem Sandmännchen zu, setzte sich in seinen Großvaterstuhl, paffte riesengroße, steingraue Wolken aus der Pfeife und wiegte das heilige Kindchen. Dazu sprang das Pfefferkuchenmännchen im Hintergrunde zwischen den Tannen herum, begoß und sang sein Liedchen. So war alles wieder wie vorher. Die drei Abenteurer aber eilten mit dem Sandmännchen zum Eingangstor zurück, über die Zuckerbrücken und Schokoladenwege, schnell, schnell!

Besonders der Sumsemann hatte es eilig dabei, denn ihm hatte es am wenigsten gut gefallen. Gar nichts war dagewesen für ihn! Lauter Zucker, Marzipan, Mandeln, Rosinen, Limonade, Schokolade! Kein Blättchen gab’s, nur Tannen, Bonbonsträucher und Pfefferkuchenbäume – brrrrrrrr!! Nein, solche Gegend paßte ihm nicht!

Er hatte allerdings einen Kameraden gefunden, einen Spielzeugmaikäfer. Aber als er sich ihm vorstellte, wie sich das gehört, hatte der Kerl bloß gerasselt und geklappert mit seinen Beinen und Flügeln; nicht einmal anständig summen konnte er. Natürlich, er war aus Blech und hatte statt eines klopfenden, ritterlichen Käferherzens nur ein paar blecherne Räder und eine Uhrfeder in der Brust. Aber sechs Beinchen hatte dieser Blechkerl! Das war wirklich ärgerlich! Er, ein echter Maikäfer, wurde von dem Rasselfritzen mit einem Beinchen übertroffen. So packte ihn wieder die grimmigste Sehnsucht nach seinem Beinchen, und emsig, wie ein Feuerwehrmann, wenn’s brennt, lief er neben den Kindern her. Endlich ging’s ja zum Beinchen, zum Mondberg, zur Erfüllung des großen Wunsches der Sumsemänner!

Da taten sich vor ihnen auch schon die Tore auseinander, der Bär stand schnaufend zum Ritt bereit und schüttelte vor Freude den dicken Kopf, daß seine kleinen Reiter wieder da waren. Schnell saßen sie auf seinem Rücken im weichen Fell. Vor ihnen lag die weite Mondlandschaft, hinter ihnen schlossen sich leise die Tore der Weihnachtswiese, und … fort ging’s über den watteweißen, sonderbar schimmernden Boden des Mondes, dem großen Berg zu, der mit seinen seltsamen Formen wie ein riesenhafter Schlagsahnenkegel vor ihnen in der Ferne lag.

Das Osternest

Das Osternest

Hoppla! … hoppla! … holterdiepolter! … ging’s durch die Mondgegend, daß nur so die Steinchen stiebten. Ja, waren es eigentlich Steinchen? Es klang manchmal wie Glas, wenn der Bär mit seinen Tatzen so ein Stück Mondkruste abschlug, und sah aus wie Zucker; manchmal knisterte es wie Schnee und staubte um die Reiter her, daß sie die Augen zumachen mußten, und manchmal war der Boden glatt und weich wie Gummi, der unter jedem Tritt wippte und schwippte. Dann machte der Bär so komische Sätze, daß sie beinahe von seinem Rücken herunterpurzelten. Der Sandmann kannte die Landschaft aber und rief immer vorher zur Warnung:

»Achtung – Kopf beugen!«

Dann ging es über so ein Krustengebirge. Die Kristalle sausten und prasselten ihnen um die Ohren, daß sie sich tief auf das dichte Fell des Bären ducken mußten, um nicht Beulen am Kopf zu bekommen. Oder er rief:

»Achtung – Augen zu!«

Dann stürmte der Bär durch eine Mondwüste, daß sie hinterher wie die Müllerjungen aussahen von dem weißen Staub. Oder es hieß:

»Festhalten! – Gummiteich!«

Dann ging es über so eine Schwabbelgegend, auf und nieder, wipp und wapp, daß man denken konnte, der Bär sei vollständig betrunken. Als sie aber Bescheid wußten, wie man sich zu verhalten hatte, machte es natürlich großen Spaß, und sie mußten schrecklich lachen; besonders, wenn eine Gummigegend kam. Ein schöneres Wippespiel, als der Bär mit ihnen auf diesen Gummiteichen vollführte, gab es doch sonst nirgends auf der ganzen Welt. Das kann man sich wohl denken. Und nun kamen sie in die Nähe des Osternestes. Wie von der Weihnachtswiese alles Spielzeug und alle Weihnachtssüßigkeiten kommen, so kommen aus dem Osternest die Ostereier. In einem weiten, weißen Tal lag ein riesengroßes, grünes Nest. Es war wohl so groß wie ein Berg.

