Äneas an der Küste Italiens. Sizilien und der Zyklopenstrand. Tod des Anchises



Äneas an der Küste Italiens. Sizilien und der Zyklopenstrand. Tod des Anchises

Nach langen Irrfahrten und mancherlei Abenteuern erschien endlich eine niedrige Küste mit dämmernden Hügeln aus der Ferne. »Italien!« rief zuerst der Held Achates, der das Land vor den andern erblickt hatte. »Italien!« riefen einfallend unter Freudengeschrei die jubelnden Genossen. Der Greis Anchises bekränzte einen geräumigen Becher und füllte ihn bis zum Rande mit Wein. Auf dem Hinterverdecke stehend, flehte er die Meeresgötter um günstigen Wind und leichte Fahrt an. Auch wehte wirklich die erbetene Luft kräftiger, immer näher flogen sie einem sich vor ihren Augen erschließenden Hafen, und von einem Hügel des Landes winkte ihnen ein schöner Minerventempel. Vertrauensvoll rollten sie die Segel zusammen und drängten die Schiffe nach dem Strande. Der Hafen bildete, von der östlichen Brandung des Meeres ausgehöhlt, einen Bogen, an vorgelagerten Klippen spritzte die Meerflut schäumend auf, eine Mauer getürmter Felsen senkte rechts und links ihre Arme ins Meer herab, und der Tempel, in der Mitte der Bucht gelegen, trat in den Hintergrund. Hier erblickten sie am Gestade als erstes Vorzeichen vier schneeweiße Rosse, die hier und dort im tiefen Grase weideten. »Rosse bedeuten Krieg«, rief Anchises aus, »mit Kriege droht uns dieses Land, so gastlich es aussieht. Laßt uns Minerva, die auf uns herniederblickt, anbeten und eilig mit unsern Schiffen umkehren!«

Sie taten nach dem Rate des Alten und flogen zurück in das Meer. Nun schifften sie an mancherlei Küstenländern vorüber, immer dem Süden zu, vorbei am Meerbusen von Tarent, an der Stadt Kroton mit ihrem Junotempel, an dem klippenvollen Skylation. Schon tauchte aus der fernen Flut Sizilien auf mit seinem Ätna, schon von weitem hörten sie jetzt ein gewaltiges Tosen des Meeres, Brandung um die Felsen, am Gestade gebrochenen Laut: aus tiefem Abgrunde sprudelte die Flut empor, und Sand unter Wasserschaum stäubte in die Luft. »Das ist die Charybdis«, rief der länderkundige Anchises, »das gräßliche Felsenriff. Werft euch an die Ruder, Gefährten, reißet uns aus der Todesgefahr!« Eifrig lenkten alle mit den Schiffen zur Linken um, Palinurus mit dem krachenden Schiffschnabel voran. Bald flogen die Schiffe aus den Wölbungen des Strudels zu den Wolken empor, und wenn die Wogen verrollten, versanken sie wie in die Unterwelt; und dies geschah zu dreien Malen. Als sie der Gefahr glücklich entronnen waren, gerieten sie, aller Bahn unkundig, an den Strand der Zyklopen, wo ein geräumiger Hafen sie aufnahm. In ihrer Nähe hörten sie hier den feuerspeienden Berg Ätna donnern, der bald schwarzes Gewölk, Pechqualm und glühende Asche in die Luft emporwirbelt, bald das Eingeweide des Berges, Steine und geschmolzene Felsen, hinaufschleudert und vom untersten Grunde aus brausend siedet. Der Leib des Giganten Enceladus – andre erzählen, der des Riesen Typhon –, vom Blitze Jupiters versengt, soll hier in den Gründen der Erde liegen, und der mächtige Ätna, über denselben geworfen, sende, sagt man, den Flammenhauch des Riesen aus seinem Schlund empor; sooft jener, unter der drückenden Last ermattet, seine Seite wechselt, bebt die ganze Insel von dumpfer Erschütterung, und ein Rauch hüllt den Himmel in seinen Schleier.

Äneas und seine Genossen waren bei Nacht an die Insel verschlagen worden, und der Berg war ihnen noch dazu von Wäldern verdeckt. Auch umzog den verfinsterten Himmel ein dickes Gewölk, und hinter seinen Schichten verbargen sich der Mond und die Sterne. So hörten sie die ganze Nacht hindurch nur das fürchterliche Tosen, ohne die Ursache desselben erraten zu können. Als der Morgenstern am Himmel stand und Aurora die Schatten vertrieb, sahen die Flüchtlinge, die sich am Strande gelagert, einen fremden seltsamen Mann, ganz in Lumpen gehüllt, ein rechtes Jammerbild des Elendes, plötzlich aus den Wäldern hervortreten und die Hände flehend nach ihnen zu dem Ufer ausstrecken. Abscheulicher Schmutz entstellte ihn; die Fetzen seines Gewandes waren mit Dornen zusammengeheftet; sein langes verwirrtes Barthaar flog im Winde. Übrigens erkannte man auch in diesem jämmerlichen Aufzuge noch den Griechen, der einst vor Troja gekämpft hatte. Als dieser in der Ferne trojanische Rüstungen sah, stutzte er einen Augenblick und hemmte schüchtern seine Schritte. Bald aber rannte er entschlossen wieder vorwärts zum Ufer und flehte weinend zu den Ankömmlingen hinüber: »Bei den Gestirnen, bei den Göttern, beim Himmelslichte beschwöre ich euch, Trojaner nehmet mich fort mit euch, wohin es auch gehen mag! Ich weiß wohl, ich bin einer vom Danaerheer, ich habe eure Stadt befehdet, habe sie zerstören helfen. Nun, seid ihr unversöhnlich, so reißet mich in Stücke und versenkt mich im tiefsten Wasser, wird mir so doch der Trost zuteil, von Menschenhänden zu sterben!« So sprach der Unglückliche, umfaßte die Knie des Helden Äneas und schmiegte sich fest an ihn an. Da ermahnten ihn alle, sein Geschlecht, seinen Namen, sein Schicksal zu melden, und der ehrwürdige Greis Anchises reichte ihm selbst die Hand und nötigte ihn, vom Boden aufzustehen. Allmählich erholte sich der Arme von der Furcht. »Ich stamme«, begann er, »aus Ithaka und war ein Genosse des erfahrungsreichen Helden Odysseus. Achämenides ist mein Name. Weil man Vater Adamastus arm war, entschloß ich mich, mit gegen Troja zu ziehen. Es war mein Unheil; den Gefahren des Krieges glücklich entronnen, wurde ich hier in der scheußlichen Höhle des Zyklopen, als Odysseus und meine andern Begleiter, so viele der Menschenfresser noch nicht geopfert hatte, die Höhle mit List verließen, krank und elend in einem Winkel der Kluft liegend vergessen. Ich hatte es mit angesehen, wie das Ungetüm von meinen armen Freunden ein Paar ums andere verschlang, hatte mit Hand angelegt, als der einäugige Riese von Odysseus im Rausche geblendet ward. Ich selbst bin nur durch ein Wunder aus seiner Höhle entkommen; aber umringt vom ungeschlachten Volke der Zyklopen, brachte ich seit vielen Tagen mein Leben in Hunger und Todesangst hin. Auch ihr, unglückliche Fremde, wenn ihr nicht die Beute dieses abscheulichen Riesenvolkes werden wollet – denn gleich Polyphem irren über hundert in diesem unwirtlichen Gebirg umher –, auch ihr besteiget eilig die Schiffe wieder, und löset die Seile vom Strand! Drei Monate sind es, daß ich zwischen Höhlen und Wildlagern mein Leben fortschleppe, mich von der ärmlichen Kost der Waldbeeren und Wurzeln ernährend, stets auf der Lauer vor dem Riesengeschlechte, vor dessen tosenden Tritten und brüllenden Stimmen ich erbebe. Da sah ich diese Flotte dem Ufer nahen; ihr mich zu ergeben, brach ich auf, wessen sie auch sein mochte.«

Kaum hatte er dieses gesprochen, als die Trojaner auch schon auf der Höhe des Berges den Zyklopen Polyphem gewahr wurden, den unförmlichen Riesen mit dem geblendeten Auge, einen behauenen Fichtenstamm als Stock in der Hand, inmitten seiner Schafherde, seines einzigen Trostes im Unglück, einherschlendernd. Am Meere angekommen, ging er mitten in die Fluten hinein, die ihm doch noch nicht einmal bis an die Hüfte gingen. Hier bückte er sich und wusch aus dem ausgestochenen Auge das immer noch fließende Blut, stöhnend und zähneknirschend. Bei diesem gräßlichen Anblicke beschleunigten die Trojaner ihre Flucht, nahmen den bejammernswürdigen Flüchtling, obgleich er ihr Stammfeind war und ihre Stadt hatte zerstören helfen, mit sich zu Schiffe und hieben stillschweigend die Seile ab. Jetzt vernahm der Riese den Ruderschlag und wandte seine Schritte, noch immer in der Flut, dem Schalle des Geräusches zu. Mit Mühe entging das letzte Schiff seinen huschenden Händen; und als er vergebens in die Luft griff, erhob er ein so ungeheures Gebrüll, daß die Klüfte des Ätna wie von einem langen Donner widerhallten und das ganze Zyklopengeschlecht, in den hohen Bergen aufgestört, zum Gestade herabgerannt kam. Wie luftige Eichen oder Zypressen ragten ihre Häupter gen Himmel, und sie schickten der absegelnden Flotte drohende Blicke nach.

