29. Vom treuen Eckart

29. Vom treuen Eckart

Alte deutsche Heldenlieder singen und sagen vom treuen Eckart, dessen Gedächtnis blieb lange bei den Deutschen wegen seiner Ehrbarkeit und Frömmigkeit. Er war ein Held und Herzog im alten Breisgau und Herr im Elsaß, vom Geschlecht der Harlunge, und war Vormund und Pfleger zweier jungen Härtungen, welche die Bruderssöhne Kaiser Ermenrichs waren und Vettern des berühmten Dietrich von Bern. Der Eckart übte allezeit Treue und war schon dem Vater der Harlunge ein treuer Ratgeber gewesen; Kaiser Ermenrich aber hatte einen Ratgeber, der hieß Siebich, von dem sollen alle ungetreuen Räte in die Welt gekommen sein. Dieser verleitete den Kaiser zu bösen Taten. Und Ermenrich erschlug die jungen Harlunge, Eckart aber rächte sie, indem er mit anderer Helden Hülfe den Ermenrich wieder erwürgte und um dieser Tat willen hoch gepriesen ward. Die Harlunge hatten einen reichen Schatz, der ward in einen Berg verzaubert, das ist der Bürglenberg bei Breisach, und diesen Harlungenhort hat hernachmals der Geist des treuen Eckart gar sorgsam gehütet und jeden gewarnt, der ihn für sich erheben wollte, denn er sollte dereinst wieder an den rechten Erben fallen und diesen zu einem mächtigen Herrn des Landes machen. Darum sei im Volke das Sprüchwort entstanden: Du bist der treue Eckart, du warnest jedermann. Ob aber das derselbe treue Eckart sein soll, der im Thüringerlande vor des Hörselberges Höhle sitzt und vor dem wütenden Heere warnend wandelt, bleibt in dem Dunkel der alten Sagen geheimnisvoll verhüllt.

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299. Die Hünen

299. Die Hünen

Viel weiß in den Gegenden um Höxter, Corvey, Brakel und den Landstrecken durch Westfalen die Sage von den Hünen, Heunen oder Riesen zu erzählen, ja sie erstreckt sich auch nordwärts bis über die Lüneburger Heide hinaus und in die bremenschen Geest- und Marschgegenden. Hünengräber, Hünenbetten, Hünensteine, Hünenkeller, Hünenburgen ruhen im Lande verstreut und gelten dem Volke als Zeugen vom Vorhandengewesensein eines gewaltigen großwüchsigen starken Geschlechtes, es ist aber dabei etwas Eigenes und Wunderbares, die Sage, welche Geister und Gespenster, weiße Jungfrauen und schwarze Hunde zahllos wandern, welche Zwerge und Kobolde einzeln und in Menge sich den Menschen zeigen läßt, läßt mit sehr wenigen Ausnahmen die Hünen weder wandern noch erscheinen; sie berichtet nur von deren ehemaligem Dasein, zeigt Spuren ihrer gewaltigen Kraft und nennt die Orte, wo sie gewohnt, gespielt, gekämpft, mit Kugeln und Hämmern sich aus Stundenferne geworfen haben. Mannigfach blieb der Name des Riesengeschlechtes an Orten haften, so liegt über Brakel die Hinnenburg, die Namen naher Dörfer, Riesel und Reetsen (bei Driburg), scheinen auf Riesen zu deuten. Bei Dransfeld im Göttingenschen liegt ein Hunnen- oder Hünenberg, darinnen will man gleichwohl Riesen gesehen haben; überm Dorfe Altenhagen liegt auch eine Hünenburg. Der letzte ihrer Bewohner brach sie in Trümmer und wälzte auf sich selbst den größten Stein als Grabesdecke. Auf dem Wege nach Salzwedel beim Dorfe Lübbow liegt ein riesiger Hünenstein, eines heidnischen Gottes Altar – der kehrt sich in jeder Christnacht vor Unwillen um, wenn der Hahn kräht. Bei Freren in der Niedergrafschaft Lingen steht auch ein gewaltiger Hünenstein, und sind dort reiche Gräber. In der Lüneburger Heide im Amte Knesen liegt der Pickelstein, den warfen die Hünen vom Kläbesberge dahin. Sieben Kreuze und ein Hufeisenabdruck sind an ihm zu ersehen, und es geht die Sage, daß diese ein Heerführer mit seinem Schwert in den Stein gehauen, und den Hufschlag habe sein Roß eingedrückt als ein Wahrzeichen seines Sieges. Vorzeiten soll das Hegegericht der umliegenden Dörfer am Pickelstein gehalten worden sein. Bei Sievern ruht noch unangetastet ein Hünengrab, das Bülzenbette geheißen, von besonderer Art und Größe. Es ist nicht gut, die Hünengräber zu durchwühlen und die längst Begrabenen in ihrer Ruhe zu stören. Ein Kanonikus zu Ramelsloh grub nach an einem Riesendenkmal bei Steinfeld, dem erschienen in der Nacht drei Männer, von denen der eine einäugig war, mit drohenden Blicken und sprachen zu ihm mit wunderbaren Lauten in uralter Stabreimweise:

Heldentod haben
Hier wir erlitten.
Für das Vaterland
Fochten und starben wir.
Störern unsers Staubes
Strahlt Glücksstern nimmer.

Der Kanonikus zu Ramelsloh hat nie wieder nachgegraben.

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300. Amelungen

300. Amelungen

Wundersam verschmilzt sich in den Sagen dieses Gebietes die Kunde von den Hünen (Riesen) und den Hunnen. Gar schwer ist es, zu scheiden, ob der Namensnachhall, der sich an Berge und Burgen knüpft, mehr dem ureinwohnenden riesigen Geschlecht, das lange vor Karl des Großen Zeit diese Gaue bevölkerte, zuzuschreiben sei oder jenem Hunnenvolke König Etzels, das durch Deutschland zum Rheine zog und im Nibelungenliede seine Verherrlichung findet. Unter Etzels Hunnen waren drei Brüder, die nannte man die Amelungen, sie hießen Walamir, Widimir und Theodimir; das waren mit die tapfersten Helden im ganzen Hunnenheere. Nun ist es eigen, daß in der Gegend um Höxter nachfolgende Orte liegen, die samt und sonders an den Namenshall der Amelungen stark oder schwach erinnern: Amelunxen, Amelungshorn, Amelsen, Amelshausen; ja selbst Hameln und Hamelschenburg könnten dahin gedeutet werden, wie andererseits der Dorfname Hiddenhausen, im Dreieck mit Barntrup und Pyrmont, wieder an den friesischen Riesen Hidde erinnert, der zu Karl des Großen Zeiten im Lande Braunschweig lebte, von Karl mit Ländereien an der Elbe begabt wurde und Hiddesacker, heute Hitzacker geschrieben, gegründet haben soll.

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301. Die Zwergenwiege

301. Die Zwergenwiege

Obschon die Sage geht, daß ein Riese Hiddesacker oder Hitzacker gegründet, so ist gerade zu Hitzacker von Riesen wenig oder gar nicht, desto mehr aber von Zwergen die Rede. Diese sind dort sehr häufig und zu allen Zeiten wahrgenommen worden, bis sie zuletzt ausgewandert sind, weil es ihnen ging wie insgemein den Auswanderern, es gefiel ihnen nicht mehr da, wo sie wohnten, in den Bergen und vornehmlich im Schloßberge zu Hitzacker. Lange haben sie sich mit den Einwohnern sehr gut gestanden, und nicht haben sie, wie die Heinzchen zu Aachen, von diesen Geschirre geliehen, sondern die Leute liehen dergleichen von den guten Zwergen, selbst Braupfannen, wofür sie nichts verlangten, als daß die Leute ihr Geräte reinlich und sauber wieder an den Ort zurückstellten, wo sie es genommen, und etwa einen Krug Frischbier dazu und etwas frisches Brot. Aber einstmals hat ein reisender Handwerksbursche, der so eine Pfanne fand, die zur Zurücknahme hingestellt war, den Zwergen das Brot weggegessen und das Bier weggetrunken und etwas Unsauberes in die Pfanne getan, da sind die Zwerge böse geworden, haben ihr Geräte nicht mehr hergegeben und sich ihr Bier in den Kellern selbst geholt, haben auch die Kinder hernach gern umgetauscht, und wäre solches dem Bürgermeister Johann Schultz, da seine Mutter mit ihm in den Wochen lag, beinahe selbst begegnet, denn die Wöchnerin sah schon, wie sie in der Nacht aufwachte, eine ganze Herde Zwerglein in ihrer Stube sitzen, die einen Wechselbalg wärmten und ihr Kind angriffen, weil sie aber Dosten und Dorant bei sich im Bette hatte, konnten sie ihr und ihrem Kinde nichts anhaben, doch behielt letzteres ein Mal. Dosten und Dorant sind gar gute Kräuter, das erste heißt auch Wohlgemut ( Origanum), untergestreut vertreibt es die Nattern; des zweiten Name ist vielen Kräutern gemein: der Katzenmünze, dem kleinen Löwenmaul, der Schafgarbe und dem Andorn ( Marrubium), der letzte ist der echte. Da die kleinen Leutchen fortzogen, hat ein Fährmann sie über die Elbe gefahren, da hat es nur so gewimmelt im Kahn, und hat der Fährmann eine gute Belohnung bekommen. Im Weinberge bei Hitzacker haben die Zwerglein eine goldene Wiege von ihrem Königskind zurückgelassen, die läßt sich alljährlich einmal sehen in der Johannisnacht von zwölf bis ein Uhr, wer gerade die rechte Stelle trifft und sich zu solcher Nachtzeit an den Berg traut. Ein schwarzer Hund mit feurigen Augen bewacht sie. Wer sie holen will, darf nicht reden und darf sich nicht vor dem Teufel fürchten. Zwei beherzte Bursche wollten an das Wagestück gehen, da sahen sie schon die Wiege und keinen Hund, aber plötzlich sahen sie, daß sie unter einem Galgen standen, und oben auf dem Balken saß der Teufel und fahndete mit Schlingen nach ihren Hälsen, da schrieen sie erschrocken auf, und da waren auch gleich Wiege, Galgen und Teufel verschwunden.

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302. Der Brautstein

302. Der Brautstein

Vielfach trifft man in weiten ebenen Landstrecken des nördlichen Deutschlands, wo weit und breit kein Urgebirge zu erblicken, vereinzelte, oft sehr große Granitfelsenstücke an; die Gelehrten nennen dieselben erratische Blöcke. Ein solcher Block oder Stein liegt auch in der Nähe des Städtchens Lüchow auf der Kolborner Heide, er sieht über und über rotgesprenkelt aus und ragt vier Fuß hoch über den Boden.

Ein adeliges Liebespaar, dem des Schicksals Fügung Abschiednehmen gebot, denn der Ritter mußte in den Krieg ziehen, saß auf diesem Steine, der inmitten eines Birkenwäldchens lag, und gelobte sich gegenseitig ewige Treue. Ringsum am Boden blühte ein niedriges Sträuchlein voll weißer Blumen in Fülle. Der Ritter warf die Besorgnis im Gespräche hin, ob die Geliebte ihm wohl treu bleiben werde, sie aber fühlte sich durch solche Frage sehr gekränkt und schwur, daß, wenn sie treulos werde, dieser Fels sich bewegen und ihr Grabstein werden solle. Bei so heftigem Schwur gab sich der Ritter zufrieden und schied beruhigt von der lieben Braut.

Es kam aber nach einer Zeit, daß die liebe Braut gar schön ihres fernen Bräutigams vergaß, wie das so zuweilen zu geschehen pflegt, und hatte einen neuen Buhlen und ging mit ihm spazieren auf der Kolborner Heide ins Birkenwäldchen, und kamen auch von ohngefähr an den Felsblock und ließen sich darauf nieder und führten Gespräche von der Liebe des Nächsten. Da erhob sich mit einem Male der Stein riesengroß aus der Erde und zurückweichend – der Liebhaber stürzte an den Rand der dadurch entstehenden Vertiefung, die Treulose aber stürzte hinein recht wie in ein offenes Grab und ward vom Stein, der gleich über sie sich wälzte, so zerschmettert, daß ihr Blut ihn bespritzte und auch die weißen Blumen rings umher.

Wieder nach einer Zeit kehrte der Ritter heim, und sein Weg führte ihn durch jenes Wäldchen, und da er an den Stein kam, sah er, daß er mit rötlichen Flecken und Adern überlaufen war und die Blumen rot waren, die zuvor weiß gewesen. Da ahnete ihm nichts Gutes, und er zog sein Schwert und führte einen Streich auf den Stein, da sprang ein Blutstrahl heraus, und ein Klageschrei tönte aus der Tiefe. Da pflückte der Ritter einen Strauß von den Blumen, bestieg sein Roß und zog wieder in den Krieg, aus dem er nimmer heimkehrte. Die Blume, welche zuvor weiß und hernach rot blühte, das ist die Heide. Und den Stein hat man hernach den Brautstein genannt und die Heide Brauttreue. Selten findet man hie und da noch einen Heidestengel mit weißen Blüten.

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303. Die Wehklage

303. Die Wehklage

Auf der Lüneburger Heide wandelt das Klageweib, ein riesiges hohläugiges, todbleiches Gespenst, in Sturmnächten im wehenden Leichengewand umher und heult durch die Nächte mit grausenvollem Wimmern. Über die Häuser, darinnen jemandem der baldige Tod bestimmt ist, streckt das Gespenst den langen Knochenarm, und ehe der Mond sich vollendet hat, ist auch eine Leiche im Hause. Man weiß auch in Thüringen von diesem Nachtgeist zu sagen und nennt ihn dort Wehklage, so in den Städten Weimar, Erfurt und nach dem Harze herüber. Dunkel, wie die Zeit seines Erscheinens, ist dieses Gespenstes Ursprung und in Schauer gehüllt. Bestimmte Sagen gibt es von ihm sehr wenige.

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304. Die Salzsau

304. Die Salzsau

Vor achthundert Jahren war um Lüneburg noch eitel Wald und Morast, da geschah es, daß Jäger einer wilden Sau nachgingen, die fühlte sich so recht nach Herzenslust im Schlamm und legte sich dann auf eine trockene Stelle und schlief, und wie die Sonne so recht auf die Sau schien, da gewannen deren schwarzbraune Borsten gar eine schöne weiße Farbe. Das nahm die Jäger wunder, und sie töteten die Sau, und da fanden sie, daß eitel gutes reines Salz an den Borsten kristallisiert war, von einer herrlich gesättigten Sole. Dadurch ward das ergiebige berühmte Salzwerk zu Lüneburg zuerst entdeckt, und es wurde auch von selbiger Sau etwa ein Schinken nicht gegessen, sondern zum ewigen Andenken in eines hochweisen Rates Küchenstube zu Lüneburg aufbewahrt, mit lateinischen Versen und in einem gläsernen Kasten. Auch die Haut mit den kandierten Borsten ward aufbehalten. Das Salzwerk ward die Sülze genannt, und weil Lüneburg neben ihm einen namhaften Berg und eine treffliche Brücke hat, die über den Fluß Ilmenau führt, so ward ein lateinischer Denkspruch auf diese drei Herrlichkeiten gedichtet, der gerade so anfängt, wie es in einem auf die sieben Wunder von Jena lautet, nämlich: Mons, fons, pons. Damit allem Mutwillen beim Salzwerke gesteuert werde, wurde in Zeiten ein Turm erbaut, welcher der weiße Turm hieß, aber seine weiße Farbe nicht, wie die Salzsau, von Salzkristallen erhielt, in diesen Turm legte man mutwillige und boshafte Sülzer und legte sie an eine große schwere Kette, und da hat sich der Teufel auch in den Turm gelegt und hat darin herumrumort, wie im Ponellenturm zu Aachen, und hat alle Nacht ein Maul voll davon abgebissen, welches ihm nicht schlecht muß bekommen sein, denn schon vor mehr als hundert Jahren geschah Meldung vom weißen Turme, daß er ganz zerfallen sei und nur die große Kette noch gezeigt werde.

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305. Der nackte Spiegel

305. Der nackte Spiegel

Nördlich von Lüneburg liegt die Stadt Bardewick, die war einst gar groß und blühend, reich und mächtig, und das zu einer Zeit, wo die Salzsau noch gar nicht zur Findung der Lüneburger Sülze Anlaß gegeben hatte und diese jetzt so volkreiche Stadt wohl kaum begründet war. Da ließ sich’s im Jahr 1189 die Stadt Bardewick gelüsten, sich gegen ihren Herrn, Herzog Heinrich den Löwen von Braunschweig, aufzulehnen und ihm den Einritt in die Stadt zu verwehren. Der war aber ein Löwe, welcher keinen Spaß verstand, am wenigsten den des Trotzes; er zog daher vor die Stadt und traf Anstalt, sie zu stürmen. Die Bürger aber pochten auf ihren Mut und ließen den Herzog von der Mauer herunter einen nackten Spiegel sehen, zum Schimpf und Hohn, und war sotaner Spiegel nicht sonders hell und blank geputzt. Darob ergrimmte der Herzog fürchterlich und schwur den Bardewickern den Spiegel zu putzen, daß die Stadt ewig an ihn denken sollte. Und er hielt Wort auf eine löwengrimmige Weise; drei Tage stürmte er und gewann die Stadt, ließ alles, was nicht entrinnen konnte, niedermachen und verwandelte die blühende alte Stadt ganz und gar in einen Trümmerhaufen. So schwer ward nie ein Hohn bestraft. Ein Jahr später erst ward den Flüchtlingen vergönnt, aus den Trümmern von Bardewick weit davon eine neue Stadt anzulegen, und das wurde Lüneburgs Ursprung, und erst lange nachher siedelten sich allmählich wieder Einwohner auf der Stätte des zerstörten Bardewick an.

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306. Bremer Roland

306. Bremer Roland

Auf dem großen und weiten Marktplatz zu Bremen steht eine uralte Rolandsäule, die ist das Zeichen der Freiheit dieser Stadt, die nimmer vergehen soll, solange das alte Heldenbildnis steht. Die Sage geht, daß für den Fall, daß ja ein Naturereignis den Roland niederstürze, im Ratskeller noch ein zweiter Roland als Ersatzmann aufbewahrt werde, und müsse solches jedoch innerhalb vierundzwanzig Stunden geschehen, sonst sei es getan um die Bremer Freiheit. Am Rolandbilde steht diese Schrift:

Friheit do ick ju openbar
Da Carl un mannig fürst vorwar
Deser stadt gegefen hat,
Deß danket Got, ist min rath.

Unten aber am Rolandbilde wird die Figur eines Krüppels erblickt als ein Wahrzeichen, an welche Figur diese Sage geknüpft ist. Es war eine Gräfin von Lesmon, die war reich an Land und Gütern und besaß eine ausgedehnte stattliche Weidefläche. Da es nun dem Stadtrat an einer solchen gebrach, ward sie angegangen durch des Rates Abgeordnete, ihm ein Stück davon kauf- oder lehenweise abzutreten. Da nun darüber die Gräfin mit den Herren Gespräches im Freien pflog, kroch ein äußerst lahmer Krüppel heran und bat die reiche Gräfin um ein Almosen. Dieses dem Krüppel darreichend, sprach die Gräfin lächelnd zu den Ratsverwandten: Ich will der guten Stadt Bremen von meiner Weide so viel zum Geschenk machen, als dieser Lahme in einem Tage umkriechen kann. Sie meinte damit nicht allzu viel zu verschenken, und der Rat meinte auch nicht zu viel zu erlangen, denn das Kriechen des armen Krüppels war gar jämmerlich anzusehen – aber als ihm nun guter Lohn verheißen ward, so fing der Krüppel an so munter und rasch zu kriechen, daß jedermänniglich sich verwunderte, denn er war, obschon lahm, ganz stark von Knochen und von rüstiger Kraft, und so umkroch er die ganze große Bürgerweide, die noch heute der Stadt Eigentum ist. Der hohe Rat bedankte sich bei der Gräfin auf das schönste, verpflegte den Krüppel lebenslänglich auf das beste und ließ zum ewigen Andenken dessen Bild unterm Bilde der Stadtfreiheit, am großen Roland, anbringen.

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293. Spuk unter den fünf Eichen

293. Spuk unter den fünf Eichen

Nahe bei Arzen liegt ein Dorf, heißt Selxen, und nahe diesem Dorfe standen fünf alte Eichen, jetzt stehen nur noch drei, man nennt es aber immer noch unter den fünf Eichen, dort tollt zur Nachtzeit greulicher Spuk umher. Schwarze Riesenhunde mit feurigen Telleraugen und rasselnden Ketten, dreibeinige Hasen, luftiges Galgengesindel vom nahen Totenberge, schwarze Raben, Fledermäuse so groß wie Nachteulen rennen, kriechen und fliegen durcheinander. Man sieht wohl auch nackte Jungfern tanzen von greulicher Gestalt. Einstens gingen zwei Bursche von Großenberken, wo sie gearbeitet hatten, nach Selxen zurück, denen begegnete bei den fünf Eichen ein wunderliches Spukding. Es hatte weder Kopf, noch Arme, noch Füße und hullerte auf sie zu und ließ ein Stöhnen hören. Der eine Bursche wollte beherzt darauf zugehen, der andere aber riß den Kameraden zurück, zu seinem Glück. – Ein alter Chirurg aus Arzen hatte noch spät einen Kranken besucht, und als er an die fünf Eichen kam, da saß ein weißes Kaninchen am Wege, das fing der Chirurg, tat es in seinen Schersack und trug es fort, aber je weiter er ging, je schwerer wurde der Sack, er konnte ihn zuletzt nicht mehr tragen, setzte ihn hin und öffnete ihn. Da stieg ein Ding daraus hervor wie ein Mondkalb, über alle Maßen abscheulich, das fauchte ihn an, und da lief er, was er laufen konnte, und ließ den Sack samt allem Gerät darin im Stiche. – Ein anderes Mal kam ein alter Jude des Weges, auch schon spät am Abend, da saß an den fünf Eichen eine weiße Gans. Gott, dachte der Jude, was soll sitzen hier über Nacht die schöne Gans? Ich will sie doch nehmen mit mir und will sie machen fett. Die Gans aber wollte sich nicht gleich fangen lassen, sie zischte und schlug heftig mit den Flügeln, der Jude aber wurde ihrer endlich doch Herr und steckte sie in die Kiepe, die er trug. Wie er aber weiterging, so dachte er: Gott, gerechter, was ist doch die Gans so schwer. Wenn ich sie doch nur erst derham hätt‘! Aber er brachte die Gans nicht heim, er mußte stehenbleiben, da rief es aus der Kiepe: Gleich trägst du mich wieder unter die fünf Eichen, Jud, vermaledeiter! Ach wie zitterte und bebte da das arme alte Jüdchen, half aber alles nichts, es mußte gehorchen und die schwere Last wieder zurücktragen, zum Glück wurde sie nun wieder mit jedem Schritt leichter, wie sie erst schwerer geworden war. Und wie das Jüdchen dort bei den Eichen war, kroch ein uraltes spindeldürres Weib fast mit einem Totenschädel und roten Augen und Haut wie Pergament aus der Kiepe und sagte: Danke auch schön, daß du mich getragen hast! und gab ihm einen Schlag ins Gesicht, daß er um und um taumelte. Hinter ihm drein aber rief aus den fünf Eichen eine spottende Stimme den Neckereim:

Wer mir die Gans gestohlen hat,
Der ist ein Diebl
Wer mir sie aber wiederbringt.
Den hab‘ ich lieb.

Der arme Jude hat fast den Tod davon gehabt und hat weder bei Tage noch bei Nacht jemals wieder Verlangen getragen, eine Gans, die nicht sein war, zu fangen und heimzuschleppen, wollte auch niemals unter den fünf Eichen lieb gehabt sein.

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