Elftes Kapitel Kasperles Krankheit

Der Herzog August Erasmus kam sehr brummig von seiner Spazierfahrt zurück. Er hatte Kasperle strafen wollen und hatte sich selbst gestraft, denn er hatte den lustigen kleinen Quirlewind sehr vermißt. Er befahl also, man solle schnell Kasperle holen, meinte, der könnte ihm die schlechte Laune vertreiben.

Der Haushofmeister ging selbst das Kasperle holen. Er blieb an der Türe stehen und rief freundlich: »Komm, mein Kasperle, komm!«

Aber er konnte lange rufen, kein Kasperle kam. Nur ein seltsames Stöhnen und Schnarchen war zu hören, und der Haushofmeister sah endlich den kleinen Burschen an der Erde liegen. Eingeschlafen ist der arme Kerl, dachte er mitleidig; er mag sich recht gefürchtet haben. Und er ging hin, rüttelte und schüttelte Kasperle, doch der schnarchte und stöhnte weiter. Nun hob ihn der Haushofmeister auf und trug ihn aus dem Keller. Draußen rief er nach Veit, und beide versuchten Kasperle zu wecken.

Vergeblich, der wurde nicht munter. Veit kam auf den Gedanken, ihm ein Wassergüßlein über den Kopf zu gießen. Er holte ein Glas Wasser und goß es Kasperle auf die Nase. Da strampelte und zappelte der eine Weile und – schlief weiter.

Inzwischen klingelte der Herzog ungeduldig. »Kasperle soll kommen!« rief er.

»Kasperle schläft,« meldete der Diener.

»Er schläft? Ja, da weckt ihn doch auf! Wie kann er schlafen, wenn ich ihn sprechen will!« schrie der Herzog.

»Er wacht nicht auf,« stotterte der Diener erschrocken.

»Er wacht nicht auf? Aber das ist ja unerhört! Man gieße ihm Wasser über den Kopf!« Der Herzog war ganz aufgeregt, und als er hörte, Veit habe Kasperle schon das zweite Wassergüßlein über den Kopf gegossen, bekam er Angst. Er verlangte den Leibarzt, und dann lief er selbst, sich das schlafende Kasperle anzusehen.

Der schlief und schlief, grunzte, stöhnte und schnarchte, und der Leibarzt schüttelte bedenklich den Kopf. »Er ist krank,« sagte er, »ganz bestimmt ist er krank oder – er schläft nun wieder einmal viele, viele Jahre. Bei einem Kasperle kann man eben nicht wissen, wie eine Sache ausgeht.«

Der Herzog wurde leichenblaß. »Lieber Leibarzt,« flehte er, »machen Sie mir das Kasperle munter! Zwölf Jahre lang habe ich alles versucht, um Kasperle zu bekommen, und nun – ja, nun schläft er vielleicht länger, als ich noch lebe. Oh, oh, ist das eine dumme Geschichte!«

Der Leibarzt legte den Finger an die Nase, schüttelte wieder den Kopf und begehrte ganz genau zu wissen, was eigentlich Kasperle zuletzt getan hatte.

»Eingesperrt war er in einem dunklen Keller,« brummte der Haushofmeister.

»Ach, da haben wir’s! Eingesperrt in einem dunklen Keller –

nein, das verträgt kein Kasperle,« rief der Leibarzt. Er war froh, etwas sagen zu können, und weil er auch fand, der Herzog sei zu streng mit dem kleinen Schelm gewesen, schüttelte er immer wieder ernsthaft den Kopf. »Schlimm, schlimm, schlimm!« murmelte er, »sehr schlimm!« Er verordnete, Kasperle müsse im Bett liegen und kalte Umschläge bekommen, und immer solle jemand neben ihm sitzen, damit, wenn er aufwache, er gleich ordentlich geschüttelt werden könne.

»Alles soll geschehen, nur machen Sie mir mein Kasperle wieder gesund,« rief der Herzog.

»Ja, das geht nicht so schnell!« Der Leibarzt runzelte die Stirne, wiegte wieder den Kopf hin und her und sagte wieder: »Schlimm, schlimm, sehr schlimm!«

Kasperle wurde nun in sein Bett getragen, und eine ganze Stunde saß der Herzog neben seinem Bett. Und Kasperle schnarchte, stöhnte, ein paarmal murmelte er auch etwas im Schlaf, und jedesmal dachte der Herzog: Jetzt wacht er auf. Und er neigte sich über ihn und fragte zärtlich: »Bist du munter, mein Kasperle?«

Und weil der nicht aufwachte, ließ er wieder den Leibarzt holen, und gerade da fing Kasperle an zu brummeln und zu murmeln, und als sich der Herzog über ihn beugte und sanft fragte: »Mein Kasperle, was fehlt dir denn?« griff Kasperle plötzlich nach des Herzogs Nase und schrie: »Hallo, hallo, Michele, der Kasperlemann! Hallo, hallo!«

Und dabei zerrte und zog Kasperle an des Herzogs Nase, als wäre dies eine Klingelschnur. Zipp zapp, zipp zapp! Dem Herzog verging Hören und Sehen. Er brüllte laut und suchte sich zu befreien, die andern halfen, und da schlug Kasperle auf einmal seine Augen auf, gähnte erschrecklich, klappte die Augen wieder zu und schnarchte rissel, rassel weiter.

»Oooh!« rief der Herzog und hielt sich seine Nase. Kasperle hatte schon einen festen Griff und die Nase war feuerrot geworden.

»Eine sehr böse Krankheit! Er hat Fieber.« Der Leibarzt schüttelte wieder den Kopf und sah wieder höchst besorgt drein. »Ruhe, Ruhe!« sagte er.

Und dann gingen alle. Der Herzog hielt sich seine Nase und der Leibarzt sagte, er müsse kalte Umschläge machen. Der Herzog war böse und traurig zugleich. Das Nasenanfassen und daß Kasperle ihn Kasperlemann genannt hatte, war verdrießlich. Aber freilich, Kasperle war krank, und wer weiß, ob es jemals wieder aufwachte!

Kasperle schlief und schlief. Im Schloß fragte von Viertelstunde zu Viertelstunde einer den andern: »Ist er wieder ausgewacht?« Doch das Kasperle dachte nicht daran, das schnarchte weiter, rissel, rassel, sogar im Treppenhaus war es zu hören.

Alle glaubten, das Kasperle sei wirklich furchtbar krank, nur der alte Haushofmeister nicht. Der wußte besser im Schloß Bescheid als der Herzog selbst; er kannte alle verborgenen Türen und Winkel. Sein Vater, der auch schon Haushofmeister gewesen war, hatte sie ihm verraten. Und als sich alle um das Kasperle sorgten, ging er ganz leise unten in den Keller hinein. Er meinte nämlich, von Kasperle sei ein Düftlein ausgegangen, das an Wein mahnte. Das verborgene Pförtchen fand er schnell und gelangte in des Herzogs geheimen Weinkeller, zu dem dieser den Schlüssel wohl verwahrt hatte. Und richtig, da fand der Haushofmeister Kasperles Spuren: alle drei Fässer leer, die Zapfen am Boden. »Ei, du heilloser Schelm, du kleiner Nichtsnutz, du, ein Schwipslein hast du!« schalt der alte Mann, aber er lachte leise dazu. Dann steckte er in jedes Faß den Zapfen und ging wieder zu dem verborgenen Türchen hinaus. Das schloß er sorgfältig und brummelte dabei vor sich hin: »Na, die Prinzessin Gundolfine wird böse sein!« Die Weine aus dem Keller liebte die Prinzessin nämlich sehr; allemal wenn sie zu Besuch kam, stieg der Herzog selbst in den Keller und holte ein Krüglein herauf.

Was der Haushofmeister wußte, sagte er keinem Menschen. Nur als Veit klagte: »Kasperle wird noch sterben!« sagte er heiter: »I wo, der stirbt nicht! Paß auf, morgen ist er putzmunter.«

Es dauerte aber wirklich lange, ehe Kasperle aufwachte. Vierundzwanzig Stunden schlief er wie ein Säcklein, und der Herzog stand gerade wieder traurig an seinem Bett und der Leibarzt sagte: »Sehr schlimm!«, da schlug Kasperle auf einmal die Augen auf. Er sah den Herzog, den Doktor und etliche Hofherren an seinem Bett stehen, und alle staunten sie ihn an.

Wie sonderbar das war! Kasperle lag ein Weilchen, rührte und rappelte sich nicht und sah mit seinen schwarzen Glitzeräuglein nur immer in die verdutzten Gesichter. Er fand das ungemein spaßhaft, bis er plötzlich ein heftiges Grimmen in seinem Bäuchlein spürte. Das knurrte los und der Herzog drehte sich erschrocken rundum. »Man jage den Hund aus dem Zimmer!« rief er. »Wo ist der Hund, der so knurrt?«

Und alle drehten sich um, suchten und suchten, bis Kasperle jäh in ein lautes, heftiges Geschrei ausbrach. »Hunger, Hunger!« jammerte er, und da merkten es erst alle: Kasperles Magen knurrte.

»Er hat Hunger!« Der Herzog sank vor Erstaunen auf einen Stuhl, der Leibarzt schüttelte wieder den Kopf, er sagte aber doch: »Man bringe schnell etwas zu essen, ein Süppchen und ganz kleine Brötchen!«

Kasperle, der Schelm, merkte wohl, alle waren in Angst um ihn. Er verstand zwar nicht recht warum, denn er konnte sich erst gar nicht besinnen, was mit ihm geschehen war. Das Angsthaben machte ihm aber den größten Spaß. Er verdrehte seine Äuglein, schnitt fürchterliche Gesichter und wiederholte kläglich: »Hunger, Hunger!«

»Schnell, schnell, bringt doch etwas!« rief der Herzog.

Da rannte auch schon ein Diener herbei, der brachte Suppe und ein paar hauchfeine Schinkenschnittchen, mehr nicht. Kasperle machte plötzlich sein Räubergesicht, steckte schwipp, schwapp sämtliche Schnitten in den Mund; schluck, schluck! weg waren sie und der Strick schrie: »Mehr, mehr, ich sterbe!«

»Merkwürdig!« Der Leibarzt sah das Kasperle verwundert an, der Herzog aber rief: »Mehr, bringt mehr!« Und weil er selbst gern Schokolade lutschte, holte er eine feine silberne Dose aus der Tasche, reichte sie Kasperle und sagte: »Nimm eins!«

Ein Schokoladeplätzchen, jemine! Kasperle nahm die Dose, und weg waren alle Plätzchen, verschwunden in seinem großen Mund. Kasperle aber schrie jetzt richtig unnütz: »Mehr, mehr!«

Da rannte schon ein Diener in das Zimmer mit einer Platte, auf der die leckersten Dinge standen, und der Herzog sagte gerade: »Man muß ihm etwas aussuchen, er darf nicht zuviel essen,« da schluckte das Kasperle schon.

Himmel, wie das ging! Dem Herzog, dem Leibarzt, den Hofherren, allen blieb der Mund vor Staunen offen. Wie ein richtiger kleiner Gierschlund war Kasperle. Belegte Schnittchen, Kuchen, Braten, ein Schüsselchen Gemüse, alles schluckte er hinab, und zuletzt nahm er sich den großen Pudding, der auch auf der Platte stand, und von dem er nur kosten sollte, und schnabulierte darauf los.

»Es wird zuviel,« schrie der Herzog und wollte selbst den Pudding wegnehmen, aber Kasperle hielt seinen Pudding fest, er schmauste und schmauste und sah dabei so vergnügt drein, daß der Leibarzt plötzlich sagte: »Es scheint, er ist gesund.«

»Aber er überißt sich. Kasperle, mein liebes Kasperle, gib den Pudding her!« bat der Herzog.

»Nä!« Kasperle grinste, und als der Herzog wieder nach der Schüssel greifen wollte, schnitt er ein Hexengesicht.

»Oooh!« Der Herzog wich erschrocken zurück.

Da sagte auf einmal der alte Haushofmeister: »Es ist genug, Kasperle.« Und dabei sah er Kasperle freundlich und doch streng an, und der kleine Schelm spürte plötzlich, der gütige alte Mann meinte es am allerbesten mit ihm. Er gab ohne ein Widerwort die Schüssel zurück und streckte sich ganz still und brav in seinem Bett wieder aus.

Der Leibarzt, der etwas sagen wollte und nicht recht wußte, was er sagen sollte, denn in seinem Leben hatte er noch kein Kasperle behandelt, murmelte: »Er muß im Bett bleiben.«

Doch da redete der alte Haushofmeister freundlich dazwischen, es wäre wohl am besten, Kasperle stünde auf und liefe im Park herum. Dies wäre gewiß gesund.

»Vortrefflich, ganz vortrefflich!« sagte der Leibarzt, und da stimmte auch der Herzog zu. Er ordnete freilich an, ein Diener müsse Kasperle zum Schutz begleiten, und der alte Haushofmeister sagte ferner, ja, das könne Veit tun. So war es dem Herzog recht. Kasperle durfte aufstehen und in den Park laufen und Veit sagte: »Geh nur an den Bach, das traurige Marlenchen wartet schon.«

Marlenchen saß wirklich am Bach, und es war heute wieder ganz traurig. Es hatte das blasse Gesichtchen über das Wasser geneigt und drehte darin Stein um Stein um. Plötzlich aber schrie es auf. Kasperles Bild erschien im Wasserspiegel, und nun sah das traurige Marlenchen gleich ein klein wenig nach Sonne aus. »Du bist da?« sagte sie erfreut zu dem kleinen, unnützen Freund. »Ach, ich dachte schon, du kämst nie wieder.«

Kasperle schoß vor Vergnügen über die Freiheit und das Zusammensein mit dem traurigen Marlenchen einen Purzelbaum und platschte dabei ins Wasser; es spritzte hoch auf, und erst als das Kasperle klitschnaß war, setzte es sich neben Marlenchen und begann zu erzählen, wie es ihm ergangen war. So nach und nach fiel ihm alles ein. Da erzählte er auch den Streich aus dem Keller und Marlenchen rief erschrocken: »Aber Kasperle!«

Kasperle senkte die Nase. Er schielte seine kleine Freundin seitwärts an, wie es die rechten Schelme tun, und er sah so unnütz und drollig aus, daß Marlenchen ein ganz klein wenig lachen mußte.

»Hach, du lachst!« Kasperle streckte die Beine in die Luft vor Vergnügen, und dann fing er an zu schwatzen, schneller als die Elstern in der hohen Ulme. Das Bächlein erschrak ordentlich, es rann und lief, gluckste und plätscherte, dachte: Nein, der unnütze Strick da darf nicht flinker reden, als ich renne. Die Elstern erhoben auch ihre Stimmen lauter, und es war im sonst so stillen Waldtälchen ein Geschwätz und Gelärme um das traurige Marlenchen herum, wie noch nie.

Aber auch die Stunden hatten Eile wie das Bächlein; viel zu früh, meinten Kasperle und Marlenchen, kam Veit, und die beiden ungleichen Kamerädles mußten Abschied nehmen.

Das war bitter. Marlenchen sagte betrübt: »Vielleicht wirst du nun wieder eingesperrt.«

Kasperle seufzte. Ach, es war schon schwer, in des Herzogs Dienst zu stehen! Die Sehnsucht nach dem Waldhaus stieg wieder heiß in ihm empor. Traurig gab er Marlenchen die Hand und sagte, er werde wiederkommen. »Und wenn er mich nicht läßt, dann brenne ich durch,« fügte er trotzig hinzu.

»Aber Kasperle!«

»Ja, ich tu’s.« Und Kasperle schnitt ein Teufelsgesicht, ein Räubergesicht, sah wie eine Hexe drein, und Marlenchen begann sich ordentlich zu fürchten. Sie wich erschrocken an das Bächlein zurück. Doch gleich machte Kasperle wieder ein so liebes, betrübtes Schelmengesicht, daß sie ihn flink streichelte: »Armes Kasperle!« sagte sie. »Aber ausreißen mußt du nicht, denn sonst – bin ich wieder ganz allein.«

»Ich reiße nicht aus,« versprach Kasperle gleich, und als er mit Veit dem Schlosse zuging, nahm er sich vor, ungeheuer brav zu sein, damit der Herzog ihn nicht wieder einsperren brauchte. Marlenchen sollte nicht wieder vergeblich auf ihn warten.

Er saß auch wirklich stumm und stocksteif am Abendtisch, und der Herzog verwunderte sich sehr über Kasperle. Er dachte aber: Er ist müde, gewiß ist er doch noch krank, und dann fragte er sehr freundlich: »Willst du schlafen gehen, Kasperle?«

Nun war der Kleine kein bißchen müde nach seinen vierundzwanzig Stunden Schlaf, er riß darum seinen Mund weit auf und schrie, so laut er konnte: »Nä!«

»Mein Himmel, ich bin doch nicht taub!« sagte der Herzog beleidigt. »Schäme dich, so zu schreien!«

Kasperle senkte den Kopf. Jemine, war es schwer bei Hofe, den rechten Ton zu treffen! Einmal war er zu laut, einmal zu leise; sagte er viel, war es nicht recht, sagte er gar nichts, auch nicht; Vor lauter Ärger schnitt er sein Teufelsgesicht und der Herzog rief wieder vorwurfsvoll: »Aber Kasperle!«

Es saß aber einer an diesem Tage am Tisch des Herzogs, das war ein lustiger und gütiger Mann; der Oberstallmeister war es. Dem hatte Kasperle schon viel Spaß gemacht, und er begann sehr herzhaft über das Teufelsgesicht zu lachen. Da merkte Kasperle gleich: Der versteht dich, und er schnitt flugs böse und lustige Gesichter durcheinander, wie es ihm einfiel. Zuletzt mußte selbst der Herzog lachen und er sagte, Kasperle dürfe an diesem Abend bei ihm bleiben. Da trieb Kasperle die allergrößten Narrenpossen, und zuletzt sollte er dem Herzog noch etwas erzählen, als der schon im Bett lag und nicht einschlafen konnte.

Kasperle hockte neben ihm auf einem Stuhle und machte das allerdümmste Gesicht von der Welt, als der Herzog sagte: »Erzähle mir etwas!« Dazu hatte er keine Lust. Den Herzog allein wollte er auch nicht unterhalten; er dachte an das Einsperren und das kranke Marlenchen. Da drehte er den Kopf schief und schaute den Herzog böse an.

»So ein Gesicht sollst du nicht machen!« rief der Herzog zornig. »Gleich erzähle mir: Wer hat alles im Waldhaus gewohnt?«

Im Waldhaus! Bei der Erinnerung daran vergaß Kasperle seinen Zorn auf den Herzog; sein unnützes Schelmengesicht bekam einen lieben, zärtlichen Ausdruck, und als der Herzog mahnte: »Erzähle mal vom Waldhaus! Lebt denn der Meister Friedolin noch?« Da fing Kasperle an. Wie das Bächlein so flink ging seine Rede. Er vergaß, daß es der Herzog war, der im Bett lag, er war auf einmal wieder im Waldhaus bei Meister Friedolin und Mutter Annettchen. Er schwatzte von der schönen Liebetraut und Herrn Severin, von seinem Michele, von dem am meisten. So etwas hatte der Herzog noch nie gehört. Daß man abends nur Milchsuppe und ein Stück Brot aß und Feste feierte, wenn das erste Schneeglöckchen, die ersten Primeln blühten, die Singvögel heimkehrten, kam ihm wie ein Märchen vor.

Kasperles Augen glänzten. Er redete und redete, er erzählte von den Rehen, die ganz zahm waren und manchmal in die große Waldhausstube hereinschauten, und wie sie stille standen, wenn jemand aus dem kleinen Haus kam, und sich streicheln ließen. Und von dem zahmen Eichkätzchen, von dem Hasen Wackelbart und der Ziege Ludowisia erzählte Kasperle.

Der Herzog lag ganz still und lauschte. Er meinte den Wald rauschen und die Vögel singen zu hören, und am liebsten wäre er aufgestanden und hätte gesagt: »Komm, Kasperle, wir gehen ins Waldhaus!«

Da zupfte plötzlich der Kammerdiener Kasperle am Jackenzipfel und sagte leise: »Komm hinaus, sieh doch, der Herzog ist eingeschlafen!«

Der war wirklich eingeschlafen, er lag und träumte vom Waldhaus, und er sah dabei gar nicht böse und streng wie sonst aus, sondern ganz milde. Kasperle schüttelte erstaunt den Kopf und brummelte: »Da liegt ’n anderer im Bett drin!«

»I bewahre!« flüsterte der Kammerdiener, »es ist schon unser Herzog. Freilich, so freundlich hat er lange nicht dreingesehen. Lieber Himmel, ja, wenn er doch immer so aussehen möchte, dann diente ich ihm auch lieber! So, und nun gehe in dein Bett, Kasperle, und schlafe, es ist Zeit!«

Zwölftes Kapitel

Es geistert im Schloß

So friedlich wie der Abend war der Morgen, der ihm folgte, nicht. Das gab gleich in aller Herrgottsfrühe ein lautes Rennen, Rufen und Klingeln im Schloß. Sogar in seinem Turm hörte es Kasperle. Der witschte ein paarmal durch den Schrank, lauschte hinaus, flitzte ängstlich wieder zurück, wenn er jemand kommen hörte, aber immer verhallten die Schritte in der Ferne. Endlich, endlich, Kasperle dachte schon, er hätte hundert Jahre nichts gegessen, kam Veit und brachte ihm das Frühstück.

Der gutmütige Bursche sah sehr verdrießlich drein, und als ihn Kasperle ängstlich ansah, brummte er: »Nun kommt sie doch schon wieder!«

»Wer denn?« fragte Kasperle und sah nach der Türe; er dachte, irgend jemand müßte da anspaziert kommen.

»Die Prinzessin Gundolfine,« brummte Veit. »Na, du armes Kasperle, da nimm dich nur in acht!«

Kasperle sah nun wirklich drein, als sei ihm nicht allein seine Milchtasse, sondern sein Zubrot, sein Wämslein und sonst etwas in den Brunnen gefallen. Er vergaß sogar das Frühstück.

»Ja, ja,« knurrte Veit, »da staunste! Zum Vergnügtsein ist’s auch nicht, und ich glaube, der Herzog wünscht seine liebe Base auch ins Pfefferland, heute mittag kommt sie schon. Nun flink, nimm dein Frühstück und laufe in den Park! Wer weiß, ob du es morgen noch darfst.«

Da schluckte Kasperle selbst für ein Kasperle ungeheuer geschwinde alles hinab, was Veit gebracht hatte, und dann flitzte er die Treppe hinab in den Park hinein. Niemand sah ihn, und als er am Bächlein anlangte, saß wirklich das traurige Marlenchen schon da.

»Die Prinzessin kommt,« schrie Kasperle.

Marlenchen wurde totenbleich, und ehe sich Kasperle noch auf ein zweites Wort besonnen hatte, rannte sie schon weg. Sie flog mehr, als sie ging, und Kasperle blieb nichts weiter übrig, als hinter ihr her Purzelbäume zu schlagen, um sie einzuholen. Er schrie zwar immer: »Bleib doch, bleib doch!« aber Marlenchen hörte in ihrer Angst vor der Prinzessin gar nicht darauf.

Endlich erwischte Kasperle sie an einem Zipfel ihres weißen Kleides, und da sank das traurige Marlenchen wie eine kleine, blasse Blume ins Gras. Kasperle dachte wirklich, sie wäre gestorben, und er erhob ein lautes Zetergeschrei.

Zum Glück hörte es niemand, und das blasse Marlenchen öffnete nach einigen Minuten wieder ihre Augen. Sanft bat sie: »Mußt nicht so schreien, Kasperle!«

Gleich war der muckstill. Er sah Marlenchen mit seinen schwarzen Glitzeräuglein aber so traurig an, daß die Kleine ihm sanft über den Kopf strich. »Die Prinzessin, die böse Prinzessin!« Und sie seufzte tief.

»Aber sie kommt doch erst mittags!«

Marlenchen richtete sich verwundert auf. Sie hatte gemeint, die Prinzessin liefe hinter Kasperle drein, und sie sagte sanft: »Warum hast du denn dann so geschrieen?«

»Aber sie kommt doch!« rief Kasperle kläglich.

Ja, sie wollte kommen. Trübselig genug war es den beiden zumute. Sie gingen langsam über die weite Wiese nach dem Bächlein zurück und Marlenchen sagte traurig: »Wenn sie kommt, darf ich nicht mehr am Bach sitzen.«

»Ich vergraule sie,« schrie Kasperle und machte sein Teufels- und Hexengesicht zu gleicher Zeit.

Das sanfte Marlenchen erschrak. Ganz leise sagte sie: »Du mußt nicht schlimm sein, Kasperle.«

»Ich vergraule sie doch!« schrie Kasperle zornig.

»Wie denn?«

Da schwieg der kleine Schelm. Er wußte noch nicht wie, aber er wußte, etwas fiel ihm schon ein, und trotzdem die sanfte Freundin ein paarmal mahnte, keine Dummheiten zu machen, blieb er doch dabei: »Ich vergraule sie.«

Und dann saßen die beiden ungleichen Kameraden lange am Bächlein, erzählten sich dies und das, sprachen wieder vom Waldhaus, und viel zu früh ertönte des Haushofmeisters Pfeife.

»Jetzt ist sie vielleicht schon da,« flüsterte Marlenchen scheu.

»Ich geh’ nicht!« Kasperle blieb auf seinem Stein sitzen. Die Pfeife grillte und schrillte, er rührte sich nicht.

»Geh doch!« mahnte Marlenchen.

»Nä!« knurrte Kasperle wie ein kleiner Bär.

»Tirillili, tirillili!« tönte die Pfeife. Kasperle rührte sich nicht.

Da endlich kam Veit angelaufen. »Kasperle, Kasperle, wo bleibst du denn?«

»Ich komme nicht,« schrie Kasperle patzig.

Aber da hatte er sich doch in Veit verrechnet. Der kam mit langen Schritten herbei, packte das Kasperle und trug es ohne weiteres dem Schlosse zu. Nicht einmal recht Abschied nehmen konnte er von dem traurigen Marlenchen.

Das verdiente in dem Augenblick seinen Namen wirklich. Tief traurig sah es dem lustigen kleinen Kameraden nach, bis sie ihn nicht mehr erblicken konnte. Und als sie heimging mit gesenktem Kopf, da sagten die Wiesenblumen zueinander: »Wie seltsam, Regentropfen fallen und der Himmel ist so blau.« Die Regentropfen aber waren des traurigen Marlenchens bittere, bittere Tränen.