Um der Skylla und Charybdis zu entgehen, segelte diese rückwärts, längs dem Gestade der Insel hin, von Achämenides beraten, der diesen Weg früher mit Odysseus zurückgelegt hatte. Auf dieser Fahrt traf den Äneas ein großer Schmerz. Sein greiser Vater Anchises, von den Anstrengungen, Gefahren und Schrecken der Reise ermattet, sollte Italien, das Gelobte Land seiner Sehnsucht, nicht mehr erreichen. Er wurde zusehends schwächer, seine Sinne schwanden, seine Zunge erlahmte, und ohne nur ein Lebewohl sagen zu können, gab er in den Armen seines Sohnes den Geist auf, als sie eben in den Hafen der sizilianischen Stadt Drepanum eingelaufen waren.

Die trojanischen Flüchtlinge veranstalteten dem ehrwürdigen Vater ihres Führers ein feierliches Leichenbegängnis. Doch hing Äneas nicht lange der Trauer nach. Die Verheißung der Götter trieb ihn, das Volk, welches sich ihn zum Beschützer erkoren hatte, dem Lande der Ahnen entgegenzuführen und das versprochene Reich dort zu gründen.

Äneas geheilt. Neue Schlacht. Sturm auf die Stadt



Äneas geheilt. Neue Schlacht. Sturm auf die Stadt

Da erbarmte sich Venus ihres gefährdeten Sohnes. Sie pflückte auf dem Idagebirge der Insel Kreta das herrliche Kraut Diktamnum mit seinen saftigen Blättern und purpurnen Blumen, brachte es, in eine dichte Wolke gehüllt, ins Lager herbei und träufelte von seinem Safte heimlich und allen ungesehen in den Kessel, in welchem die Heilkräuter des Arztes brodelten; dazu mischte sie noch Tropfen Ambrosias und das duftende Panazeenkraut. Japyx ahnete hiervon nichts; aber als er noch einmal die Wunde mit seinem Kräutersafte wusch, siehe, da entfloh plötzlich der Schmerz aus dem Leibe des Helden, zuinnerst in der Wunde versiegte das Blut; der Pfeil folgte von selbst und zwanglos der berührenden Hand und fiel aus dem Leibe heraus. Sichtlich waren dem geheilten Äneas die Kräfte zurückgekehrt. »Was zögert ihr?« rief der Arzt ganz vergnügt; »schnell dem Helden die Waffen gebracht! Das ist nicht aus menschlicher Macht, nicht nach den Gesetzen der Heilkunst erfolgt, das hat ein Größerer getan denn ich, und zu größeren Taten treibt er dich an, o König!« Äneas, nach Kampfe lechzend, legte schnell Schienen und Panzer an, zürnte allem Verzug und war froh, als er endlich den Helm auf dem Haupte sitzen hatte und den Speer in den Händen schwang. In voller Waffenrüstung umarmte er seinen Sohn Askanius, küßte ihn streifend durch das Helmgitter und sprach: »Lerne von mir die Tapferkeit, mein Kind, und die wahre Beharrlichkeit; das Glück aber lerne von andern!« Dann schritt die gewaltige Heldengestalt aus den Lagertoren; Antheus und Mnestheus mit dichter Reiterschar drängten sich ihm nach; alles Volk strömte aus dem Lager, und ein wolkiger Staub verkündigte dem Turnus die Nahenden. Ein Schauder lief ihm durch Mark und Bein. Auch seine Schwester Juturna wandte sich mit ihm, bebend vor Furcht, zur Flucht, und bald tobte der Trojanerheld in der Schlacht wie eine Windsbraut. Da fiel auch der Seher Tolumnius, der zuerst das Geschoß in die Reihen der Feinde geschleudert hatte.

Die Halbgöttin Juturna aber stieß auf ihrer Flucht den Metiskus, den Wagenlenker ihres Bruders, vom Sitze, schwang sich in seiner Gestalt selbst zum Bruder empor, ergriff die Zügel und schwirrte nun mit ihm wie eine Schwalbe mitten durch den Feind, bald da, bald dort ihn zeigend, dann wieder abwegs ihn führend, so daß niemand ihn zum Kampf einholen konnte. Auf allen Wendungen verfolgte Äneas den Flüchtigen, blieb ihm unaufhörlich auf der Spur und rief ihn durch zersprengte Geschwader von Feinden aus der Ferne zum Kampfe herbei. Sooft er aber nahe kam, drehte Juturna den Wagen auf die Seite und ermüdete durch seine Beugungen den vergebens nachfolgenden Helden. Nun rannte der Latiner Messapus, der eben zwei Speere in der Linken wiegte, herbei und schleuderte einen davon mit sicherem Schwunge dem Trojaner entgegen. Äneas stand stille, zog die Glieder ein und bückte sich ins Knie. Der Speer fuhr über ihn hin, doch so, daß er ihm den Helmbusch vom Scheitel stieß. Da rief Äneas die Götter zu Zeugen des gebrochenen Bundes auf und stürzte sich zum schonungslosen Morde tief unter die Feinde.

Dann legte ihm seine Mutter Venus den Anschlag ins Herz, ohne Verzug seine Streitmacht seitwärts zu wenden und die Latiner durch unerwartete Not in Verwirrung zu setzen. Während er den dahinrollenden Wagen des Turnus noch immer verfolgte, fiel sein Blick auf die Mauern, und er sah sich die Stadt an, die, noch immer unberührt vom Kriege, verschont und in Ruhe dalag. Plötzlich rief er seine Helden Mnestheus, Sergestus und Serestus herbei und besetzte die Höhen; das übrige Trojanerheer zog den Helden nach und drängte sich, ohne Schilde und Lanzen niederzulegen, in einem Kreis um seinen Führer.

Da stand nun Äneas in der Mitte und sprach von einer Erhöhung herab: »Zögert nicht, meine Befehle zu erfüllen. Jupiter steht auf unserer Seite. Wenn die Feinde sich nicht heute unterwerfen, so stürze ich die Stadt des Latinus und mache ihre rauchenden Giebel dem Boden gleich! Soll ich etwa warten, bis es dem Turnus beliebt, den Kampf mit mir zu bestehen? Nein, hier, vor euch liegt das Ziel des Krieges; eilet mit Fackeln herbei, mahnet sie mit Flammen an ihr Bündnis!« So sprach er, und sein ganzes Heer bildete auf der Stelle einen Keil und drängte sich in dichter Masse der Stadt zu; die Sturmleitern werden angelegt, Fackelbrände leuchten, an den Toren tobt der Sturm und fallen die Wachen; Pfeile und Lanzen fliegen über die Mauern. Vor allen im Heere hob Äneas seine Rechte gen Himmel, wälzte alle Schuld auf den König Latinus und rief die Götter zu Zeugen des gebrochenen Bündnisses an.

Unter den geängsteten Bürgern entstand Zwietracht: die einen verlangten, man sollte die Stadt den Trojanern auftun, die Tore entangeln, den König Latinus selbst rufen und zum Abschlusse des Friedens zwingen; andere schleppten Waffen herbei und sannen auf die Verteidigung der Mauern. Die Königin Amata, als sie vom Dache des Palastes aus den Feind herannahen sah, die Mauern erstürmt, Brände auf die Häuser geworfen, nirgends den Turnus oder sonst ein Rutulerheer den Feinden entgegengestellt, klagte sich selbst laut als die Urheberin alles dieses Unheiles an, zerriß sich ihr Purpurgewand und erhängte sich am Deckengebälk ihres Frauengemachs. Als die Frauen der Latiner dieses Ende ihrer Herrin vernommen hatten, tönte ein lautes Jammern aus den Gemächern. Lavinia, ihre Tochter, raufte sich die goldenen Locken aus und zerschlug sich Brust und Wangen. Bald verbreitete sich der Ruf der Trauer durch die ganze Stadt; der König Latinus zerriß sein Gewand und jammerte durch den Palast, sich selbst anklagend, daß er den Trojaner nicht sogleich in die Stadt aufgenommen und sich zum Eidam auserkoren habe.

Äneas in Karthago



Äneas in Karthago

Die beiden Wanderer gingen rüstig im Nebel dahin, immer dem Fußpfade nach. Bald hatten sie den Hügel erstiegen, der sich hoch über die Stadt erhob und auf die gegenüberstehende Burg hinuntersah. Mit Staunen betrachtete Äneas den stolzen Königsbau, der sich da erhob, wo früher nur armselige Bauernhütten gestanden hatten, die hohe steinerne Pforte der Stadt, die breiten gepflasterten Straßen, den Lärm und das Gewühl darin. Noch aber wurde an der Stadt gebaut, die Tyrier betrieben das Werk mit allem Eifer: die einen waren mit den Stadtmauern beschäftigt, die andern mit der Vollendung der Burg, zu deren Höhen sie Quadersteine emporwälzten; viele bezeichneten mit Furchen erst den Platz, auf welchem sich ihr Haus erheben sollte. Der größere Teil der Einwohnerschaft war auf dem Marktplatze versammelt, wählte den Senat und die Richter des Volks und beratschlagte über die Gesetze des neuen Staates. Noch andere gruben bereits an den Häfen, andere legten den Grund zu einem Theater und hieben dazu mächtige Säulen als Zierden der künftigen Bühne aus dem Felsen. Das Ganze war anzusehen wie ein Bienenschwarm, der eben schwärmt.

In ihrem Nebelgewande geborgen, befanden sich Äneas und sein Begleiter bald in der Mitte des beschäftigten Volkes und gingen unerkannt hindurch. Mitten in der Stadt grünte ein schöner Hain, voll des kühlsten Schattens, wo nach langen Stürmen und Meerfahrten die Phönizier oder Pöner zuerst ein Segenszeichen, das ihnen Juno sandte, ausgegraben hatten: ein Pferdshaupt, wodurch ihnen Kriegsglück und Nahrung vorbedeutet ward. Hier baute die Königin Dido der Juno einen prächtigen Tempel; Stufen, Torpfosten und Türflügel, alles war von Erz. In diesem Haine faßte sich der Held Äneas erst wieder einen getrosten Mut und gab sich in seiner verzweifelten Lage kühneren Gedanken der Hoffnung hin. Denn während er sich in dem herrlichen Tempel umschaute und über die prächtigen Kunstwerke, die sich darin befanden, staunte, stieß er auf eine Reihe von Wandgemälden, in welchen die Schlachten Trojas dargestellt waren. Priamus, die Atriden, Achill, Rhesus und Diomed, fliehende Griechen und wieder Trojaner, der Knabe Troilus, von seinen Pferden geschleift, Trojanerinnen mit fliegendem Haar im Tempel der Pallas, Hektors geschleppte Leiche, Penthesilea mit ihren Amazonen: alles erkannte der Held Äneas, ja am Ende endeckte er auch sich selbst, wie er von der Mauer herab den ungeheuren Stein auf die Feinde schleudert.

Während er dieses alles unter Schmerz und Lust mit Verwunderung sich beschaute, nahte die Königin Dido selbst, im höchsten Glanze jugendlicher Schönheit, von einem großen Gefolge tyrischer Jünglinge umgeben, dem Tempel. Unter der Wölbung des Portales setzte sie sich, von Bewaffneten umringt, auf einen hohen Thron und teilte dem Volke, das sich um sie versammelte, teils nach billiger Schätzung, teils durchs Los die Arbeiten in der neuen Stadt aus, sprach Recht, gab Gesetze. Da sahen Äneas und Achates plötzlich mitten in dem Gewühle ihre verloren geachteten Freunde und Genossen, den Sergestus, den Kloanthus und viele andere Teukrer, welche der Sturm von ihnen getrennt und an andere Küsten verschlagen hatte. Freude und Angst ergriff sie bei diesem Anblick; sie glühten vor Begierde, ihnen die Rechte zu traulichem Handschlage zu reichen, und doch machte sie das Unbegreifliche der Sache wieder irre: sie hielten deswegen in ihrem Nebelgewölke an sich und warteten zu, ob sie nicht im Verlauf der Dinge das Schicksal der Freunde aus ihrem eigenen Munde erfahren würden. Denn es waren, wie sie sahen, auserwählte Männer von jedem Schiffe. Auch drängten sie sich bald aus der Menge hervor, traten in die Vorhalle des Tempels ein, und als ihnen das Wort von der Königin vergönnt wurde, hob ihr Führer Ilioneus zu sprechen an: »Edle Königin, wir sind arme Trojaner, die der Sturm von Meer zu Meer geschleudert hat. Wir richteten den Lauf unserer Flotte nach dem fernen Italien, als ein unvermuteter Orkan uns unter die Klippen schleuderte, wo viele unserer Schiffe ohne Zweifel zugrunde gegangen sind. Die Überbleibsel der Flotte haben euer Gestade erreicht. Aber was sind das für Menschen, unter die wir geraten sind? welches Barbarenvolk duldet solche Gebräuche? Man verwehrt uns, den Strand zu betreten; man droht mit Kriege, mit Verbrennung unserer Schiffe. Wenn ihr von Menschlichkeit nichts wisset, so scheuet doch wenigstens die Götter! Äneas war unser Führer – es gibt keinen größeren und frömmern Helden! Wenn das Schicksal uns diesen Mann erhalten hat, so wird euch der Dienst, den ihr uns erweiset, niemals gereuen. Darum gestattet uns, die lecken Schiffe ans Land zu ziehen, in euren Wäldern Schiffsbalken zu zimmern und Ruder zu verfertigen. Finden wir unsern König und unsere Freunde wieder, dann dürfte uns wohl die Fahrt nach dem verheißenen Italien glücken. Hat aber ihn die libysche Flut verschlungen und ist unsere Hoffnung dahin, nun dann gib uns wenigstens sicheres Geleite, mächtige Königin, daß wir zu unserem Gastfreunde am sizilischen Strande, von dem wir herkommen, wieder zurückkehren können.«

Die Königin senkte vor den Männern den Blick auf die Erde und antwortete kurz: »Verbannet die Angst aus euren Herzen, Trojaner! Mein Schicksal ist so hart, mein Reich ist so jung, daß ich genötigt bin, die Grenzen des Landes ringsumher durch strenge Wachen sicherzustellen. Trojas Stadt aber und ihr unglückliches Volk, ihre Helden, ihren Waffenruhm, ihre fürchterliche Zerstörung kennen wir gar wohl. Unsere Stadt ist nicht so abgelegen, daß sie nichts von ihrem Schicksale wüßte; unsere Herzen sind nicht so unempfindlich, daß es uns nicht rührte. Möget ihr euch denn Hesperien zum Wohnsitz erwählen oder Siziliens Insel: in beiden Fällen getröstet euch meiner Hilfe, ich will euch mit allem Nötigen versehen und in Frieden ziehen lassen; es wäre denn, daß ihr euch lieber hier im Lande ansiedeln wolltet! Wollet ihr das, so steht euch frei, eine Stadt zu gründen, und meine Gesetze sollen euch denselben Schutz verleihen wie meinen eigenen Untertanen. Was euren König betrifft, so sende ich auf der Stelle sichere Männer an meine Ufer und im Lande umher, um ihn auszuspähen, ob er nicht irgendwo gestrandet in Wäldern oder in Städten umherirrt.«

Die beiden Helden in der Wolke brannten vor Begierde, den Nebel zu durchbrechen, als sie solches vernahmen. »Hörst du es, Sohn der Göttin«, flüsterte zuerst Achates seinem erhabenen Freunde zu, »die Schiffe, die Freunde alle sind gerettet; nur einer fehlt, den wir selbst ins Meer sinken sahen; sonst entspricht alles den Verheißungen deiner Mutter.« Kaum war dieses gesprochen, als die Nebelwolke sich von selbst teilte und in den offenen Äther verschwand. Da stand nun Äneas im heiteren Lichte, wie ein Gott an Schultern und Haupte glänzend: seine Mutter hatte ihm schönes wallendes Lockenhaar aufs Haupt, das Purpurlicht der Jugend auf die Wangen und in das heitere Auge den Strahl der Huld gezaubert. Wie ein Wunder stand er vor allen da, wandte sich zur Königin und sprach: »Da bin ich, nach dem ihr verlanget, aus den Wellen Libyens gerettet, ich, ich der Trojaner Äneas! Edle, großmütige Königin, die du die Trümmer eines unglücklichen Volkes erbarmungsvoll in deine Stadt aufgenommen hast, keiner von allen Trojanern, die über die ganze Erde zerstreut sind, kann dir würdigen Dank bezahlen; mögen dir die Himmlischen vergelten! Selig sind die Eltern, die dich gezeugt haben! Solange die Erde stehet, wird dein Name bei uns von Ruhme strahlen, welches Land uns auch rufen mag!« So sprach Äneas und eilte auf seine Freunde zu, die Rechte, die Linke ihnen um die Wette darreichend. Als sich Dido vom ersten Erstaunen erholt hatte, sprach sie: »Sohn der Göttin, welches Schicksal verfolgt dich durch solche Gefahren? Du bist also jener Äneas, welchen einst Anchises, dem Trojaner, die erhabene Göttin Venus an den Wellen des Simois geboren hat! Wohl hab ich vieles von den Schicksalen deines Geschlechts und deines Volkes von meinem Vater Belus vernommen. Als dieser in Zypern kriegte, kam der Argiver Teucer, Telamons Sohn, zu ihm, der dort nach dem Trojanischen Krieg eine Niederlassung gegründet hatte; dieser erzählte viel von euren Heldentaten. Er war zwar euer Feind im Kriege, aber zugleich euer Blutsverwandter, denn auch er rühmte sich, vom alten Geschlechte der Teukrer abzustammen; seine Mutter Hesione, welche Telamon als eine Kriegsgefangene von seinem Freunde Herkules zum Geschenk erhalten hatte, war eine Tochter des trojanischen Königs Laomedon. Nun aber, ihr Männer, tretet getrost in unsere Häuser ein; auch ich bin eine Verbannte, auch ich fand nach langen Mühsalen erst in diesem Lande Ruhe. Ich bin wohlvertraut mit dem Jammer und verstehe mich auf den Beistand Unglücklicher.«

So sprach Dido und führte den Helden unverzüglich in ihren Palast, auch ordnete sie in allen Tempeln ein prächtiges Opferfest an. Das Innere der Burg wurde mit königlichem Prunke ausgeschmückt und in den schönsten Sälen des Palastes ein Festmahl zugerichtet. Kunstvolle Purpurteppiche prangten überall, schweres Silber belastete die Tische, goldene Pokale mit erhabener Kunstarbeit schimmerten allenthalben.

Indessen ließ dem edlen Äneas seine Vaterliebe keine Ruhe; er schickte den treuen Diener Achates schleunig zu der Flotte, dem Knaben Askanius die frohe Botschaft zu verkündigen und ihn selbst herbeizuführen. Auch allerlei Ehrengeschenke, die er aus dem Schutthaufen Trojas gerettet, befahl er herbeizubringen: einen prächtigen Mantel mit goldgewirkten Bildern, den Schleier Helenas, ein Wundergeschenk ihrer Mutter Leda, den sie aus Sparta mitgebracht, den Zepter der Ilione, der ältesten Tochter des Priamus, ein Halsgeschmeide von Perlen und eine Krone, von Gold und Edelsteinen glänzend. Mit diesen Aufträgen eilte Achates nach den Schiffen.

Äneas kommt ins Lager zurück



Äneas kommt ins Lager zurück

Jupiter hatte in einer Götterversammlung die Klagen seiner Gemahlin Juno und die Fürbitten seiner Tochter Venus angehört und beschlossen, ohne Einmischung der Himmlischen alles dem Schicksale zu überlassen; so dauerte denn die Belagerung der trojanischen Niederlassung und der Kampf der Rutuler und Trojaner um die Mauern fort.

Inzwischen war Äneas mit seiner Heeresabteilung und der arkadischen Reiterei in der blühenden tuskischen Stadt Agylla angekommen. Diese hatten ihren grausamen König Mezentius vertrieben, und da der Verjagte zu Turnus entflohen war, so lebten die Bewohner der Stadt in tödlicher Feindschaft mit Rutulern und Latinern. Deswegen wurde Äneas von dem jetzigen Beherrscher derselben, dem Könige Tarchon, sobald er ihm Geschlecht und Namen gemeldet und ihm von den Kriegsrüstungen des Turnus und Mezentius erzählt hatte, mit offenen Armen aufgenommen. Der König vereinigte nicht nur die eigene Streitmacht, sondern rief auch alle etrurischen Bundesstädte zur Teilnahme an dem Kampfe auf. Es währte nicht lange, so sah sich der Trojaner an der Spitze einer furchtbaren Flotte und segelte, nachdem er arkadische und tuskische Reiter auf dem Landwege vorangeschickt hatte, mit dreißig Schiffen von der etrurischen Meeresküste ab. Wie er nun in der Nacht aus Vorsicht selber am Steuer saß und den Lauf seines Schiffes, dem die andern folgten, regierte, umringte ihn auf einmal ein Chor tanzender Nymphen. Es waren die Schiffe der Trojaner, welche Cybele, um sie von den Brandfackeln des Turnus zu retten, jüngst an der Mündung der Tiber verwandelt hatte. Sie erkannten, belebt und beseelt, ihren Herrn; die beredteste faßte sein Schiff mit der Rechten, ragte mit dem Rücken aus dem Wasser hervor, streichelte besänftigend die Flut mit der Linken und sprach:»Wachst du, Göttersohn? O wache und laß den Wind in die Segel blasen! Wir sind Fichten vom Idagebirge, deine treuen Schiffe, jetzt durch Cybeles Erbarmen dem Brande der Rutuler entzogen und in Meeresgöttinnen umgewandelt. Eile, Freund, dein Sohn Askanius, von Wall und Graben umschlossen, ist von den Rutulern belagert, und der Kampf tobt um seine Mauern. Deine Reiter sind zwar angekommen und stehen nicht ferne vom Lager, aber Turnus weiß es und ist entschlossen, Kriegsvolk zwischen sie und das Lager zu werfen. Auf denn, beflügle deinen Lauf! Wenn der Tag anbricht, wirst du in der Tibermündung sein; dann ergreife den funkelnden Goldschild, den Vulkanus dir gab, und strecke ihn dem Lager deiner Genossen entgegen. Sei getrost, der morgende Tag wird dir Sieg verleihen!«

So sprach sie und gab im Hinuntertauchen dem Hinterverdecke des Schiffes einen Stoß, daß es schneller als Lanzen und Pfeile durch die Wellen fuhr. Als hätten sie Flügel, eilten dem Feldherrnschiff auch die andern Schiffe nach, und mit dem ersten Morgenlichte hatte der Sohn des Anchises sein Lager im Angesicht. Da gedachte er des Befehls der Nymphe; er ergriff seinen flammenden Schild, stellte sich damit aufs Vorderverdeck, hielt ihn mit der Linken hoch in die Lüfte und streckte ihn seinen Freunden entgegen. Wie eine Sonne, die aus den Fluten taucht, schien er den Trojanern, die den Schiffszug vom Walle herab gewahr wurden, entgegen. Sie erhoben ein Jubelgeschrei, und ihre Lanzenwürfe verdoppelten sich. Die Rutuler und ihre Führer begriffen von dieser plötzlichen Begeisterung der Feinde nichts, bis sie auf einmal hinter sich das Meer von Segeln angefüllt und eine Flotte an den Strand laufen sahen. Da leuchtete ihnen wie ein blutroter Komet oder wie der pestdrohende Sirius Äneas im Schmucke seiner Götterwaffen entgegen: seine Helmkuppel strahlte wie ein Brand; Glut entströmte dem Federbusch; die goldene Schildbuckel spie weit und breit Feuerstrahlen aus.

Dennoch verließ den tollkühnen Turnus das Selbstvertrauen nicht; er hoffte, den landenden Feinden den Strand durch Schnelligkeit abzugewinnen und sie vom Ufer zu verdrängen. »Die Stunde ist gekommen«, rief er den Seinen zu, »die ihr so sehnlich herbeigewünscht habt. Jetzt könnt ihr eure Gegner zermalmen; der Kriegsgott selbst hat sie euch in die Hand gelegt. Denkt eurer Weiber und Kinder, setzt den Taten eurer Väter die Krone auf. Solange die Schritte der Ausgestiegenen noch schwanken, solange sie noch straucheln, empfanget sie am Strande! Das Glück begünstigt die Kühnen!«

Indessen wurden die landenden Trojaner und ihre Bundesgenossen aus dem Schiffe des Äneas teils auf Brücken ans Land gesetzt, teils schwangen sie sich mit Hilfe der Ruder an dasselbe oder ließen sich von den rückprallenden Wellen ans Ufer tragen. Der König Tarchon aber, der mit der übrigen Flotte folgte, beschaute sich das Ufer und ersah sich eine Stelle, wo das Meer in der Mündung des Flusses nicht mit gebrochenen Wogen rauschte, nicht aus der Tiefe gärte, sondern sich frei dem flachen Ufersande zuwälzte. Dorthin befahl er plötzlich die Schiffsschnäbel zu drehen und rief seinen Genossen zu: »Jetzt, meine Freunde, rudert frisch drauflos, bohrt euch mit den Kielen eine Furche ins Feindesland; mag das Schiff auch scheitern, wenn es nur den Strand gewonnen hat!« Die Etrusker, wie sie solches hörten, ruderten drauflos und trieben die beschäumten Schiffe vorwärts, bis die Schnäbel das Trockene erreicht und alle Kiele unversehrt im Sande aufsaßen, nur Tarchons eigenes Schiff nicht. Dieses blieb an einer schrägen Sandbank hängen, die sich unter den Fluten hinzog; lange schwankte es und bot den Wellen Trotz. Endlich brach das Getäfel auseinander und schüttete die ganze Ladung seiner Männer mitten in die Flut aus, unter zerbrochene Ruder und umherwogende Balken hinein. Nur mit Mühe rettete sich Tarchon mit den Seinigen ans Land.

Äneas nach Karthago verschlagen



Äneas nach Karthago verschlagen

Kaum hatte die Flotte Sizilien aus dem Gesichte und segelte fröhlich auf der hohen See dahin, als Juno, die alte Feindin der Trojaner, die vom Olymp auf den Schiffszug herniederblickte, bei sich selber sprach: ›Wie, sollte mein Beginnen auf halbem Wege stehenbleiben? sollte Troja nicht ganz zerstört, sein Volk und Königsgeschlecht nicht mit der Wurzel vertilgt sein? Soll dieser Eidam des Priamus, soll sein Enkel wirklich Besitz von Italien nehmen? Konnte nicht Pallas die heimkehrende Flotte der Griechen auseinanderschlagen und mit Orkanen das Meer durchwühlen, nur um die Schuld Ajax des Lokrers zu rächen: und ich, die Königin der Götter, Jupiters Gemahlin und Schwester, soll dieses eine Volk jahrelang vergebens bekämpfen?‹ Solche Gedanken bewegte sie in ihrem zornigen Herzen und eilte in das Gebiet der Stürme, nach der Grotte des Äolus, des Königs der Winde. Auf ihren Befehl und ihre Bitten, mit reizenden Versprechungen gemischt, ließ dieser sämtliche Winde aus ihrem Verschlusse los; sie stürzten wie Heere zur Feldschlacht heraus, wirbelten durch die Länder, legten sich, Ost und Süd, West und Nord, zugleich auf das Meer und reizten die Wogen gegeneinander auf, in deren Mitte die Flotte des Trojaners schwamm. Ein Jammergeschrei erhob sich unter den Männern, die Taue rasselten, während Blitz auf Blitz zuckte und die Donner durch den Himmel rollten. Äneas pries in diesem Augenblicke alle diejenigen glücklich, die unter Trojas Mauern zu seiner Verteidigung gefallen waren, er beneidete seine Freunde Sarpedon und Hektor um den Tod durch die Hand des Tydiden und des großen Achill. Aber seine Seufzer verwehte der Nordorkan, der die Segel der Schiffe nach vorn riß und diese selbst auf fürchterlichen Wasserbergen bis in die Wolken schleuderte. Die Ruder zerkrachten, die Meerflut brach ein, und die Schiffe legten sich wie sterbend auf die Seite. Drei von den Fahrzeugen schleuderte der Südwind auf verborgene Klippen, drei stieß der Ostwind von der hohen See auf seichte Sandbänke; auf eins, das lykische Bundesgenossen mit ihrem Führer Orontes trug, wälzte sich eine ungeheure Welle nieder und warf den Steuermann kopfüber ins Meer; dann drehte der Wirbel das Schiff dreimal in der Runde herum, und der Abgrund verschlang es. Auch das mächtige Schiff des Ilioneus und Achates, das Schiff des Abas und Aletes überwältigte der Sturm, und das Meerwasser drang durch die lockern Fugen der Planken ein.

Jetzt endlich nahm der Meeresgott Neptunus von dem brausenden Aufruhr Kunde und wunderte sich über die losgelassenen Orkane. Er erhob aus den wilden Wogen sein ruhiges Haupt und schaute sich ringsum. Da erblickte er das Geschwader des Äneas allenthalben im Meere zerstreut und die Schiffe seiner Lieblinge, der Trojaner, von den Wogen bedeckt und in Regengüsse gehüllt. Auf der Stelle erkannte er den Groll und die Ränke seiner Schwester Juno, rief den Ost und West gebieterisch zu sich her und sprach zu ihnen: »Was für ein Trotz hat euer freches Geschlecht ergriffen, so ohne meinen Befehl Himmel und Meer untereinanderzumischen und die Wogen bis an die Sterne zu türmen? Ich will euch…! Doch für diesmal sei eure einzige Strafe, die Meeresflut auf der Stelle zu verlassen; geht und sagt eurem Herrn, nicht ihm sei der Dreizack und die Herrschaft über die See verliehen worden, sondern mir; ihm gehören Felsen und Grotten, wo euer Gemach ist; dort mag er in verschlossenem Kerker über euch herrschen, bis man euch braucht!«

So sprach er, und unter dem Sprechen glättete er die schwellenden Wogen, verscheuchte die geballten Wolken und erheiterte die Luft, daß die Sonne wieder schien. Seine Meeresgötter mußten die Schiffe, die zwischen Klippen geraten waren, von den zackigen Felsen hinwegdrängen; er selbst hob die auf den Sandbänken aufsitzenden mit seinem Dreizacke wie mit einem Hebel und machte sie wieder flott; dann glitt er auf seinem Wagen, von Seerossen gezogen, leicht über den Saum der Flut hin, und das Getöse des Meeres schwieg überall, wohin der Gott mit verhängtem Zügel die Rosse lenkte und einen Blick über die Wasser warf, wie bei einem Volksaufruhr der gemeine Pöbel, der voll Trotzes mit fliegenden Fackeln und Steinen umhertobte, plötzlich schweigt und horchend aufblickt, wenn ein Mann von Tugend und Verdienst erscheint.

Die müden Seefahrer sahen eine Küste vor sich liegen, rafften ihre Kräfte zusammen und steuerten dem Lande entgegen. Es war Afrikas Gestade. Bald nahm sie ein sicherer Port auf. Von der einen Seite winkten sonnige Wälder auf sanften Hügeln, auf der andern starrte ein Gehölz voll schwarzer Schatten an steiler Höhe, im Hintergrunde der Bucht öffnete sich eine Felsengrotte mit Quellen und Moosbänken. Dorthin fuhr mit seinen sieben Schiffen – dies war der ganze Überrest der Flotte – der Held Äneas. Die Trojaner stiegen aus und lagerten sich in ihren triefenden Gewanden dem Ufer entlang. Der Held Achates schlug an einem Kiesel Feuer, fing die Glut in trockenen Blättern auf, nährte sie mit dürrem Reisig und fachte sie durch Schwingen zur Flamme an. Dann wurde das Bäckergeräte und das vom Wasser halbverdorbene Getreide aus den Schiffen ausgeladen und das gerettete Korn mit dem Mühlsteine zermalmt.

Unterdessen erstieg Äneas klimmend einen Felsen mit seinem treuen Waffenträger Achates und ließ oben die Blicke über die weite Meeresfläche hinschweifen, ob er nichts von den vom Sturme verschlagenen Schiffen erblicken könnte, vom Antheus, vom Kapys mit den Fahrzeugen der Phrygier, von der Flagge des Kaïkus; aber kein Schiff begegnete seinem Blick; nur drei Hirsche sah er unten am Strande, denen eine ganze Herde folgte, deren Nachzügler bis tief in ein Tal hinein weideten. Schnell ließ er sich Bogen und Pfeile reichen und streckte den Führer der Herde nieder, einen Hirsch mit hochästigem Geweih; und er ruhte nicht, bis er sieben Tiere erlegt hatte, so viel, als die Zahl seiner Schiffe war. Dann kehrte er zur Bucht zurück; die Beute ward eingeholt und unter die Freunde verteilt. Auch stattliche Krüge mit Wein ließ Äneas aus den Schiffen herbeiholen, die ein Gastfreund an der sizilischen Küste ihm geschenkt, und mit dem süßen Tranke flößte er Trost in ihre kummervollen Herzen. »Freunde«, sprach er, »sind wir doch lange mit Trübsal vertraut, selbst mit größerer als diese gegenwärtige ist; darum laßt uns hoffen, daß ein Gott auch ihr ein Ende machen werde. Rufet nur den alten Mut zurück; in später Zeit werdet ihr euch mit großer Lust an alle diese Leiden erinnern. Denkt nur daran, daß das Ziel so vieler Not und Gefahr Italien ist, daß uns dort unser Geschick ruhige Sitze zeigt, daß dort ein zweites Troja emporblühen wird!«

Der Held sprach freilich diese Hoffnungsworte mit kummervollem Herzen, und er mußte seinen tiefen Schmerz gewaltsam in die Seele zurückdrängen. Indessen schlachteten und brieten die Genossen das Wildbret und labten sich an Schmaus und Wein, über die verlorenen Freunde zwischen Furcht und Hoffnung geteilt sich unterhaltend.

Äneas und Turnus kämpfen. Turnus tötet den Pallas



Äneas und Turnus kämpfen. Turnus tötet den Pallas

Als Turnus die Feinde gelandet sah, stand er von der Belagerung ab, raffte sein Heer in Eile zusammen, stellte es längs dem Gestade auf und ließ die Hörner zum Angriff blasen. Auch Äneas hatte die Seinigen, Trojaner und Bundesgenossen, geordnet, warf sich zuerst, um den Kampf spielend zu beginnen, auf die Scharen des latinischen Hirtenvolkes und richtete unter ihnen eine große Niederlage an. Dann wandte er sich gegen die Helden der Feinde selbst, und in erbittertem Streite wurde bald von beiden Seiten gefochten. Heer stieß an Heer, Fuß hing an Fuß, Mann drängte sich an Mann, und lange schwankte die Schlacht.

Seitwärts vom Hauptkampfe, wo ein Waldstrom Felsen in den Weg gewälzt und entwurzelte Bäume am Ufer umher zerstreut hatte, kämpfte Pallas, der junge Sohn des Königs Euander, mit seinen Arkadiern. Der unebene Boden erlaubte diesen nicht, sich der Pferde zu bedienen, und weil sie des Fußkampfes nicht gewohnt waren, boten sie endlich den eindringenden Latinern und Rutulern den Rücken. Nur allmählich brachte der Zuruf ihres jungen Führers sie wieder zum Stehen. »Bei dem Ruhm und bei den Siegen meines Vaters, bei meiner eigenen Hoffnung beschwöre ich euch, ihr Männer«, schrie er, »haltet stand, vertraut euren Armen und nicht euren Füßen! Wir haben keine Wahl, entweder vorwärts ins trojanische Lager oder rückwärts in die See!« Mit diesen Worten führte er sie aufs neue gegen den Feind und focht wie ein junger Löwe, indem er mit Lanze und Schwert bald diesen, bald jenen niederstreckte. Nun sammelte sich die Streitkraft seiner Genossen wieder gedrängt um ihn her, und Schritt für Schritt gewannen die Arkadier neuen Boden, bis ihnen Lausus, der heldenmütige Sohn des Mezentius, Einhalt tat. Die Arkadier zogen sich auf ihre Freunde, die Etrusker und Trojaner, zurück, aber unter allen wütete der italische Held mit seinen tödlichen Streichen. Endlich sahen sich Lausus und Pallas einander gegenüber, beide Jünglinge, an Alter wenig verschieden, beide herrlich von Gestalt, beide frühem Tod in diesem Treffen vorbestimmt. Doch sollte keiner von des andern Hand fallen, denn beide erwartete das Verhängnis unter den Händen eines größeren Feindes.

Turnus, der mit seinem Streitwagen das Heer durchflog, erblickte das Paar, wie sie eben voll Kampflust aufeinander losgingen. »Halt«, rief er von seinem Wagen herab, »ich allein will mit Pallas kämpfen, mir allein ist sein Leben bestimmt: möchte sein Vater Euander doch zuschauen!« Verwundert richtete der Jüngling den spähenden Blick nach der Stelle, von der herab der trotzige Ruf erschollen war; dann maß er sich seinen neuen Gegner mit großen Augen und rief endlich mutig zu ihm empor: »Entweder erbeute ich heute eine Feldherrnrüstung oder einen rühmlichen Tod; beides wird mein Vater willkommen heißen, darum spare dein Drohen!« So sprach er und schritt in die Mitte der Gasse hervor, die des Turnus Zuruf eröffnet hatte. Auch Turnus sprang von seinem Doppelgespann, wie ein Löwe herbeifliegt, wenn er ferne vom Berg herab einen kämpfenden Stier in der Ebene erblickt hat. Als Pallas ihn auf Schußweite vor sich sah, schleuderte er den Speer mit aller seiner Jugendkraft ab und riß sofort das Schwert aus der Scheide. Der Lanzenwurf war gut gezielt, er durchbrach dem Turnus den Rand des Schildes, seinen Riesenleib aber streifte er nur. Jetzt wiegte Turnus lange seinen Wurfspieß mit der scharfen Eisenspitze und sprach dazu: »Nun merk auf, ob mein Geschoß nicht besser durchdringt.« Dann flog sein Speer und fuhr dem Jünglinge durch Schild, Panzer und Busen bis tief ins Herz. Vergebens zog dieser den Speer noch warm aus der Wunde, die Seele entfloh mit dem strömenden Blute, und er sank tot unter den rasselnden Waffen auf den Boden. Turnus setzte den linken Fuß auf den Toten, löste ihm den schönen Gürtel vom Leibe, auf welchem der Zentaurenkampf in getriebenem Golde abgebildet war. »Das Grab«, sprach er dann, »verweigere ich dem Jüngling nicht: bringet ihn immerhin seinem Vater Euander, ihr Arkadier!« So sprach Turnus und flog auf seinem Streitwagen zurück. Wehklagend trugen die Arkadier ihren erschlagenen Königssohn aus der Schlacht, und Etrusker und Trojaner, von den vordringenden Rutulern gemäht, zogen sich ihnen in verworrener Flucht nach.

Zu Äneas, der auf einem andern Flügel des Heeres focht, kam die Botschaft vom Weichen der Seinigen. Da raffte sich der Held mit den mutigsten Genossen auf, brach sich mit dem Schwert eine breite Bahn durch den Feind und suchte den Turnus. Vor seinen Augen schwebte ihm Euanders gastlicher Tisch und der holde Jüngling Pallas, der ihm mit so vielen Vatertränen anvertraut war. Schmerz und Rachelust erfüllten seine Heldenbrust. Vier Söhne des Sulmo, vier Söhne des Ufens griff er lebendig aus den Feinden heraus und ließ sie aus der Schlacht führen: sie sollten als Sühnopfer für Pallas bluten. Keinen Mann, keinen flehenden Jüngling schonte er, der dem Rasenden in den Weg trat, welcher wie ein brausender Bergstrom oder die nächtliche Windsbraut wütete. Zu gleicher Zeit brach der Jüngling Askanius mit den eingeschlossenen Trojanern, den günstigen Zeitpunkt ersehend, aus dem Lager hervor.

Abfahrt von Troja. Ajax des Lokrers Tod



Abfahrt von Troja. Ajax des Lokrers Tod

Es geschah unter Jubelruf, wie Nestor geraten hatte; die Schiffe wurden fertiggemacht, sämtliche Güter an Bord gebracht, die Gefangenen zuerst, weinend und wehklagend, eingeschifft, alsdann folgten ihnen die Danaer selbst. Nur der Seher Kalchas schloß sich ihnen nicht an, ermahnte sie vielmehr, die Fahrt noch nicht zu beginnen, denn sein wahrsagender Geist ließ ihn ein großes Unheil ahnen, das die Griechen an den Kapharischen Felsen bedrohte, welche ein Vorgebirge der Insel Euböa umgaben, an dem die Flotte auf ihrer Heimkehr nach Griechenland vorübersegeln mußte. Aber ihm folgte keiner; das Verlangen nach der süßen Heimat hatte alle Herzen betört; endlich zog Amphilochos, der Sohn des berühmten Sehers Amphiaraos, den der Boden vor Theben verschlungen hatte, den Fuß, den er schon ins Schiff gesetzt hatte, zurück. In seinem Geiste dämmerte die Sehergabe seines Vaters auf, und er wurde sich gleicher Ahnung bewußt wie Kalchas. So blieb er bei diesem zurück. Ihnen beiden war vom Schicksal bestimmt, das griechische Heimatland nicht wieder zu erblicken, sondern sie sollten in den kilikischen und pamphylischen Städten Kleinasiens sich ihre Wohnsitze gründen.

Alle andern Achajer lösten indessen die Taue, mit welchen die Schiffe ans Land gebunden waren, und hoben eilig die Anker empor. Bald umspülte das freie Meer die Dahinsegelnden. Auf den Vorderteilen der Schiffe lagen überall Waffen erschlagener Feinde; unzählige Siegeszeichen hingen von den Masten herab; die Schiffe selbst waren bekränzt; Blumenkronen hatten sich die Sieger um Schilde, Lanzen und Helme geflochten; so standen sie auf den Vorderverdecken und gossen Trankopfer goldenen Weines ins Meer, indem sie voll Inbrunst zu den Göttern um eine Zurückkunft flehten, mit der ihnen kein Unheil verbunden wäre. Aber ihr Gebet war nichtig; Luft und Winde trugen es fort von den Schiffen und zerstreuten es in die Lüfte, bevor es sich in den Olymp emporschwingen konnte.

Wie die Helden nun voll Hoffnung und Sehnsucht vorwärtsblickten, so schauten die gefangenen trojanischen Frauen und Jungfrauen mit bekümmertem Herzen rückwärts nach dem rauchenden Troja, und verstohlenerweise seufzten und weinten sie den verhaltenen Schmerz aus. Die Mädchen hatten die Hände in den Schoß gefaltet, die jungen Frauen hielten Kinder in den Armen. Diese aber dachten nur an die Mutterbrust und fühlten ihr Unglück noch nicht. In der Mitte anderer Gefangener stand Kassandra, und ihr edler Wuchs ragte hoch über die andern hervor. Aber ihr Auge war tränenlos, und sie spottete der Klage, die rings um sie her ertönte: denn jetzt war geschehen, was sie geweissagt hatte und worüber sie von den Jammernden verlacht worden war. Nun höhnte wohl ihr Mund die Mitgefangenen, aber ihr Herz blutete heimlich über dem Unglück der zerstörten Vaterstadt.

Unter den Trümmern Trojas irrten wenig übriggebliebene Einwohner, schwache Greise oder verwundete Männer, Antenor an ihrer Spitze, einher. Dieser führte sie zu dem schmerzlichen Werke der Leichenbestattung an, das nur langsam vor sich ging, denn der Toten waren so viele, und der Lebenden nur wenige. Diese wenigen bauten an einem unermeßlichen Holzstoße, und als er fertig war, legten sie alle Leichen der Ihrigen miteinander darauf und zündeten den Scheiterhaufen unter Tränen und Wehklagen an. Die Danaer hatten indessen bald das Grabmahl des Achill und die trojanische Küste im Rücken. Obwohl sie aber immer fröhlicheren Mutes wurden, mischte sich doch auch die Wehmut in ihre Freude, wenn sie an die vielen gefallenen Freunde dachten. Eine Küste und eine Insel um die andere flog an ihrem Blicke vorüber: Tenedos, Chrysa, das Orakel des Phöbos, die heilige Killa, Lesbos, das Eiland, das Vorgebirge Lekton, endlich der äußerste Vorsprung des Gebirges. Die Winde sausten in die Segel, die Flut rauschte, schwarz rollten die Wellen daher, und weiß dehnte sich über das Meer hin ihr schäumender Pfad, wenn sie an den Schiffen sich gebrochen hatten.

Die Sieger hätten auch wirklich die Küste Griechenlands glücklich erreicht, wenn nicht Pallas Athene über der Untat des Lokrers Ajax ihnen gegrollt hätte. Als sie nun an die stürmische Küste von Euböa gelangt waren, sann die Göttin darauf, dem Sohne des Oïleus ein trauriges, unbarmherziges Los zu bereiten. Sie hatte dem Göttervater im Olymp den Frevel geklagt, den er in ihrem eigenen Tempel an ihrer Priesterin Kassandra begangen hatte, und begehrte Rache an dem Verbrecher zu nehmen. Und Zeus, der Verwalter der Gerechtigkeit auf Erden, setzte sich ihren Wünschen nicht entgegen; er legte vielmehr neben die Jungfrau die frischesten Donnerkeile der Zyklopen, die eben aus der Esse gekommen waren, und erlaubte seiner Tochter, den Griechen einen verderblichen Sturm zu erregen. Alsbald waffnete sich Athene, legte den schimmernden Ägispanzer an, in dessen Mitte das Gorgonenhaupt mit den feurigen Schlangenhaaren starrte, und faßte eines der Geschosse des Vaters, die zu ihren Füßen lagen, wie es außer dem großen Zeus sonst kein Gott aufzuheben vermochte. Dann ließ sie den Olymp von Donnerschlägen erbeben, goß Wolken rings um die Berge und hüllte Meer und Land in Finsternis. Hierauf schickte sie ihre Botin Iris zu Äolos, dem Gott der Winde, hinab, deren Höhle sich neben der Wohnung des Gottes in den Abgründen der Erde befindet. Die Botschafterin Athenes traf den Fürsten der Stürme bei seiner Gemahlin und seinen zwölf Kindern daheim; er vernahm den Befehl und gehorchte auf der Stelle. Mit rüstigen Händen stieß er den großen Dreizack in den Berg ein, wo die Behausung der tosenden Winde ist, und riß den Hügel mit Gewalt auf. Die Stürme stürzten wie Jagdhunde sogleich aus der Öffnung hervor; er aber befahl ihnen, sich sofort zu einem einzigen finstern Orkane zu vereinen und nach der Brandung der Kapharischen Felsen zu fliegen, welche die Küste von Euböa umlagern. Noch ehe sie vollständig das Wort ihres Königes vernommen, machten sich die Winde auf den Weg; die Meerflut stöhnte unter ihnen; wie Berge wälzten sich die Wogen einher, und den Argivern brach der Mut im Herzen zusammen, als sie den Meerschwall turmhoch gegen sich anrücken sahen. Bald war nicht mehr an das Rudern zu denken; die Segel hatte der Sturm zerrissen, daß Fetzen herunterhingen; zuletzt erlahmte auch die Kraft der Steuermänner; die finsterste Nacht brach ein, und mit ihr verschwand jede Hoffnung auf Rettung. Auch Poseidon half seiner Bruderstochter Pallas, und diese raste ohne Erbarmen vom Olymp mit Blitzen daher, die vom krachendsten Donner begleitet waren. Wehklagen und Stöhnen scholl von den Schiffen; hier und dort barst das Gebälk eines Fahrzeuges, wenn es vom Sturme gewaltsam an ein stärkeres geschleudert worden war, und diejenigen, die dem Stoße herstürzender Schiffe durch Rudern zu entgehen versuchten, wurden vom Wind in die Tiefe gerissen. Endlich schleuderte Athene den schärfsten Donnerkeil, den sie zu diesem Gebrauche besonders aufgespart hatte, in das Schiff des Ajax, daß es auf der Stelle hierhin und dorthin in Splitter sprang; Erde und Luft hallten von dem Knall, und die Wogen umkreisten das berstende Schiff. Scharenweise stürzten aus diesem die Menschen in die Flut und wurden von den Wellen verschluckt. Ajax selbst jedoch schwamm bald auf einem der Balken des Schiffes, die auf den Wellen hier und dort zerstreut daherfuhren: bald zerteilte sein nerviger Arm die Woge, die sich vor dem kräftigen Schwimmer spaltete; jetzt trug ihn eine mächtige Welle wie zum Gipfel eines himmelhochragenden Berges, jetzt schleuderte sie ihn wieder hinab in den tiefsten Abgrund. Von allen Seiten fuhr der Blitz neben ihm einschlagend und zischend in die Fluten, aber noch war es Athenes Wille nicht, daß der Tod sich über ihn erbarme. Auch war sein Mut noch nicht erschöpft; er ergriff ein aus den Wellen hervorragendes Felsstück und vermaß sich, wenn auch alle olympischen Götter herangezogen kämen und die Fluten gegen ihn aufreizten, so sollte ihm doch die Rettung nicht mißlingen.

Diese Prahlerei hörte der Erderschütterer Poseidon, dessen Gottheit dem Ringenden am nächsten war, mit Unwillen. Im heftigsten Zorn erschütterte er Meer und Erde zugleich; die Felsabhänge des Vorgebirges Kaphareus erbebten, und die Gestade donnerten ringsumher unter der Peitsche des Herrschers. Da wurde zuletzt der mächtige Felsblock, an welchen sich Ajax mit den Händen angeklammert hielt, vom Grunde losgerüttelt und mit ihm der Lokrer wieder ins Meer hinausgestoßen, daß der anspülende Schaum ihm Haupt- und Barthaar weiß färbte. Auf den Versinkenden stürzte Poseidon noch einen losgerissenen Erdhügel des Vorgebirges, daß der Scheitel desselben den Lokrerfürsten, wie einst der Ätna den Enkelados, deckte. So unterlag er, von der Erde und vom Meere zugleich bezwungen.

Die Schiffe der Danaer irrten indessen schwankend und leck auf der stürmenden See umher; viele waren geborsten, viele von den Wogen verschlungen; die Meerflut tobte fort, und der Regen strömte herab, als drohte dem nahen Lande eine zweite Deukalionische Flut. Jetzt wurde auch noch die Steinigung des Palamedes an den unglücklichen Griechen gerächt. Auf Euböa herrschte nämlich noch immer der Vater dieses Helden, Nauplios. Als dieser an seiner Küste die griechische Flotte erblickte, die mit dem fürchterlichen Sturme rang, gedachte er der hinterlistigen Ermordung seines geliebten Sohnes, um welchen er nun so viele Jahre trauerte. Die Rachelust war in seinem Herzen nie eingeschlummert, und jetzt endlich hoffte er sie büßen zu können. Er eilte an den Strand, ließ längs des Kapharischen Vorgebirges, den gefährlichsten Klippen gegenüber brennende Fackeln aufstecken und machte dadurch in den Griechen den Glauben rege, daß es Rettungszeichen seien, welche mitleidige Uferbewohner für sie aufgepflanzt hätten. In dieser Hoffnung steuerten die Danaer mit Begierde auf die Klippen zu, und viele ihrer Schiffe fanden hier den Untergang.

Zugleich ergoß sich das Meer von Troja, auf des grollenden Poseidon Befehl, über sein Gestade und zerstörte alle Bollwerke und Mauern, welche die Griechen bei ihren Schiffen und vor der belagerten Stadt aufgeführt hatten. Und so war bald von der ungeheuern Unternehmung nichts mehr übrig als der Schutthaufen Trojas und einige Schiffe voll zurückkehrender Helden und gefangener Trojanerinnen, die, vom Sturme da- und dorthin zerstreut, mit Mühe und nach langen und mannigfaltigen Drangsalen die Küsten Griechenlands wieder erreichten, wo nur weniger Sieger ungetrübte Glückseligkeit wartete.

Achill neu bewaffnet



Viertes Buch

Achill neu bewaffnet

Beide Heere ruhten jetzt vom hartnäckigen Kampfe. Die Trojaner lösten ihre Rosse von den Streitwagen, aber noch ehe sie des Mahles gedachten, eilten sie zur Versammlung. Da standen alle aufrecht im Kreis umher, keiner wagte sich zu setzen, denn noch bebten sie vor Achill und fürchteten sein Wiedererscheinen. Endlich sprach der Sohn des Panthoos, der verständige Polydamas, der allein vorwärts wie rückwärts zu schauen verstand, und riet, nicht auf die Frühe zu warten, sondern sogleich in die Stadt heimzukehren. »Findet Achill der Gewappnete«, sprach er, »uns morgen noch hier, dann werden diejenigen froh sein, die ihm in die Stadt entrinnen; viele aber werden den Hunden und Geiern zum Fraße dienen. Möge mein Ohr nie von solchem hören! Drum ist mein Rat, die Nacht auf dem Markte der Stadt mit aller Kriegsmacht zu halten, wo hohe Mauern und feste Tore uns ringsum beschützen. In aller Frühe sodann stehen wir wieder auf der Mauer; und wehe ihm, wenn er alsdann, von den Schiffen angestürmt, mit uns um jene zu kämpfen begehrt.«

Nun stand auch Hektor auf und begann mit finsterem Blick: »Mir gefällt keineswegs, was du da gesprochen hast, Polydamas. In dem Augenblicke, wo mir Zeus den Sieg verliehen, daß ich die Achiver bis ans Meer zurückgedrängt habe, muß dein Rat dem Volke töricht erscheinen, und kein einziger Trojaner wird dir gehorchen. Vielmehr befehle ich Haufen um Haufen, die Nachtkost unter das Heer zu verteilen und die Wachen nicht zu vergessen. Härmt sich einer um sein Gut und Vermögen, der lasse es beim gemeinsamen Gastmahl aufgehen, besser daß die Unsrigen sich dran erlustigen, als daß die Griechen es tun. Am Morgen wiederholen wir sodann den Sturm auf die Schiffe; wenn wirklich Achill wiederauferstanden ist, so hat er sich das schlimmere Los erkoren; denn nicht werde ich diesen gräßlichen Kampf verlassen, ehe mich oder ihn die Siegesehre krönt!« Die Trojaner überhörten die heilsamen Worte des Polydamas, rauschten dem Unheilsworte Hektors Beifall zu und warfen sich hungrig auf ihr Mahl.

Die Griechen aber jammerten die ganze Nacht über der Leiche des Patroklos, und vor allen erhub Achill die Klage, während seine mörderischen Hände auf dem Busen des Freundes ruhten. »O eitles Wort«, sprach er, »das mir damals entfallen ist, als ich, den alten Helden Menötios im Palaste tröstend, ihm versprach, seinen Sohn nach Trojas Zerstörung, reich an Ruhm und Beute, nach Opus in seine Heimat ihm zurückzubringen! Nun ward uns beiden bestimmt, dieselbe fremde Erde mit unserm Blute rot zu färben, denn auch mich werden mein grauer Vater Peleus und meine Mutter Thetis nimmermehr im Palast empfangen, sondern hier vor Troja wird mich das Erdreich bedecken. Aber weil ich doch nach dir in den Boden sinken soll, Patroklos, so will ich dir nicht eher dein Leichenfest feiern, als bis ich dir die Waffen und das Haupt deines Mörders, Hektors, gebracht habe; auch will ich dir zwölf der edelsten Söhne Trojas an deinem Scheiterhaufen opfern. Bis dies geschieht, ruhe du hier bei meinen Schiffen, geliebter Freund!« Hierauf befahl Achill seinen Freunden, einen großen Dreifuß voll Wasser an das Feuer zu stellen und den Leichnam des gefallenen Helden zu waschen und zu salben. Alsdann wurde er auf schöne Betten gelegt und köstliche Leinwand vom Haupte bis zu den Füßen über ihn gebreitet, auch ein schimmernder Teppich über den Toten geworfen.

Derweil gelangte Thetis an den unvergänglichen, sternenhellen Palast des Hephaistos, den der hinkende Künstler sich selbst aus Erz gebaut. Sie fand ihn dort schwitzend und in voller Arbeit um seine Blasebälge beschäftigt: er bereitete an zwanzig Dreifüße und befestigte unter dem Boden eines jeden goldene Räder, mit welchen sie ohne von fremder Hand getrieben zu werden, in den olympischen Sälen vor die Götter hinrollten und dann wieder zu ihrem Gemache heimkehrten: wahre Wunderwerke anzuschauen; sie waren bis auf die Henkel fertig, und diese fügte er jetzt eben an, indem er mit dem Hammer die Nägel am gehörigen Ort einschlug. Seine Gattin, die holde Charis, eine der Huldgöttinnen, ergriff die Hand der hereintretenden Göttin, führte sie auf einen silbernen Sessel, rückte ihr einen Schemel unter die Füße und holte dann den Gemahl herbei. Dieser rief, als er die Meeresgöttin erblickte, freudig aus: »Wohl mir, ist doch einmal die Edelste der Unsterblichen bei mir im Hause, die mich, den Neugeborenen, vom Verderben gerettet hat; denn weil ich lahm auf die Welt kam, warf mich die Mutter aus dem Schoße, und ich wäre elendiglich verkommen, wenn nicht Eurynome und Thetis mich in ihrem Schoße aufgefangen hätten und in der Meeresgrotte großgezogen bis ins neunte Jahr. Dort schmiedete ich allerlei Kunstwerke, Spangen, Ringe, Ohrengehenke, Haarnadeln, Kettchen aller Art in der gewölbten Grotte; und rings um uns her schäumte brausend der Strom des Ozeans. Diese meine Retterin besucht jetzt mein Haus! