350. Wunderblut

350. Wunderblut

Von Blutregen und sonstigem Wunderblut gehen in den Marken viele Sagen. Zu Beelitz blutete eine Hostie fortwährend, weil ihr Leides geschehen war, und geschahen dorthin viele Wallfahrten. Zu Zehdenick drückte ein Weib eine geweihte Hostie in Wachs und vergrub sie, da sie einen Bierschank hatte, vor dem Bierfasse unter den Zapfen, das Bier zu mehren, wie jener fromme Klosterbruder zu Altenberge die Bienenstöcke. Aber von da ab hatte die Frau in ihrem Gewissen keine Ruhe, und sie mußte ihre Sünde beichten und offenbar machen. Da ihre Tat nun ruchbar ward, so ging man in ihren Keller und fand allda quillendes Blut an der Stelle, wo die Hostie vergraben lag. Man erhob die blutige Erde und trug sie in die Kirche, und es ward dahin alsbald ein großer Zulauf von Vornehmen und Geringen nach Zehdenick, selbst die Markgrafen Johannes und Otto von Brandenburg reisten dahin, begleitet von ihrer Schwester Mechtild, Herzogin von Braunschweig und Lüneburg, und dem Bischof Ruthgerus zu Brandenburg, und stifteten auf Anraten ihres Beichtigers zu Zehdenick ein Jungfrauenkloster Zisterzienserordens.

Zu Wilsnack in der Priegnitz verbrannte ein böser Edelmann Dorf und Kirche. Aber unversehrt blieb mitten in den Flammen der Altar, und es brannten seine Kerzen, und drei Hostien, die der Pfarrer dort verwahrt, lagen mitten auf der Leinwand, aber mit Blut besprengt, und eine Stimme mitten in der Nacht gebot dreimal hintereinander dem Pfarrer, Messe zu lesen am Altare der verbrannten Kirche. Und er tat also, und die heiligen Hostien taten große Wunder, daß zu ihnen die Gläubigen walleten und strömten aus allen nordischen Reichen.

Im Dorfe Schönhagen unweit Pritzwalk hat ein Hirschgeweih einen ganzen Tag und eine Nacht lang Blut geschwitzt, als eine Frau des Hauses von Pritzken gestorben war und begraben wurde, und niemand wußte solches Wunder zu deuten, denn schon seit vierzehn Jahren hing dieses Horn an einer und derselben Stelle. So auch schwitzte eine Magd zu Großmantel, einem Dorfe in der Gegend von Stargard, Blut, drei Tage hintereinander, daß alle Welt sich davor entsetzte.

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351. Das Grab des Remus

351. Das Grab des Remus

Bei der Stadt Rheinsberg ist ein See gelegen und in diesem See eine Insel, auf der fand man vorzeiten ein mächtiges Steingrab und in dem Grabe große Gebeine eines gewaltigen Hünen. Von den Steinen war der eine schöner Marmor, und waren darauf sechs Habichte gehauen, auch eine Schrift, die aber so sehr verwittert war, daß sie niemand mehr lesen konnte. Und da fand sich alsbald auch ein kluger und weiser Diftelkopf, derselbe vielleicht, der in Salzwedel den Sonnentempel und bei Gardelegen die Isisburg kraft seiner Phantasei gründete, und spintisierte aus, daß erstens dieses Grabmal ein römisches sei, daß zweitens das Städtlein Rheinsberg in alten Zeiten keinesweges Rheinsberg sich geschrieben, sondern Remsberg, wie auch drittens der dortselbst vorbeifließende Fluß keineswegs der Rhein sei oder so heiße, auch nicht Rhin oder Rinne, sondern Rem. Daraus folge nun sonnenklar viertens, daß der Name des Städtchens früher Remus gelautet habe, und nicht minder sonnenklar fünftens, daß Remus, der Bruder des Erbauers von Rom, keinesweges von seinem Bruder Romulus umgebracht worden, weil er spöttlich über dessen neue Mauern hinweggeturnt, sondern stracklich aus Latium in die Mark Brandenburg, Grafschaft Ruppin, mit einigem Anhang gezogen sei, auch sechstens keineswegs, wie andere behauptet, die Stadt Reims oder Remus in Gallia, sondern lediglich und ausschließlich siebentens Remus am Flusse gleichen Namens begründet und erbaut habe, worauf er alldort verstorben und auf der Insul im Rem sich habe begraben lassen. Solche absonderlich belustigende Schnurren und Schnaken heckten vordessen die gelahrten Diftler aus, mit gar großem Aufwand von überschwenglichem Wissen, und ist deren Geschlecht auch noch keineswegs ausgestorben. Mancher brütet über ein paar alten Aschentöpfen zeitlebens und läßt sich’s gutes und schweres Geld kosten, Bücher mit Abbildungen voll tollen Unsinnes darüber zu schreiben und herauszugeben, und so erfüllt sich fort und fort das Wort der Schrift: Wenn du den Narren im Mörser zerstießest mit dem Stempel, wie Grütze, so ließe doch seine Narrheit nicht von ihm.

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352. Die vermauerten Tore

352. Die vermauerten Tore

In vielen Städten der Mark Brandenburg findet sich das Ungewöhnliche, daß neben dem offenen Stadttor noch ein zweites vermauertes erblickt wird, und zwar ist gleich ersichtlich, daß das vermauerte das ursprüngliche Tor ist, das gerade in die Straßen führte, während das jetzt im Gang befindliche schrägwärts ausmündet. Solcher Tore haben Kyritz, Wittstock, Wusterhausen in der Grafschaft Ruppin, Soldin drei, Friedeberg zwei, Morin zwei, Berlinchen zwei, Königsberg zwei, Schönfließ zwei, auch Landsberg an der Warthe, Beerwalde, Woldenberg, Fürstenwalde, Mittenwalde, Bernau. Gransee hat deren auch zwei. Man weiß nicht mehr recht Grund und Ursache dieses in früher Zeit erfolgten Torumbaues anzugeben. In Gransee geht die Sage, daß, als die frühere Wendenbevölkerung von den Deutschen vertrieben worden sei und letztere sich der Stadt bemächtigt, sie die Wenden so sehr mißachtet haben, daß sie die Tore hinter ihnen zugemauert und neue Tore in die Mauer gebrochen haben. Es blieb von solcher Mißachtung des unterjochten Volksstammes der Wenden noch bis auf den heutigen Tag ein Nachhall im Brauch: auf vielen Dörfern, wo Deutsche und Wenden nebeneinander wohnen, dürfen letztere nur durch kleine Nebentüren in die Kirche gehen.

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353. Ratten vertrieben

353. Ratten vertrieben

Zu Neustadt-Eberswalde gibt es keine Ratten; früher waren sie dort zahllos und fraßen fast die ganze städtische Kornmühle auf. Da kam ein fremder Mann, der erbot sich, dieses Ungeziefer für immer zu bannen, und wollte erst nach Jahr und Tag den Lohn für seine Kunst; nur zwei Taler wolle er vorweg und acht Taler übers Jahr. Solchen Vorschlag war der Rat zu Neustadt-Eberswalde gar wohl zufrieden, und derselbe Mann gebrauchte sich nun seiner Kunst. Ob er gepfiffen hat, wie der Rattenfänger zu Hameln, meldet die Sage nicht, aber pfiffig muß er es jedenfalls angefangen haben, denn gleich den Ratten zu Hameln fühlten sich die zu Neustadt-Eberswalde veranlaßt, zu Haufen die Mühle zu verlassen und in die Finow zu springen, in welcher sie allzumal hinabschwammen, und nie kam eine einzige wieder. Aber der Mann kam wieder, als das Jahr herum war, und heischte seinen rückständigen Lohn. Da gedachte der Rat weislich an den Ausgang der Kinder zu Hameln und vergnügte den Rattenjäger bei Heller und Pfennig mit Freuden. Nachher sind niemals wieder, weder in der Stadt, noch in der Stadtmühle, Ratten verspürt worden.

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343. Die Rolandsäulen

343. Die Rolandsäulen

Fast im ganzen Harzgebiet, im Braunschweigischen und Hannoverischen und ebenso in der Altmark und in der Mark Brandenburg werden in vielen Orten und Flecken, selbst in Dörfern auf offenen Plätzen Rolandbilder, gleichwie zu Bremen, angetroffen, Rolandssäulen geheißen, deren Gestaltung sehr oft edel und schön, häufig aber auch grotesk, buntbemalt und höchst lächerlich erscheint. Sie sind uralten Ursprunges und stellen den Helden Roland, den Vetter und Paladin Karl des Großen, dar als einen Schirmherrn der Gerechtigkeit, daher fehlt dem Roland fast nie das Schwert. Karl der Große soll, wie die Sage geht, die Aufstellung dieser Bildsäulen von Stein oder Holz angeordnet haben, wenn sie nicht Nachklang aus urfrüher Zeit sind, in die keine geschriebene Kunde hinaufreicht. Die urältesten dieser Säulen werden nicht mehr gefunden, die vorhandenen tragen allzumal in ihrer mittelalterlich-ritterlichen oder antik-römischen Gestaltung, wo sie einem Kriegsgott ähnlich sehen, das Gepräge spätern Ursprunges. In vielen Orten der Marken sind die alten Rolandbilder verstümmelt, zertrümmert, ja sogar begraben worden.

Zu Stendal, wie auch zu Brandenburg, zu Prenzlau u. a. stehen berühmte Rolandsäulen. Der Roland zu Stendal ist absonderlich riesig und grotesk, wohl der größeste. Seine Waden sind mannsdick, sein Schwert ist zwölf Ellen lang. Am Hinterkastell hat des Künstlers Laune ein lachendes Schalksgesicht angebracht; die Leute nennen es den Eulenspiegel. Manchmal schon hat der Roland, wenn gesamte oder vereinzelte Narrheit es ihm allzubunt machte, sich herumgedreht oder doch wenigstens den Kopf gewendet. Anno achtundvierzig soll das am letzten geschehen sein.

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344. Die wüsten Türme

344. Die wüsten Türme

Sowohl die Domkirche als die Marienkirche zu Stendal haben jede zwei schöne Türme, doch dient stets nur einer davon als Glockenturm, und der andere, der keine Glocken trägt, wird der wüste Turm genannt. Die Sage geht, daß beide wüsten Türme durch einen unterirdischen Gang miteinander verbunden seien, der unter dem Domhof, der Hallstraße und dem Markt hinstreiche, und die Hallstraße soll absonderlich ihren Namen daher haben, daß es unter ihr hallt und hohl klingt. Lange Zeit aber ward dieser Gang für ungangbar gehalten, und man wußte nicht mit Gewißheit, ob dem also sei, daß er von einem wüsten Turme zum andern führe. Da erwachte die Neigung, der Sache und Sage auf den Grund zu kommen. Ein Missetäter, der auf den Tod gefangen saß, sollte den Gang beschreiten und, wenn er dies glückhaft vollende, nicht zu Stendal gehangen werden, sondern ein Stück Geld bekommen, sich dafür anderswo hängen zu lassen, wo es ihm selbstbeliebig sei. Man hing ihm ein Grubenlicht an die Mütze und eine Trommel um, ließ ihn vom wüsten Turm des Domes in den Gang steigen und befahl ihm, zu trommeln, damit man ohngefähr höre, wo er stecke. Dies geschah pünktlich, man vernahm den dumpfen Trommelschall unter der Erde ganz gut längs des ganzen Domhofes und in der Hallstraße – aber mitten in derselben hörte die Trommel mit einem Male auf – alle war’s. Niemals kam der Trommler wieder zum Vorschein, und niemand wagte, ihm nachzugehen. Nur die Geister der alten Chor- und Stiftsherren, vielleicht auch regulierter Chorfrauen wandeln von einem der wüsten Türme zum andern, und sie werden es ohne Zweifel gewesen sein, die dem Eindringling in ihr geheimnisvolles Reich den Weg plötzlich abschnitten.

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345. Die goldne Laus

345. Die goldne Laus

Zu Bismark oder nicht gar weit davon ist im Jahre 1350 ein Kreuz vom Himmel gefallen, welches alsbald, sowie es erhoben ward, Wunder tat. Man erbaute ihm daher eine besondere Kirche, weihete sie der Himmelskönigin und nannte sie Zum heiligen Kreuze. Den Teufel verdroß das sehr, daß so viele Andachten zum heiligen Kreuz geschahen, und um das Kreuz zu höhnen, schuf er ein ungeheuerliches Getier in Gestalt einer Laus und setzte es über dem Kirchengewölbe in den Turm, da sahen es die Leute, absonderlich die Wallfahrer, wie Gold blitzen und mit den Füßen zappeln, und dadurch wurde die Andacht vom heiligen Kreuze abgelenkt, denn eine goldne Riesenlaus sah man nirgend anderswo, heilige Kreuze aber allenthalben. Aber was an Mehrung des Zulaufs und der Opferspenden das Kreuz nicht tat, das tat nun die Laus, deswegen wurde dieselbe von einer goldnen Spange umfangen und an einer goldnen Kette festgehalten und empfing zu ihrer Speise täglich ein Pfund Fleisch. An jedem Wallfahrtstage wurde den Gläubigen die Laus von oben her, vom Gewölbe, gezeigt; sie war so groß wie eine Taube, und unten an der Kirchturmmauer war sie in ihrer natürlichen Größe abgebildet. Jetzt steht die Kirche Zum heiligen Kreuz schon längst nicht mehr, auch das heilige Kreuz selbst ist verschwunden, aber die Trümmer der Kirche liegt noch einsam in der Feldflur bei Bismark, nach Stendal zu, der Weg dahin, der alte Wallfahrerweg, heißt noch die heilige Gegend. Auch die Laus ist verschwunden, aber ihr Name blieb an der Trümmer haften, die heißt noch bis heute die goldne oder auch die verwünschte Laus.

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338. Zwei Frauen zugleich

338. Zwei Frauen zugleich

Alle Welt kennt die Sage von der Doppelehe des Grafen von Gleichen in Thüringen, wenigen aber mag bekannt sein, daß diese Sage in der Altmark ihren treuen Widerhall findet. Zu Aulosen in der Landschaft, die man in der Wische nennt, saß ein Herr von Jagow, der war gar fromm und gottesfürchtig, und diese Gemütsrichtung bestimmte ihn, seine Heimat und Frau und Kinder zu verlassen und gegen die Ungläubigen zu Felde zu ziehen, wie man dazumal insonderheit die Türken nannte. Dort aber geriet er in Sklaverei, und es trug sich mit ihm aufs Haar alles genau so zu, wie die Sage von dem Grafen von Gleichen meldet, Gefangenschaft, Gärtnerschaft, sowie Liebschaft mit der vornehmen Türkin, Eheversprechen, Flucht, Dispensation des Papstes und endliche Heimkehr. Die Frau von Jagow saß an einem Gründonnerstag mit ihren Kindern bei Erbsen und Stockfisch und dachte an ihren lieben Mann, als unversehens selbiger mit einem wunderschönen Frauenbild vor ihre Augen trat. Die Freude war groß und herzlich, und die beiden Frauen wurden zwei ebenso gute Freundinnen miteinander wie die deutsche und die morgenländische Frau von Gleichen und sind dies auch, was viel sagen will, unter allen Umständen bis an ihr Ende geblieben. Noch zeigt man der Türkin Bildnis unter den Ahnenbildern der Familie von Jagow, und der erfreute und nicht nur glücklich heimgekehrte, sondern auch glücklich bleibende Herr von Jagow stiftete auf den Gründonnerstag eine Armenspende, bestehend in Erbsen und Stockfisch, zu seinem ewigen Andenken, nebst einer Zugabe von Speck und Brot, und haben sich seitdem viele tausend Arme an diesem Tage dort trefflich sattgegessen. Die türkische Gemahlin aber wurde nach ihrem Ableben zu Großen-Garz in eine Gruft beigesetzt; ihr Körper wurde noch als Mumie gezeigt, und ein Leichenstein in derselben Kirche ließ die beiden gleichzeitigen Frauen des Ritters nebeneinander erblicken, gleich dem Leichenstein des Grafen von Gleichen zwischen seinen beiden Frauen im Dome zu Erfurt.

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33. Der Mühlenbär

33. Der Mühlenbär

Im Elsaß, in der Gegend von Niederbronn und Gunthershof, liegt eine Mühle, in der sollte es gar nicht richtig sein, ein Bär sollte in ihr spuken. Wenn ein Mühlarzt zugereist kam oder aber am Werk etwas verbrochen war und ein solcher berufen werden mußte, blieb keiner länger denn eine Nacht in der Mühle, denn das Gespenst litt sie nicht, und zuletzt drohte ihr Verfall und dem Müller Verarmung, denn es blieb auch kein Mahlbursche. Da kam eines Tages ein frischer kecker Klapperbursche dahergewandert, sagte sein Müllersprüchlein ohne Anstoß her und bot um guten Lohn und gute Kost seine Dienste an. Der Müller war froh, daß wieder einer kam, nahm ihn gern in Dienst und hieß ihn die nächste Nacht mahlen. Der neue Bursch hatte schon von dem Mühlspuk gehört, fürchtete sich nicht, ließ sich gegen Mitternacht vom Glöcklein wecken, schüttete frisch auf, tat einen guten Zug aus der Bulle und legte sich auf ein paar Mehlsäcke, zu schlafen, neben sich legte er aber die scharfgeschliffene Mühlbarte. Er war noch nicht ganz eingeschlafen, als die Türe der Meisterstube, die herein in das Werk führte, aufging und ein schwarzer Zottelbär in die Mühle getreten kam. Er schnoperte und griff erst am Beutelkasten herum, ging zum Scheidekasten, schritt die Treppe hinauf an die Trommel und wurde jetzt den neuen Mahlburschen gewahr, der, die Hand am Beile, die ganze Zeit über den Bären beobachtet hatte, denn die Laterne brannte hell. Jetzt reckte der Bär mit Gebrumm die eine Tatze nach dem Burschen aus, der, nicht faul, hob das Beil, hieb zu, und die Tatze lag am Boden. Laut auf heulte der Bär und stürzte in die Meisterstube zurück. Als man am andern Morgen das Frühmahl einnahm, fehlte die Müllerin; sie lag im Bette, und fehlte ihr der rechte Vorderarm, da holte der Bursche die Tatze, und die Tatze war der Vorderarm, und die Müllerin war eine unholde Hexe. Solchen Hexenspuk mit Müllerinnen, die auch als Katzen erscheinen und arge Teufeleien treiben, erzählt man sich auch viel in Thüringen und Sachsen.

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339. Jungfrau Lorenz

339. Jungfrau Lorenz

In der Nähe von Tangermünde war früher ein großer und weitausgedehnter Forst, dieser war Eigentum einer Jungfrau des Namens Lorenz. Der Wald war also groß, daß seine Herrin, als sie eines Tages in demselben lustwandelnd sich erging, sich verirrte und sich nimmer zurechtfinden konnte. Drei Tage lang irrte sie verzweifelnd in dem Waldesdickicht umher, nährte sich von Beeren und trank aus Rieselbächen. Sie glaubte schier, nie wieder des Waldes Ende zu finden und darinnen sterben zu müssen, so sehr sie auch den Himmel anrief, ihr Hülfe zu senden. Siehe da, als sie am dritten Tage wieder recht inbrünstig gebetet hatte, erschien ein Hirsch, der hatte ein Geweih wie Elche so groß und nahte ihr ganz zahm, neigte sich vor ihr und schaufelte sie, ehe sie sich’s versah, mit seinem mächtigen Geweih vom Boden empor und auf seinen Rücken und trug sie fort, immerfort durch den weiten Wald, sanft und recht wie stolz auf seine Last, bis sie endlich den Wald sich lichten und beim Heraustritt die Tore von Tangermünde vor sich liegen sah. So kam Jungfrau Lorenz wieder in ihrer Heimat an und erfüllte sogleich ein Gelübde. Sie schenkte einen guten Teil des Waldes der Nikolaikirche zu Tangermünde, ließ ihr Bildnis von Holz auf einem Hirschgeweih künstlerisch ausarbeiten und in der Kirche aufstellen mit der Verordnung, daß dasselbe bewahrt bleiben solle für alle Zeiten, und solange von der Kirche noch ein Stein auf dem andern stehe. Die Kirche blieb stehen und steht heute noch, und das Bild wird heute noch gezeigt, obschon die Stürme der Zeit so vieles brachen und änderten. Aus der Kirche wurde ein Lazarett, all ihre Bilderzier wurde entfernt oder zertrümmert, nur das Bildnis der Jungfrau Lorenz überdauert alles. Sie selbst scheint dasselbe unsichtbar zu schützen, Gepolter und unheimlicher Lärm entsteht, wann jemand nur wagt, an den Zacken des Hirschgeweihes etwas aufzuhängen. Der ganze Landstrich zwischen den Dörfern Grobleben und Bölsdorf, den die Jungfrau Lorenz an die Kirche schenkte, und in welchem jetzt kein Wald mehr ist, heißt noch immer das Lorenzfeld.

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