Inzwischen gelangte Kasperle noch rechtzeitig in das Schloß. Und just als sich der Herzog zum Mittagessen setzen wollte, rumpelte und rasselte es draußen, die Prinzessin kam angefahren. Ein paar Minuten lang lief und rief alles durcheinander. Der Herzog seufzte erschrecklich tief, denn ihm gefiel der Besuch gar nicht. Das Kasperle stand ganz verdattert herum, da schüttelte ihn jemand und raunte ihm zu: »Marsch, lauf in deinen Turm! Sonst gibt es gleich Zank und Streit, wenn dich die Prinzessin erblickt.«

Illustration 128

Der Haushofmeister war es. Kasperle ließ sich das nicht zweimal sagen. Er rannte davon und kam dabei durch das Anrichtezimmer. Dort standen allerlei schön verzierte Speisen, Schüsseln mit Kuchen und dergleichen, und Kasperle dachte: Davon bekomme ich nun nichts. Plötzlich blieb er stehen, eine feine rosenrote Torte hatte es ihm angetan, und eins, zwei, drei, nahm er die Torte und trug sie in seinen Turm hinauf. Er war beinahe oben, da traf ihn jemand; der gute, dicke Oberstallmeister war es. »Potzwetter!« rief der, »wo willst du denn mit der Torte hin? Bist du Küchenjunge geworden?«

Illustration 129

»Nä!« stammelte Kasperle und schielte den freundlichen Herrn scheu an. »Ich – ich will sie essen!«

»Die ganze Torte?«

Kasperle sah den Oberstallmeister an, sah die Torte an und dachte: Sie langt schon für beide. Er sagte das auch ganz treuherzig und der dicke Herr lachte herzhaft darüber. Weil er aber auch schon einen rechtschaffenen Hunger hatte und wußte, nun würden noch viele Minuten vergehen bis zum Mittagessen, rief er: »Kasperle, du bist ein Schlauerchen. Aber meinetwegen, wir essen die Torte zusammen.«

Und dann setzten sie sich auf die Turmtreppe, der Oberstallmeister nahm seinen Säbel, schnitt die Torte mittendurch, und dann schmausten sie höchst einträchtig zusammen. Danach war Kasperle pumpelsatt, der Oberstallmeister halbsatt, und als sie sich trennten, hatte Kasperle einen neuen Freund im Schloß gewonnen.

Kasperle stieg sehr vergnügt in seinen Turm hinauf, kletterte auf das Fensterbrett und sah sich die Welt von oben an. Dabei sah er zwei Stockwerke tiefer zur Seite eine Anzahl Fenster offen stehen, die sonst geschlossen waren. Und wie er so hinsah, steckte aus dem einen jemand seinen Kopf heraus und das – war die Prinzessin Gundolfine. Kasperle purzelte vor Schreck in seinen Turm zurück. Eine ganze Weile lag er da und schnappte nach Luft, so arg war er erschrocken.

Aber Kasperle war eben ein zu dummen Streichen und Schabernack aufgelegtes Kasperle. Das dachte den ganzen langen Nachmittag an weiter nichts, als daran, der Prinzessin als ein Gespenstlein zu erscheinen. Niemand kümmerte sich um den Kleinen; zu Tisch wurde er nicht geholt, der Herzog wollte ihn am liebsten seiner Base nicht zeigen. Zu essen brachte ihm auch niemand etwas, weil der Oberstallmeister dem Haushofmeister von der verschwundenen Torte erzählt hatte. Da dachte der: Das reicht bis zum Abendessen.

Hunger hatte Kasperle auch nicht, aber Langeweile. Er flitzte immer wieder zu seinem Schranktürchen hinaus, und da alles ganz, ganz still blieb unten, wagte er sich endlich weiter und geriet bei seinem Herumsuchen auf den Schloßboden. Da gab es Türe an Türe, gab weite, offene Kammern. Kasperle steckte überall seine Nase hinein, und als er einmal aus einer Fensterluke blickte, sah er, daß er gerade über dem Zimmer der Prinzessin war.

»Hach!« Kasperle kreischte ganz laut, und dann sah er sich erschrocken um. Der weite, leere Raum gab das Echo zurück, und Kasperle fürchtete sich ein paar Augenblicke schrecklich. Dann merkte er aber, es war niemand da, nur ein Mäuslein huschte eilig an ihm vorbei. Der kleine Schelm sah sich um. In einer Ecke entdeckte er eine Anzahl Stäbe, aber als er einen zum Fenster hinaussteckte, merkte er wohl, die reichten nicht bis an die Zimmer der Prinzessin. Er flitzte in allen Winkeln und Ecken herum, und da fand Kasperle endlich eine lange, lange Waschleine. Gerade als er die gefunden hatte, meinte er von ferne Schritte zu hören. Er lief also eiligst in seinen Turm zurück und war kaum ein paar Minuten darin, als Veit kam.

Kasperle saß ganz brav und bieder auf dem Fensterbrett und schaute hinaus, und Veit hatte rechtes Mitleid mit dem kleinen Kerl. »Armes Kasperle,« sagte er »gelt, das ist ein langweiliges Leben?«

Kasperle nickte eifrig, aber als Veit in seine Glitzeräuglein sah, sagte er plötzlich: »Kasperle, mach’ keine Streichlein! Du schaust recht wie ein Bruder Unnütz und Vetter Dummheitenmacher drein.«

Da glitt Kasperle vom Fenstersims herab und hängte sich schmeichelnd an Veits Arm, und der streichelte den Schelm, versprach ihm allerlei gute Dinge zum Abendessen und sagte, heute dürfe er noch nicht herabkommen, der Herzog habe Angst, die Prinzessin Gundolfine könnte ihm etwas antun. »Also sei brav!« mahnte Veit noch.

Kasperle gab keine Antwort, er dachte mehr ans Unnütz- als ans Bravsein und Veit dachte: Na, der stellt doch noch etwas an! Freilich, zum Turm kam er nicht hinaus. Von dem geheimen Türlein, das der gute alte Haushofmeister dem Schelm verraten hatte, ahnte Veit nichts.

Ein wenig später brachte er wirklich Abendbrot. Kasperle schmauste und legte sich in sein Bett. Veit deckte ihn noch zu, und dann verschloß er sorgfältig die Türe, brachte den Schlüssel dem Herzog, und der zeigte ihn seiner Base und sagte: »Nun siehst du, jetzt ist Kasperle im Turm eingeschlossen. Du brauchst dich also nicht zu fürchten.«

»Ein Kasperle ist ein halbes Gespenst,« brummte die Prinzessin, »wer weiß, was der noch anstellt! Ich wollte, er läge unten im Schloßbrunnen.«

Nach dem feuchten, tiefen Schloßbrunnen hatte Kasperle gar keine Sehnsucht. Der lag in seinem Bett, strampelte vor Vergnügen und schielte immer wieder hinaus, ob es nicht bald dunkel werde. Als Dämmerung draußen über dem Lande lag, wuschelte er sein Bett zusammen, nahm das Kopfkissen unter den Arm, flitzte durch das verborgene Türlein und huschte durch die Bodenkammer. Dort nahm er die längste Stange, band das Kopfkissen daran und versuchte damit das offene Fenster der Prinzessin zu erreichen. Es langte gerade, weiter nicht. Da zog Kasperle das Kopfkissen wieder hinauf, setzte sich auf die Fensterbrüstung und dachte vergnügt: Nun kann es losgehen.

Das Warten wurde ihm freilich lang, denn die Prinzessin blieb bis spät in die Nacht beim Herzog. Da wurde Kasperle schließlich müde, er kroch in die Kammer zurück, kauerte am Boden nieder und schlief ein.

Als er erwachte, war es tiefstill ringsum, nirgends ein Laut zu hören. Kasperle schaute zum Fenster hinaus. Unzählige Sterne glänzten am Himmel. Es war eine helle, klare Nacht. Ein paar Fledermäuse huschten lautlos am Bodenfenster vorbei, sonst rührte und regte sich nichts. Da stopfte Kasperle flugs noch etliche Kieselsteine zwischen Kopfkissen und Bezug, und dann steckte er seine Stange zum Fenster hinaus.

Die Prinzessin schlief noch nicht. Sie lag wach und dachte allerlei; freundliche Gedanken hatte sie nicht, sie wollte den Grafen von Singerlingen recht kränken und sann nach, durch was. Auf einmal rauschte etwas Weißes an ihrem Fenster vorbei, klapp, schlug es an, – weg war es.

Die Prinzessin rief erschrocken und sehr laut nach ihrer Kammerfrau, und das unnütze Kasperle hörte das Rufen, denn das Fenster stand halb offen. Es zog flugs sein Kopfkissen hinauf und lauschte. Unten sah jemand hinaus und sagte: »Es ist nichts zu sehen.«

»Schließe das Fenster!« schrie die Prinzessin. Das Fenster klirrte, es war wieder alles still.

Da fing plötzlich die Schloßuhr zu schlagen an, zwölfmal, die Geisterstunde begann.

»Es ist unheimlich,« sagte die Prinzessin unten gerade. Da rauschte draußen etwas Weißes an ihrem Fenster vorbei, klappte heftig an, und sie schrie laut um Hilfe. Die Kammerfrau sah erschrocken hinaus, und da sah sie gerade über sich das Kopfkissen schweben.

»Ein Gespenst, ein Gespenst!« kreischte sie, und ein paar Augenblicke später hallte durch das Schloß Schreien und Hilferufen, und Kasperle nahm sein Kopfkissen, so schnell er konnte, und witschte in seinen Turm.

Er kam gerade noch hinein, da klirrten draußen Schritte, und er mußte den langen Stock mit ins Bett nehmen, weil er nicht schnell genug die Stricke davon losbekam. Da wuschelte er sich so in sein Bett, daß nur die Nase heraussah, und er tat, als schliefe er ganz fest. Er hörte draußen ein paar Diener sich über die Gespensterfurcht unterhalten, hörte sie auf den Boden gehen und wieder zurückkommen. Wieder war alles still.

Die Prinzessin Gundolfine zeterte und schrie zwar noch eine Weile in ihrem Bett, und die arme Kammerfrau, die vor Angst bebte, mußte noch dreimal zum Fenster hinaussehen; es war aber nichts zu erblicken.

Der Herzog lag in seinem Bett und schalt, Haushofmeister und Diener schalten, und zuletzt schliefen alle ein.

Nur Kasperle schlief nicht. Der kugelte sich lachend in seinem Bett herum und hörte draußen die Uhr schlagen: halb, dreiviertel; da kletterte er wieder zum Turme hinaus, schleppte aber noch seinen Wasserkrug mit und schlich sich wieder in die Bodenkammer.

Die Prinzessin war halb eingeschlafen, da ging es draußen klapp, klapp, etwas Weißes rauschte am Fenster entlang. Diesmal sprang die Prinzessin selbst auf und riß das Fenster auf. Es klirrte und krachte, dumpf dröhnte die Uhr, und schwapp! bekam

die Prinzessin so ein Güßlein, daß sie pustend und stöhnend in das Zimmer zurücktaumelte.

Wieder tönten Hilferufe, Jammern, Kreischen; Türen klappten, Schritte hallten und Kasperle lag gerade in seinem Bett, als er draußen des Herzogs Stimme hörte. Der wollte selbst dem Gespenst zu Leibe gehen. »Kasperle kann es nicht sein, der ist ja eingeschlossen, aber nachsehen will ich doch,« hörte der kleine Schelm ihn sagen.

Der bekam einen argen Schreck. Er zog sich das Bett so fest über die Ohren, daß nur seine Nase herausschaute, und tat, als ob er ganz fest schliefe.

Der Herzog kam in den Turm, sah Kasperle liegen, ließ ihm ins Gesicht leuchten und murmelte: »Nein, nein, der kann es nicht gewesen sein, aber – ich glaube, der denkt sogar im Schlaf an unnütze Dinge. Hm, hm, merkwürdig!«

Illustration 134

Der Herzog ging, der Haushofmeister drehte sich aber noch einmal um, und als Kasperle ein bißchen blinkerte, sah er, wie sein alter Freund ihm drohte.

Auf dem Boden, nirgends wurde etwas gefunden, nur einer bückte sich rasch und hob etwas auf, die andern sahen es nicht, es war der Haushofmeister.

Und wieder gingen alle in ihre Betten. Bei der Prinzessin mußten aber außer der Hofdame und der Kammerfrau noch drei Mädchen wachen, und alle graulten sie sich schrecklich. Alle schliefen sie aber ein, und plötzlich wachten alle von einem Zetergeschrei auf, das aber rasch verstummte.

»Jetzt hat das Gespenst geschrien.« Die Prinzessin sah käseweiß aus und ihre Wächterinnen sahen ebenso käseweiß aus. Sie horchten alle zitternd, aber alles blieb still. Daß Kasperle oben in seinem Bett lag und bitterlich weinte, dies konnten sie nicht hören.

Kasperle hatte eben gespürt, daß der gute alte Haushofmeister auch einmal einen unnützen Schelm tüchtig verwichsen konnte. Er war gerade eingeschlafen, da hatte er unversehens klatsch, klatsch! gespürt, wie weh Schläge tun. Darob hatte er so mörderlich gebrüllt. Er verstummte aber gleich, als ihm der Haushofmeister ein Hosenknöpflein vor die Nase hielt und sagte: »Kasperle, soll ich das dem Herzog zeigen und sagen, das hat das Gespenst verloren?« O lieber Himmel, es ist schon schlimm, wenn einer immerzu Hosenknöpfle verliert! Arg schlimm!

Kasperle schluchzte in sein Bett hinein und der alte gute Haushofmeister fragte traurig: »Kasperle, warum bist du nur so unnütz?«

»Sie ist böse,« knurrte Kasperle zornig wie ein kleiner wütender Hund.

»Ja, das ist sie. Denk’ aber an den Keller, Kasperle, und an – die Fässer!«

»Ich will’s nicht wieder tun,« murmelte Kasperle bedrückt. Daß der gute Haushofmeister aber auch alles herausbekam! Es wurde ihm ordentlich etwas bange vor ihm, und scheu blinzelte er den alten Mann an.

Der mußte ein wenig lachen. »O Kasperle, du Strick!« sagte er, »du machst doch sicher noch eine Dummheit, solange die Prinzessin da ist! Jetzt sperre ich aber das Schranktürchen zu, sonst geisterst du noch einmal herum.«

Der Haushofmeister wollte gehen, da griff Kasperle bittend nach seiner Hand, und der alte Mann strich ihm linde über den Kopf. »Armer kleiner Kerl,« sagte er, »warum hat dich unser Herzog nicht in deinem Waldhaus gelassen!«

Kasperle seufzte tief, tief, danach drehte er sich um und schlief wie ein Rätzlein, schlief bis zum sonnigen Morgen. Und als er aufwachte, dachte er an keine Gespensterei, nichts, nur daran, wie er wohl heute das traurige Marlenchen sehen könnte.

Dreizehntes Kapitel

Das Nest auf der Ulme

An diesem Morgen kam die Prinzessin Gundolfine mit einem Gesicht zum Frühstück, als hätte sie drei Metzen Schlackerwetter aufessen müssen. »Es hat heute nacht gespukt,« sagte sie böse.

»Das ist noch nie geschehen,« antwortete der Herzog.

Da fiel der Prinzessin etwas ein und sie rief: »Dann war es Kasperle.«

»Nein, der war es nicht. Der war eingeschlossen im Turm.«

»Er soll kommen, ich will ihn fragen!«

»Meinetwegen,« brummte der Herzog.

Da wurde Kasperle geholt, und dem kleinen Schelm wurde es wind und weh bei dem Gedanken, die Prinzessin zu sehen. Dazu sagte ihm noch der Haushofmeister: »Kasperle, Kasperle, das wird bös! Sie denkt, du seiest das Gespenst gewesen.«

Jemine und Kasperle konnte doch nicht lügen! Dummheiten machen, ja, aber schwindeln, nein, das brachte er nicht fertig.

Da war er schon im Zimmer und der Herzog rief: »Hier kommt er.«

Kasperle sah vor Verlegenheit nicht rechts und nicht links, trat zaghaft auf, und weil er ohnehin auf dem glatten Boden schlecht gehen konnte, glitschte er und stolperte. Er wollte sich an einem Kammerherrn, der neben ihm ging, festhalten, beide verloren das Gleichgewicht und rutschten in das Zimmer hinein, als wäre der Boden eine Eisbahn.

Der Kammerherr wollte sich auch an etwas anhalten, und unglücklicherweise erwischte er das Bein des Stuhles, auf dem die Prinzessin saß. Da rutschte der, die Prinzessin wackelte hin und her, hielt sich am Herzog fest, und pardauz, bums! lagen alle miteinander auf dem Boden.

Der Herzog wurde fuchsteufelswild und die Prinzessin Gundolfine schrie immerzu: »Daran ist Kasperle schuld.«

Der aber dachte: Es ist am besten, mitzuschreien, und er schrie so gewaltig, daß die andern allmählich erstaunt verstummten. So ein Geschrei war nicht Mode am Herzogshof.

»Stille!« rief der Herzog, aber das Kasperle schrie und schrie. Der kleine Schelm dachte: Wenn ich recht schreie, fragen sie mich nichts. Und er hatte recht gedacht. Der Herzog vergaß vor Ärger das Gespensterspiel der Nacht, er rief böse: »Bringt Kasperle in den Turm zurück, er soll dort eingesperrt bleiben!«

Das ließ sich der gute Haushofmeister nicht zweimal sagen; er winkte Veit, der zerrte Kasperle hinaus, und als unten alle noch aufgeregt durcheinander redeten, saß der schon wieder vergnügt in seinem Turm. Er schaute, als Veit gegangen war, über das Land hinweg, hinüber nach Lindeneck. Ach, wie gern wäre er doch zu dem traurigen Marlenchen gelaufen!

Da fiel es ihm ein, er war ja ganz und gar eingesperrt, selbst das Schranktürchen war zu. Oder vielleicht doch nicht. Er schlüpfte in den Schrank, und richtig, das Türchen drehte sich; er stand wieder im Treppenhaus. Ganz vergnügt flitzte er eine Weile hin und her, weil aber unten noch immer viel Gelärm war, wagte er es nicht, die Treppe hinabzugehen. So blieb er oben, kauerte sich auf den Boden nieder und lauschte hinab.

Die Stimme der Prinzessin Gundolfine klang schrill bis zu ihm herauf. Die Türen des Zimmers, in dem diese mit dem Herzog

saß, standen offen; die Prinzessin behauptete, sonst halte sie es nicht aus, so heiß sei es. Sie war noch immer sehr aufgeregt und schalt unverdrossen auf das Kasperle, verlangte strenge Bestrafung, und Kasperle, der das hörte, dachte wieder einmal: Ausreißen wäre am besten!

Er hatte aber doch für sein Michele sein Wort gegeben, und das mußte er halten.

Endlich wurde es still unten. Der Herzog und die Prinzessin gingen im Park spazieren und der Haushofmeister kam und sagte: »Heute mußt du oben bleiben, Kasperle, sonst wirst du erwischt.«

Kasperle versprach Bravsein, aber das Bravsein wurde ihm bald langweilig. Er flitzte zum Türlein hinaus und hinein, und der Vormittag wollte gar kein Ende nehmen. Endlich kam Veit und brachte ihm Mittagessen, und dabei sagte er: »Heute geht es unten hoch her. Der Herzog steigt eben in den Weinkeller hinab und holt von dem ganz guten Wein herauf. Weißt du, der Keller liegt neben dem, in den sie dich neulich gesperrt hatten. Dahinein geht der Herzog immer selbst, nur die Prinzessin ist mitgegangen. – Meine Güte, was ist da schon wieder?«

Unten tönte Rufen, und Veit lief die Treppe hinab und das Kasperle stand, als wäre er mitten in ein Hagelwetter hineingeraten.

Wenn der Herzog die leeren Fässer entdeckte!

Daß der nichts von dem Türchen wußte, ahnte Kasperle ja nicht. Er zitterte vor Angst, und da Veit in der Eile die Türe offen gelassen hatte, ging er durch diese Türe, ließ sie weit offen stehen, schlich sich einen Gang entlang, kam an eine schmale Seitentreppe, und gerade als er die erreicht hatte, hörte er die Prinzessin kreischen.

Jemine, jetzt hatten sie die leeren Fässer gefunden! Da war Kasperle schon unten, war draußen im Park und wutschte an den Sträuchern entlang bis zum Wäldchen hin.

Das Bächlein gluckste und rann, aber Marlenchen saß nicht an seinem Rande. Kasperle blieb stehen. Wohin sollte er nur? Ehe er durch des Herzogs Land lief, fingen ihn dessen Landjäger schon; sie erkannten ihn sicher an seinem grasgrünen Kasperlekleid, das alle kannten. Und dann dachte er an sein Wort, das er gegeben hatte. Er seufzte tief. Am Bächlein kauerte er sich nieder, und sein kleines unnützes Kasperleherz war ihm zentnerschwer. Wäre doch Marlenchen dagewesen! Ach, die traurige kleine Freundin konnte ihn gewiß auch nicht schützen!

Auf einmal fiel ihm der Graf von Singerlingen ein. Vielleicht half ihm der in seiner Not, weil er ihn von der Prinzessin befreit hatte. Vielleicht gab der dem Herzog ein gutes Wort und bat ihn frei. Er dachte: Wenn ich immer an Wiesen entlang wutsche oder durch den Wald gehe, dann sieht mich vielleicht niemand. Aber wie fand er den Weg? Da fiel es ihm ein, er würde auf die alte, hohe Ulme klettern; von dort aus konnte er gewiß das Schloß des Grafen von Singerlingen liegen sehen und auch den Weg, der dahin führte. Und auf der Ulme, im dichten Gezweig, sah ihn auch niemand vom Schloß aus. Da schützte ihn sein grasgrünes Röckchen.

Die Ulme war hoch, aber Kasperle fürchtete sich vor der Höhe nicht. Rutsch, rutsch, da war er schon ein Stück oben. Rutsch, rutsch, höher und höher kam er. Er sah schon das Elsternnest an der Spitze und sah die Vögel neugierig ihre Köpfe herausrecken. Die schimpften böse, und Kasperle schnitt wieder Frätzlein um Frätzlein. Das empörte die Elstern, die fingen laut zu schelten an, sie beugten sich weit aus den Nestern und machten böse Augen. Drei Nester waren es und in jedem Nest saß eine ganze Elsternfamilie. Kasperle hätte sich schon fürchten können, er merkte aber, die schwatzhaften Vögel hatten Angst vor seinen Teufels- und Räubergesichtern. Da kletterte er vergnügt höher und höher, verdrehte die Augen, zog den Mund krumm und schief, wackelte mit Nase und Ohren, und die Elstern kreischten immer lauter vor Angst.

Die Alten riefen den Jungen zu: »Wir wollen fliehen, fliegt auf, fliegt auf!« aber die Jungen konnten vor Angst ihre Flügel nicht heben. Sie flatterten erschrocken in den Nestern herum, und endlich sagte die älteste, würdigste Elstermadame, die schon viele Jahre in dem Neste wohnte: »Jetzt hacke ich ihm die Augen aus.«

Illustration 140

Da schnitt Kasperle ein Hexengesicht und plumps sank die mutige Elster zurück. Sie jammerte laut vor Angst und in dem Augenblick dachte Kasperle: Wenn sie doch ruhig wäre!, denn von unten tönte lautes Rufen: »Kasperle, Kasperle! – Er ist ausgerissen, der Bösewicht,« gellte eine Stimme und Kasperle hörte ganz genau, es war die Prinzessin, die rief.

Gewiß hatten sie die leeren Fässer entdeckt.

Das hatten der Herzog und seine Base nun wirklich getan. Sie waren, gefolgt von etlichen Dienern, in den Keller gekommen, in dem die köstlichen Weine lagerten, und der Herzog hatte befohlen: »Von dem Faß in der Mitte.«

Da hielt der Diener den silbernen Krug unter und – kein Tropfen kam heraus.

Die Prinzessin schnupperte unterdessen in dem Keller herum und sie sagte: »Wie sehr es hier nach Wein riecht, nein, sonderbar!«

»Das Faß ist leer,« meldete der Diener.

»Leer?« rief der Herzog verdutzt. »Ja, wie kommt denn das?« Er trat selbst an das Faß heran, pochte, schüttelte, – es war leer.

»Du hast es ausgetrunken,« sagte seine Base spitz.

»Unsinn!« Der Herzog war wirklich ärgerlich. »Nimm aus dem linken Faß!« rief er dem Diener zu. Der zog den Zapfen aus und hielt das Krüglein unter, aber kein Tropfen kam. Das war doch toll! Und beim dritten Faß ging es ebenso.

»Es muß jemand im Keller gewesen sein,« rief der Herzog. »Schnell, schnell, man bringe Licht, um alles zu untersuchen!«

»Du hast gewiß alles allein ausgetrunken,« sagte die Prinzessin Gundolfine wieder spitz, und der Herzog ärgerte sich so, daß er ganz grün wurde. Er schrie immer lauter: »Licht her, Licht her!« und die Diener kamen mit Lampen und Kerzen gerannt. Sogar die Kammerherren trugen Kerzen und alle leuchteten in dem kleinen Keller herum. Plötzlich rief der jüngste Hofjunker, der Augen wie ein Falke hatte: »Hier ist eine Türe.«

»Unsinn, der Keller hat nur eine Türe!« erwiderte der Herzog, aber da schob das Junkerlein das Pförtchen zurück, und alle sahen erstaunt in einen zweiten Keller hinein. Auf einmal riefen etliche: »In dem Keller hat Kasperle gesteckt.«

»Ja, und dann war er krank und hat immerzu geschlafen.« Der dicke Oberstallmeister brach plötzlich in ein dröhnendes Lachen aus. »Am Ende hat das Kasperle ein Schwipslein gehabt.«

»Oooh!« Der Herzog sah drein, als wäre vor ihm ein Kirchturm umgepurzelt. Die Prinzessin aber kreischte: »Dieser schreckliche Kasper, den muß man aufhängen, in den Brunnen werfen, schlagen, der muß furchtbar bestraft werden!«

»Man hole ihn!« Der Herzog stöhnte. Wirklich, das Kasperle war doch ein arger Strick, den mußte er wirklich streng bestrafen!

Unter den Dienern war auch Veit, der lief mit, um das Kasperle zu holen. In seinem Herzen dachte er mitleidig: Vielleicht kann er noch entwischen.

Und dann fanden sie die Turmtüre offen und kein Kasperle war zu sehen. Der Schelm war ausgerissen. Als das der Herzog erfuhr, vergaß er Mittagessen und alles; er war bitterböse, rief, man solle überall suchen und die Landjäger ausschicken, um das Kasperle zu fangen.

»Und dann wird es aufgehängt,« rief die Prinzessin Gundolfine.

»Nein, denn von einem toten Kasperle habe ich nichts,« erwiderte der Herzog.

»Ach, aufhängen ist am besten!«

»Nein, es ist mein Kasperle!«

»Und mich hat es geärgert. Das Gespenst heute nacht war sicher auch Kasperle,« rief die Prinzessin. »Er muß doch aufgehängt werden!«

»Nein!« schrie der Herzog zornig, und so stritten sich beide eine ganze Weile herum, was mit dem Kasperle geschehen sollte. Sie hatten es aber noch gar nicht.

Unterdessen suchten die Diener überall herum. Veit sagte: »Ich suche im Wäldchen.« Er dachte: Wenn ich da das Kasperle sehe, kann es noch ausreißen. Aber etliche Kammerherren sagten auch, sie suchten im Wäldchen, und der gute Veit mußte sich das gefallen lassen.

Kasperle sah sie alle kommen von seinem hohen Sitz aus. Jemine, klopfte da sein unnützes kleines Kasperleherz! Und die dummen Elstern kreischten und flatterten. Kasperle wollte sie zur Ruhe bringen, aber je bösere Gesichter er schnitt, desto schlimmer krächzten sie. Er machte endlich sein dummes, gutmütiges Kasperlegesicht, aber da flatterten die Elstern gleich wütend auf ihn los und wollten ihm die Augen aushacken. Das war Kasperle zu toll, er schlug mit seiner Faust nach ihnen und machte ein Teufelsräubergesicht.

»Wir müssen fliehen, fliehen,« krächzte die älteste Elsternmadame, »Kinder, strengt euch an!« Und die Kinder strengten sich an. Sie hoben die Flügel und flatterten, und auf einmal flog die ganze Elsternschar mit so lautem Schreien davon, daß die Menschen unten aufmerksam wurden. Sie sahen hinauf, und der jüngste Hofjunker mit seinen scharfen Augen erblickte das Kasperle trotz seines grasgrünen Röckleins hoch oben auf der alten Ulme.

»Da sitzt er, da sitzt er!« rief er, und nun schauten alle hinauf und alle riefen: »Da sitzt er, da sitzt er!«

Kasperle fuhr der Schreck arg in die Glieder. Er wäre beinahe von dem Baume heruntergesaust, und in seiner Angst griff er nach dem verlassenen Elsternest, um sich daran festzuhalten. Dabei ergriff er etwas hartes und hatte auf einmal einen großen goldenen Ring mit einem schönen Rubin in der Mitte in seiner Hand. Das war nun wirklich sonderbar. In einem Elsternest lag ein goldener Ring! Kasperle war ausnehmend neugierig, und vor Neugier vergaß er sogar seine Angst. Er kletterte noch ein Stückchen höher und schaute in das Nest hinein. Nein, so etwas, da lag noch ein kleiner silberner Löffel und ein goldener Ohrring! Aber der Ring, den er in der Hand hielt, war das schönste Stück.

Himmel, vielleicht war das gar des Herzogs Ring, den der Herr von Lindeneck gestohlen haben sollte! Kasperle hielt das kostbare Ding in der Hand, besah es von allen Seiten und dachte: Vielleicht wenn ich den dem Herzog bringe, verzeiht er mir. Aber just da kam unten die Prinzessin Gundolfine angelaufen und kreischte: »Man hole eine Kanone und erschieße ihn!«

Kasperle schnitt sein Teufelsgesicht hinab. Aber was half das, die unten liefen nicht davon, wie die Elstern davongeflogen waren. Die blieben stehen, schimpften hinauf, redeten von einer Kanone und der Wasserspritze; sehr freundlich klang das nicht.

Kasperle überlegte. Ausreißen konnte er nicht, auch hatte der Herzog ja nicht gesagt: »Geh zum Teufel!«, also war er noch nicht frei. Aber wenn er mit dem Ring ankam, würde der Herzog vielleicht wieder gut werden. Wenn nur die Prinzessin nicht unten gestanden hätte, an der er vorbei mußte!

Plötzlich kam dem Kasperle ein Gedanke. Blitzschnell nahm er das Nest, in dem außer den Kostbarkeiten auch noch allerlei Unrat lag, und warf es hinab, der Prinzessin gerade auf den Kopf.

Unten erhob sich ein lautes Geschrei, aber alle sahen ein paar Augenblicke nicht zu Kasperle hinauf, sondern auf die Prinzessin, und da rutschte der kleine Schelm den Baum hinab und schoß auf einmal einen Purzelbaum über alle hinweg, rollte sich und kollerte bis zum Schlosse hin, ehe die unter dem Baume noch wußten, was geschehen war. Im Schloß flitzte er aber an ein paar Dienern vorbei, husch, husch in das Zimmer des Herzogs hinein, in dem der seine Mittagsruhe zu halten pflegte. Und richtig, da saß der Herzog auch verdrießlich in seinem großen Stuhl und ärgerte sich. Ja, über was ärgerte er sich alles! über Kasperle, den ausgelaufenen Wein, seine Base, das verspätete Mittagessen, am meisten aber doch über Kasperle.

Er muß streng, ganz streng bestraft werden, dachte er, und da purzelbaumte gerade das Kasperle in das Zimmer hinein, stand plötzlich vor ihm und hielt ihm seinen Ring unter die Nase. Dazu machte der kleine Kerl das betrübteste unnützeste Kasperlegesicht.

»Aber Kasperle!« rief der Herzog, »wo hast du den Ring her?«

Kasperle legte den Kopf schief, schielte den Herzog bittend an und erzählte von seiner Kletterei und den scheltenden Elstern.

»Mein Himmel,« sagte der Herzog, »eine Elster hat den Ring gestohlen und der arme Herr von Lindeneck ist darum in Verdacht gekommen! Kasperle, um des Ringes willen soll dir alles, alles verziehen sein.«

Da kugelte und kollerte sich Kasperle im Zimmer herum, und plötzlich bettelte er: »Herr Herzog, laß mich nach Lindeneck laufen!«

»Dann reißt du aus.« Der Herzog schüttelte ernst den Kopf, aber Kasperle hing tief betrübt die Nase. »Du hast doch noch nicht gesagt: ‚Geh zum Teufel!‘«, murmelte er und seufzte schwer dazu.

»Ei, das ist gut! Vorher reißt du also wirklich nicht aus?« rief der Herzog lachend. »Nun, dann brauche ich ja keine Sorge zu haben; das sage ich nie. Also laufe nur nach Lindeneck und bestelle, der Herr von Lindeneck möchte gleich kommen. – Aber,« er rieb sich nachdenklich die Nase, »weißt du denn, wo Lindeneck liegt?«

Kasperle nickte eifrig und ganz zutraulich erzählte er dem Herzog von seiner Freundschaft mit dem traurigen Marlenchen.

Der Herzog wurde sehr, sehr nachdenklich. Er schämte sich, daß er dem Herrn von Lindeneck so unrecht getan hatte, und er dachte bei sich: Eigentlich ist das Kasperle besser als ich. – Solche Gedanken hatte der Herzog selten, wenn sie ihm aber kamen, dann blickten seine Augen milde und gütig und das Kasperle dachte: Jetzt gefällt er mir.

»Nun laufe nur schnell!« sagte der Herzog. »Halt, der Haushofmeister mag dich ein Stück geleiten, denn wenn dich die Base Gundolfine erwischt, geht es dir übel. Sie denkt sogar, du hättest heute nacht gegeistert, und du lagst doch in deinem – Kasperle!« Der Herzog machte plötzlich wieder böse Augen, denn Kasperle ließ gar zu schuldbewußt seine Nase hängen. »Du warst es doch, Kasperle!«

Der Schelm nickte, und schon wollte der Herzog schelten, da fiel sein Blick auf den Ring und er sagte: »Na ja, klettern kannst du freilich! Aber nun laufe nur, auch das soll dir verziehen sein!«

Kasperle huschte hinaus, froh, daß der Herzog nicht weiter gefragt hatte. Er fand den Haushofmeister, erzählte ihm flink alles, und der ließ ihn zu einem schmalen Pförtchen hinaus.

Als die Prinzessin zornig und scheltend in das Schloß zurückkehrte, rannte Kasperle schon über eine große Wiese Schloß Lindeneck zu. War die Prinzessin Gundolfine aber böse! Sie machte wirklich Kulleraugen, als sie erfuhr, Kasperle sei beim Herzog gewesen und alles, alles sei verziehen.

»Ich verzeih’ ihm nicht,« schrie sie, »nie und nimmer! Er soll seine Strafe schon bekommen!«

Doch als der Herzog ihr sagte, der vermißte Ring sei im Elsternest gewesen und dem Herrn von Lindeneck sei bitteres Unrecht geschehen, da redete sie gleich von Abreisen. Sie fühlte ihre Schuld, aber sie wollte sie nicht, wie der Herzog es tat, eingestehen.

Der Herzog, der die Gewohnheit hatte, manchmal laut mit sich selbst zu sprechen, sagte, als die Prinzessin von ihrer Abreise sprach: »Ach, das wär’ fein!«

»Hach,« kreischte die Prinzessin, »ich falle in Ohnmacht! Das sagt man mir!« Und weinend lief sie auf ihr Zimmer und sie schluchzte so laut, daß es bald im ganzen Schloß zu hören war.

Wenn sie doch abreiste! dachten alle, und sie sagten es laut und leise zueinander. Aber die Prinzessin Gundolfine dachte gar nicht an die Abreise; die wollte bleiben, wollte sich an Kasperle rächen. Denn daß der kleine Schelm den Ring gefunden hatte, das rechnete sie ihm nur als neuen Schabernack an. Auf ihrem Zimmer hielt sie Rat mit einer Kammerfrau und einer Hofdame, die beide genau so boshaft wie sie selbst waren. Und weil sie dabei doch nicht weinen konnte, mußte eine andere Kammerfrau an der Türe stehen und schreien und jammern, denn der Herzog sollte das allergrößte Mitleid mit seiner Base bekommen.

Doch was zuviel ist, ist zuviel. Der Herzog mochte das Geschrei nicht mehr hören, er sagte: »Bringt mir Watte!« Und dann steckte er sich Watte in die Ohren, sagte, man solle ihn nur wecken, wenn Kasperle käme, legte sich hin und hielt seinen Mittagschlaf.

Erstes Kapitel

 

Der Kasperlemann erzählt

»Bimmelimbim, hollahe, ich bin da!« so rief unverdrossen ein Mann, der vor einem kleinen, mit einem roten Vorhang verhüllten Kasperletheater stand. Das Budchen befand sich auf einem großen Platz, auf dem es noch viele andere Buden gab, denn in dem Städtchen Wutzelheim war Schützenfest; dazu waren Karussellmänner und Schaubudenleute von weither gekommen. Um das Kasperlebudchen herum drängten sich die Kinder. Es sollte, so wurde gesagt, ein besonders lustiges Kasperle sein, das da spielte, und das

Zusehen war billig. Für einen Pfennig konnte man lange stehen, und manchmal konnte man sogar ausreißen, ohne den Pfennig zu bezahlen. Aber das taten nur wenige, die meisten gaben gewichtig ihren Pfennig hin, man mußte doch Kasperle belohnen.

Illustration 001

Immer wieder tönte das Bimmelimbim des Budenbesitzers, immer mehr Kinder liefen herzu. Endlich ging der rote Vorhang auf, und Kasperle steckte seine große, große Nase heraus und fragte: »Seid ihr alle da?«

»Ja!« scholl es im Chor.

»Hm!« Kasperle seufzte, schwang ein Beinchen über die Brüstung und fragte trübselig: »Ihr denkt nun wohl, ich werde kaspern?«

»Ja,« schrien die Kinder, und ein paar Ungeduldige drängten: »Fang doch an, sonst müssen wir zum Abendbrot nach Hause!« Es war aber erst drei Uhr nachmittags, und das Kasperle lachte etwas. »Abwarten und Tee trinken!« rief es. »Erst muß ich euch eine Geschichte erzählen. Wollt ihr sie wissen?«

»Ja, ja,« ertönte es von unten herauf.

»Na, dann paßt mal auf! Glaubt ihr, daß ich lebendig bin?«

Die Kinder lachten, ein paar kleine sagten schüchtern ja, die größeren aber riefen alle: »Nä, du bist von Holz« – »Von Blech,« rief sogar ein Mädel.

»So,« brummte Kasperle, »na, das glaube ich doch nicht!« Dabei schlug er mit seinen hölzernen Armen und Beinen an die Bretterwand des Budchens. Es krachte laut, und die Kinder schrien alle: »Das klingt wie Holz, du bist von Holz.«

»So, gut, also ich bin von Holz. Es gibt aber ein ganz putzlebendiges Kasperle, glaubt ihr das?«

»Nä,« brüllten wieder die Kinder, »so was gibt’s nicht.«

»Doch, so etwas gibt’s, und das Kasperle sieht aus wie ich, nur ist es viel, viel größer, so groß wie der da.« Und Kasperle streckte seinen Holzarm aus und zeigte auf Gottfried Schlippermilch, der etwa acht Jahre alt war.

»Nä,« schrie Gottfried entrüstet, »das ist nicht wahr! Ich bin nicht wie ’n Kasperle.«

»Doch, es ist wahr, und nun kommt meine Geschichte.«

»Nä, das ist nicht wahr!« Gottfried war sehr entrüstet, daß er Ähnlichkeit mit einem Kasperle haben sollte, und seine Kameraden mußten ihm erst ein Weilchen gut zureden, bis er schließlich sich beruhigte und still wurde.

Kasperle beugte sich weit vor und begann: »Ja, denkt euch, es gibt ein lebendiges, flinkes, lustiges Kasperle, und das wohnt seit vielen Jahren in einem Waldhaus. Das Häuschen gehört einem Kasperleschnitzer, der auch mich geschnitzt hat, und darum sehe ich so aus wie das putzlebendige Kasperle.«

»I nä!« schrien ein paar Buben erstaunt, und Kasperle nahm flink eine alte Kartoffel und warf sie dem dicken Hansjörg an die Nase. Klatsch! Das knallte nur so.

»Stille sein!« schrie Kasperle. »Was ich erzähle, ist wahr!«

Hansjörg rieb sich erschrocken seine Nase, und er klappte vor lauter Angst seinen Mund nun gar nicht mehr zu, doch auch die andern schwiegen ein wenig erschrocken, und Kasperle fuhr fort zu erzählen: »Das lebendige Kasperle hat einmal ewig lange geschlafen, vielleicht achtzig Jahre und noch länger. Da hat es in einem alten Schrank gesteckt, und niemand wußte es. Meister Friedolin, der Kasperleschnitzer, aber hat eines Tages in dem Schrank herumgekramt und dabei das schlafende Kasperle entdeckt. Wie das ans Licht gekommen ist, ist’s aufgewacht.«

»Was hat’s denn da gemacht?« Ein Stimmlein klang hell aus dem Kindergewühl heraus, und diesmal warf Kasperle keine Kartoffel, es drohte nur mit seiner steifen Holzhand, gab aber doch Antwort. »Dummheiten hat’s gemacht, nichts wie Dummheiten. Das Waldhaus hat es bald auf den Kopf gestellt, und dann ist es ausgerissen.«

Viele Ahs und Ohs ertönten. Die Kinder sahen sich um, ob gar das Kasperle hierher ausgerissen wäre, ein paar Buben aber schrien laut: »Das ist fein!« – »Potz Wetter! Was sagt ihr da?« schrie Kasperle empört. »Fein, fein! Na, ich danke. Frech war es, so frech wie eure Nasen. Und wie hat sich das Kasperle aufgeführt, o jegerle! Erst ist’s in ein Dorf gelaufen, – Protzendorf heißt es – nachdem es ein paar Büblein Hosen und Jacke weggenommen, hat sich dort als Gänsejunge verdingt und dabei die armen Gänse halb tot gehütet; dann hat es den braven Schäfer Damian und seinen Bruder Florian schlimm geärgert, und nachher ist’s wieder ausgerissen.«

»Fein!« schrien wieder ein paar Buben. Diesmal warf Kasperle wütend ein paar trockene Kienäpfel von oben herab. Klatsch, klatsch! Einen bekam Drehers Frieder an die Nase, der andere hopste auf drei Köpfen herum, immer von einem zum andern.

»Das ist frech!« schrien sie wieder.

»Ih, frech war Kasperles Ausreißen!« zeterte oben das Kasperle. »Und frech war es, was er dann tat. Dem Grafen von Singerlingen ist er hinten auf den Wagen aufgesprungen; so ist er mit in ein Schloß gefahren, dort ist er in die Schlagsahne gefallen und hat sich in des Herzogs, unseres Herzogs, Bett gelegt.«

»Fein!« schrien wieder ein paar Buben, aber da drohte Kasperle: »Ihr werdet eingesperrt.«

Da verstummten die Schreier flink, und Kasperle erzählte weiter: »Unser guter Herzog August Erasmus war damals bei dem Grafen von Markfeld zu Gaste, eine Hochzeit wurde im Schloß gefeiert, und da hat das Kasperle herumgespukt. Die kleine Gräfin Rosemarie – sie ist jetzt eine schöne junge Dame und wird nächstens einen Grafen heiraten – hat den kleinen Unnützling aus Mitleid erst in ihr Puppenbett gesteckt, dann ihm geholfen, daß er ausreißen konnte.«

»Fein, fein!« brüllten wieder die Kinder. Da wurde Kasperle wütend, er schrie: »Potztausend! Das hättet ihr wohl auch getan?«

»Ja, ja!« jauchzten die Kinder. »Er soll nur kommen, wir helfen ihm schon!«

Einige Augenblicke war Kasperle muckstill; der Kasperlemann, der hinter dem roten Vorhang stand, fuhr sich mit seinem schwefelgelben Schnupftuch über das Gesicht. Er ärgerte sich. »So ist nun das Kindervolk! Da reise ich von Jahrmarkt zu Jahrmarkt, bin auf Schützenfesten, überall und immer, wenn ich erzähle: ‚Kasperle ist ausgerissen‘, schreien die dummen Kinder: ‚Fein, fein!‘ – Haue müßten sie alle haben!«

»Kasperle soll weiterreden,« verlangten die Kinder vor dem Budchen.

Da ließ der Kasperlemann das hölzerne Kasperle wieder zappeln. Er steckte aber selbst seinen Kopf heraus und erzählte weiter: »Trotzdem die Landjäger aufpaßten, gelang es dem schlimmen lebendigen Kasperle doch, zu entkommen. Hoch hinauf in die Berge in das Dorf Waldrast hat er sich geflüchtet, und der Schullehrer dort hat sich seiner gar liebreich angenommen. Aber als Dank hat Kasperle nichts wie Dummheiten gemacht.«

»Was hat er denn getan?« Hansjörg drängte sich ganz vor, und klatsch! schlug ihm Kasperle mit dem Bein an die Nase.

»Au!« Hansjörg brüllte, die andern schrien: »Sei doch still! Wir wollen hören, wie’s weiter geht. Was hat Kasperle gemacht?«

»Nichts als Unsinn, und vor allem hat er die Base Mummeline im Schulmeisterhaus schlimm geärgert. Die hat aber herausgekriegt, daß es mit dem Kasperle nicht richtig war, und da sind Landjäger nach Waldrast gekommen, die haben Kasperle fangen wollen, denn der Herr Herzog August Erasmus hatte eine hohe Belohnung dem versprochen, der Kasperle fangen würde.«

»O jemine! Die haben ihn wohl gefangen?«

»I bewahre! Stille doch, Kinder! Ausgerissen ist – –«

»Hurra, hurra!«

Der Kasperlemann ärgerte sich mehr und mehr, die Kinder jauchzten immer lauter, und von den andern Buden schauten die Leute neugierig herüber. »Beim Kasperle geht’s mal wieder lustig zu,« sagten sie.

»Stille, Kinder! Sonst erzähle ich nicht weiter,« schrie der Kasperlemann.

»Ach ja doch, bitte, bitte, wohin ist Kasperle gelaufen?«

»Erst auf den Kirchturm; da hat er die Glocken geläutet, so daß sie alle im Dorf gedacht haben, es brenne, und in der Verwirrung und in der Dunkelheit ist – ritsch ratsch! – das Kasperle ausgerissen.«

»Hurra, Kasperle soll leben!«

»Tut er ja auch,« brummte der Kasperlemann. »Und gut hat er dann eine Weile gelebt; in des Herzogs Jagdschloß hat er beinahe die Räucherkammer leergegessen mit seinem Freund, dem Geißbuben Michele. Das Michele hat dem Kasperle in das Schloß hinein geholfen, und als da der Herzog August Erasmus unversehens gekommen ist, hat sich Kasperle in eine verborgene Kammer geflüchtet, und alle im Schloß haben gedacht, es spuke ein Gespenst darin.«

»Uje, das ist aber fein! Ich will auch mal Gespenst sein,« schrie Hansjörg.

»Ich auch, ich auch! Gespenst sein, ist fein,« echote es. »Morgen spielen wir Gespenster!«

»Wie hat er es denn als Gespenst gemacht?«

Das schwätzte laut vor dem Budchen durcheinander, und der Kasperlemann brummte: »So dumm bin ich nicht, euch das zu verraten. Wer spukt, kriegt was auf den Hosenboden, und nun still! Wer redet, bekommt einen Nasenstüber.«

Da waren die Kinder wieder muckstill, und der Kasperlemann erzählte weiter: »Na, kurz und gut, sie haben es im Schloß herausgekriegt, wo das Gespenst war, und da hat es Kasperle mit der Angst gekriegt und ist durch einen geheimen Gang entflohen. Vorher aber hat der Bösewicht dem Herzog noch einen schweren Geldbeutel auf den Magen geworfen.«

»War Geld drinnen?« Hansjörg riß seinen Mund wieder sperrangelweit auf, und der Kasperlemann brummte: »Schafskopf, natürlich! Von was wäre er sonst schwer gewesen! Wer jetzt aber noch ein Wort dazwischenredet, muß drei Pfennige zahlen.«

»Ich hab’ nur einen Pfennig!« jammerte Minchen Hirsebrei.

»Na, dann halt den Schnabel! – Also, hört zu! Das Michele hat dann Kasperle wieder geholfen. Der ist ausgerissen, und wißt ihr, wohin er geraten ist?«

»Nä!« schrien die Kinder.

»Nach Torburg.«

»Wir wollen ihn sehen, wir wollen ihn sehen!« kreischten die Kinder; Torburg lag im Tal; nur eine Stunde weit war es von Wutzelheim entfernt.

»Donnerwetter, bleibt doch da!« Der Kasperlemann erschrak ordentlich. Alle Kinder wollten davonlaufen, und er saß dann da und hatte keine Pfennige.

»Er ist ja nicht mehr dort,« rief er darum schnell.

»Ach so!« jammerten die Wutzelheimer Kinder enttäuscht.

»Wo ist er dann?« Hansjörg drängte sich wieder ganz nahe an das Budchen, und klitsch! bekam er einen Backenstreich, aber tüchtig. Kasperle schlug mit seinem Holzbein derb zu, und Hansjörg brach in ein Jammergeheul aus: »Ich sag’s meinem Vater! Ich sag’s meiner Mutter, Kasperle hat mir gehaut!«

»Sei doch nicht dumm!« Die andern Kinder zerrten Hansjörg, der davonlaufen wollte, zurück, und der Kasperlemann fuhr zu erzählen fort: »Also, in Torburg wohnte ein alter Gärtner, Meister Helmer, in einem wunderschönen Garten, der nahm das Kasperle als Gärtnerburschen an. Dort hat er ein Weilchen gelebt, bis ich eines Tages nach Torburg kam und erfuhr, Kasperle sei dort. Nun hatte der Herzog August Erasmus eine noch höhere Belohnung ausgesetzt; die wollte ich mir verdienen und Kasperle fangen und –«

»Pfui!« Bums sauste ein Holzpantoffel in die Kasperlebude hinein, schlug dem hölzernen Kasperle ein Stück von seiner Nase ab und traf des Kasperlemannes Bauch. Da schrie der nun auch und jammerte laut. Fritze Dünnebein aber, der den Pantoffel geworfen hatte, reckte sich stolz auf: »Warum haste Kasperle fangen wollen!« brüllte er. »Das war böse.«

»Du Dummkopf!« Der Holzpantoffel kam zurück, aber er traf Fritze nicht; der fing ihn auf, steckte wieder seinen Fuß hinein und sagte patzig: »Ich geb’ dir keinen Pfennig, weil du Kasperle gefangen hast.«

»Dumm, dumm, dumm!« schrie der Kasperlemann. »Ich hab’ ihn doch nicht gefangen! Da ist nämlich der Meister Severin gekommen, ein Geiger und Instrumentenmacher, der allen Instrumenten eine Seele geben kann, der hat ritsch, ratsch das Kasperle genommen und es in einen schwarzen Kasten gesteckt und es in das Waldhaus zurückgetragen.«

»Hurra, das ist fein! Der Meister Severin gefällt uns,« brüllten die Kinder. Hansjörg aber fragte bedächtig: »Und wo ist’s Kasperle nu?«

»Na, im Waldhaus!«

»Immer noch?«

»Ja, freilich! Jetzt hat er Angst; wenn er nämlich von des Herzogs Landjäger erwischt wird, ergeht es ihm übel. Dann wird er ins Loch gesteckt.«

»Er soll dort bleiben,« kreischten die Kinder.

»Nein, er soll nicht dort bleiben,« rief der Kasperlemann grimmig, »ich will ihn fangen. Unser guter Herzog August Erasmus hat jetzt immer so arg das Zipperlein, und er möchte einen solchen Spaßmacher haben, der ihm die Langeweile vertreibt; da hat er die Belohnung erhöht, er will gern das Kasperle haben.«

Die Kinder sahen sich an. Na, als Spaßmacher im herzoglichen Schloß leben, das mußte doch für ein Kasperle ganz lustig sein. Sie fragten etwas erstaunt: »Geht Kasperle net hin?«

»I bewahre, fällt ihm nicht ein! Der fürchtet sich vor dem Herzog und bleibt im Waldhaus bei Meister Friedolin und Mutter Annettchen.«

»Und der Meister Severin?«

»Der lebt auch im Waldhaus. Der hat die schöne Liebetraut geheiratet, Meister Friedolins Pflegetochter. Alle leben sie vergnügt zusammen, und unser Herzog kann das Kasperle nicht fangen.«

Das erschien den Kindern doch seltsam. Ein Herzog, der Landjäger hatte, der konnte doch Kasperle aus dem Waldhaus holen lassen, wenn er wußte, wo er war. Hansjörg fragte darum: »Warum holt er ihn net?«

»Weil das Landhaus im Lande des Fürsten Johann Jakob Joseph Jeremias XXXIX. steht, und das ist unsers Herzogs Feind. Der sagt: ‚Kasperle kann bleiben, wo er ist, der Herzog August Erasmus soll ihn nicht bekommen.‘«

»Und das Michele?« fragte Minchen Hirsebrei mit feinem Stimmlein. »Hütet das noch die Geißen?«

»Dumm, dumm, dumm!« Der Kasperlemann schüttelte sich ärgerlich. »Die Geschichte, die ich euch erzählt habe, ist geschehen, als ihr alle noch kaum auf der Welt gewesen seid. Das Michele ist inzwischen groß und stattlich geworden und ein weltberühmter Geiger. Meister Severin hat ihm eine Geige geschenkt, die eine wunderbar zarte Seele hat, und dann hat er ihn unterrichtet. Jetzt reist Michele von Land zu Land, er spielt an Königshöfen und in großen Städten und –«

Da schwieg der Kasperlemann auf einmal und die Kinder brüllten: »Und, und, was ist und?«

»Ach, papperlapapp, das versteht ihr nicht! Jetzt gebt mal eure Pfennige her! Die Geschichte ist aus.«

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»Nä, noch net!« Hansjörg stellte sich breitbeinig vor das Budchen hin und fragte: »Ich muß noch wissen, ob nun Kasperle auch so groß wie Michele geworden ist.«

»Unsinn, du Quatschpeter! Ein Kasperle wächst nicht, das bleibt immer nur so groß wie ein kleiner Junge,« brummte der Kasperlemann. »Nun raus mit den Pfennigen!«

»Leben die Leute in Waldrast noch?« rief Fritz Dünnebein.

»Freilich, freilich, selbst die Base Mummeline!«

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»Und wen heiratet die Gräfin Rosemarie?« Ein kleines blondes Mädelchen, das Agathchen Morgenschön, stellte sich auf die Fußspitzen, damit es unter den langen Buben auch gesehen werde.

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»Die schöne junge Gräfin Rosemarie heiratet den Grafen von Singerlingen,« brummte der Kasperlemann. »Der ist freilich schon ein bißchen alt für sie, aber weil ihre Eltern gestorben sind, will der Herzog, der ihr Vormund ist, sie verheiraten.

Sie will den Grafen gar nicht gern, aber sie muß ihn halt nehmen.«

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Da hielt sich Agathchen Morgenschön das Schürzlein vor die Augen, sie brach in Tränen aus und rief klagend: »Die arme, arme Gräfin Rosemarie!«

»Ach, potz Wetter, laß das Geflenne! Was geht dich die Gräfin Rosemarie an!« schrie der Kasperlemann. »Raus mit den Pfennigen!«

Da erhob sich plötzlich auf dem Platz ein lauter Lärm, Stimmen schwirrten auf: »Haltet ihn, haltet ihn!« Und da es keinen Löwen in Wutzelheim zu halten gab, mußte es jemand anders sein. Die Kinder drehten sich alle blitzschnell um, da sahen sie, wie sich ein Affe von Bude zu Bude schwang. Der war aus der Tierbude entflohen.

»Haltet ihn, haltet ihn!« ertönte es wieder.

Der Affe saß auf einem Leinwanddach und grinste von oben herab. Da vergaßen die Kinder alle miteinander den Kasperlemann und sein Kasperle, sie vergaßen aber auch, ihre Pfennige zu zahlen, sie rannten alle nach der Bude hin, auf der das Äffchen saß; selbst Agathchen Morgenschön vergaß die liebliche Gräfin Rosemarie, die den alten Grafen von Singerlingen heiraten mußte.

Vergeblich rief der Kasperlemann den Kindern nach: »Meine Pfennige, meine Pfennige!«

Husch, husch, war der Platz vor dem Budchen leer. Verdutzt sah der Kasperlemann den Kindern nach.

»Das ist doch ein unnützes Gesindel, dies Kindervolk!« brummte er ärgerlich. »Alle meine schönen Pfennige sind futsch.« Er nahm seine Klingel und ließ sie laut tönen: »Bimmlimbim, bimmelimbim!«

Aber ach, du lieber Himmel, keine Bubenbeine, keine Mädelfüße kamen angelaufen! Über den weiten Platz hin tönte das Rufen und Schreien: »Haltet ihn, haltet ihn, fangt den Affen!«

Der sprang von Bude zu Bude, geriet schließlich an die Kletterstange

und kletterte hinauf. Hurra, da wollten gleich zehn Buben ihm nach, aber der Mann neben der Kletterstange wehrte ab. »Gemach, gemach, immer langsam voran! Hansjörg, klettere du zuerst!«

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Da kletterte Hansjörg, und als er beinahe oben war, warf ihm der Affe einen oben angebundenen Groschenwecken platsch ins Gesicht. Da verlor Hansjörg das Gleichgewicht und sauste samt dem Wecken von oben herunter.

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Fritze Dünnebein und Klaus Brenner ging es nicht besser. Ein Bube nach dem andern versuchte sein Heil, aber auf einmal besann sich oben das Äfflein und ließ Gottfried Schlippermilch, der vorher sehr wichtig getan und gesagt hatte: »Ich schaff’s schon,« ziemlich nahe kommen, dann ritsch, ratsch! fuhr es dem Buben in die Haare, daß es dem himmelangst wurde. Er schrie und zappelte, und als ihn das Äffchen los ließ, plumpste er wie ein dicker, reifer runder Apfel von oben herab, mitten in die Zuschauer hinein.

Da lag auf einmal nicht Gottfried allein am Boden, sondern noch etliche andere auch, sogar der dicke Herr Bürgermeister saß unversehens da. Der schalt weidlich über den Affen und die Buben, aber er wußte auch nicht, wie der Affe herunterzuholen war. Darum sagte er, der Nachtwächter müsse sich unten an die Stange stellen und aufpassen, die ganze Nacht hindurch; wenn der Affe Hunger bekäme, würde er schon herabkommen.

Das fanden alle sehr gescheit. Einstweilen blieben freilich noch die Kinder an der Stange stehen und warteten, bis ihnen ihre Mäglein knurrten, als säße in jedem ein hungriger Wolf. Da rannten sie geschwinde heim. Der Kasperlemann ließ wieder seine Klingel ertönen, aber die Pfennige blieben alle in den Kindertaschen stecken. Es war schon schlimm. Und dabei ahnte der Kasperlemann nicht einmal, daß die Kinder von seiner schönen Geschichte sagten: »Sie ist ja gar nicht wahr! Er hat uns nur etwas vorgeflunkert; ein lebendiges Kasperle das gibt es ja gar nicht!«

Nur Agathchen Morgenschön lief zur Bude hin und wollte ihren Pfennig abgeben, aber da hatte schwuppdewupp der Kasperlemann gerade zugeschlossen. Ganz bitterböse war er und dachte: Daran ist nur das unnütze lebendige Kasperle schuld! Na, wenn ich das erst fange!

Es gab nämlich wirklich ein richtiges lebendiges Kasperle, und der Kasperlemann hatte den Kindern eine wahre Geschichte erzählt. Wenn sie es auch nicht glaubten, wahr war die Geschichte doch.

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Zehntes Kapitel

 

Eine neue Freundin

Gut ging es dem armen Kasperle nicht auf Burg Himmelhoch. Erst sollte er mit dem Herzog Kaffee trinken, da versank er wieder mit seiner großen Nase in der Kaffeetasse, was der Herzog sehr, sehr unschicklich fand. Dann mußte Kasperle mit spazierenfahren und wie ein kleiner Diener hinten aufsitzen. Kasperle fand das

sehr lustig, und allemal, wenn jemand vorbeikam, lachte er und schnitt Gesichter. Die Leute lachten, oder sie erschraken furchtbar und liefen davon. Erst wußte der Herzog gar nicht, was das bedeuten sollte, bis ihm Kasperle einfiel, er drehte sich um, und just da machte Kasperle ein Gesicht wie die Prinzessin Gundolfine, und ein paar Kinder am Wege kreischten laut.

Das war doch zu toll! Der Herzog nahm seinen Stock und schlug Kasperle auf den Rücken. Potzwetter, tat das weh!

Und nicht einmal heulen durfte Kasperle, der Herzog drohte, er würde noch mehr Schläge bekommen. Dazu befahl der Herzog: »Schneller fahren!« und der Wagen sauste dahin, Kasperle hatte Mühe, nicht runterzufallen; ganz verdutzt war er, als sie wieder vor dem Schlosse anhielten.

Abends mußte Kasperle dann dem Herzog etwas vorkaspern. Weil er aber vor lauter Angst zum Abendessen nicht recht gegessen hatte, fing plötzlich sein Magen an erschrecklich zu knurren. Der Herzog, der eben noch gelacht hatte, zog gleich wieder ein verdrießliches Gesicht und sagte, das sei sehr, sehr unschicklich. Magenknurren sei bei Hofe verboten.

»Aber im Waldhaus nicht.« Das wollte Kasperle ganz, ganz leise sagen, aber seine Stimme rutschte ihm aus, und so hörte es der Herzog. Da bekam Kasperle Schläge, nichts zu essen, wurde ins Bett geschickt und eingeschlossen. Müde, hungrig weinte er sich in den Schlaf. Ach, es war doch schwer, eines grilligen Herzogs Diener zu sein!

Als Kasperle aufwachte, dämmerte draußen erst der Morgen, und hinter der kleinen Stadt glühte der Himmel im Frührot. Kasperle schaute zum Fenster, er sah auch hinüber nach Schloß Lindeneck und das traurige Marlenchen fiel ihm ein. Und weil Kasperle ein gutherziger kleiner Kerl war, dachte er sich gleich aus, wie er das Marlenchen unterhalten wollte. Und damit er recht schöne Gesichter schneiden konnte und Purzelbäume schlagen, fing er an, das zu üben, und gerade wie er mitten drin war, kam Veit ins Turmstübchen.

Der lachte vergnügt. »O Kasperle,« sagte er, »was bist du für ein schnurriger Kauz! Nun komm nur her und frühstücke! Der Haushofmeister läßt dir sagen, du sollst dich erst ordentlich satt essen, damit du nachher beim Herzog nicht wieder wie ein kleiner Vielfraß zulangst. Du sollst nämlich mit dem Herzog frühstücken.«

Schön war diese Aussicht gerade nicht. Kasperle seufzte schwer, aber dann befolgte er den guten Rat des Haushofmeisters. Er aß sich so plumpsatt, daß er sich kaum noch rühren konnte. So wohl gerüstet ging er zum Frühstück des Herzogs.

»Mach’ eine schöne Verbeugung!« hatte Veit ihm geraten. Das wollte Kasperle auch tun. Er verbeugte sich tief, weil er aber so vollgegessen war, platzten ihm unversehens seine Hosenknöpflein, und das fand der Herzog nun wieder sehr, sehr unschicklich.

Kasperle mußte das Zimmer verlassen, und die Hausverwalterin Babette nähte ihm erst die Knöpflein wieder an. Das war eine gutmütige Frau, die ihren Spaß an Kasperle hatte. Sie versprach ihm auch, sie wolle ihm einen neuen Kittel nähen, einen von himmelblauer Seide.

»Lieber grün,« bettelte Kasperle.

»Meinetwegen auch grün, aber warum denn?«

Doch das sagte Kasperle nicht. Er dachte bei sich: Wenn ich ein grünes Wämslein habe und durch den Wald laufe, sieht man mich nicht. Ein ganz kleines bißchen dachte der Schelm nämlich ans Ausreißen. Wer weiß, der Herzog sagte doch einmal etwas vom Teufel!

Jetzt freilich mußte er zum Herzog zurückgehen. Der war eigentlich kein böser Mann, nur seit er seinen Ring verloren hatte, war er noch grilliger als früher geworden. Unrecht tun wollte er niemand, aber weil ihn nie jemand ob seiner üblen Launen gescholten hatte, dachte er, diese seien gar nicht schlimm. In der Nacht hatte er an Kasperle gedacht, und der kleine Kerl hatte ihm sehr leid getan. Er sann nach: Kasperle war doch noch nie an einem Hofe gewesen, wie konnte er wissen, wie man sich da benehmen mußte! Morgen bin ich recht gut gegen ihn, hatte sich der Herzog vorgenommen, darum hatte er Kasperle auch zum Frühstück eingeladen.

Wenn aber Hosenknöpflein abplatzen, ist es dumm. Kasperle kam ganz scheu mit den angenähten Knöpfles wieder herein, und zu seiner Verwunderung sagte der Herzog freundlich: »Nun komm nur und frühstücke!«

Und weil der Herzog freundlich sein wollte, legte er Kasperle selbst auf: Brötchen mit Schinken darauf, ein großes Stück Kuchen dazu, und er ermahnte: »Nun iß nur, du bekommst mehr!«

Ja, wie kann aber ein Kasperle essen, wenn es so plumpsatt ist, daß ihm die Hosenknöpfles abspringen!

Kasperle kaute und kaute, würgte, schluckte, – es ging nicht mehr.

»Iß doch, trink’ doch!« mahnte der Herzog. »Du bekommst noch mehr.«

Da seufzte Kasperle so tief, als säße er unten im Turmverlies. Und weil er sich gar nicht zu helfen wußte, das Schinkenbrot durchaus nicht mehr in seinen Magen hineinwollte, fing er an, bitterlich zu weinen. Dicke, dicke Tränen kullerten in seine Schokoladentasse hinein, und der Herzog fühlte tiefes Mitleid mit dem kleinen Kerl. Zum erstenmal brummte er ihn nicht an, sondern sagte freundlich: »Geh in den Park, Kasperle, springe herum, damit du mittags wieder hungrig bist.«

Kasperle war heilfroh, daß er hinausdurfte. Er schoß die Treppe hinab wie eine Kugel, und kaum war er im Park, da rannte er, so schnell er konnte, an das Bächlein bei der uralten großen Ulme.

Und wirklich saß das traurige Marlenchen dort, es drehte die Kieselsteine im Wasser um und suchte den verlorenen Ring.

»Da bin ich!« Plitsch, platsch, schoß Kasperle in den Bach hinein und Marlenchen sank vor Schreck wieder totenblaß am Ufer hin.

Und Kasperle hatte doch gedacht, sie würde über seinen Purzelbaum lachen! Ach, hier war alles anders wie im Waldhaus! Kasperle legte sich neben das blasse Marlenchen ins Gras und fing wieder bitterlich zu weinen an.

»Warum weinst du denn?« fragte da auf einmal ein feines Stimmchen.

»Weil ich – alles verkehrt mache.« Kasperle schluchzte erbärmlich, und da vergaß das traurige Marlenchen ihr eigenes bitteres Herzeleid. Es richtete sich auf, fuhr mit dem Zeigefingerlein sachte über Kasperles Gesicht und fragte: »Warum bist du denn hier?«

»Weil ich’s versprochen habe.« Und Kasperle fing an, dem kleinen Mädchen vom Waldhaus zu erzählen, von Michele und von Rosemarie.

»Du bist gut, weil du der schönen Rosemarie und deinem Michele geholfen hast,« sagte Marlenchen da. Sie legte ihre kleine, weiße Hand in Kasperles derbe, braune Patsche, und so saßen die beiden unglücklichen Kameraden an dem Bächlein und Kasperle mußte immer mehr und mehr vom Waldhaus erzählen. Ein paarmal huschte es wohl wie ein Scheinchen über Marlenchens trauriges Gesicht, aber sie lachte noch nicht.

Kasperle merkte es zum erstenmal: einen wirklich traurigen Menschen bringt auch ein Kasperle nicht so leicht zum Lachen.

Ein wenig froher sah Marlenchen aber doch aus, als in der Ferne des Haushofmeister Pfeife ertönte und Kasperle Abschied nahm. Sie sagten beide zusammen: »Morgen,« schüttelten sich die Hände, und wieder ging ein ganz feiner, heller Schein über das Gesicht des traurigen Marlenchens; so wie manchmal an ganz grauen Tagen die Sonne ein wenig hinter den Wolken schimmert, war es.

Dies machte Kasperle sehr froh. Er hopste und sprang dem Schlosse zu, lief mit Gepolter hinein, und der Haushofmeister hielt ihn noch zur rechten Zeit am Hosenzipfel fest. »Du,« sagte der, »jetzt schling nicht so bei Tisch, es sind noch Gäste da. Wirst du nicht satt, bekommst du nachher noch etwas. Also fein still und brav sein!«

Das nahm sich Kasperle zu Herzen. Er aß wenig, saß auch ganz still und bescheiden am Tischende. Alles ging gut, nur – ein Kasperle ist eben ein Kasperle. Da saß am Tisch ein fremder Graf, der hatte eine seltsame Gewohnheit. Jedesmal wenn er einen Bissen verschluckte, kniff er die Augen zu und nickte mit dem Kopf. Ein Weilchen sah Kasperle das an. Aber weil er nun eben ein echtes Kasperle war, verzog er unwillkürlich sein Gesicht, nickte, kniff die Augen zu, und es sah so pudelnärrisch aus, daß ein Hofjunker, der ohnehin noch lieber lachte als ernst war, plötzlich leise vor sich hin kicherte.

Wenn aber jemand lachte, dann war es um Kasperle geschehen. Er kniff wieder die Augen zusammen, nickte wieder, und zwei junge Hofdamen kicherten vor sich hin. Ein Kammerherr lachte, der alte, dicke Oberstallmeister aber, der so etwas wie das Kasperle noch nicht gesehen hatte, lachte unversehens laut auf. Es dröhnte nur so, und da lachte es da und lachte dort, nur etliche Herren und Damen und der Herzog dazu saßen steif und ernsthaft da, über ein Kasperle lacht nur, wer sich im Herzen einen Rest des alten Kinderfrohsinns bewahrt hat. Menschen mit reinen, guten Herzen lachen leicht; die Hochmütigen, Stolzen, Harten haben in ihrem Leben das reine, frohe Lachen verlernt.

Der Herzog August Erasmus hätte wohl mitgelacht, ja es zuckte einmal um seinen Mund, aber er war so schrecklich eingebildet auf seinen Herzogstitel, da hielt er das Lachen nicht für würdevoll. Er sah streng zu Kasperle hin, und der erschrak über den bösen Blick und tauchte vor Schreck die Nase in seinen Kompotteller. Es spritzte hoch auf.

Der Herzog rümpfte die Nase. Nein, dieses Kasperle betrug sich zu schlimm! Er winkte Veit. »Bring’ ihn hinaus!« sagte er streng.

Da mußte Kasperle aufstehen und er dachte: Nun werde ich wieder eingesperrt. Sein Gesicht wurde ganz traurig, und der Herzog sah dieses traurige Kasperlegesicht und es war, als rede jemand zu ihm: Kasperle kann doch nichts anderes sein als eben ein kleiner Schelm, der immer herumkaspert!

Weil der Herzog aber immer meinte, alles, was er tue, sei recht und gut, rief er Kasperle nicht zurück, und Veit sagte zu dem draußen: »Nun geh geschwinde in deinen Turm, ich dringe dir nachher noch allerlei Gutes.«

Da stieg Kasperle in seinen Turm hinauf, kletterte wieder auf das Fensterbrett und schaute dahin, wo Schloß Lindeneck aus den Baumwipfeln hervorsah. Er dachte an das traurige Marlenchen, und auf einmal stieg ein ganz bitterer Groll gegen den Herzog in des Kasperles Herz empor. Der trug doch die Schuld an des Marlenchens Trauer; der Herzog und die Prinzessin Gundolfine, die beiden waren es.

Kasperle sprang vom Fensterbrett herab, zerrte zwei Stühle heran, nahm einen Stock, der in der Ecke lehnte, und bums, bums! schlug er auf die Stühle ein. »Warte du, warte du!« schrie er.

»Ja, warte du!« sagte jemand und hielt Kasperle fest »Aber Kasperle, was machst du denn?« Der alte Haushofmeister sah ganz verdutzt dem kleinen Burschen in das bitterböse Gesicht.

»Ich hau’ den Herzog da, und die Prinzessin da.« Kasperle riß sich los und schlug unverdrossen auf die Stühle ein. »Klapp, du, klapp, du!«

»Jemine!« Sein guter, alter Freund sah Kasperle entsetzt an. »Aber Kasperle,« rief er, »du bist doch ein abscheulicher Strick! Wenn das unser Herr Herzog hörte, dann möchte es dir schlecht gehen. In das allerfinsterste Loch würdest du gesteckt.«

Erschrocken ließ Kasperle den Stock sinken, und da er in das ehrlich betrübte Gesicht des Haushofmeisters sah, kam er flink, schmiegte sich an den an und bettelte: »Sei wieder gut!«

Ja, wieder gut, das war der alte Mann dem Unnützling schon; er seufzte aber doch recht sehr, als er wieder das Turmgemach verließ. Wie würde das werden! Irgendeine Dummheit stellte das Kasperle doch wieder an.

Er ahnte nicht, daß das Kasperle schon dabei war. Das dachte sich: Im Turm ist’s langweilig allein, ich hole mir etwas zum Spielen. Und flugs entwischte er durch den geheimen Gang, geriet auf eine Hintertreppe und kam in den Park hinaus, ohne daß ihn jemand sah. Draußen raffte er sich Blumen zusammen, steckte sich Kieselsteine in sein Mützlein und fand zu seinem großen Vergnügen auch etliche dicke Fröschlein, die er in die weiten Taschen seines Kasperlegewandes tat. Dann lief er wieder zurück, irrte erst eine Weile im Schloß herum und mußte sich ein paarmal verstecken, ehe er seinen Turm wieder fand.

Dort tat er erst die Blumen in ein Glas, ordnete die Steine und war gerade dabei, die Frösche aus den Hosensäcklein herauszunehmen, als Veit erschien. »Flink, flink, Kasperle!« rief er. »Du sollst kommen. Der Herzog sitzt mit seinen Gästen noch beim Kaffee; du sollst ihnen etwas vorkaspern. Nachher gibt es auch Kuchen.«

Da ließ Kasperle alle seine Schätze im Stich, lief mit und wurde vom Herzog viel gnädiger empfangen, als er gedacht hatte. »Mache einmal dein Räubergesicht!« sagte der, »und auch das Teufelsgesicht.«

Und Kasperle schnitt flugs ein Gesicht nach dem andern, er

drehte und wand sich, stellte sich auch einmal auf den Kopf, steckte diesen durch die Beine durch und grinste die Gäste so an, daß die laut lachten.

Der Herzog hielt eine Tasse Kaffee zierlich in der Hand, und er wollte gerade ein wenig von der Schlagsahne naschen, die obenauf schwamm, als ein dicker Frosch aus Kasperles Tasche herausplumpste, und plitsch, platsch, sprang der in die Höhe, mitten in des Herzogs Tasse hinein!

Illustration 110

»Mein Himmel, was ist das?« rief eine alte Gräfin, die neben dem Herzog saß, als der seine Tasse fallen ließ. Doch da saß ihr der Frosch schon auf dem Schoß. Sie schrie gellend auf und ein paar junge Fräulein kreischten entsetzt: »Frösche, Frösche!«

»Wo denn?« Ein etwas kurzsichtiger Kammerherr bückte sich, und plitsch sprang ihm ein Fröschlein mitten ins Gesicht.

Gab das ein Geschrei! »Frösche, Frösche!« quietschten die Damen immerzu, sie hielten sich ihre Kleider fest zusammen und sprangen auf die Stühle. Die Hofherren wollten die Frösche fangen, doch die waren schneller als sie und hopsten hierhin und dahin. Der Herzog aber lehnte schreckensbleich in seinem Sessel; vor Fröschen graulte er sich. Er stöhnte: »Wo kommen sie her?«

Kasperle stand ganz verdattert da. Daß die Frösche aus seinen Hosensäcklein gefallen waren, hatte nur Veit gesehen und der schwieg ganz still. Die andern Diener aber riefen: »Sie sind sicher aus dem Garten hereingesprungen.«

»Gewiß ist es ein Zeichen, daß es entweder schlechtes oder gutes Wetter gibt,« flüsterte die alte Gräfin zitternd.

Der Herzog erhob sich bebend. »Ich muß mich in mein Bett legen,« stammelte er, »ich bin zu sehr erschrocken.«

Und alle umdrängten den Herzog und bedauerten ihn, Kasperle aber schlich sich fort; niemand beobachtete ihn. Nur Veit zog ihn ein wenig an den Ohren und sagte: »Schelm du!« Dann ließ er ihn los und Kasperle rannte in den Park, rannte dahin, wo das Bächlein floß, und er fand dort wirklich das traurige Marlenchen. Vergnügt erzählte er, was ihm alles passiert war, und wieder huschte es wie ein ganz matter, zarter Sonnenschein über das blasse Gesicht der Kleinen.

»Du lernst noch lachen,« schrie Kasperle vergnügt und schlug vor Freude einen riesengroßen Purzelbaum.

Doch das gefiel Marlenchen weniger, sie bat sanft: »Erzähle vom Waldhaus, bitte, bitte!«

Wie gern erzählte Kasperle davon! Er kauerte sich am Bachrand nieder wie ein kleiner Türke und sagte: »Wo soll ich anfangen?«

»Beim großen, alten Schrank, in dem du so schrecklich lange geschlafen hast,« bat das traurige Marlenchen.

Kasperle schwätzte vergnügt. Auf der hohen Ulme, unter der die Kinder saßen, wohnten Elstern; die ärgerten sich, denn so flink und lustig wie Kasperle konnten selbst sie das Schwatzen nicht. Sie erhoben ihre Stimmen und krächzten dazwischen. »Seid stille!« schrie Kasperle hinauf, und als die Elstern sich darum gar nicht kümmerten, sondern immer lauter ihre Stimmen erhoben, da kletterte Kasperle flugs ein Stück die Ulme hinan und schnitt sein Räubergesicht.

Die Elstern fielen kreischend vor Schreck in ihr Nest zurück, und auf einmal waren sie muckstill. Und wieder flog ein Scheinchen über der kleinen Marlene Gesicht. »Ich kann die Elstern nicht leiden,« sagte sie, »sie haben so böse Stimmen. Gut, daß sie mal stille sein müssen!«

»Ja,« rief Kasperle, »seid ganz stille, ich will –«

Ach, da tönte vom Schlosse her ein schrilles Pfeifen, und nun mußte auch das arme Kasperle still sein. Er nahm betrübt Abschied, sie sagten wieder: »Morgen«, schüttelten sich die Hände, und dann rannte Kasperle ins Schloß. Er sollte mit dem Herzog spazierenfahren.

»Aber keine Gesichter schneiden!« Der Herzog drohte streng mit dem Finger, und weil Kasperle ohnehin ein schlechtes Gewissen wegen der Froschgeschichte hatte, saß er wirklich muckstill auf seinem Sitz.

Er war an diesem Abend überhaupt ungeheuer brav, denn der Herzog redete noch immerzu von den Fröschen und wie die wohl in sein Gartenzimmer gekommen seien. Da hatte Kasperle Angst, er könnte darum gefragt, werden, darum schwieg er und saß still mit gesenkten Augen am Tisch.

Er wird noch, dachte der Herzog, ich werde ihn erziehen.

Am nächsten Morgen rannte dann Kasperle wieder in den Park und traf dort das traurige Marlenchen. Er mußte wieder vom Waldhaus erzählen, mußte aber wieder vorher die Elstern zum Schweigen bringen. Und wieder saß Marlenchen da, still die Hände gefaltet, lauschte und das frohe Leuchten lag wieder auf ihrem blassen Gesicht.

An diesem Tage überhörten beide beinahe des Haushofmeisters Pfeifen. Das wurde schriller und schriller, und zuletzt hörte es Kasperle doch und er rannte mit solcher Eile in das Schloß, daß er im Eifer über den großen Lieblingshund des Herzogs einen Purzelbaum hinweg schlug. Dies gefiel Lord sehr. Er schnappte vergnügt nach Kasperles Höslein, der wehrte sich, packte Lord am Schwanz und beide kugelten und kegelten durch die große Halle. Es gab einen argen Lärm. Lord bellte, Kasperle schrie, der Herzog kam angerannt und rief: »Er frißt ihn, er frißt ihn!«

Er dachte, Lord wolle das Kasperle fressen, aber da stand das auf einmal putzmunter auf seinen Beinen und grinste den Herzog an.

O der Schelm! Der Herzog merkte, daß die Geschichte nicht so schlimm gewesen war, und er schalt über den Lärm und sagte, dafür müsse Kasperle heute zur Strafe daheim bleiben, er dürfe nicht mit spazierenfahren.

O weh, das dumme, dumme Kasperle! Es lachte vor Vergnügen hellauf, und der Herzog wurde bitterböse. Lachen, wenn er nicht mit ihm, dem Herzog, spazierenfahren durfte, das ging doch über die Hutschnur!

»Die Schlüssel!« rief er, und der Haushofmeister mußte ihm die Schlüssel bringen, die alle Türen des Schlosses aufschlossen. »Bringt Kasperle!« gebot der Herzog streng und der Haushofmeister dachte: O weh, nun geht’s dem armen Kasperle bös, jetzt wird er gar in einen Keller gesperrt!

Und wirklich sperrte ihn der Herzog eigenhändig in ein kleines, finsteres Kellerloch. Kasperle konnte weinen und schreien, soviel er wollte, schwipp, schwapp, war er drin, rissel, rassel, drehte sich der Schlüssel im Schloß, er war gefangen.

An diesem Nachmittag wartete das traurige Marlenchen lange, lange auf ihren kleinen Freund, er kam nicht. Da erlosch der matte Freudenschein wieder auf dem blassen Gesicht und Marlenchen ging traurig heim. Traurig saß es im Schloßhof von Lindeneck am Brunnen, der ganz von Rosen umblüht war, und dachte an das Kasperle. Warum war es nur nicht gekommen?

Das arme Kasperle saß unterdessen im dunklen Keller und konnte wirklich nicht hinaus. Er versuchte es, sich durch das winzige Fenster zu zwängen, es ging nicht. Er wollte die Türe öffnen, sie gab nicht nach. Er heulte und schrie, niemand hörte ihn.

Da dachte das kleine Kasperle bitterböse an allerlei Schabernack, den er dem Herzog spielen wollte, und dabei rannte er immer im Keller auf und ab, auf und ab, und plötzlich stieß er wieder einmal an die Wand. Ganz hohl klang es. Hei! dachte er, hier ist eine geheime Türe, hier kann ich raus.

Illustration 114

Eine Türe war freilich da, aber hinaus ins Freie kam Kasperle nicht; nur in einen Keller geriet er, in dem drei Fäßlein köstlichen Weines lagerten. Des Herzogs Lieblingswein war es. Nun wußte Kasperle, wenn man aus einem Faß den Zapfen herauszieht, dann läuft alles aus. Er zog einen Zapfen heraus, den zweiten, den dritten. Das rieselte und rauschte, das duftete köstlich; Kasperle hielt auch den Mund unter, schluckte und trank, aber da meinte er plötzlich draußen ein Geräusch zu hören, und flugs rannte er in seinen Keller zurück, zog die Türe zu, und bums fiel er, so kurz er war, auf den Boden nieder und schlief ein. Er schlief und schlief und träumte von dem traurigen Marlenchen; es war aber kein trauriges, sondern ein sehr vergnügtes Marlenchen. Das sang und tanzte und lachte immerzu; nein, war das lustig!

Und dabei saß Marlenchen unter dem Rosenbusch und weinte; es hatte Sehnsucht nach seinem neuen kleinen Freund.

Sechstes Kapitel

Kasperle im Schloß

Kasperle fuhr inzwischen sehr vergnügt durch das Land. Der lustige Sitz gefiel ihm gut, und je schneller es ging, desto froher wurde er. Da konnte ihn Meister Friedolin nicht so leicht finden und vor allem nicht Damian. Vor dem schweigsamen Schäfer hatte er nämlich arg viel Angst. Wenn Leute dem Wagen begegneten, dann nickte und winkte Kasperle, und die Leute nickten und winkten wieder, und der Herr Graf, der im Wagen saß, nickte auch freundlich, und er wunderte sich, daß die Leute immer so lachten. Kinder liefen wohl immer noch ein Stückchen hinterdrein, weil der lustige kleine Kerl, der da hinten aufsaß, ihnen gar so gut gefiel.

Dorf reihte sich an Dorf, immer weiter ging die Fahrt. Einmal fuhr der Wagen auch durch den Wald. Da rauschten die Bäume und die Vögel sangen. Kasperle sah in der Ferne ein kleines Haus liegen, und er dachte an das Waldhäuschen und an Liebetraut. Aber so schnell ihm der Gedanke kam, so schnell lief er ihm auch wieder davon. Es kam nämlich jemand angegangen, mit seinen kleinen Mauseohren hörte Kasperle die Schritte. Der da kam, war ein sehr würdiger gelehrter Herr, der an diesem Pfingstsonntag in den einsamen Wald gegangen war, um über ein sehr gelehrtes Buch nachzudenken. Als er den Wagen kommen sah, blieb er stehen, und weil er ein höflicher Herr war, grüßte er höflich, und der Herr Graf dankte ebenso höflich und beugte sich dabei auch noch aus dem Wagen heraus. Und da sah er, wie der gelehrte Herr zurückwich und entsetzt die Hände hob, als erblicke er ein Gespenst.

Na, was war denn das? Der Graf wunderte sich ungemein, Kasperle aber zappelte vor Vergnügen auf seinem Sitz hin und her. Er hatte nämlich dem würdigen Herrn soeben eine lange Nase gezogen und dazu sein Räubergesicht gemacht. Da konnte einer schon erschrecken.

Der gelehrte Herr starrte auch noch eine Weile ganz verdattert dem Wagen nach. Er dachte: Dies war doch der Graf von Singerlingen! Was fällt denn dem ein, sich so einen Kobold auf seinen Wagen zu setzen! Unerhört so etwas!

Da war der Wald zu Ende, ein Dorf kam, und über dem stieg auf mäßiger Anhöhe ein helles Schloß empor. Von seinen Türmen flatterten Fahnen lustig im Winde, und die Fenster glitzerten und blinkten im Sonnenschein. Im Schloß war morgen Hochzeit; zu der fuhr der Graf. Es war schon mancher schöne Wagen an diesem Tage zum Schloß hinaufgerollt, und die Dorfkinder harrten darum alle an der Straße; sie waren neugierig, wer noch angefahren käme. Als der Wagen des Grafen von Singerlingen vorbeirollte, gab es plötzlich ein lautes Lachen auf der Dorfstraße, und schreiend und jauchzend stürmten alle Kinder hinterdrein. Die Pferde wurden fast scheu bei dem Gebrüll, und der Graf schüttelte in seinem Wagen immer mehr den Kopf. Das war doch sonderbar heute! Der Kutscher und der Diener ärgerten sich, aber alle drei merkten doch nichts von Kasperle, der hinten aufsaß.

Der Kutscher des Grafen dachte, als sie dem Schlosse immer näher und näher kamen: Vor einem Schloß muß man gut vorfahren. Er ließ darum erst die Pferde etwas langsam gehen, damit sie sich ausruhen konnten, dann zuletzt trieb er sie an. Sie fuhren im Trab vor dem Schlosse vor, ruck, da hielten sie.

An so etwas hatte Kasperle freilich nicht gedacht. Der hatte gemeint, das Gefahre ginge so weiter, und bei dem jähen Ruck verlor er darum das Gleichgewicht und sauste in weitem Bogen von seinem Sitz herab.

Vor dem Schloß stand Rosemarie, die Tochter des Schloßherrn, in einem rosenfarbenen Kleid. Die hatte dem Grafen von Singerlingen einen schönen Willkomm sagen sollen; sie schrie statt dessen aber laut: »Da fällt ein Junge vom Wagen!«

Kasperle war mitten in ein schönes Blumenbeet hineingefallen. Da blieb er drin liegen, steif und starr, und rührte sich nicht. Der Graf von Singerlingen aber rief erstaunt: »Wo ist denn der hergekommen?«

»Vom Wagen ist er gefallen,« sagte das kleine Rosenmädchen. »Ach, und nun ist er tot!«

»Der hat hinten aufgesessen; so was machen Jungens schon,« brummelte der alte Diener des Grafen. »Darum haben die Leute auch so über uns gelacht. Und tot ist er sicher nicht.«

Nein, tot war Kasperle nicht, aber etwas verdöst, und als ihn zwei Diener aufhoben, machte er ein so schrecklich dummes Gesicht, daß alle um ihn herum lachten.

Der Graf, dem das Schloß gehörte, seine Frau, die Gäste, alle kamen und staunten das dumme, dumme Kasperle an. Der Graf von Singerlingen aber betrachtete ihn durch sein Augenglas und sagte immerzu: »Komisch, sehr komisch!«

Wo er herkäme, wollte der Schloßherr wissen. Kasperle kniff die Augen zusammen, machte ein sehr betrübtes Gesicht und erzählte genau wie dem dicken Bauer, daß er ein armes verlassenes Waisenbüble sei und in die weite Welt hinaus wolle.

O du Schelm! dachte der alte Diener, dem das Kasperle nicht geheuer vorkam. Er hätte auch gern seinen Herrn vor dem Kleinen gewarnt, aber dem Grafen ging es wie dem dicken Bauer Strohkopf, ihm gefiel das Kasperle ungemein. Er bat darum die Schloßfrau, sie möchte den Kleinen aufnehmen bis zu seiner Heimfahrt. Das sagte ihm die Gräfin zu, bei sich dachte sie freilich: Wo er schlafen soll, weiß ich nicht. Es waren so viele Gäste im Schloß, um die Hochzeit der ältesten Grafentochter mitzufeiern, und in einer Stunde sollte auch noch ein richtiger Herzog kommen. Da war jeder Winkel besetzt, und in der ganzen Nachbarschaft hatte die Gräfin Betten borgen müssen. Sie sagte aber zu einem Diener, er solle den Kleinen zur Hausverwalterin führen, die würde schon für ihn sorgen.

Die wird sich über den Knirps freuen! dachte der Diener. Er nahm Kasperle am Arm und führte ihn etwas unwirsch in die große Vorküche, in der gerade Frau Emma, die Hausverwalterin, die Kuchen ansah, die aus der Backstube gekommen waren.

Fein, hier gefällt’s mir! dachte Kasperle und schnupperte vergnügt herum. Wie die Kuchen gut rochen! Ja, so ein Schloß war noch besser als ein Bauernhaus. Doch Frau Emma sagte nicht: »Fein!« und nicht: »Der gefällt mir,« als sie Kasperle sah, sondern sie rief sehr geärgert: »Was soll ich mit dem Popanz? So einen Jungen habe ich überhaupt noch nicht gesehen. Weg mit ihm, den kann ich hier nicht gebrauchen! Er mag meinetwegen helfen Kartoffeln schälen.«

»Mag ich nicht,« rief Kasperle, aber da wurde Frau Emma gleich sehr böse, und sie befahl zornig: »Er soll Kartoffeln schälen!«

Und schwups! nahm eine Magd Kasperle und zerrte ihn in einen Nebenraum hinein. Dort saßen drei junge Dirnen, zu denen sagte sie: »Da ist einer, der soll euch helfen.«

»Der uns helfen?« Die drei kicherten laut, und dann nahm eine eine riesenweite Küchenschürze, band die Kasperle um, die zweite reichte ihm eine Schüssel, die dritte gab ihm ein Messer in die Hand, und alle drei riefen: »Nun hilf uns!«

Ei, da waren sie aber an einen flotten Helfer geraten! Potztausend, das ging! Schnippel schnappel, schnippel schnappel! Hierhin flog ein Stück Kartoffel, dahin eins; Kasperle hatte gleich die ganze Kartoffel zerschnitten. Und dann wickelte er sich die Küchenschürze um die Beine, warf Schüssel und Messer auf die Erde und schrie: »Ich hab’ Hunger!«

Die Mägde lachten. Aber dann liefen gleich zwei, um etwas für das Kasperle zu holen, die dritte aber streichelte ihn und fragte, woher er käme. Und dann schmauste Kasperle und erzählte, und zuletzt schnitt er Gesichter. So etwas hatten die drei Mägde noch nie gesehen.

Als Frau Emma nach einem Weilchen in die Nähe der Türe kam, lauschte sie ärgerlich. So ein Gelächter! Zornig tat sie die Türe auf. Da saßen die drei Mägde, lachten und lachten, und Kasperle kasperte auf dem Küchentisch herum. Die Kartoffeln aber waren alle ungeschält. Frau Emma verstand keinen Spaß. Sie fuhr drein wie ein Hagelwetter, und die Mägde duckten erschrocken die Köpfe. Das Kasperle aber trieb die Frau aus dem Raum. »Geh, hilf Geschirr waschen!« herrschte sie ihn an. »Da hinein!« Sie schob den Kleinen in einen großen Raum, in dem gewaschen und geputzt wurde.

Hier führte die Herrschaft die alte Liesetrine, und die machte gleich ein schiefes Gesicht, als sie den kleinen Helfer sah. »So einen Dreikäsehoch kann ich nicht brauchen,« schrie sie. »Raus mit ihm, raus! Der schlägt mir nur alles kaputt.«

Na, dachte Kasperle gekränkt, versuchen kann sie es doch erst mit mir! Und er wollte zeigen, wie geschickt er sei. Er nahm also flink ein reines Tuch, von denen ein großer Stoß auf einem Tisch lag, dann wollte er von einem Gestell einen Teller nehmen, um ihn säuberlich zu putzen. Er hatte oft gesehen, wie Liebetraut das machte. Da schrie die alte Liesetrine: »Halt, halt, vergreif’ dich nicht dadran! Die Teller –« Klirr, da sausten sämtliche Teller von oben herab, noch ehe Liesetrine mit ihrer Warnung fertig war. Heisa, gab das eine Aufregung! Liesetrine klagte: »Die allerbesten Teller sind es, die allerbesten!« Ein paar Mägde schnatterten durcheinander, und da tat sich auch noch die Türe auf, und ein Diener streckte den Kopf herein und fing an über den Lärm zu schelten. Von der andern Seite guckte Frau Emma durch ein Schiebefensterchen und schalt auch.

In all dem Lärm entwischte Kasperle ganz heimlich. Husch, war er draußen! Er drückte sich an der Wand entlang und geriet in einen halbhellen, kühlen Gang. Hier verhallte der Lärm etwas, und Kasperle sah, daß vier Türen auf den Gang mündeten. Jede hatte ein kleines Fensterchen, und Kasperle konnte gerade, auf den Zehen stehend, hindurchsehen. Ei potztausend, war das fein, was er da erblickte! Er sah in die Speisekammern des Schlosses hinein, in denen die leckersten Dinge standen. Dem kleinen Schelm lief das Wasser im Munde zusammen; er merkte jetzt erst, wie hungrig er war. Er klinkte an einer Türe, an der andern, an der dritten, – sie waren alle verschlossen; die vierte aber ging auf, die hatte Frau Emma in der Eile dieses Tages nicht zugeschlossen. Und gerade in dieser Kammer standen die süßen Speisen: Fruchtschalen, Kuchen und Torten.

Kasperle besann sich nicht lange. Er fing an zu schlecken und zu lecken. Wie das schmeckte! Viel, viel besser, dachte er, als das Käsebrot beim Bauer Strohkopf. In einer Ecke stand ein ganzer Kübel Schlagsahne. Kasperle wußte erst nicht, was dieser weiße Schaum war, und weil er im Waldhäuschen einmal neugierig an Seifenschaum geleckt hatte, dachte er, es könnte wohl etwas Ähnliches sein. Aber naschhaft, wie er war, steckte er doch sein Fingerlein hinein und versuchte. Das war fein. Er schleckte den Finger ab, tauchte wieder ein, steckte die ganze Hand hinein, und weil der Kübel etwas hoch stand, kletterte er schließlich auf den Rand, um besser lecken zu können.

Da sagte auf einmal draußen jemand: »Was ist denn das? Hier steht ja eine Türe auf!«

Kasperle erschrak mächtig. Er wollte sich flink in eine Ecke flüchten, doch dabei verlor er das Gleichgewicht, und gerade als Frau Emma in die Speisekammer trat, plumpste Kasperle in die Schlagsahne hinein. Die spritzte hoch auf, und Frau Emma, die nur etwas zappeln und krabbeln sah, hielt Kasperle für eine Katze, sie stürzte schreiend aus der Speisekammer und rief um Hilfe.

Da war Kasperle geschwinder wieder aus dem Kübel heraus, als er hineingekommen war, und er wutschte flink aus der Kammer. Doch Frau Emma sah ihn, und merkte auch, daß das zweibeinige Ding keine Katze sein konnte; sie wollte ihn greifen, aber Kasperle, der von oben bis unten voll Schlagsahne war, entglitschte ihren Händen. Türen gingen auf, Menschen kamen, und Kasperle sah einen großen steinernen Pfeiler; hinter den rutschte er. Von da aus hörte er Frau Emma klagen, Mägde und Diener schelten, und plötzlich riefen alle: »Es fahren wieder Gäste vor.«

Da rannten alle weg, und Kasperle kroch aus seinem Versteck heraus. Satt war er, nun hätte er gern geschlafen, aber er wagte nicht, jemand zu fragen, wo denn das Kämmerlein sei, das er bekommen sollte. Beim Umschauen entdeckte er eine schmale Treppe, die nach oben führte. Ei, vielleicht war es dort stiller, und er fand wohl ein Plätzchen zum Ausruhen. Oben geriet er in einen kleinen Flur, auf dem mündeten viele Türen. Der kleine Schelm schlich etwas an der Wand entlang, so recht gemütlich war es ihm nicht. Der schmale Flur lief in einen breiten hinein, da war wieder Tür an Tür; alle waren sie weiß und hatten goldene Verzierungen, ganz prächtig sah es aus. Eine dieser Türen stand ein Ritzchen auf, und das neugierige Kasperle konnte nicht widerstehen, es steckte seine Nase hindurch. Das war aber ein feines Zimmer, in das er blickte! Selbst die Wände waren mit Seide bekleidet, und an der einen Wand stand ein breites goldenes Bett. Kein Mensch war im Zimmer, und das Bett lockte Kasperle arg. In dem mußte es sich doch sicherlich gut schlafen.

Sachte schlüpfte er ins Zimmer, und eins, zwei, drei war er in dem schönen Bett. Das war ganz von Seide, und Kasperle rollte sich wie ein Igel drin herum. Ei, da lag sich’s besser als in Bauer Strohkopfs Kammer! Doch freilich, in Protzendorf hatte ihn bis zum Morgen niemand gestört, aber hier! – Kasperle richtete sich erschrocken auf, viele Stimmen erklangen draußen, und er bekam Angst. Mit einem Satz war er aus dem Bette heraus, strich es schnell ein wenig glatt und kroch dann flink darunter.

Es war aber auch die höchste Zeit, denn gleich darauf tat sich die Türe auf, und ein älterer Herr, gefolgt von einigen Dienern, trat ein. Die redeten miteinander allerlei, was Kasperle nicht recht verstand, und dann trat der Herr an das Bett heran und sagte seufzend: »Ich bin heute sehr müde; ich wollte, der Tag wäre erst zu Ende!« Bei diesen Worten strich er etwas über die seidenen Kissen, weil er sich wunderte, daß diese nicht so ganz gerade lagen. »Was ist denn das?« rief er auf einmal erstaunt. Der Herzog, denn das war der ältere Herr, zog verdutzt seine Hand zurück. Er betrachtete sie, schüttelte den Kopf, strich wieder über das Bett und rief dann entrüstet: »Friedrich, in – meinem Bett ist – Schlagsahne!«

»Schlaaagsahne!« Friedrich riß den Mund vor Erstaunen weit auf und kam eilfertig herbei. Er strich auch über das Bett, leckte ein bißchen am Finger und rief verdutzt: »Schlagsahne!« Und dann lief er zur Klingel, läutete heftig, und es dauerte nur ein paar Augenblicke, da kam ein Kammerdiener daher. Der verbeugte sich dreimal und fragte dreimal, was der Herzog wünsche.

Da deutete dieser auf das Bett und sagte: »Was ist das? Drüberstreichen!«

Der Kammerdiener strich erstaunt über das Bett, wich dann erschrocken zurück und strich noch einmal darüber, leckte auch ein wenig am Finger und rief ebenfalls: »Schlaaagsahne!« Und dann rannte er, holte den Haushofmeister herbei, der Graf kam selbst, und alle standen sie um das Bett herum und riefen: »Schlagsahne!«

Der Herzog schüttelte immerzu den Kopf, so erstaunt war er über die seltsame Geschichte. Und bei diesem Kopfgeschüttele sah er auch einmal in den großen Spiegel, der dem Bett gerade gegenüberhing. Darin sah er das ganze Bett und – der Herzog schrie plötzlich laut auf und sank in einen Stuhl. »Da, da, da!« rief er zitternd und deutete unter das Bett und auf den Spiegel, denn in dem hatte er Kasperle erblickt, der neugierig seine große Nase etwas weit vorgestreckt hatte.

»Es steckt jemand unter dem Bett,« rief der Haushofmeister zuerst. Da krochen auch schon zwei Diener hinunter, und das Kasperle konnte sich noch so klein machen, es wurde doch erwischt; an den Beinen zogen es beide hervor, und beide riefen entrüstet: »Er klebt ganz und gar, er ist auch voller Schlagsahne.«

»Ah!« sagte der Herzog verwundert, als das Kasperle vor ihm stand. Nach der Nase hatte er nämlich gedacht, ein großer, ausgewachsener Räuber stecke unter dem Bett.

»Ah!« rief auch der Graf zornig. »Das ist der, den mein Herr Vetter von Singerlingen mitgebracht hat, und der bis jetzt nichts wie Dummheiten gemacht hat. Haue muß er kriegen!«

»Jawohl und eingesperrt werden!« sagte der Haushofmeister, und der Herzog nickte dazu. Nur weil er gerade sehr müde war, flüsterte er: »Aber erst morgen hauen.«

»Ja, morgen soll er Haue bekommen, jetzt wird er in den Keller gesperrt,« rief der Graf streng.

Die Sache stand schlimm für das Kasperle, arg schlimm. Es war wohl am besten, er bettelte gleich recht eindringlich um Gnade, vielleicht verzieh ihm der Herzog doch. Und es war gut, daß er glitschig war, da gelang es ihm, einen Augenblick den Händen der Diener zu entwischen. Er tat einen Riesensprung auf den Herzog zu und kreischte mit weinerlicher Stimme: »Bitte, bitte, bitte!«

Doch der Herzog war ein etwas schreckhafter Herr. Er lehnte sich ängstlich weit, weit in seinen Stuhl zurück, und auf einmal purzelten Stuhl und Herzog hintenüber.

»Um Himmels willen!« Der Graf, der Haushofmeister, die Diener, alle griffen erschrocken zu, und da schoß das Kasperle plötzlich einen riesigen Purzelbaum über alle hinweg, und draußen war er. Die Türe flog dem einen Diener, der nacheilen wollte, so unsanft an den Kopf, daß er zurückwich. Aber dann lief er doch auf den Flur, der Kammerdiener folgte und schrie laut: »Hilfe, Hilfe! Haltet ihn, haltet ihn!«

Ja, wen sollten alle Diener halten, die angelaufen kamen? Von dem Kasperle war keine Spur zu sehen. Hatte denn den der Erdboden verschluckt? Er war spurlos verschwunden. Auf dem langen, langen Flur rannte kein Kasperle dahin, die Türen waren alle verschlossen, er hatte also auch in kein Zimmer schlüpfen können. Weg war der Schelm, ganz weg. Die Diener rannten die Flure entlang, die Treppen auf und ab, das ganze Schloß geriet in Aufregung, alle fingen an zu suchen, und die Gäste wußten gar nicht, was sie suchten. Und dann rief der Graf nach dem herzoglichen Leibarzt, weil er dachte, der Herr Herzog hätte sich vielerlei gebrochen, aber der hatte sich glücklicherweise gar nichts gebrochen, nur der Stuhl hatte seine Beine gebrochen. Doch seufzte und stöhnte der Herzog wirklich, als wäre er selbst entzweigegangen. Es war eine schreckliche Aufregung im ganzen Schloß. Schließlich aber sagte der Herzog, nun möchte er zu Mittag essen, er habe Hunger. Und da dachten alle: Gott sei Dank! Sie hatten nämlich alle Hunger, denn es war schon spät; um diese Zeit tranken andere Leute, die nicht gerade auf einem Schlosse wohnten, ihren Nachmittagskaffee.

Der Graf befahl noch, alle drei Nachtwächter, die er hatte, sollten überall suchen und sollten Kasperle gefangennehmen, wenn sie ihn kriegten. Und dann wurde zu Mittag gegessen. Das schmeckte allen sehr gut, und alle wurden wieder ganz vergnügt. Sie sagten aber doch alle, mit dem fremden Jungen, das sei sicher nicht mit rechten Dingen zugegangen.

Siebentes Kapitel

Rosemarie

Rings um das Schloß wachten die Wächter, die großen Hunde umliefen es, Kasperle fanden sie aber doch nicht. Wo war der nur? Wie weggeblasen war er. Die Diener und Mägde durchsuchten wirklich das ganze Schloß, sie schauten sogar in verschlossene Kisten und Schränke hinein, – der unnütze Schelm war nicht zu finden.

Nur eine im ganzen Schloß wußte, wo das Kasperle steckte, Rosemarie. Die hatte am Fenster gestanden, als von unten herauf ein lautes Lärmen erklungen war. Da hatte sie erstaunt hinausgesehen und Kasperle erblickt, der wie eine reife Pflaume am Baum in dem Geäst des uralten Efeus hing, der die Schloßmauer bedeckte. »Der fremde Junge!« Rosemarie hatte es verwundert gerufen, und da purzelte Kasperle auch schon in ihr Zimmer, denn weiter konnte der nicht klettern. Er war ohnehin vor Angst und Eile schon ganz außer Atem.

Unten war das Rufen lauter und lauter geworden, und Kasperle war auf einmal zu Rosemaries größter Verwunderung unter das Sofa gekrochen. Von dort her jammerte er kläglich: »Sie hängen mich auf!«

Rosemarie hatte sehr viel Mitleid mit dem kleinen Schelm gehabt, sie hatte ihn vorgelockt und ihn in ihrer großen Puppenstube versteckt. Das war ein kleines Zimmer, in dem alles für Rosemaries Puppen eingerichtet war. In das Bett der größten Puppe ging Kasperle gerade noch hinein. Ein bißchen zusammenkrümmen mußte er sich freilich, wie ein Igel, aber Rosemarie sagte: »Das schadet nichts, hier findet dich niemand.«

Es war auch niemand im ganzen Schloß auf den Gedanken gekommen, in Rosemaries Puppenstube nachzusehen. Ihre Lehrerin dachte, sie hätte die ganze Zeit mit ihren Puppen gespielt, weil sie so still in der Stube gesessen hatte. Als Rosemarie hinausging, schloß sie sorgsam die Vorhänge am Puppenbett, und das Kasperle lag in dem weißen Mullbettchen, von himmelblauen Seidenvorhängen umgeben. Das Bettchen war fein und weich, nur für so einen kleinen strampeligen, unnützen Kasper zu zart und fein.

Der seufzte denn auch arg, als Rosemarie gegangen war. Am liebsten wäre er aufgestanden und hätte in der Puppenstube alles umgekramt; er hatte aber doch große Angst, man könnte ihn finden, darum blieb er still liegen.

Endlich kam Rosemarie wieder. Die hatte den Gästen gute Nacht sagen müssen und sollte nun selbst bald zu Bett gehen. Sie sollte sich ausschlafen, denn morgen war die Hochzeit; die wollte sie ganz und gar mitfeiern. Leise zog sie den Vorhang auseinander, begierig, ob der fremde Kasper wohl schlief.

Kasperle sah sie betrübt an, er seufzte kläglich und murmelte: »Ich kann in dem Bett nicht liegen!«

»Du mußt aber drin bleiben,« flüsterte Rosemarie ängstlich. »Ach, Kasper,« klagte sie, »was hast du angerichtet! Der Herzog ist bitterböse, und es sind schon dreißig Landjäger gekommen, die sollen das Schloß bewachen, damit niemand hinaus kann. Und morgen früh soll noch einmal alles, alles abgesucht werden. Dann kommen sie gewiß auch hier herein, und wenn sie dich finden, wirst du ins Gefängnis gesteckt.«

»Brrrr!« Kasperle schüttelte sich, dazu war er doch nicht in die weite Welt gelaufen, um eingesteckt zu werden. »Ich fliehe,« brummte er.

»Dann fassen dich die Hunde oder fangen dich die Landjäger.« Rosemarie seufzte bekümmert. Auf einmal aber hellte sich ihr Gesichtchen auf. »Ich weiß was,« sagte sie. »Ich gebe dir den Turmschlüssel. Gleich neben dem Turm geht es hinaus, und vielleicht ist gerade da kein Landjäger. Komm, jetzt sitzen alle beim Essen, da zeige ich dir flink den Weg.« Sie packte fürsorglich noch ein Stück Torte ein, das sie selbst hätte essen sollen, und steckte es Kasperle zu, und dann lief sie ganz, ganz leise voran. Kasperle folgte ihr, die Schuhe in der Hand. Rosemarie stieg eine schmale, schmale Treppe hinab, dann ging sie einen Gang entlang und öffnete am Ende eine Türe, und beide betraten ein rundes Gemach. Ein Tisch stand in der Mitte, Stühle darum, es war noch so hell, daß Kasperle alles sehen konnte. Aus dem runden Zimmer führte ein schmales Treppchen abwärts, und Rosemarie belehrte Kasperle, dort müsse er hinabsteigen, die Tür unten aufriegeln, dann sei er am Parkende und komme vielleicht hinaus. Wie sie das sagte, erfaßte sie ein tiefes Mitleid mit dem armen fremden Jungen. Sie fand, er hätte doch gar nichts Schlimmes getan. »Du armer Kasper!« flüsterte sie, und über ihr liebliches Gesicht liefen helle Tränen.

In diesem Augenblick kam sich das Kasperle selbst sehr, sehr arm und verlassen vor, und er fing an ganz erschrecklich zu heulen. Rosemarie hielt ihm rasch mit beiden Händchen den Mund zu, denn Kasperle hatte eine Stimme, die selbst durch eine dicke Turmmauer hindurchschallte. Er schwieg dann aber auch gleich und sah Rosemarie erschrocken an; doch als die sagte: »Nun muß ich gehen,« da purzelten dem Kasperle wieder die Tränen wie ein Bächlein aus den Augen. Er war jedoch still, versprach auch, er wolle fein brav alles befolgen, was Rosemarie ihm geraten hatte, und dann hielt er ein Weilchen die feine, kleine Hand des Grafenkindes fest.

Ach, wie himmelgern wäre er jetzt hiergeblieben in dem schönen Schloß und wäre Rosemaries Spielkamerad geworden! Er legte den Kopf auf die Seite und schielte Rosemarie traurig an. Da sagte die plötzlich: »Weißt du, wie du aussiehst? Wie – wie meine Kasperlepuppe.« Und ganz jäh begann sie sich ein wenig vor dem fremden häßlichen Jungen zu fürchten, und sie sagte rasch: »Ich muß gehen.« Sie nickte Kasperle noch einmal zu und glitt dann leise aus dem Zimmer. Kasperle hörte sie zuschließen, dann war er allein.

Er blieb noch ein paar Minuten still sitzen, weinte bitterlich und vergaß darüber Rosemaries gute Lehren. Statt sachte das Trepplein hinabzusteigen und unten die Turmtüre aufzuschließen, wollte er erst einmal durch das Fenster hinausschauen. Er öffnete das kleine Fensterchen, das klirrte und knarrte arg, und dann streckte Kasperle den Kopf hinaus und sah sich um. Ach, war das eine schöne frische Luft draußen! Kasperle schaute in die Höhe und schaute nach rechts und nach links, und dann schaute er auch hinab.

»Wauwau, wuwuwu!« ging es plötzlich unten los; ein großer Hund stand da und bellte zu Kasperle hinauf. »Wauwau, wuwuwu!« Ganz drohend klang seine Stimme.

Kasperle wollte schnell den Kopf zurückziehen. Doch so schnell ging das nicht, das Fensterchen war eng und Kasperles Kopf dick, und ehe der wieder drin war, tauchte draußen ein Landjäger im Gebüsch auf.

Gab das ein Hallo! »Er steckt im Turm!« schrie der Mann. Und dann drohte er hinauf: »Nu, warte du, dich fange ich!« Er maß schnell das kleine Fenster mit seinem Blick, nein, da konnte selbst ein kleiner Junge nicht hindurchkriechen. Und weil er zu dem Pförtlein unten keinen Schlüssel hatte und auch wußte, daß dies immer verschlossen war, lief er eilig in das Schloß hinein, seinem Hund aber rief er zu: »Sultan, paß auf!«

Kasperle hörte ihn davonlaufen, und er besann sich einen Augenblick, was zu tun sei. Dann nahm er flink Rosemaries Kuchen vom Tisch, rannte blitzschnell das Treppchen hinab und schloß unten auf. »Wauwauwau!« bellte ihn Sultan zornig an. Das Kasperle aber nicht faul, warf dem Hund geschwinde den Kuchen in den Rachen. Rrrabsch! Sultan vergaß das Bellen. So ein feiner Kuchen flog ihm nicht oft ins Maul. Er schleckte und schluckte, und da hatte Kasperle auch schon die kleine Türe erreicht. Sie knarrte und quietschte, da war sie schon auf, aber inzwischen hatte auch Sultan seinen Kuchen verschluckt, und er besann sich auf seine Wächterpflicht. Doch Kasperle war flinker draußen als er am Türchen. Das schlug ihm vor der Nase zu, und draußen kollerte Kasperle vor lauter Eile den Schloßberg hinab in einen kleinen Bach hinein. Das Wasser spritzte hoch auf, dem Bächlein gefiel dies Hineingeplumse gar nicht.

Oben auf dem Schloß wurde der Lärm lauter und lauter. Jetzt bellte nicht Sultan allein, auch die andern Hunde fingen an zu bellen, Stimmen wurden laut, Rufe ertönten, und Kasperle begann vor Angst zu zittern. Er rannte in seiner Furcht eine Weile in dem Bach weiter, bis er an ein Gebüsch kam; da schlüpfte er hinein. Er kroch hindurch und sah vor sich eine weite Wiese liegen, dahinter stand dunkel der Bergwald. Dort konnte er sich vielleicht verstecken. Aber statt über die Wiese zu laufen, fing Kasperle an Purzelbaum zu schlagen. Das ging so geschwinde, wie Tauwasser einen Berg hinabrennt. Da war der Wald, und Kasperle tauchte in seinen dunklen Schatten unter.

Es war aber auch die höchste Zeit. Auf dem Schloß hatten sie den Turm leer gefunden, und die Landjäger schlugen einen gewaltigen Lärm. Den hörten der Graf und seine Gäste, und als der Herzog vernahm, daß Kasperle gesehen worden war, verlangte er, man solle ihn eilig verfolgen. Er war noch immer bitterböse auf den kleinen Kerl. Dem, der ihn finden würde, versprach er eine hohe Belohnung.

Da rannte alles, was Beine hatte, um Kasperle zu suchen. Man fand auch bald, wo er ausgerissen war, denn Sultan stand und bellte die kleine Mauerpforte immerzu wütend an. »Den haben wir bald,« sagte der Landjäger, »Sultan findet ihn schon.«

Doch Sultan fand ihn nicht. Der stand plötzlich am Bach still, schnupperte und schnupperte, aber das Wasser hatte Kasperles Fährte hinweggespült. Wo war das Kasperle?

Landjäger, Hunde, Mägde, Diener, alles rannte im Schloß umher, um das Schloß herum, Kasperle fanden sie nicht. »Er ist noch im Schloß,« sagten die einen, »nein, er ist entwischt,« behaupteten die Landjäger; »man muß im Walde suchen.« Die Mägde meinten, Kasperle sei ein Gespenst, ein Kobold; aber die Hausverwalterin sagte, ein Gespenst schlecke nicht so viel Schlagsahne. Und sie sah zehnmal in den Speisekammern nach, sie dachte, Kasperle hätte sich gewiß darin versteckt.

Kasperle kletterte unterdessen den hohen Waldberg empor, der steil in die Höhe stieg. Der Wald war hier so dicht, daß sich ein kleiner Schelm schon darin verstecken konnte. Aber vor den Landjägern und den Hunden hatte Kasperle doch eine jämmerliche Angst. Darum rannte er, so schnell er konnte. Und das war nicht immer leicht. Dürre Äste, knorrige Wurzeln, auch einmal ein umgestürzter Stamm erschwerten das Fortkommen sehr. Kasperles Nase war zuletzt ganz zerschunden, so oft hatte er sich daran gestoßen. Und je höher es hinaufging, desto schlechter wurde der Weg. Steingeröll bedeckte den Boden, und ein Menschenbube wäre wohl nicht so schnell in die Höhe gelangt. Aber Kasperle stieg und stieg immer höher, bis auf einmal vor ihm eine grüne Bergwiese lag.

Es war Abend geworden, und am dunkelblauen Himmel stand schon ganz blaß und fein der Mond. Auch ein Sternlein glitzerte, aber Kasperle sah es gar nicht. Der sank müde am Waldrand nieder. Er kniff die Augen zu, und da schlief er auch schon. Und die großen Waldbäume hatten Mitleid mit dem armen, verirrten kleinen Kerl. Sie, die immer nach oben schauen, zum Himmel empor, haben gütige, fromme Gedanken, sie haben Mitleid mit den Kleinen, die sich quälen müssen auf der Erde. Und der kleine Kerl, der da so müde und abgehetzt unter ihnen schlief, tat ihnen leid. Sie rauschten ihm ein schönes, feierliches Schlummerlied, erzählten ihm Geschichten, und Kasperle schlief auf dem weichen Waldboden besser als der Herzog im seidenen Bett. Er hörte nicht, wie weiter unten im Wald die Hunde bellten und die Landjäger mit Hussageschrei den Flüchtling suchten. Bis zur Bergwiese stieg keiner hinauf, denn der Weg war so steil und beschwerlich, daß niemand dachte, Kasperle könnte denselben gegangen sein.

Kasperle schlief noch süß und fest, da kehrten die Landjäger schon in das Schloß zurück, und sie sagten nun auch: »Der hat sich im Schloß versteckt.« Und sie bewachten das Schloß weiter, und die Hausverwalterin hütete ihre Speisekammer. Und doch fehlte darin am nächsten Tag ein großes Stück Torte. Sie sagte: »Das war der Junge,« und die Mägde sagten es auch. Berta und Dörte aber, die beiden jüngsten, die leckten sich heimlich den Mund ab, sie hatten nämlich die Torte gegessen. Sie schrien aber am lautesten, der fremde Junge sei es gewesen.

Der Herzog wurde vor Ärger, und weil er so furchtbar erschrocken war, am Tag nach der Hochzeit krank. Vielleicht hatte er auch zu viel Kuchen gegessen, wer kann das wissen! Und der Graf rief immerzu: »Schafft mir nur den Jungen her, damit ihn der Herzog bestrafen kann! Der Herzog soll sich doch in meinem Schlosse nicht krank ärgern.«

Der kleinen Rosemarie war das Herzchen bitter schwer. Die hätte gern ihren Eltern alles gestanden, aber sie wagte es nicht. Sie fürchtete, der Herzog könnte dann auch so bitterböse auf sie werden, und sie wußte doch, sie konnte nicht einmal sagen: »Es tut mir leid.« Dazu freute sie sich viel zu sehr über Kasperles Rettung. Aber sie ließ tief betrübt ihr Näslein hängen und ging still und blaß einher, und ihre Mutter begann sich recht um sie zu sorgen. Der Herzog krank, Rosemarie krank, es war gar nicht gemütlich im Schloß in diesen Tagen. Der gute Graf von Singerlingen dachte: Das muß ein bißchen lustiger werden, ich muß mir etwas Vergnügliches ausdenken. Und als er hörte, unten in dem winzigen Städtchen, das am Fuße des Schloßberges lag, sei ein Puppenspieler angekommen, schickte er hinab, der Puppenmann möchte heraufkommen.

»Ich habe eine Überraschung,« sagte der Graf von Singerlingen bei Tisch. Und dann erzählte er von dem Puppenspieler.

Der Herzog, der etwas verdrießlich am Tisch saß, mußte lachen. »Das ist freilich eine schnurrige Überraschung für große Leute,« sagte er. »Doch der Mann mag kommen, auch ein Puppenspiel kann lustig sein.«

So gab es am Nachmittag eine Vorstellung im Schloß. Der Kasperlemann aus dem Städtchen kam herauf, er stellte seine kleine Bühne auf, und dann streckte Kasperle seine große Nase heraus und – ja, was er sagen wollte, das hörten die Zuschauer gar nicht, alle riefen: »Der fremde Junge! Genau so sah er aus.«

Kasper ist’s! dachte auch Rosemarie erschrocken, und ganz jäh begann sie bitterlich zu weinen. Sie schluchzte so herzbrechend, daß der Kasperlemann seine Reden und der Herzog seinen Ärger vergaß. Der fragte milde nach Rosemaries Kummer, und da bekannte die Kleine alles, und sie war froh, es sagen zu können, zu sehr hatte das Geheimnis ihr Herz bedrückt.

»O Rosemarie,« rief die Gräfin ganz erschrocken, »warum hast du geholfen und den schlimmen Jungen ausreißen lassen!«

»Mit Verlaub,« redete da der Kasperlemann hinter seiner Bühne hervor, »das ist gar kein Junge, das ist ein Kasperle, ein lebendiges Kasperle.«

»Potzwetter noch einmal!« Der Herzog sah den Kasperlemann ganz grimmig an und rief: »Was redet Er da für Unsinn? Ein lebendiges Kasperle, so etwas habe ich in meinem Leben noch nicht gehört!«

Der Kasperlemann aber kam geschwind näher und verbeugte sich immerzu ganz tief. Er stippte mit der Nase beinahe auf dem Boden auf, bis der Herzog endlich rief: »Genug, genug, jetzt will ich wissen, was das mit dem Kasperle für eine Geschichte ist.«

Da erzählte der Puppenspieler vom Waldhaus und von Protzendorf und daß er Kasperle fangen wolle, und wenn er, wer weiß wie weit ziehen müßte.

War das eine sonderbare Geschichte! Der Herzog ließ sie sich dreimal erzählen, und dann mußte der Puppenspieler auch noch heilig versichern, alles sei bestimmt wahr. Ein Kasper also war der fremde Junge gewesen.

Die kleine Rosemarie dachte daran, wie sie im Turm sich vor ihm gefürchtet hatte, und daß sie sich jetzt nicht mehr fürchten würde; er war ja nur ein Kasperle. Und ihr kleines Herz brach fast vor Mitleid, als sie jetzt den Herzog sagen hörte: »Der muß gefangen werden! So einen seltsamen Kauz will ich besitzen. Wer ihn fängt, der soll eine hohe Belohnung haben. Mit dem Puppenschnitzer im Waldhaus werde ich schon einig werden; der muß mir das Kasperle überlassen. Schnell, schnell, es sollen zehn Landjäger mit Hunden ausreiten, und es soll überall nachgeforscht werden! Das Kasperle will ich haben.«

Und der Puppenspieler vergaß, daß er dem Meister Friedolin versprochen hatte, er, nur er allein solle Kasperle bekommen. Die hohe Belohnung verlockte ihn, und er gelobte dem Herzog, ihm das Kasperle zu bringen, wenn – er es erst hätte.

Der Herzog aber sagte, er würde Kasperle in einen goldenen Käfig stecken, er dürfe ihm nicht mehr ausreißen, – wenn er ihn erst hätte. Und die Landjäger sprengten davon. Unten im Städtchen erzählte es einer dem andern: »Wer das richtige Kasperle findet, der bekommt viel, viel Geld.« Manche Leute rannten da gleich flink in die weite Welt hinein, um Kasperle zu suchen; die dachten gar, der sitze nun wohl mitten auf der Landstraße und lasse sich fangen wie ein Schmetterling.

Die kleine Rosemarie aber lag in ihrem Bett und weinte bitterlich. Als ihre Mutter noch einmal zu ihr kam, da war das Kopfkissen der Kleinen naß von den vielen Tränen. Und Rosemarie klagte der Mutter, wie leid ihr das arme verfolgte Kasperle tue, das in einen Käfig gesetzt werden solle. Die Mutter tröstete linde, noch sei Kasperle ja nicht gefangen. »Vielleicht findet er noch heim in das Waldhaus; mir scheint, das ist seine beste Heimat,« sagte sie.

»Ich will beten, daß Kasperle heimfindet,« flüsterte Rosemarie und faltete fromm ihre Hände. Und dann schlief sie ein und träumte: Kasperle saß in einem goldenen Käfig, und da kam ein Vogel, sang und sang, und plötzlich war um den Käfig herum der grüne Wald, und Kasperle spazierte vergnügt hinein. Er nickte ihr noch fröhlich zu, und dann war er verschwunden. Auf einmal aber kam der Herzog gelaufen und die Landjäger und viele, viele Leute, und alle riefen: »Wo ist Kasperle?« Da fing die kleine Rosemarie an zu lachen, sie lachte und lachte und wachte schließlich von ihrem eigenen Lachen fröhlich auf. Vielleicht wird Kasperle wirklich nicht gefangen, dachte sie getröstet.

Achtes Kapitel

Ein neues Heimathaus

Auf der Bergwiese lag das Kasperle und schlief. Der kleine Schelm hörte kein Hundegebell, kein Hussageschrei, nichts; in die einsame Höhe drang kein Laut von unten herauf. Und als Kasperle endlich erwachte, da lag die ganze Wiese im Sonnenglanz, und viele feine, zarte, bunte Blüten waren aufgeblüht. Wie ein grünseidenes Festgewand, mit Edelsteinen bestickt, breitete sich die Wiese vor dem Kasperle aus. Das rieb sich staunend die Augen. Wie wunderschön war es hier! Im Halbkreis umschloß der hohe Tannenwald die Wiese, und über ihr stiegen steile Bergspitzen himmelan. Darüber glänzte der Himmel tiefblau, und ein feines Summen und Schwirren erfüllte die Luft. Bienen, Käfer, Fliegen und bunte Falter flogen von Blüte zu Blüte, und hoch in der Luft kreiste ein Vogel. Ein Adler war es, doch das wußte Kasperle nicht, sonst hätte er sich wohl vor dem König der Vögel gefürchtet. Kasperle schaute und schaute, er vergaß darüber seine Not, bis auf einmal sein Mäglein mit einem lauten Gerumpel mahnte: »Frühstückszeit ist lang vorbei!«

Ja, Frühstück, woher das nehmen? Kasperle fuhr in seine Taschen, die waren leer, und es half ihm nichts, daß er an die gefüllten Speisekammern im Schloß dachte, und an den Kuchen, den Sultan gefressen hatte. Und Beeren, mit denen er wenigstens ein kleines Loch im Magen hätte ausfüllen können, gab es auch nicht. Vom Blumenduft aber kann kein Kasperle satt werden.

Er erhob sich also und beschloß weiterzuwandern. Über die Berge hinüber, dachte er; bis dahin würden sie ihm doch vom Schloß aus nicht nachkommen. Wie hoch die Berge waren, ahnte er gar nicht. Er begann tapfer zu laufen, überquerte die schöne Blumenwiese, und dann ging das Klettern los. Wohl eine Stunde mochte er gestiegen sein, als er einen schmalen Pfad sah, der am Berge dahinlief. Dem Weg war freilich anzusehen, daß er nicht oft begangen wurde; ein Weg führt aber meist zu einem Ziel, und Kasperle rannte, so schnell er konnte, den Pfad entlang. Sein Hunger war inzwischen riesengroß geworden, und auf einmal meinte er, er könne nicht weiter; er setzte sich auf einen Stein und begann bitterlich vor Herzeleid und Hunger zu weinen.

Da ertönte plötzlich ein feines Klingen, es schwoll an, wurde stärker und stärker, und das Kasperle dachte: So klang es doch immer Sonntags im Waldhaus, wenn sie in Schönau zur Kirche läuteten! Heisa, da mußte eine Kirche in der Nähe sein! Und wo eine Kirche war, wohnten Menschen. Da rannte Kasperle auch den Glockentönen nach. Er brauchte nicht weit zu gehen, nur um einen Felsen herum, da sah er schon tiefer unten ein Dorf liegen. Um ein große, weiße Kirche scharten sich die Häuser; friedsam und behaglich sah das aus. Aus jedem Schornstein aber stieg lustig ein feines Rauchwölkchen zum Himmel empor. Da merkte Kasperle, es war Mittagszeit, und die Glocke läutete diese ein. Sie rief und lockte, und Kasperle wäre am liebsten kopfüber den Berg hinabgekugelt, um da unten mitzuschmausen. Er blieb aber doch still auf dem Berge sitzen, weil er sich fürchtete, unter die Menschen zu gehen. Wenn nur nicht der schreckliche Hunger gewesen wäre! Kasperle bog sich ganz zusammen, so hungrig war er, und weinend sah er auf das Dorf hinab. Ach, die hatten es unten alle gut! Die waren nicht so mutterseelenallein und verlassen wie das arme Kasperle!

Von dem Dorf stieg just um diese Zeit ein Mann zu den hohen Bergen empor. Es war dies Herr Habermus, der Schullehrer. Der wollte auf der schönen Bergwiese, über die Kasperle vorher gelaufen war, Blumen suchen. Dort wuchsen seltene Heilkräuter, und Herr Habermus war ein kräuterkundiger Mann. In das einsame Dorf, das den Namen Waldrast führte, kamen wenig Menschen, und wenn Krankheit herrschte, war es mühsam und beschwerlich, einen Arzt herbeizuholen. Da gingen dann die Dörfler lieber zu ihrem Schullehrer; der half ihnen mit seinen Kräutertränklein, so gut es ging. An diesem schönen, hellen Tag nun gedachte Herr Habermus seine grüne Botanisierbüchse voll Kräuter zu füllen und fand dafür das weinende Kasperle. »Jemine,« schrie er, als er den Kleinen erblickte, »was ist denn das?« Er dachte wirklich, es sei ein Berggeistlein oder so etwas, obgleich er eigentlich nicht an solche Dinge glaubte. Aber das Kasperle kam ihm doch zu sonderbar vor, auch war dieser Bergpfad gar kein Weg, auf dem sonst Fremde daherkamen. »Heda!« rief er und packte das weinende Kasperle. »Wo kommst du denn her? Wo willst du hin? Warum weinst du denn?«

Drei Fragen auf einmal, das war ein bißchen viel. Kasperle sagte schluchzend wieder sein Sprüchlein her, er sei ein armes verlassenes Waisenbüble und wolle in die weite Welt gehen.

Herr Habermus hatte ein gutes, mitleidiges Herz, dem tat Kasperle gleich ungemein leid. »Nun, nun,« sagte er, »da mußt du nicht so schrecklich weinen; in der weiten Welt wird schon noch Platz für so ein Büble sein!«

»Ich hab’ doch Hunger!« schrie Kasperle so laut und kläglich, daß Herr Habermus gleich ganz erschrocken seine grüne Büchse um und umdrehte. Die hatte ihm seine liebe Frau mit Butterbroten und Pfingstkuchen wohl gefüllt, und der Schullehrer drückte Kasperle Brot und Kuchen in die Hände und wollte gerade ermahnen: »Iß!« da – schrippschrapp! hatte Kasperle schon beides in seinen großen Mund gesteckt. Schluck, schluck, hinunter war es!

»Potzwetter,« schrie Herr Habermus, »du kannst das Essen gut!« Er füllte wieder Kasperles Hände, und wieder schluckte der eins, zwei, drei! alles hinab. Es wird nicht reichen, dachte Herr Habermus bekümmert. Aber es reichte. Kasperle wurde plumpsatt, und der Schullehrer sagte: »Nun erzähl’ mir mal, wo du eigentlich herkommst.«

Das war eine schwere Sache. Kasperle erzählte verlegen von Protzendorf, er klagte Damian und Florian bitter an, und der gute Herr Habermus dachte, der kleine Schelm sei wer weiß wie lange dort Gänsehirt gewesen. »Bist du denn auch ordentlich dabei in die Schule gegangen?« fragte er mitleidig.

»In die Schule?« Kasperle riß seinen Mund vor Erstaunen noch weiter auf als zuvor aus Hunger. Denn daß er, ein Kasperle, jemals in eine Schule gehen sollte, daran hatte er nie gedacht. »Nä!« rief er und schüttelte immerzu den Kopf. »In die Schule, – nä!«

»Nanu, bist du überhaupt noch nicht in eine Schule gegangen?« fragte Herr Habermus ordentlich entsetzt.

»Nä, nie!« Das ganze Kasperle wackelte nun hin und her, und Herr Habermus schüttelte auch den Kopf; das war doch wirklich eine schlimme Geschichte! Hier mußte geholfen werden, der Bube mußte in die Schule gehen. Ei, das wäre noch etwas, ein Büble in der weiten Welt herumlaufen zu lassen, immer an der Schule vorbei! »Das geht nicht,« rief er; »mein Sohn, du mußt in die Schule gehen!«

Hätte der gute Herr Habermus gerufen: »Kasperle, ich muß dir die Ohren abschneiden,« dann hätte es den nicht mehr erschrecken können. Im Waldhaus hatte Meister Friedolin manchmal gedroht: »Na warte, ich schicke dich noch in die Schule!« Und Windgustel und Wassergustel, seine Freunde in Protzendorf, hatten ihm gesagt, an der Schule seien nur die Ferien gut. Und Kasperle glaubte dies den beiden Faulpelzen mehr als Herrn Habermus, der jetzt sagte: »Ei, ein rechter Junge muß in die Schule gehen und muß sich darauf freuen, denn in einer Schule ist es wunderschön!« Und dann legte Herr Habermus den Finger an die Nase; er dachte nach, wie dem Kasperle zu helfen sei. Und als er eine Weile nachgedacht hatte, sagte er: »Mein Sohn, ich nehme dich mit nach Waldrast. Wir haben nur zwei Kinder, also ist Platz im Schulhause. Du kannst der Frau in der Küche helfen und mir beim Kräutersuchen; doch wenn ich Schule halte, spazierst du hinein. Du sollst etwas Ordentliches lernen. So, nun marsch, jetzt gehen wir nach Hause! Das Kräutersuchen lasse ich heute sein. Na, meine Frau wird Augen machen, wenn sie den Gast sieht, den ich mitbringe!«

Dem Kasperle war es zumute, als hätte ihn ein Wirbelsturm rundum gedreht. Auf einmal sollte er, das richtige, echte Kasperle, in eine Schule gehen! Wie würde denn das sein? Ganz verwirrt ging er hinter dem Schullehrer her, der auf einem schmalen Zickzackweg ins Tal hinabstieg. So kamen sie beide am Dorf an, und gleich am ersten Haus unter einer großen Tanne saßen etliche Buben und Mädel. Die staunten über den seltsamen Buben, der da mit hängendem Kopf hinter ihrem Schullehrer hertrabte. Flink liefen sie nach, um sich das Kasperle genauer anzusehen. Dies Angeschaue verdroß Kasperle, er drehte sich auf einmal blitzschnell um und machte sein Räuberhauptmanngesicht.

»Huhuhu!« Die Mädel kreischten laut, die Buben lachten, Herr Habermus aber drehte sich ärgerlich um. »Was soll denn der Lärm?« fragte er.

»Der da macht so ’n komisches Gesicht!« Lauter kleine Zeigefinger streckten sich aus und deuteten auf Kasperle.

Doch da wurde Herr Habermus ernstlich böse. »Schämt euch!« rief er. »Was kann der arme Junge für seine große Nase! Ein armes Waisenkind ist’s, dem es arg schlecht gegangen ist in der Welt. Komm nur, Kasper, morgen in der Schule werden sie sich schon mit dir vertragen!« Und Herr Habermus stapfte wieder voran und das Kasperle hinterher.

Nach drei Schritten drehte der sich um und schnitt sein allerdümmstes Kasperlegesicht. Die Kinder kreischten laut vor Vergnügen, und der Schullehrer drehte sich wieder um. »Aber Kinder,« mahnte er strenge, »was soll der Lärm!«

Und wieder streckten sich lauter kleine Zeigefinger aus, und wieder ertönte es im Chor: »Der da macht so ’n komisches Gesicht!«

»Kasper!« Herr Habermus sah seinen kleinen Schützling fragend an, doch der sah so unschuldig drein, als könne er kein Wässerlein trüben. »Dumm, dumm!« brummte der Schullehrer und ging weiter, denn das Schulhaus lag ganz am andern Ende des Dorfes. Trapp, trapp folgte Kasperle ihm. Da kam eine Schar Gänse angewatschelt, und flugs schnitt Kasperle auch denen sein Räubergesicht. Gab das ein Geschnatter und Geschrei! Die Gänse wuselten erschrocken durcheinander, die Kinder lachten, und Herr Habermus drehte sich wieder ärgerlich um. Da sah er wieder das Kasperle mit gesenktem Kopf ganz bescheiden hinter sich gehen, und er schalt auf Kinder und Gänse. »Geht heim,« gebot er den Kindern, »laßt mir den Kasper in Frieden!« Dann nahm er selbst Kasperle an der Hand und führte ihn seinem Hause zu, denn so ganz traute er dem Schelm doch nicht.

Die Frau Schullehrer sah arg erstaunt drein, als ihr Mann so bald schon und mit einem so sonderbaren Kerl zurückkehrte. »Jemine,« rief sie, »was bringst du da für einen Popanz mit? Der sieht ja aus wie ’n Kasperle aus ’ner Jahrmarktsbude!«

Herr Habermus war sehr gekränkt. Er erklärte seiner lieben Frau, wie er Kasperle gefunden habe, und der Schlingel stand trübselig dabei und machte ein so unschuldiges Gesicht, daß er der Frau, die von heiterer Güte war, bitter leid tat. Sie nahm den Kleinen freundlich an der Hand und führte ihn in das Haus hinein.

Drinnen gab es freilich Geschrei und arg böse Blicke bei Kasperles Anblick. Für das Geschrei sorgten Lenchen und Lorchen Habermus, die drei- und vierjährig und noch ein bißchen dumm waren. Sie hörten freilich bald wieder auf zu schreien, als Kasperle ein lustiges Gesicht aufsetzte, ja sie jauchzten ihm vergnügt zu. In das laute Gelächter stimmte nur die Base Mummeline nicht ein; sie war es, die das arg böse Gesicht machte. Wie eine Gewitterwolke sah sie drein. Ihr paßte nicht der Gast im Hause, der unnütze Esser, und ihr gefiel das ganze Kasperle nicht. »Wie ein Spatzenschreck sieht er aus,« behauptete sie und sah den Kleinen scheel an.

Dem Kasperle gefiel die Base Mummeline auch recht wenig. Er merkte gleich, an der hatte er keine gute Freundin. Drum machte er blitzschnell, als ihn die Base beim Abendessen so unwirsch ansah, sein Räubergesicht. »Hach,« kreischte die Base, »wie sieht der Bengel aus! Man muß sich fürchten.«

Weil aber Kasperle, der Schelm, wohl aufgepaßt hatte, daß just niemand anders sein Räubergesicht sah, und er dann flink wieder ganz unschuldsvoll dreinblickte, schalt die Lehrerin: »Aber Base, das Büble tat doch nichts! Sei nicht so ungut!«

»Hach!« Die Base fiel fast vom Stuhl vor Schreck. »Jetzt, jetzt hat er wieder so ausgeschaut,« jammerte sie. »O du meine Güte, mit dem gibt’s noch ein Unglück!«

Der gute Herr Habermus sah etwas bedenklich drein. Es fiel ihm ein, wie die Kinder gekreischt und gelacht hatten, als er mit Kasperle durch das Dorf gegangen war, er sah auch in Kasperles Augen den Schalk glitzern und funkeln, da dachte er: Ich muß wohl aufpassen. Und als die Base Mummeline mal wieder »hach!« und »ach!« schrie, sagte er streng: »Nun ist’s genug; Kasper geht ins Bett. Er soll sich heute ausschlafen; morgen fängt die Schule wieder an, da muß er tüchtig lernen. Und Dummheiten werden nicht gemacht,« fügte er drohend hinzu.

Na, ich mache doch nie Dummheiten! dachte Kasperle betrübt, als er sich im Bette ausstreckte. Ich doch nicht! Und dann lauschte er und hörte, wie nach einem Weilchen die Base Mummeline in ihre Kammer ging. Die lag neben der seinen. Da stieg das Kasperle flink auf das Fensterbrett, nahm einen langen Stock, der in einer Ecke lehnte, und bums, bums schlug er an der Base Fenster. Die hatte gerade ihre Haube abtun wollen und fiel vor Schreck mitsamt ihrer Haube kopfüber in die Waschschüssel. Sie pustete und ächzte und meinte nicht anders, als ein Gespenst sei draußen vor ihrem Fenster. Doch plötzlich besann sie sich, nahm ihr Licht und rannte in Kasperles Kammer hinüber. Doch da lag das Kasperle im Federbett ganz still und friedlich und war anzuschauen, als schliefe es. Die Base Mummeline schüttelte den Kopf. Das war doch wohl ein Gespenst gewesen und nicht der fremde Bube. »Hm, hm!« brummelte sie und ging zur Türe hinaus, da aber drehte sie sich noch einmal um und – »hach!« kreischte die Base wieder und stolperte vor Eile über ihre Pantoffeln. Das Licht fiel ihr aus der Hand, sie rannte an ihre Türe an und fand nicht in die Kammer. Der Schullehrer und seine Frau kamen angerannt und fragten erschrocken, was der Lärm bedeuten solle. »Da – da drin liegt ein Gespenst!« jammerte die Base und zeigte nach Kasperles Kammer. »Es ist ein Gespenst!«

»Unsinn!« Herr Habermus tat die Türe auf und sah hinein. Da lag Kasperle fromm und friedlich im Bett und schlief, er schnarchte sogar ein wenig. »Was die Base nur hat!« brummte Herr Habermus ärgerlich und schloß sachte Kasperles Kammertüre. Ach, dessen bitterböses Räubergesicht hatte eben nur die Base Mummeline zu sehen bekommen, und die schlief die halbe Nacht nicht vor Grausen über den unheimlichen kleinen Gast.

Neuntes Kapitel

Kasperle in der Schule

Am nächsten Tag ging Kasperle zum ersten Male in die Schule. Er war sehr brav aufgestanden, hatte still am Frühstückstisch gesessen, und selbst die Base Mummeline hatte gedacht: Er ist doch gar nicht so schlimm. Dann wanderte Kasperle an Herrn Habermus’ Hand hinüber in die Schulstube, und der Schullehrer sagte: »Hier bringe ich euch einen neuen Mitschüler.«

Ein wildes Geschrei erhob sich. Herr Habermus sah ganz verdutzt drein; so waren doch sonst seine Schulkinder nicht. Er sah die an, er sah Kasperle an; der stand ganz still mit einem sehr dummen Gesicht neben ihm. »Aber stille doch!« rief Herr Habermus. »Kasper, sage nun einmal allen guten Tag.«

»Guten Tag!« brüllte Kasperle sehr vernehmlich, und sofort erhob sich ein allgemeines jauchzendes Gelächter. Buben, Mädel, Kleine, Große, alle lachten sie, manche quiekten hoch wie kleine Schweinchen, manche brummten wie Bären dazwischen. Gar nicht aufhören konnten sie. Und Kasperle lachte mit. Der riß seinen Mund auf, als sollte eine Kutsche mit vier Pferden bespannt hineinfahren.

Herr Habermus stand ganz verdutzt da. Er wußte nicht recht, lachte Kasperle, weil die Kinder lachten, oder lachten die über Kasperle. »Aber Kinder, Kinder!« rief der Lehrer mahnend, der nicht ahnte, daß eben Kinder immer über ein echtes Kasperle lachen müssen, sie mögen wollen oder nicht. Und Herrn Habermus erging es sonderbar. Er wollte heftig schelten und konnte nicht. Das Lachen steckte an. Wenn er das lachende Kasperle ansah, dann zuckte es ihm um die Mundwinkel, er mußte immer fortsehen. »Jetzt setze dich einmal, da gleich vornhin,« sagte er endlich, und Kasperle ging gehorsam an den Platz und setzte sich. Da ebbte das Lachen ab, denn nun konnten die Kinder alle Kasperle nicht von vorn sehen.

Herr Habermus atmete auf. Endlich trat Stille ein, und die Schule konnte beginnen. Erst sangen die Kinder ein Lied, und Kasperle hörte fein andächtig zu; das gefiel ihm gut. Danach sollten die Kleinen schreiben und die Großen biblische Geschichten erzählen. Herr Habermus trat zu Kasperle und zeigte dem, wie er schreiben müßte: auf, ab, und Kasperle fuhr flink auf und ab über die ganze Tafel, dazu nahm er noch die linke Hand.

»Linkshänder!« schalt Herr Habermus, »nimm die rechte!«

»Er nimmt wieder die linke!« rief plötzlich jemand von hinten vor. Das dicke Jaköble hatte es gerufen, und gleich schrieen ein paar nach: »Er nimmt immer die linke!«

»Die rechte Hand sollst du nehmen, Kasper!« mahnte Herr Habermus.

Kasperle grinste und drehte sich um, und gleich fing die ganze Klasse zu lachen an. Da wurde der Lehrer ärgerlich. »Kasper,« rief er, »weißt du nicht, was links und rechts ist?«

»Nä,« sagte Kasperle. Er wußte das wirklich nicht. In seinem Schlaf hatte er vielerlei vergessen, darunter auch dies, und die Waldhausleute hatten es ihm noch nicht wieder beigebracht.

Ei du lieber Himmel! Herr Habermus seufzte, die Kinder lachten, und Kasperle lachte mit. Da war es wieder so laut wie nie zuvor im Schulzimmer, und der Lehrer wollte böse werden und konnte nicht. »Bleib ganz still sitzen, Kasper,« gebot er, »und höre zu!« Da blieb Kasperle steif sitzen und sperrte wieder den Mund himmelweit auf. Herr Habermus erzählte und fragte, die Kinder hoben die Hände und antworteten. Das gefiel Kasperle ganz ungemein, und auf einmal hob er auch seine Hände empor, beide zugleich. »Na, was weißt du denn?« fragte der Lehrer. Er wollte gerade die Namen der zwölf Jünger wissen und nickte Kasperle zu, da schrie der laut: »Windgustel!«

»Waaas?« Herr Habermus meinte nicht recht gehört zu haben, die Kinder jauchzten wieder, und Kasperle sah sich strahlend rundum und brüllte vernehmlich: »So, ja, er ist jünger als Wassergustel.«

»So ein Schafskopf!« Herr Habermus dachte es nur, er hätte es aber beinahe gerufen. Er sagte jedoch streng: »Still jetzt, und du, Kasper, hebe die Hände nicht mehr, hör’ zu!«

Da wurde es wieder stiller, das Fragen ging weiter, die Kinder wußten gut Bescheid, die Hände flogen nur so hoch. Kasperle fand das wieder sehr spaßhaft, er hätte gerne mitgetan, aber die Hände sollte er ja nicht hochheben. Doch warum nicht die Beine? Das ging doch auch! Und hops! pendelten plötzlich Kasperles Beine in der Luft herum.

So etwas war noch nie vorgekommen. Die ganze Klasse schrie, lärmte und lachte, und der sonst so geduldige Lehrer wurde schlimm böse. Rausche, bausche, packte er Kasperle und setzte den recht unsanft auf die Bank nieder. Es krachte ordentlich, und Kasperle sah tief erschrocken drein. Er hatte doch nichts Arges tun wollen, und für ein Kasperle ist das Beine-in-die-Luft-Strecken kein schlimmes Ding. Er blieb ganz steif und starr sitzen, es wurde wieder Ruhe im Zimmer, und der Unterricht ging weiter.

Nach ein paar Minuten schon aber ertönte ein ganz helles Stimmlein, das rief: »Er weint!« Die kleine Bärbe hatte es gerufen, und flugs schauten alle Waldraster Mädel und Buben zu Kasperle hin, denn nur der konnte gemeint sein. Und Kasperle weinte wirklich, aber wie! Die Tränen rannen stromweise über sein Gesicht, und auf einmal fing Kasperle ein Gebrüll an, als heulten mindestens sechs Buben zusammen. So jämmerlich klang es, daß gleich ein paar Mädel auch zu weinen begannen. Da mußte der gute Herr Habermus trösten, er sagte zu Kasperle: »Sei nur still, ich bin nicht mehr böse! Wenn du so heulst, kommt ja noch die ganze Stube unter Wasser.«

Weg waren da Kasperles Tränen, gleich war er wieder putzvergnügt, er grinste, schaute nach rechts, schaute nach links, schaute hinter sich, und wieder brach die ganze Klasse in ein jubelhelles Lachen aus.

Es war zum Verzweifeln an diesem Tag! Zum erstenmal wurde Herr Habermus mit seiner Klasse nicht fertig. Ja, und dabei merkte er es doch, niemand war eigentlich ungezogen, niemand wollte ihn ärgern. Es war wie verhext.

»Wir wollen singen,« sagte er endlich. Er dachte: Darüber vergessen sie am besten das Lachen, und die Kinder klappten auch alle vergnügt ihre Bücher zu; singen taten sie alle gern. »Also zuerst: Der Mai ist gekommen,« sagte Herr Habermus. »Kasper, kennst du das Lied?«

»Nä!« schrie Kasperle vergnügt.

»Wir sagen’s ihm vor,« riefen ein paar Stimmen.

»Sagt mal zuerst das Lied her!« gebot Herr Habermus.

Das taten die Kinder, und nun geschah etwas Wunderbares. Kasperle stand auf und sagte ihnen gleich das ganze Lied nach. Da staunten alle, und der Lehrer, der dachte: Halt, der Schelm hat es gekonnt! sagte ihm schnell ein paar andere Verse vor, und Kasperle wiederholte die gleich. Herr Habermus sah auf das schreckliche Gekracksel, das der Bube auf seiner Tafel angestellt hatte, und er wunderte sich sehr. Erst hatte er gedacht: Der Kasper ist ja fürchterlich dumm! jetzt fand er ihn doch nicht so beschränkt. Wer so fix auswendig lernen konnte, der würde schon vorwärtskommen, meinte er. Er nickte Kasperle ganz freundlich zu, dann nahm er seine Geige, und die Singerei sollte beginnen.

Singen kann aber kein Kasperle, nur brüllen. Und Kasperle brüllte mit der allerschrillsten Stimme in den Gesang hinein, und jäh wurde aus der Singerei ein lautes Gelächter.

»Kasper, schweig!« rief Herr Habermus. »Du lernst in deinem Leben nicht singen.«

Ach du lieber Himmel, das hatte schon Liebetraut immer gesagt! Kasperle schwieg traurig, er hätte doch so gern mitgesungen, aber dann saß er ganz andächtig da, hörte zu und sah wieder so unschuldig drein, als könnte er keine kleinen Dummheitle machen.

Herr Habermus dachte wieder: Er ist nicht schlimm, ja eigentlich ist’s ein lieber, lustiger Kerl, ich will schon Geduld mit ihm haben. Er war an diesem Tage aber froh, als die Schule zu Ende war, während die Kinder alle gerade heute noch himmelgern geblieben wären. Sie drückten sich sehr langsam aus den Bänken heraus, und da der Lehrer nicht wie sonst wartete, bis alle hinaus waren, sondern zuerst hinausging, vergaßen die Kinder alle miteinander das Heimgehen.

Herr Habermus saß schon ein ganzes Weilchen in seiner Stube und ordnete Pflanzen ein, als seine Frau kam und sagte: »Drüben im Schulzimmer ist ja so arger Lärm! Sind denn die Kinder nicht heimgegangen?«

Der Schullehrer lief eiligst hinüber. Schon draußen hörte er die Kinder lachen, und als er mit einem Ruck die Türe aufriß, sah er das Kasperle auf dem Katheder sitzen. Der hatte ein Bein drüber hängen, ein Bein untergeschlagen, und so erzählte er die Geschichte, wie Damian ins Wasser gefallen war.

Die Kinder umstanden alle das Katheder wie eine Jahrmarktsbude, und das Kasperle schwätzte auch wie auf einem Jahrmarkt. Und niemand sah und hörte den Lehrer kommen. Nur das Kasperle sahen die Kinder, und immer von neuem gellte ihr Lachen auf. Aber wie spaßig das Kasperle auch war, was es für Gesichter schneiden konnte!

Potzwetter, so ein Bube! Herr Habermus mußte an sich halten, um nicht mitzulachen, und ein paar Minuten schaute er stille zu, dann rief er in den Lärm hinein: »Wollt ihr wohl heimgehen!«

Der Schreck! Kasperle rutschte blitzschnell vom Katheder herunter, und die Buben und Mädel standen verwirrt und betroffen. Sie wußten gar nicht recht, wo sie eigentlich waren, sie hatten nur das Kasperle gesehen, nur an ihn gedacht. Doch Herr Habermus sah eigentlich nicht böse drein, nur ein bißchen betrübt. Er dachte nämlich: Ja, was habe ich da für einen kleinen Narren ins Haus gebracht! Wie soll das mit ihm werden? Er nickte den Kindern zu und sagte nur noch einmal: »Geht nun aber heim!« Und da leerte sich das Schulzimmer im Umsehen. Auf einmal hatten es alle sehr eilig heimzukommen, sie purzelten beinahe über ihre eigenen Beine. Draußen schauten ein paar Bauern verwundert zu, die sagten zueinander: »Da hat’s doch was gegeben, und wie spät die Schule aus ist! Gar haben sie alle nachsitzen müssen.«

Die Kinder liefen alle eiligst ihren Heimstätten zu, und die meisten fingen schon draußen vor der Türe an, von dem wunderlichen neuen Schulgefährten zu erzählen. Den holte Herr Habermus inzwischen unter dem Katheder hervor, stellte ihn vor sich hin und sagte streng, doch nicht böse: »Kasper, was bist du für ein unnützer Strick!«

Kasperle schaute betrübt zu dem Lehrer auf. »Ich hab’ doch nur gekaspert!« antwortete er kläglich.

»Ja, du bist doch –« Herr Habermus stockte, er wollte sagen: »kein Kasper«, da sah er seinen Schützling an und dachte erschrocken: Er sieht doch wirklich wie Kasperle aus! Jemine, wen habe ich mir da ins Haus gebracht! Aber da steckte Kasperle zutraulich seine Hand in die seine und sah ihn so traurig bittend an, daß all sein Ärger verging. »Nun komm nur mit, du Schelm!« sagte er. »Auf dem Katheder darfst du mir aber nicht mehr kaspern.«

»Nä,« versprach Kasperle treuherzig, und dann nahm er seine neue Schiefertafel, die der Lehrer ihm geschenkt hatte, unter den Arm und schlitterte vergnügt hinter Herrn Habermus drein. Er schlitterte in die Wohnstube hinein und prallte unversehens mit der Base Mummeline zusammen. Die hatte gerade eine Schüssel Milch in den Händen, und da lagen dann plötzlich Base, Milch, Kasperle und Schiefertafel auf der Erde, und es gab ein allgemeines Zetergeschrei. »Er hat’s mit Absicht getan!« kreischte die Base, die sich aus dem Milchsee aufrichtete. »Hach, jetzt sieht er mich wieder so an!«

»Er konnte nichts dafür,« sagte die Frau Lehrerin. »Ich hab’s gesehen, nur ein bißchen geschwinde ist er zur Türe hereingekommen.«

»Er hat’s mit Absicht getan. Hach, das schreckliche Gesicht!« Die Base Mummeline stand wütend und scheltend auf, und bitterböse saß sie dann am Tisch. Da wagte Kasperle gar nicht aufzusehen, sein Räubergesicht machte er auch nicht, denn er hatte Angst vor der Base Mummeline.

Nach Tisch gab es ein Ruhestündchen für den Lehrer, auch Lenchen und Lorchen sollten schlafen, obgleich sie heftig verlangten, sie wollten mit Kasperle spielen. Zu dem sagte die Frau Lehrerin: »Geh du und tummle dich draußen herum, macht aber keinen Lärm um das Schulhaus herum!« Bei sich dachte die gütige Frau: Es ist ihm schon zu gönnen, daß er etwas spielt, und hier im Hause möchte die Base Mummeline doch immerzu schelten.

Kasperle sprang vergnügt hinaus, und kaum war er draußen, da packten ihn ein paar Buben. »Komm mit, du mußt uns noch was vorkaspern,« baten sie.

»Nicht hier,« sagte Kasperle ängstlich, »ich soll keinen Lärm machen.«

»Komm, wir gehen in Lappenmeyers alten Schuppen, da sieht uns niemand,« schlug der lange Blasi vor. Das fanden die andern gut, und so zogen sie dem alten Schuppen zu, und das Trüpplein war wie eine Lawine. Es wuchs und wuchs unterwegs, Buben und Mädel fanden sich dazu, und dann verschwanden sie alle in Lappenmeyers altem Schuppen. Der lag abseits vom Dorf, mitten auf einer Wiese.

An diesem Nachmittag wunderten sich allerlei Leute in Waldrast. Ein paar Frauen sagten zueinander: »Warum die Kinder heute nur nicht in die Schule gehen? Wo stecken sie denn?«

»Ja, wo sind sie denn?« fragte die Krämerfrau, die das hörte.

Da trat Herr Habermus aus dem Schulhaus heraus und fragte: »Wo sind denn die Kinder?« Und seine liebe Frau trat neben ihn und schwang und schwang immerzu die Schulglocke. Die bimmelte zuletzt ganz zornig ins Weite: Die Schule fängt an, die Schule fängt an! Doch niemand hörte darauf: keine Bubenbeine, keine Mädelbeine kamen angetrabt, es blieb alles still. Nur von den Erwachsenen kamen mehr und mehr, ein paar erzählten, sie hätten die Kinder alle miteinander laufen sehen, aber wohin, das wußte niemand.

»Sie sind vielleicht in den Wald gegangen,« sagte Frau Veronika Lappenmeyer.

»Aber es ist doch Schule!« rief Herr Habermus entrüstet. In den Wald konnte man schon gehen in Waldrast, denn der dehnte sich vom Dorf entlang bis tief, tief ins Tal hinein, viele Stunden weit.

Indem kam ein Bursche mit einem Heuwagen angefahren. Der rief: »Frau Lappenmeyer, was ist denn in Ihrem Schuppen auf der Wiese los? Da drin brüllt es ja fürchterlich!«

Die Kinder sind’s mit Kasper. Herr Habermus dachte das nur, er rannte aber gleich los, die Dörfler folgten ihm, und alle miteinander drängten sie ihm nach, als er die Scheunentüre aufriß. Da waren sie wirklich. Kasperle saß hoch oben unter dem Gebälk, und unten standen Mädel und Buben und starrten lachend hinauf zu dem neuen Gefährten, der sich drehte und verrenkte und den allergrößten Unsinn schwätzte.

»Bimmelim, bimmelim, bimmelim!« Die Frau Lehrerin war ihrem Mann mit der Schulglocke nachgelaufen, und in das Lachen und Jauchzen der Kinder hinein ertönte der wohlbekannte Klang. Alle erschraken, alle schauten sich verwirrt um. War es wirklich schon Schulzeit?

»Bimmelim, bimmelim, bimmelim!« Die Glocke gellte ihnen in den Ohren, und ein paar schrien: »Wir müssen in die Schule!« Und dann rannten sie an den Erwachsenen vorbei, rannten ihren Lehrer beinahe um und sahen vor lauter Eile und Eifer niemand und nichts. Und Kasperle sprang plötzlich von oben herab in einem weiten Bogen, auch er sah und hörte nichts, auch er raste den andern nach, und im Umsehen war der Schuppen leer.

Die Erwachsenen sahen sich ganz verdutzt an. »Die Kinder sind ja wie besessen!« rief die Krämerin, die andern stimmten ihr zu, Herr Habermus aber kehrte bedrückt nach dem Schulhaus zurück. Kasper war daran schuld, nur er allein. Was war das für ein schlimmer Junge! Er darf nicht mehr in die Schule, dachte er und betrat das Schulzimmer. Da saßen alle brav auf ihren Bänken, rechts die Großen, links die Kleinen, und Kasperle saß wieder auf der vorderen Bank. Sein Gesicht strahlte, er sah so unschuldig drein, als könnte er nicht das kleinste Dummheitle machen.

Doch Herr Habermus ging mit gefurchter Stirn zum Katheder, dort sagte er streng: »Ihr seid alle zu spät gekommen, darum müßt ihr alle nachsitzen.« Da senkten sich erschrocken und schuldbewußt alle blonden und braunen Buben- und Mädelköpfe, nur das Kasperle sah höchst verwundert drein, es krähte mit seiner lauten Stimme: »Es hat ja eben erst geklingelt!«

»Sei du still, du verläßt sofort die Schule!« rief Herr Habermus streng. »Du bist an allem schuld. Marsch hinaus! Du darfst nicht mehr in die Schule kommen. Ich schicke dich überhaupt wieder fort.«

Einen Augenblick herrschte tiefes, erschrockenes Schweigen im Schulzimmer. Kasperle selbst saß ganz verdattert da, er war sich keiner Schuld bewußt. Dann erhob sich aber jäh ein lautes Geheule, so ein tiefbetrübtes, jämmerliches Geheule, wie es Herr Habermus noch nie vernommen hatte. Und nicht nur die Mädel weinten, die Buben schluchzten auch alle, und alle miteinander riefen flehend: »Kasper hat keine Schuld, Kasper soll dableiben; bitte, bitte, bitte, ach bitte, Kasper soll nicht wieder fort!«

Der Lehrer sah seine Schulkinder ganz verdutzt an, und deren Gebitte wurde immer lauter und dringlicher, und je mehr sie flehten, je lauter heulte das Kasperle. »Es ist rein, als hätte der die Kinder verhext!« brummte Herr Habermus vor sich hin. Und mich dazu, dachte er, als er das Kasperle ansah und der kleine Kerl ihm einmal wieder herzlich leid tat. Böse, nein, böse war er gar nicht mehr auf ihn.

»Also mag er bleiben, weil ihr alle so bittet,« sagte er schließlich. »Das Nachsitzen sei euch auch geschenkt, aber eine Strafarbeit gibt es, ein Stück zu schreiben, und wehe, wer sie nicht gut macht! Und nun stille – jemine, Kasper, was ist denn nun wieder los?«

Das Kasperle war unter die Bank gerutscht, und von dorther ertönte wieder sein furchtbares Jammergebrüll. »Ich kann doch nicht schreiiiben,« klagte er, »ich kann nicht schreiiiben!«

»Dummer Bube,« brummte Herr Habermus, »du brauchst natürlich nicht die Strafarbeit zu schreiben, du brauchst bloß Striche zu machen, und nun, potzwetter, sei still, sonst –«

Da kam Kasperle auf die Bank, ehe der Lehrer noch ausreden konnte, und dann saß er da mit dem allervergnügtesten Gesicht. Daß ihm die Schule Spaß machte, war ihm an der Nasenspitze anzusehen. Er gab kreuzdumme Antworten, und immer wieder durchbrauste ein lautes Lachen die Schulstube. Herr Habermus wollte schelten und konnte es nicht, denn eigentlich tat Kasperle gar nichts Böses. Da klingelte es, die Schule war aus. Sonst atmeten die Kinder meist alle auf, waren froh, hinauszukommen, heute bettelten selbst die allergrößten Faulpelze: »Ach, bitte, bitte, wir wollen noch bleiben, es ist so wunderschön in der Schule!«

Und der gute Lehrer tat ihnen wirklich den Willen. Er erzählte ihnen von den Blumen und Bäumen, von Felsen und Bergen, von den feinen Schmetterlingen und den dicken Brummkäfern, und alle lauschten still, am aufmerksamsten aber das Kasperle, und der schrie dann auch am lautesten: »Schon?« als Herr Habermus sagte: »Nun ist’s aber wirklich genug, nun geht heim, nicht zu laut, und vergeßt eure Arbeiten nicht!«

Und dann verließen die Waldraster Kinder das Schulhaus, und sie kamen so vergnügt heim wie noch nie, trotz der Strafarbeit, und an diesem Abend brummten allen Vätern und Müttern in Waldrast die Köpfe, so viel schwätzten die Kinder von ihrem neuen Schulgefährten.

Vierzehntes Kapitel

Die Reise mit Herrn Severin

Herr Severin hatte inzwischen still den schwarzen Kasten in sein Turmzimmer hinaufgetragen, und oben hatte er Kasperle herausgelassen. Ganz verstriezelt sah der sich um, und Herr Severin hatte ein wenig gelacht und gesagt: »Kasperle, du kleiner dummer Schelm, diesmal wärst du beinahe erwischt worden!«

Ach ja, wirklich beinahe! Kasperle schlug das Herz laut, wenn er an das Gelärme dachte, das sich um ihn herum erhoben hatte.

Nach einer Stunde kam Meister Helmer. Der freute sich herzhaft, als er Kasperle unversehrt wiedersah, und er hätte ihn gern wieder zu sich genommen, aber er stimmte doch Herrn Severin zu, als der sagte: »Kasperle muß fort. Morgen reise ich und nehme ihn mit im schwarzen Kasten. Und nun, Kasperle, spitze deine Ohren: es geht zurück ins Waldhaus. Ich weiß nun, wo es liegt, aber –«

Kasperle hatte gerade vor Freude einen Purzelbaum schlagen wollen, als dies »Aber« ihn zurückhielt. Ein wenig ängstlich sah er Herrn Severin an, und der sagte ernsthaft: »Ja aber, Kasperle, du mußt arg vernünftig sein, denn wir kommen an allerlei Orte, wo man dich kennt. In Waldrast soll ich nach der Orgel schauen, und – auf Schloß Hirschsprung erwartet mich der Herzog. Da mußt du dann immer im Kasten bleiben und darfst keine dummen Streiche machen. Wirst du das können?«

Kasperle seufzte schwer, doch dann versicherte er treuherzig, er wolle ganz ungeheuer folgsam sein. Ja, und dabei glitzerten seine Äuglein schon wieder sehr lustig, denn der Gedanke, so ungesehen ins Herzogsschloß und nach Waldrast zu kommen, machte ihm großen Spaß. Viel lieber hätte er freilich Rosemarie und das Michele wiedergesehen, und als er an diesem Abend noch mit Herrn Severin zusammensaß, erzählte er dem viel von den beiden, und der sagte: »Nun, wer weiß, vielleicht sehen wir sie noch. Auf einer Reise trifft man oft wunderlich mit den Menschen zusammen!«

Am nächsten Morgen, noch war die Sonne nicht recht aufgegangen, mußte Kasperle in den schwarzen Kasten steigen. Ein wenig eng ging es drin zu, denn Herrn Severins Werkzeug und allerlei mußten auch noch hinein, und Herr Severin meinte, schwer sei das Kasperle schon, als er den Kasten aufhob. Dann ging es hinaus. Im bunten Garten stand Meister Helmer, und da ringsum kein Mensch zu sehen war, durfte Kasperle noch einmal aussteigen und noch einmal flink durch die Gänge laufen. Wie schön war doch der Garten! Kasperle wurde das Herz schwer, als es an das Scheiden von Meister Helmer und seinen vielen Blumen ging. Doch Herr Severin trieb zum Aufbruch, gleich würde die Post vorbeikommen. Und Kasperle kroch wieder in seinen Kasten, und da kam schon mit Traratrara die gelbe Postkutsche angefahren. Der schwarze Kasten wurde oben aufgestellt. Herr Severin stieg in den Wagen, und heidi! fort ging die Reise.

»Lieb Städtchen, ade! Scheiden tut weh,« blies der Postillion, und rissel, rassel fuhr der Wagen ins Land hinein.

Mittags kamen sie an ein Gasthaus, da hielt der Wagen. Die Gäste stiegen aus, und Herr Severin sagte, er müßte ein Zimmer haben und allein essen, dies halte er immer so. Potzhundert, dachte der Wirt, das ist aber ein Vornehmer! Und er ließ Herrn Severin das Essen in einem besonderen Zimmer auftragen. Da spazierte dann Kasperle aus seinem Kasten heraus, schmauste mit, und nachher wunderte sich der Wirt über den gewaltigen Appetit, den der vornehme Herr gehabt hatte.

Und weiter ging die Fahrt, immer weiter. Endlich kam ein Wirtshaus mit einem feuerroten Ochsen im Wirtshausschild. Da stieg Herr Severin aus und sagte dem Postillion Lebewohl. Der meinte, nun müsse der Herr sich aber gewaltig schleppen, denn Waldrast liege hoch in den Bergen, und der schwarze Kasten sei arg schwer.

»Wird nicht so schlimm sein,« meinte Herr Severin und schritt am roten Ochsen vorbei auf schmalem Wiesenweg in den Wald hinein. Innen öffnete er den Kasten, und Kasperle durfte nun neben ihm herspazieren. Sie paßten beide freilich sehr auf, ob jemand käme, aber niemand begegnete ihnen auf dem Weg. Herr Severin spielte auf seiner Geige, Kasperle hielt tapfer Schritt, und nach etlichen Stunden kroch er wieder in den schwarzen Kasten, denn die Turmspitze von Waldrast wurde sichtbar.

Kasperle zog in Waldrast ein. Niemand sah ihn, er aber sah durch sein Guckloch allerlei, zuerst die Base Mummeline, die auf der Straße stand und auf ein paar Buben schalt. Und dann sah Kasperle das liebe Schulhaus, er sah Herrn Habermus, der kam, den fremden Künstler zu begrüßen. Kasperle hörte die gute, freundliche Stimme reden, und der Kasten wurde ihm drückend eng. Ganz bitter schwer war es ihm, daß er niemand guten Tag sagen durfte, und als Herr Severin etwas später im Wirtshaus den Kasten öffnete, fand er Kasperle klitschnaß von Tränen.

Herr Severin tröstete gut und linde; er zeigte Kasperle, daß sie dicht neben dem Schulhaus wohnten. Von seinem Fenster aus konnte Kasperle denen drüben in die Stuben sehen, und gerade wollte er das tun, als die Base Mummeline ans Fenster trat. Hei, fuhr da Kasperle zurück! Ganz böse sah er gleich aus, und Herr Severin hob warnend den Finger: »Kasperle, Kasperle, mache keinen dummen Streich!«

Kasperle wollte das bestimmt nicht. Wenn nur die Base Mummeline nicht gewesen wäre! Aber allemal, wenn er ans Fenster trat, immer erschien sie drüben. Kasperle kam gar nicht dazu, die Schullehrerin und ihre Kinder zu sehen, und er hatte doch so große Sehnsucht nach ihnen.

Ja, als er einmal gerade wieder um die Ecke schauen wollte, öffnete drüben die Base die Türe, und sie kam tripp trapp ins Wirtshaus herüber. Die Wirtin war ihre gute Freundin, und Kasperle wußte auch, die war genau so neugierig wie die Base selbst. Er rutschte flink in den Kasten, und nach einem Weilchen kamen auch richtig die beiden Frauen in das Zimmer. Die Base Mummeline sah sich neugierig darin um, und Kasperle hörte sie sagen: »Er hat alles in dem schwarzen Kasten.«

»Den machen wir auf,« tuschelte die Wirtin, und schon fingerten die beiden Frauen an dem Kasten herum. Nun wußte Kasperle wohl, so leicht bekam den niemand auf, aber ungemütlich war es ihm doch; er dachte: Ich verjage sie. Er steckte den Kopf in sein Rucksäcklein und blies und brummte plötzlich hinein, ganz schauerlich klang es, und die beiden Frauen fielen beinahe um vor Schreck. »Uhuhuuuh!« tönte es, und die Base Mummeline jammerte: »Er hat den Teufel drin!«

Aber die Wirtin war beherzter. »Das muß ich sehen,« sagte sie und ging wieder auf den Kasten zu, aber noch war sie nicht dran, als die Türe aufgerissen wurde und Herr Severin ins Zimmer kam. Der hatte schon unten das Uhuhuuuh vernommen. Die beiden Neugierigen erschraken arg, doch die Base Mummeline faßte sich schnell und rief ganz streng: »Ihr habt einen Teufel im Kasten.«

»Ei, nur einen, der es auf Neugierige abgesehen hat!« sagte Herr Severin lachend. »Nehmt euch in acht, manchmal fährt er auch mit einem lauten Knall heraus.«

»Huch!« kreischten die Frauen, und rumpel pumpel rasten sie hinaus, die Treppe hinab, und Kasperle platzte bald vor Lachen in seinem Kasten. Herr Severin lachte mit, er sagte aber doch, es sei gut, daß sie morgen schon weiterzögen, Kasperle dürfe die Leute nicht mehr schrecken, es könne ihm doch schlecht bekommen. Und am Abend schloß Herr Severin vorsichtig das Zimmer. Er ging noch in das Lehrerhaus hinüber, und er dachte, das Kasperle einschließen ist schon am sichersten. Aber auch am langweiligsten, dachte Kasperle. Der sah immer wieder geschwinde einmal zum Fenster hinaus, und als draußen alles still geworden war, hockte er sich auf das Fensterbrett und blickte sehnsüchtig nach dem Schulhaus hinüber. Ach, nur einmal hineinsehen hätte er mögen! Gerade vor seinem Fenster stand ein dicker Holzapfelbaum. Wenn er an dem Baum hinabkletterte, dann –. Aber da dachte er an Herrn Severins Verbot, auch lag unten ein Hund, und die Geschichte kam ihm etwas bänglich vor. Aber ein paar unreife Holzäpfel der Base Mummeline ins Zimmer werfen, das ging vielleicht doch; so platsch ins offene Fenster hinein, das wäre doch ganz spaßig!

Die Base wurde immer fuchswild über so etwas. Kasperle kicherte leise vor sich hin, griff in die Äste und pflückte etliche Äpfel. Das Werfen konnte er gut, und so ging es, eins, zwei, drei! wirklich glatt in der Base Stube hinein. Wohin die Äpfel trafen, das sah Kasperle nicht, aber ein arges Zetergeschrei hörte er; es klirrte etwas, und er rutschte erschrocken vom Fensterbrett herab. Drüben hatte er wohl ein Unheil angerichtet.

Der Lärm dauerte eine Weile an, dann wurde es still. Im Schulhaus saß die Base Mummeline im Ofenwinkel und heulte, und alle standen um sie herum und trösteten sie. Auch Herr Severin stand dabei, und der dachte immerzu: Kasperle, du bist ein arger Schelm! Da war die Base in ihr Zimmer gekommen und hatte einen Wasserkrug getragen, und just als sie eben an der Türe stand, kam es, eins, zwei drei! Klirr! ging der Krug in Scherben, bums! flog ein großer Apfel an der Base recht große Nase, klirr! einer in den Spiegel, und da soll man nicht schreien und zetern! Die Base sah Herrn Severin schief an und sagte, der Herr werde schon wissen, woher die Äpfel kämen; mit seinem schwarzen Kasten sei das nicht richtig.

Da tat Herr Severin ganz böse, und er sagte, die Base Mummeline möchte nur kommen, er wolle ihr schon den Inhalt des Kastens weisen. Doch davon wollte die Base nichts wissen, ja, sie lief eiligst in ihr Zimmer und ging sehr geschwinde in ihr Bett. Sie kroch tief unter ihre Decke, aber es flog nun kein Holzapfel mehr in ihre Stube.

Herr Severin aber nahm seine Geige und spielte darauf. Das klang fein und lieblich, und in Waldrast vergaßen sie darüber das Zubettgehen. Sie lauschten dem schönen Spiel und wünschten, der Geiger möchte noch lang im Dorfe bleiben. Doch kaum glitzerten am Morgen die ersten Sonnenstrahlen auf den Spitzen der Berge, da zog Herr Severin mit seinem schwarzen Kasten von dannen.

»Das war ein Schlimmer,« sagte die Base Mummeline hinter ihm her, »man müßte seinen Kasten untersuchen.« Aber das glaubte ihr niemand, am wenigsten der Schullehrer und seine Frau. Ja, der gute Herr Habermus fand die Geschichte mit den Holzäpfeln gar nicht wunderbar und gruselich, er sagte: »So etwas und noch mehr bringen auch die Waldraster Buben fertig. Wer weiß, wer es gewesen ist!«

An Kasperle dachte niemand. Der zog inzwischen vergnügt mit Herrn Severin den Weg entlang, den er vor etlichen Wochen in Angst gelaufen war. Im Walde war es still, und niemand begegnete den Wanderern. Sie schliefen auch im Walde und gelangten endlich an des Micheles Hüteplatz. »Michele ist nicht mehr da,« sagte Kasperle traurig. Aber der Michele war doch da. Der saß vor der Felsspalte und pfiff auf einer Flöte, die er sich selbst gemacht hatte. Seine Geißen weideten vergnügt um ihn herum. Da erhob Kasperle laut seine Stimme, und Michele sah sich um, als erwache er aus einem Traum. Und dann sprang er über Steingeröll und Wurzeln, toller als seine Geißen, er packte Kasperles Hände und drehte den Freund rundum. Er war ganz atemlos vor Freude und konnte erst gar nichts sagen. Kasperle mußte erzählen, und Herr Severin sprach auch ein Wörtlein dazu. So erfuhr Michele alles. Er selbst war geschwinde mit seiner Erzählung fertig, er sagte nur: »Den Geißen schmeckt’s hier besser, darum bin ich heute mal hergezogen.«

»Das hat sich freilich gut getroffen.« Herr Severin sagte es, während er sacht an seiner Geige herumstimmte; er sah wohl des Micheles sehnsüchtigen Blick.

»Da, nimm und spiel’ mir etwas vor!« sagte er plötzlich und reichte dem Buben die Geige hin.

Der erschrak ordentlich. Daheim der Schneider-Jakob, der im Dorf zum Tanz aufspielte, der hatte ihn freilich schon manchmal auf seiner Geige spielen lassen. Die sah aber anders aus als die des schönen fremden Herrn. Der Bub wagte kaum, sie recht anzufassen, doch als er sie hielt, kam die Lust zu spielen über ihn, und er strich zart mit dem Bogen darüber hin.

Kasperle machte so große Augen, als er nur konnte, wie Michele spielte. Herr Severin hörte aber still zu, und als Michele verlegen innehielt, sagte er: »Im Herbst, wenn ich heimreise, dann will ich kommen und dich mit mir nehmen. Deiner Mutter will ich für etliche Jahre so viel geben, wie du als Geißenhirt verdienst, du aber sollst bei mir lernen, was ein rechter Geiger braucht. Willst du?«

Hei, ob das Michele wollte! Er und Kasperle machten solche Freudensprünge, daß beinahe die Geißen neidisch wurden, weil sie nicht so hoch hüpfen konnten. Und als Herr Severin und Kasperle weiterzogen, blieb das Michele so glückselig zurück, als säße es mitten auf der schönen Himmelswiese. Geiger sollte er werden, spielen dürfen, was ihm die Bäume vorrauschten und das Bächlein flüsterte! Er dachte: Das verdanke ich Kasperle, allein dem Kasperle! und er ahnte nicht, daß Herr Severin bei Kasperles Erzählung gedacht hatte: Der Bube, der so arm ist und doch ein volles Geldsäcklein zurückweist, von dem niemand etwas ahnt, der gefällt mir. Kann er geigen, dann will ich ihm helfen, ein rechter Künstler zu werden.

Kasperle war purzelvergnügt über des Kameraden Glück. Er wollte vor lauter Freude singen, aber da sagte Herr Severin geschwinde: »Sei still, sei still, sonst fangen die Bäume an zu schelten über dies Geschrei. Flink, krieche lieber in den Kasten, sonst treffen wir gar noch einen Jäger, der dich erkennt!«

Da flitzte Kasperle sehr eilig in seinen Kasten, Herr Severin nahm ihn auf den Rücken, und er war heilfroh, als das Schloß vor ihm auftauchte. So ein richtiges lebendiges Kasperle zu schleppen, war wirklich nicht leicht!

Im Schloß wurde der fremde Künstler wohl empfangen. Nur wunderten sich alle über den großen schwarzen Kasten, den er bei sich hatte. »Darin ist ein seltenes Spielwerk,« sagte Herr Severin, »das muß ich immer bei mir führen.« Und er verschloß sorgsam das Zimmer, auch mußte Kasperle noch tief ins Bett schlüpfen, damit ihn ja niemand zu sehen bekam. Das war langweilig; viel lieber hätte er im Schloß etwas herumgegeistert oder zugesehen, wie Herr Severin des Herzogs Spinett eine Seele gab.

Herr Severin saß in dem Saal, ganz allein, das hatte er so gewollt, als sich sacht eine Türe auftat und ein kleines Mädchen hereinkam. Die ging ganz, ganz leise auf den Fußspitzen und lauschte andächtig, als der Künstler spielte. Herr Severin sah sie an und dachte: Sie sieht doch aus wie Rosemarie, von der das Kasperle erzählt hatte! Da ließ er das Spinett singen, und er selbst sang halblaut dazu:

»Rosemarie, du kleine,
Rosemarie, du feine,
Einer hat mir aufgetragen,
Schönes Grüßlein dir zu sagen.
Trallallala, trallallala!
Rosemarie, du kleine,
Rosemarie, du feine,
Sage mir, ob du wohl weißt,
Wie der kleine Schelm doch heißt?«

»Kasperle heißt er!« klang es lieblich neben ihm. Rosemarie stand am Spinett und sah Herrn Severin mit ihren großen Augen fragend an: »Wo ist Kasperle?«

»Du bist also wirklich Rosemarie,« sagte Herr Severin. »Kasperle kommt ins Waldhaus zurück, er geht wieder heim.«

Rosemarie lächelte holdselig, und sie tippte mit feinem Fingerlein auf das Spinett, da klang es wie: »Grüße, Grüße, viele Grüße!«

»Ich werd’ es bestellen, und wenn du schweigen kannst, kleine Rosemarie, dann wirst du auch noch einmal das Kasperle sehen.«

Rosemarie sah Herrn Severin ernsthaft an, sie legte ihr Fingerlein fest auf den roten Mund, und dann huschte sie geschwinde aus dem Saal, denn jemand kam, im Nebenzimmer tönten Schritte.

Der Herzog war es. Der wollte hören, ob das Spinett nun schon eine Seele habe, und dann wollte er wissen, was für ein seltenes Spielwerk der Künstler im schwarzen Kasten habe. Der Herr Herzog war nämlich etwas neugierig, und er war ganz verdrießlich, als Herr Severin sagte, dies dürfe er nicht zeigen, dies Spielwerk gehöre nicht ihm, und er habe versprochen, es niemand zu zeigen.

Ich werde es schon sehen! dachte der Herzog und ging brummelnd davon. Herr Severin bekam Angst. Wenn ein Herzog etwas gern will, dann ist das so eine Sache. Wer konnte wissen, ob der nicht seinen Landjägern befahl: »Macht mir den Kasten einmal auf!« Sorgenvoll ging er durch die vielen Gänge, an vielen geschlossenen Türen vorbei nach seiner Stube, und dabei lief ihm eine schwarze kleine Katze über den Weg. Halt, dachte er, die kommt mir zurecht, und er fing schnell das Kätzchen und nahm es mit.

In seinem Zimmer saß Kasperle verdrießlich wie einer, dem die Pfingstfreude verregnet ist. Sein Gesicht wurde aber gleich hell, als Herr Severin ihm von Rosemarie erzählte. »Gewiß hat der Herzog sie mit ihren Eltern eingeladen,« sagte Kasperle.

»Ja, mein Kasperle, jetzt könnte dir das auch geschehen sein, wenn du nicht gar so unnütz und neugierig gewesen wärst. Aber nun mußt du in den Kamin kriechen, weit hinauf wie ein Schornsteinfeger.« Und Herr Severin erzählte Kasperle von des Herzogs Verlangen.

Da bekam aber Kasperle einen Schreck, denn vor dem Herzog hatte er die allergrößte Angst. Er kroch flink in den Kamin, das ging ganz gut, und Herr Severin steckte das schwarze Kätzlein in den Kasten. Kaum waren sie beide fertig, da kam ein Kammerherr, der sagte, er wolle dem fremden Geiger das Schloß zeigen, der Herzog habe es befohlen. Und inzwischen will er in den schwarzen Kasten sehen, dachte Herr Severin und lachte heimlich.

Er hatte recht gehabt. Kaum waren die beiden aus dem Zimmer gegangen, als Kasperle Schritte hörte, Stimmen wurden laut, und er vernahm des Herzogs Befehl: »Öffnet den Kasten!«

Jemine, dachte Kasperle, wie schade, daß ein Kamin kein Guckloch hat! Er wollte versuchen, etwas zu sehen, und gerade war er bis ans Ofenloch gerutscht, als der Kasten aufging und die schwarze Katze fauchend heraussprang. Ritsch, saß sie dem Herzog auf der Schulter, und ehe sie noch jemand fassen konnte, sprang sie zum offenen Fenster hinaus.

»Prschiii!« Kasperle war Ruß in die Nase gekommen, er mußte laut niesen. »Hazzi, prschiii!« Und puh! quoll eine dicke, dicke Rußwolke aus dem Kamin, und der Herzog prustete, spuckte, nieste, und dann rannte er aus dem Zimmer, und seine Diener rannten ihm nach. Sie dachten alle, die schwarze Wolke sei aus dem Kasten gekommen, und der Herzog schalt arg, der Künstler sei ein Hexenmeister. Und schämen tat er sich auch.

Herr Severin lachte sehr, als er in seine Stube zurückkehrte und die Bescherung sah. Das Kasperle sah aus wie ein kleiner Schornsteinfeger, er gefiel sich selbst gar nicht. Aber Herr Severin half ihm sich waschen, da wurde er wieder blank und kroch vergnügt in seinen Kasten zurück. Danach ging Herr Severin zum Herzog und sagte, er wolle fort, denn das wunderbare Spielzeug sei nun beinahe kaputt, und der Herzog seufzte sehr und bat Herrn Severin inständig, ihm abends noch etwas vorzuspielen.

Der Geiger versprach das auch, doch bat er, es dürften keine Kinder dabei sein. »Ach,« rief der Herzog, »die gibt es ja gar nicht im Schloß! Nur die kleine Gräfin Rosemarie ist da, die stört doch nicht.«

»Doch, sie stört, sie muß ins Bett,« erklärte Herr Severin und tat ganz streng.

Da durfte Rosemarie abends nicht in den Saal kommen, um dem Spiel des fremden Künstlers zu lauschen. Aber alle Dienstboten standen hinter den Türen, und Herr Severin spielte so wundersam, daß der Herzog zu weinen anfing.

Inzwischen aber saß Kasperle selig und vergnügt mit Rosemarie zusammen in einer winzigen Stube neben Herrn Severins Zimmer. Die wurde nie benutzt und war mehr eine Rumpelkammer, aber den beiden gefiel es ausgezeichnet darin. Der gute Herr Severin hatte Rosemarie gesagt, wo sie Kasperle finden würde. Kasperle erzählte Rosemarie alles, was er erlebt hatte, und dazwischen schmauste er Kuchen und Schokolade; dies hatte Rosemarie ihm mitgebracht. Rosemarie graute sich nun nicht mehr vor Kasperle, und als der erzählte, wie er immer wieder hatte fliehen müssen, da weinte sie bittere Tränen. »Du armes, armes Kasperle!« sagte sie sanft; »wie gut, daß du ins Waldhaus zurückkommst!« Dann drohte sie aber auch einmal ein wenig und schalt: »Ei, du Unnütz du!« Und alle, die Kasperle geholfen hatten, die Schullehrersleute, Meister Helmer und vor allem das Michele gewann Rosemarie gleich lieb. Das Michele aber wollte sie sehen. »Der muß auch mein Freund werden,« sagte sie. »Und wenn er groß ist und so schön spielen kann wie Herr Severin, dann –« »heiratest du ihn,« rief Kasperle. Und plötzlich rollten ihm die dicken, dicken Tränen über das Gesicht. »Und ich bin dann immer noch ein Kasperle!« klagte er.

Doch Rosemarie tröstete ihn. Vielleicht hätte er bis dahin seine Heimatinsel gefunden. »Ich will auch suchen, wenn ich groß bin,« versprach sie, »und Michele soll suchen, und Herr Severin tut es sicher auch.«

Da war Kasperle schon wieder getröstet. Er stopfte noch den letzten Rest Kuchen in seinen großen Mund, und dann erzählte er noch flink die Geschichte mit den Holzäpfeln. Darüber lachte und lachte Rosemarie, bis Herr Severin kam und sagte: »Ei, flink ins Bett, Rosemarie du feine, es ist schon arg spät!«

»Auf Wiedersehen morgen!« flüsterte Rosemarie noch, dann huschte sie zum Zimmer hinaus. Es merkte niemand, daß sie noch nicht ins Bett gegangen war. Und nachher träumte sie immerzu von Kasperle, von Michele und von dem schönen, bunten Garten. Doch als sie aufwachte, da war Herr Severin mit seinem schwarzen Kasten weggezogen; Kasperle war fort, Rosemarie konnte ihn nicht mehr sehen.