Auf dem Rande des Nestes saßen ringsherum viele, viele Tausend Hühner in allen Farben; grüne, blaue, weiße, gelbe, rote, schwarze, bunte, gestreifte und gesprenkelte, eines dicht neben dem anderen, fein ordentlich die Schwänzchen nach innen, die Schnäbelchen nach außen gekehrt. Über dem Nest hing ein Strick vom Himmel herunter mit einem schönen gelben Ring am Ende. In dem Ring aber saß ein großer Gockelhahn. Der schlug alle zwei Augenblicke mit den Flügeln und krähte »kikeriki-i-i-ieh!«

Und jedesmal wenn er krähte … klack! … legte jedes von den Hühnern ein schönes, farbiges Ei von Zucker, Schokolade oder Marzipan, je nach der Farbe des Huhnes. Die Eier kullerten alle in das Innere des großen Nestes hinunter und wurden dort von vielen Tausenden kleiner, schneeweißer und knallgelber Osterhäschen aufgesammelt, fein säuberlich in Körbchen und kleine Taschen gepackt und ordentlich aufgestapelt. »So geht das immerfort«, erklärte der Sandmann im Vorüberreiten; »der Hahn kräht, die Hühner legen, die Häschen sammeln und verpacken, bis das ganze, riesengroße Nest voll ist. Und dann ist Ostern. In der Nacht vor Ostern aber nimmt jedes Häschen seine Eierlast huckepack und hoppelt damit zur Erde herunter. Dort hat jedes Haus, in dem Kinder wohnen, sein bestimmtes Häschen, das in der Osternacht die Eier bringt.«

Das alles war natürlich schrecklich interessant. Peterchen und Anneliese wollten so gern ihr Häschen noch entdecken; aber es war keine Zeit, sie ritten zu schnell. »Es ist ein gelbes Häschen!« sagte der Sandmann, als Peterchen ihn fragte. Da waren sie auch schon vorbei und hörten nur noch von fern ein paarmal den großen Hahn krähen. Immer mehr näherten sie sich jetzt dem großen Mondberg. Himmelhoch ragte er in die geisterblaue Nacht vor ihnen auf, steil und spitz. So einen Berg gab es nirgends auf der Erde; so seltsam hätte man ihn sich nicht einmal träumen können; wie von wachsweißem Teig war er, oder von gefrorener Schlagsahne. Hopp! … sprang der Bär über einen hohen Wall, der rings um den Berg herumlief, und nun waren sie am Ziele ihres großen Rittes, in einer finsteren Schlucht, am Fuße des Mondberges – bei der Mondkanone.

Der Flug nach der Sternenwiese

Der Flug nach der Sternenwiese

»Nanu!« sagten die anderen Maikäfer, die gerade unter der großen Kastanie ein Konzert abhielten, »hat der hochnäsige Geigensumsemann doch ein paar Kinder gefunden, mit denen er zum Mond fliegt?«

Sie waren so erstaunt, daß in ihr Brummkonzert ein ganz falscher Takt kam. Die drei aber flogen so schnell, daß die Hemdchen der Kinder wie kleine Fahnen in der Luft flatterten. Beinahe hätten sie zwei kleine, verliebte Nachtschmetterlinge, die nicht aufpaßten, über den Haufen geflogen. Jetzt waren sie über dem See. Der funkelte leise. Alle seine Wellen waren von Silber. Und die dummen, dicken Karpfen, die dort wohnten, glotzten durch das Wasser, sehr erstaunt. ›Oh!‹ dachte der Karpfenururgroßpapa, ›das sind aber ein paar seltsame Enten, die da oben flattern.‹ Er hielt alles, was in der Luft flog, für Enten. Fünfhundert Jahre war er alt, aber schrecklich dumm, weil er fast immer schlief. ›Oh, oh!‹ dachten die andern Karpfen. So viel hatten sie schon lange nicht gedacht, und von der Anstrengung schwitzten sie große Luftblasen; die stiegen im Wasser hoch wie kleine Perlen. Aber schon flogen die drei Abenteurer über den Wald hin. »Guck!« sagte das kleine Reh Ziepziep zu seiner Mutter, »da fliegen zwei weiße Fledermäuschen!«

Doch die Mutter wußte es besser, denn sie hatte feine Ohren und hörte alles, was man im Walde erzählt. »Es ist der Maikäfer Sumsemann, der mit zwei Kindern nach dem Mond fliegt«, sagte sie. »Wollen sie den Mond fressen?« fragte Ziepziep. Es glaubte nämlich, daß man den Mond fressen könnte, weil er so ähnlich aussah wie eine gelbe Butterblume. »Frag nicht so dumm und iß deinen Salat!« sagte die Mutter. Ziepziep war wirklich noch zu klein, um die berühmte Geschichte von dem Holzdieb und dem Maikäferbeinchen zu verstehen. Immer schneller und immer höher flogen die drei. Das Haus, die Wiese, der See, der Wald lag bald tief unter ihnen. Die Hügel, die Berge, an denen die weißen Nachtnebel hingen, versanken. Und dann lag die ganze Erde dort unten, unermeßlich tief in der blauen, stillen Nacht; mit allen ihren Ländern und Meeren; die große, liebe Erde in tiefem Schlaf. Das Herz klopfte den Kindern, aber tapfer hielten sie die Ärmchen ausgebreitet und machten keine einzige falsche Bewegung. Der Maikäfer flog ihnen voran; er geigte unermüdlich und sang sein Liedchen dazu. Seltsam! Ganz anders sahen jetzt die Sterne aus als von der Erde, wenn man sie abends vom Garten her betrachtete. Als ob sie freundliche, liebe, lachende Gesichtchen hätten mit silbernen Löckchen drum. Immer mehr wurden es, je höher man flog. Nur die großen konnte man von der Erde sehen, die kleinen sah man erst jetzt. Es waren viel, viel hunderttausend. Und plötzlich begann es durch den schweigenden Himmelsraum wie von unzähligen Glöckchen zu klingen; zuerst ganz fein und leise, dann immer lauter und deutlicher und immer schöner. Nein! es waren keine Glöckchen!

Jetzt hörten sie es deutlich; es waren viel tausend kleine Silberstimmchen ringsum. Die Sterne sangen in der Nacht; und so war ihr Lied:

»Auf der Erde ist Frieden,
Auf der Erde ist Ruh,
Alle Kinderlein schlafen,
Haben die Äugelein zu.

Hoch am Himmel, im Schweigen
Der heiligen Nacht,
Halten viel tausend Sternlein
Treu ihre Wacht.

Alle Tierlein auf dem Felde
Alle Vöglein im Wald,
Alle Fischlein im Wasser
Träumen nun bald.

Silberglöckchen, die läuten,
Und Silberlicht rinnt,
Und die Sternlein, die singen;
Süß träumt das Kind.«

Rings um die drei kleinen Abenteurer war während dieses Gesanges ein wundersames Leuchten, das immer stärker wurde. Es ging von einer weiten, silbernen Wolke aus, die vor ihnen im unendlichen Himmelsraum schwamm, wie ein großer Nebel. Man sieht manchmal des Nachts auf der Erde, hinter dem Garten über dem Fluß, oder über dem See solche Nebel. Wie Tücher sehen sie aus, die still und weiß in der Luft liegen. Nur viel heller, viel größer war dieser Nebel im Himmelsraum vor den Kindern. Und als sie nun immer näher kamen, sahen sie sehr sonderbare Dinge darauf. Hunderte, Tausende von kleinen Stühlchen standen dort um ein schönes, silbernes Pult herum, genau, wie die Kinderstühlchen in der Schule um das Lehrerpult. Neben dem Pult hing eine dicke, silberne Glockenschnur mit einer wunderschönen Troddel vom Himmel herunter; auf der andern Seite aber stand eine riesengroße Pauke neben einem mächtigen, silbernen Fernrohr. Weit hinten, auf einem Hügelchen, von dem ein feiner Nebelweg nach vorn lief, sah man einen niedlichen, weißen Schäfchenstall mit einem rosenroten Dach darauf und runden, komischen Fenstern, die wie kleine Äugelchen guckten. Um das Ganze aber lief ein Gitterchen, so zart, als sei es aus Porzellan gesponnen worden. Was war dies nur alles?

Es war die Sternenwiese, der sie sich näherten. Sie liegt mitten im Himmel und war die erste Station auf ihrer großen Fahrt.

Die Sternenwiese

Die Sternenwiese

Auf der Sternenwiese wohnt das Sandmännchen, das eine sehr wichtige Persönlichkeit im Himmelsraum ist und viele Ämter hat. Es muß den Sternen Unterricht im Singen geben, und es muß aufpassen, daß sie am Tage, wenn sie noch nicht am Himmel stehen, ihre Strahlen ordentlich putzen. Lauter kleine, silberhaarige Mädchen sind die Sterne. Jedes Kind auf der Erde hat sein Sternchen. Und wenn das Kind nicht artig war, wenn es Kuchen stibitzt hat, oder wenn es gar gelogen hat, so entstehen auf der schönen Strahlenkrone seines Sternenmädchens häßliche Flecken, sie verbiegt sich, oder sie bekommt Scharten. Dann muß das kleine Sternchen putzen mit seinem goldenen Putzläppchen und sich mühen in der Sternenschule auf der Wiese, damit das Krönchen wieder blank und hell wird zur Nacht. Das ist oft furchtbar schwer, und die kleinen Sternchen seufzen dabei vor Mühe. Manchmal weinen sie sogar, denn das Sandmännchen ist sehr streng und läßt es ihnen nicht durchgehen, wenn auch nur das kleinste Fleckchen noch da ist. Meistens aber sind sie fröhlich und oft gar schrecklich ausgelassen; besonders im Winter, wenn Weihnachten nicht mehr weit ist. Dann hat das Sandmännchen Mühe, Ordnung zu halten; so viel lachen sie. Manchmal lachen sie über die Mondschäfchen, die am Tage in dem Stall auf dem kleinen Hügel wohnen und Purzelbäumchen schießen; manchmal über die Himmelsziegen, die so komisch meckern; manchmal lachen sie auch über gar nichts und so laut, daß man es beinahe auf der Erde hören könnte. Das darf natürlich nicht sein. Dann haut das Sandmännchen auf die Pauke, sie bekommen einen Schreck und sind stille, wie die Fischchen im See; aber nicht sehr lange. So geht es auf der Sternenwiese zu, wenn auf der Erde Tag ist. Wenn aber der Abend kommt, wenn die Sonne auf der Erde untergeht, dann stellt sich der Sandmann feierlich vor sein Pult, alle Sternchen setzen ihre Kronen aufs Haar und sehen andächtig zu ihm auf. Er wendet im goldenen Mondbuch auf dem Pult feierlich eine Seite um und schreibt hinein, was die Kinder auf Erden am letzten Tag Gutes getan haben. Er weiß alles, denn die Sternchen merken es an ihren Strahlenkronen. Ist dies geschehen, so setzt er sein großes, silbernes Sandsiegel unter die Schrift, zwinkert ernsthaft mit seinen kugelrunden, freundlichen Äugelchen und zieht an der Glockenschnur. In demselben Augenblick läutet es leise über den ganzen Himmel hin von ungezählten Glöckchen. Zu dieser Musik aber huschen alle Sternenmädchen von der Wiese fort und an den Himmel. Dort stehen sie dann für die Nacht als winzige Lichtpünktchen, jedes an seinem Platz. Sandmännchen aber läuft zu seinem Fernrohr und guckt, ob sie auch alle richtig stehen, denn manchmal verirrt sich eins ein wenig an dem großen, dunklen Himmel; besonders den kleinen passiert das leicht. Manchmal rücken sie auch heimlich ein bißchen zusammen, weil sie sich noch was zu erzählen haben. Sie tuscheln und kichern nämlich ebenso gern miteinander wie die kleinen Mädchen auf der Erde. Das ist natürlich nicht erlaubt, und Sandmännchen hält streng darauf, daß so etwas nicht einreißt am Himmel.

Ja, das Sandmännchen hat wirklich sehr viel zu tun; besonders am Abend!

Wenn die Sternchen am Himmel stehen, muß es die Mondschäfchen aus dem Stall lassen, damit sie in der Nacht auf die Himmelsweide kommen. Das ist auch ein tüchtiges Stück Arbeit. Vergnügt sind die nämlich und fürchterlich ausgelassen! Sie purzeln mit ihren silbernen Fellchen wie kleine Kullerbällchen durcheinander, und bis sie schließlich ruhig auf der Weide oben am Himmel das schöne Sternschnuppengemüse grasen, vergeht eine ganze Zeit. Auch dann noch muß das Sandmännchen aufpassen, daß sie nicht etwa heimlich den Kometenkohl oder die Himmelschoten anknabbern, die dort zwar wachsen, aber den Schäfchen verboten sind, weil die Nachtfee sie braucht, wenn sie ihre großen Mitternachtsessen gibt, zu denen die mächtigen Naturkräfte eingeladen werden.

Sind die Mondschäfchen ordentlich auf die Weide gebracht, so ist noch eine ganz besonders wichtige Angelegenheit zu erledigen. Es steht auf der Sternenwiese neben der großen Pauke ein kugelrundes Säckchen, und aus diesem Säckchen schüttet der Sandmann einen feinen Silbersand in ein langes Pusterohr. Dann geht er gravitätisch nach den vier Himmelsrichtungen an den Rand der Wiese, beugt sich weit über das Gitter und bläst den leuchtenden Staub viermal in den Himmelsraum hinaus. Der Staub aber verteilt sich ganz, ganz fein und rieselt durch die Luft herab auf die Erde mit dem Licht des Mondes zusammen. Überall dort, wo Kinderaugen aus dem Bettchen in die Luft gucken, fliegt dieser silberne Sand aus Sandmännchens Pusterohr herum und legt sich leise auf die Augenlider. Die werden müde und schwer davon; man muß sie zumachen und schläft ein. So schickt das Sandmännchen den Kindern den Schlaf und auch die schönen Träume.

Mit allen diesen Arbeiten war das Männchen gerade fertig geworden, als Peterchen und Anneliese mit dem Maikäfer durch die Nacht herangeflogen kamen. Sie sahen deutlich, wie es steifbeinig auf der Wiese umherlief in seinem Schlafrock, der mit Sternen bestickt war. Auf dem Kopf hatte es eine lange Zipfelmütze und an den Füßen komische, riesengroße Pantoffeln. Von einer Seite der Wiese nach der andern lief das Männchen und paßte auf, daß am Himmel nichts in Unordnung kam. Und richtig! plötzlich hatte es die drei Abenteurer entdeckt! Es stutzte, zwinkerte mit den Augen, guckte, schnaubte sich und zwinkerte wieder. Dann aber lief es emsig zu seinem Fernrohr, richtete das auf die Kinder, guckte durch, wischte sich die Äugelchen, putzte das Glas am Fernrohr, guckte noch einmal … und nun hatte es erkannt, was da ankam. Es blies die Backen auf und schlug sich vor Erstaunen auf den kleinen Spitzbauch. Seine Augen wurden so groß wie Kuchenteller, und sein Mund stand so weit auf wie eine Ladentür. Was da vor sich ging, war aber auch etwas ganz Unerhörtes am Himmel! Viele Tausend Jahre war der Sandmann alt, aber so etwas war noch nicht passiert auf der Sternenwiese, seit er hier Ordnung hielt! Zwei Kinder im Nachthemdchen und ein geigender Maikäfer kamen durch den großen Himmelsraum herangeflogen, als wäre das so ein Sonntagnachmittags-Vergnügen. Dies ging nicht mit rechten Dingen zu! Hier mußte er sehr energisch sein!

Er stürzte also eiligst zu seiner großen Pauke, schlug darauf und schnitt ein furchtbar böses Gesicht. In dem Augenblick landeten die Kinder mit dem Maikäfer behutsam auf der Sternenwiese.

»Bum – bum – bum! Hier ist der Mond!
Rausgeschmissen wird, wer hier nicht wohnt!«

schrie der Sandmann sie an und fuchtelte mit dem Paukenstock in der Luft herum.

Na, das war gerade kein liebenswürdiger Empfang auf der ersten Station ihrer Reise!

Der Maikäfer aber dachte: ›Mit Höflichkeit kommt man am weitesten‹; und so machte er eine sehr schöne Verbeugung mit Kratzfüßchen hinten,raus und sagte: »Entschuldigen Sie bitte, Herr Sandmann. . »Was? – was? – entschuldigen?« quiekte das Männchen ganz rot vor Aufregung. »Was will Er hier? Ein Maikäfer gehört auf die dicke Kastanie im Garten, aber nicht auf die Sternenwiese am Mond! Ich werde mal gleich ein paar Stemraketen gegen Ihn abschießen, daß Ihm der Bauch platzt, Er Nasegrün!

Stemraketen?

Der Maikäfer bekam natürlich Angst und dachte daran, sich tot zu stellen. Peterchen hatte zwar keine Angst, denn er hatte ja sein Holzschwert bei sich, aber er war etwas verlegen und wußte nicht recht, was man wohl tun sollte, wenn das Männchen wirklich mit Stemraketen zu schießen anfinge. Anneliese aber … ja, das hätte man wirklich nicht von der kleinen Anneliese gedacht! Sie trat plötzlich ganz mutig vor, nahm aus ihrem Körbchen ein rotbäckiges Äpfelchen und hielt es dem grimmigen Sandmann dicht unter die spitze Nase. »Nanu?« sagte der höchst erstaunt; »was ist denn das für ein tapferes, kleines Frauenzimmerchen?« Dabei schnüffelte er schon neugierig an dem schönen Apfel herum. So etwas gab es nämlich nicht am Himmel oben. Auf der Weihnachtswiese, die auf dem Mond lag, wuchsen allerdings die vergoldeten Äpfelchen und Nüßchen; aber davon konnte das Männchen keine bekommen, die waren für die Kinder auf der Erde. Nun lief ihm doch das Wasser im Munde zusammen. »Gib mal her!« sagte es. Anneliese machte einen Knicks und sagte: »Bitte schön!«

Happs! … biß das Männchen hinein. Ordentlich komisch war, wie es plötzlich vergnügt wurde. Es schmunzelte von einem Ohr bis zum andern beim Kauen und rieb sich das Bäuchlein, so gut schmeckte es ihm.

Als der Apfel aufgegessen war, faltete der Sandmann die Hände auf dem Rücken und sah die Kinder an. Er wollte böse aussehen, aber der Apfel hatte so gut geschmeckt, daß es ihm nicht mehr richtig gelang, ein grimmiges Gesicht zu schneiden. »Ihr Hemdenmätze, was wollt ihr denn hier? Ihr sollt doch schlafen!« schmunzelte er. Jetzt trat Peterchen mit einer Verbeugung vor und erklärte den Grund der Reise. Ja, von der Geschichte hatte der Sandmann schon gehört. Sie war einmal auf einem Kaffeeklatsch bei der Nachtfee erzählt worden, vor etwa tausend Jahren; und damals waren alle Gäste sehr gerührt gewesen von dem Schicksal der Sumsemänner. »Hm, hm«, meinte das Männchen jetzt und rollte mit den Augen, so stark dachte es nach. Aber da kam ihm schon wieder der Geruch von den Äpfeln in die Nase, die Peterchen in seinem Korbe hatte. »Gib mir noch einen Apfel!« sagte es plötzlich mitten im Denken und hielt die Hand hin. Das tat Peterchen natürlich gern. Als der Sandmann nun auch den zweiten Apfel verspeist hatte, war all sein Grimm verflogen, und er nickte wohlwollend mit dem Kopfe. »Jaja, die Geschichte der Sumsemänner, die war überall am Himmel bekannt.«

Aber sollte der Maikäfer nun wirklich zwei artige Kinder gefunden haben, um das Beinchen zurückzuerobern? Das wäre doch ein ganz gewaltiges Glück für die Sumsemänner!

Es mußte also festgestellt werden, ob die Kinder artig waren; sonst ging die Geschichte nicht. Mit großen, feierlichen Schritten begab sich das Sandmännchen zu seinem Sprachrohr und rief nach dem Himmel hinauf: »Die Sternchen von Anneliese und Peterchen sollen mal schnell herunterkommen!

Und was geschah?

Zwei winzige Sternpünktchen lösten sich hoch oben vom Himmelsgrund und fielen leuchtend herab auf die Wiese. Im gleichen Augenblick standen dort zwei wunderschöne kleine Mädchen mit blonden Locken und lachenden Augen. Silberne Hemdchen hatten sie an und silberne Schuhe; funkelhelle Strahlenkronen aber blinkten auf ihren Köpfen. »Peterchen, mein Peterchen!« rief das eine Sternchen. »Meine kleine Anneliese!« rief das andere. Und dann gab’s eine fröhliche Begrüßung. Die Kinder liefen zu ihren Sternchen, und sie umarmten und küßten sich. Dem dicken Maikäfer kamen ordentlich die Tränen in die Glotzaugen vom Zusehen, so hübsch war es. Rührung durfte aber nicht einreißen, denn die Geschichte war ernst. Also tat das Sandmännchen wieder sehr grimmig, verbat sich die Küsserei und fragte die Sternchen, ob die beiden Kinder, Peterchen und Anneliese, kein‘ Fleckchen auf die Kronen ihrer Sternchen gemacht hätten. Da lächelten beide Sternchen und schüttelten ihre silbernen Locken. Blitzblank waren die Kronen. Jetzt schmunzelte das gute Sandmännchen, denn es freute sich sehr darüber, und die Kinder durften den Sternchen noch einen Kuß geben. »Ach, war das schön!«

So ein Sternchenkuß schmeckt so lieb, daß man es wirklich gar nicht beschreiben kann; man muß es erleben; und man erlebt es, wenn man gut ist.

Husch! waren die Sternchen wieder fort und standen als Lichtpünktchen am Himmel. Die Kinder guckten ihnen ganz traurig nach, aber plötzlich mußten sie laut lachen. Der Maikäfer tanzte nämlich wie ein Verdrehter auf der Sternenwiese herum und warf dabei mit den Beinchen mindestens ein Dutzend Sternenstühlchen um, die dort standen. Er freute sich, daß die Kinder artig waren, denn in seiner Familiengeschichte stand, artige Kinder müßten es sein, sonst sei alle Mühe umsonst. Nun war es sicher, daß er sein Beinchen wiederbekam. Schrecklich freute er sich!

Der Sandmann verstand zwar, daß das Sumsemännchen sich freute; aber, daß es die Sternenstühlchen umwarf, war gegen die Ordnung, und er verbat sich dieses maikäferhafte Benehmen sehr energisch. »Ein Freudentanz sollte das sein? Ein ganz dummes Rumgebrumsel sei es! Auf der Sternenwiese mache man so was nicht; überhaupt, wenn man so dick wäre und so unsicher auf den Beinen!«

Da hatte der Sumsemann seine Strafpredigt weg. ›Das Sandmännchen ist sehr ungebildet‹, dachte er, denn die Maikäfertänze sind die schönsten Tänze der Welt, das weiß jeder. ›Und er, der Sumsemann, sei unsicher auf den Beinen? So was Lächerliches! Alle wüßten, wie elegant er auf den Kastanienblättern im Garten tanzen konnte; und nun sollte man ihn erst mal sehen, wenn er das sechste Beinchen wieder hätte!‹

Beinahe hätte er laut gelacht; aber er verkniff sich das Lachen, denn er war vorsichtig und wollte sich nicht unbeliebt machen. »Entschuldigen Sie, Herr Sandmann!« sagte er, machte einen Kratzfuß und sah bescheiden aus. Nur ganz heimlich warf er den Kindern ein paar Kußhändchen zu. Sandmännchen hatte den Finger an seine Nase gelegt und dachte tief nach. Es war nämlich eine recht gefährliche Geschichte, die von den beiden Kindern unternommen werden sollte; und weil er sie schon sehr lieb hatte, wollte er ihnen nun auch mit allen Kräften beistehen auf der weiteren Fahrt. Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Gerade heute, um 12 Uhr mitternachts, gab die Nachtfee einen Kaffeeklatsch für die Naturgeister in ihrem Schloß. Er war auch eingeladen. Die Nachtfee war sehr mächtig; viel mächtiger als er. Sie war es ja auch gewesen, die vor vielen hundert Jahren den bösen Holzdieb auf den Mondberg verbannt und den Sumsemännern erlaubt hatte, mit artigen Kindern das Beinchen von dort wieder herunterzuholen. Wenn er die Kinder also mitnähme auf das Schloß der Nachtfee zu dem Kaffeeklatsch? Sie war eine gütige Fee und würde ihnen sicher ihren Schutz leihen. Peterchen und Anneliese konnten bei dieser Gelegenheit sogar die Naturgeister kennenlernen, die ihnen vielleicht später beistehen würden. Ja, das war ein prächtiger Gedanke!

Das Männchen machte einen Sprung in die Luft vor Vergnügen über diesen Einfall, daß sein spitzes Bäuchlein nur so wackelte; dazu schrie es: »Ich hab’s! ich hab’s! ich habe einen himmelsraketenmäßig prächtigen Gedanken, Kinderchen!

Und er erklärte ihnen alles, was er vorhatte. Das war allerdings ein wunderbar schöner Plan!

Peterchen freute sich gewaltig auf die Naturgeister, und Anneliese auf die schöne Nachtfee. Der Sumsemann hatte zwar wieder Angst, denn die Bekanntschaft mit den Naturgeistern schien ihm gefährlich; doch er unterdrückte es, tat mutig und fand den Einfall des Sandmännchens sehr schön. Der Sandmann aber zog jetzt eine riesengroße Taschenuhr aus dem Schlafrock, tippte mit dem Finger auf das Zifferblatt und sagte:

»Gleich muß er da sein!«

Er meinte nämlich seinen Mondschlitten, mit dem er zum Schloß der Nachtfee fahren wollte. Und richtig, da kam auch schon etwas durch die Luft!

Ein schneeweißer Schlitten war es, der von acht Nachtfaltern an silbernen Bändern gezogen wurde. Lautlos, wie ein Wölkchen glitt er heran und hielt vor den Kindern. Die Nachtfalter hatten große, leuchtend grüne Augen und schlugen geheimnisvoll mit ihren schönen, schimmernden Flügeln. Dazu bewegten sie ihre goldenen Fühlhörner, an denen gläserne Glöckchen klangen. Staunend sahen die Kinder dies. Aber es gab keine Zeit mehr mit Verwundern zu verlieren. Der Weg, den sie zu fahren hatten, war weit. So nahmen sie alle schnell im Schlitten Platz. Man saß wie auf seidenen Wolken darin. Sandmännchen ergriff die Zügel, die Nachtfalter hoben die Schwingen, leise klangen die Glasglöckchen und .,. fort ging die Fahrt über die Sternenwiese hin, auf die Milchstraße zu, an deren fernem Ende das Schloß der Nachtfee lag.

Die Schlittenfahrt auf der Milchstraße

Die Schlittenfahrt auf der Milchstraße

Noch nie sind Kinder so schön gefahren, wie Peterchen und Anneliese in Sandmanns Mondschlitten auf der Milchstraße zum Schoß der Nachtfee fuhren!

Aus einem leise leuchtenden Schaum war der Weg unter ihnen, glänzender als frischer Schnee und zarter als der Schaum der klarsten Wellen. Lautlos glitt der Schlitten auf diesem Zauberwege durch den Himmelsraum. Nur die kleinen, gläsernen Glöckchen an den Fühlern der Falter klangen leise im Takt, so, wie die schönen Tiere ihre Flügel hoben und senkten. Mächtige Bäume wuchsen zu beiden Seiten der Milchstraße; durchsichtig waren sie und mit großen, weißen Blumen bedeckt. »Das sind die Milchbäume«, erklärte das Sandmännchen; »aus ihren Blumen tropft der süße ~ Den essen die Sternenmädchen, wenn sie hungrig sind.«

Unter diesen blühenden Alleebäumen ging es dahin, und die weißen Blumen kamen den Kindern einmal so nahe, daß Annneliese das Händchen ausstreckte, um eine solche Blüte abzupflücken. Sie bekam es zwar nicht fertig, denn der Schlitten fuhr viel zu schnell, aber alle Finger waren von dem herrlichen Milchstraßenhonig naß.

Nun ging es ans Ablutschen!

Peterchen machte natürlich auch Anspruch auf den Honig, und Anneliese war gut. Sie ließ ihn drei von ihren Fingerchen ablutschen. Die anderen beiden aber, die größten, behielt sie doch für sich. Das war auch ihr gutes Recht. Wirklich, so etwas Süßes hatten sie noch nie geschmeckt!

Jetzt kamen sie an einer Wiese vorbei, auf der sich eine Herde sehr sonderbarer Tiere tummelte. Beinahe sahen sie wie Ziegen aus und beinahe wie kleine Wölkchen mit Beinen. Immerfort huschten sie herum, aber sie bewegten die Beinchen gar nicht dabei. Als ob ein Wind sie durcheinanderwirbelte, sah es aus, und dazu meckerten sie, daß es klang, als ob tausend Kinder sich totlachen wollten. »Es sind die Himmelsziegen«, erklärte das Sandmännchen; »sie grasen hier den Mondspinat ab. Zu Weihnachten werden ihnen die goldenen Hörnchen abgebrochen; dann ist auf der Sternenwiese für die Sternenmädchen ein großer Festschmaus. Es gibt Milchstraßenschlagsahne mit Himmelsziegenhörnchen. Das schmeckt unbeschreiblich gut!«

Die Kinder konnten sich wohl denken, daß so etwas gut schmeckt.

Und nun fuhren sie an einem sonderbaren See vorüber. Sein Wasser flimmerte wie geschmolzenes Silber, über das ein leiser Wind geht. Es war leuchtende Nebelluft, die leise Wellen schlug. In dem See wimmelte es von unzähligen kleinen Fischen; die funkelten wie bunte Flämmchen. Immerfort zuckten, huschten und zitterten sie herum. Totenstill war’s dabei. »Das ist der Tausee mit den Irrlichterfischchen!« erklärte der Sandmann. »In jeder stillen Nacht kommt ein wunderschönes Mädchen leise an das Ufer des Tausees, das Taumariechen, die Tochter der Nachtfee. Mit einer Schale, die aus einem einzigen Diamanten geschnitten ist, schöpft sie aus dem See. Dann schwebt sie zur Erde hinab und sprengt den kühlen Tau über Gärten, Wiesen und Wälder, damit alle Blumen und Bäume, alle Gräser und Kräuter frisch und schön sind am Morgen. Manchmal geschieht es, daß einige von den funkelnden Fischen mit in die Schale des Taumariechens kommen Die werden dann auch mit dem Tau über die Wiesen gestreut, und man kann sie in stillen Nächten huschen und funkeln sehen. »Elmsfeuerchen« sagen die Menschen, oder »Irrlichter«.

Und weiter ging die Fahrt. An der Weide der Himmelskühe und Mondkälber kamen sie jetzt vorüber, die wie große, dicke Wolken herumrutschten auf den weißen Wiesen und immerfort fraßen. Nicht durchsichtig waren sie wie die Mondschäfchen und Himmelsziegen auf den anderen Weiden, sondern große, undurchsichtige graue Klumpen. »Sie sind gar nicht beliebt bei den Sternchen«, sagte der Sandmann; »weil sie oft die Aussicht auf die Erde mit ihren dicken Bäuchen versperren, so daß die Sternchen ihre schlafenden Kinder dort unten nicht recht sehen können. Aber die Nachtfee braucht die Himmelskühe. Aus ihrer Milch wird die Mondbutter gemacht. Die braucht der Koch der Nachtfee zum Kuchenbacken; besonders für die schönen Mondscheinfladen, die es manchmal auf dem Kaffeeklatsch bei der Nachtfee gibt.«

Das Sandmännchen schmunzelte ordentlich bei dem Gedanken an die Mondscheinfladen. Sie waren nämlich sein Leibgericht. Und heute nacht sollte es auch welche geben. Das hatte der Milchstraßenmann, der die Mondbutter liefern muß, verraten. ›Am Himmel gibt’s doch viele gute Sachen‹, dachten die Kinder; ›soviel Gutes zu essen!‹ Nur der Sumsemann saß hinten im Schlitten und sah etwas gelangweilt aus. Für ihn war das alles nichts. Kein einziges grünes Blättchen hatte er bisher entdecken können. Alles war von Silber oder von Zucker. Für Mondbutter, Sternblumenklee, Milchstraßen- Schlagsahne und Himmelsziegenhörnchen hatte er gar kein Verständnis als anständiger Maikäfer. Na aber schließlich brauchte er ja das Zeug nicht zu essen. Und hier war doch die Hauptsache, daß er, der Herr Sumsemann, sein Beinchen wiederbekam. Deshalb wurde die ganze Reise unternommen. Er war also die Hauptperson!

Als er sich darüber klar wurde, sah er wieder sehr zufrieden und stolz aus.

Am hundertsten Meilenstein fuhren sie eben vorüber, da fing es an zu schneien. Ein sonderbarer Schnee war das!

Millionen Lichtflocken tanzten um sie her; winzige, sprühende Sternchen. Sie stiebten so dicht um den Schlitten, daß man vor lauter Fünkchen nichts mehr sehen konnte. »Da sind wir in eine Sternschnuppenwolke geraten«, meinte das Sandmännchen; »aber das schadet nichts; davon brennt man nicht an.«

Die Kinder fanden es sehr lustig. Sie griffen nach den Fünkchen und wollten gar zu gern Sternschnuppen-Schneebällchen daraus machen; aber das war nicht so einfach. Beinahe wäre Peterchen dabei aus dem Schlitten gefallen. Anneliese lachte immerfort und steckte die Zunge heraus in das Schnuppengestöber. Das prickelte nämlich zu komisch. Nur dem Sumsemann war es wieder recht ungemütlich. Schneegestöber ist eben für Maikäfer etwas Greuliches. Das kann man schließlich begreifen. Eben wollte er sich totstellen, da waren sie aus der Wolke heraus, und vor ihnen lag das Schloß der Nachtfee auf himmelhohen, silbergrauen Wolken – unbeschreiblich schön!

Der Schlitten hielt am Fuße der Treppe aus weißem Glase, die breit zwischen den Wolken hinaufführte zum Tor des Schlosses. Nun stiegen sie an der Hand des Sandmännchens die Treppe hinauf. Sehr feierlich war es.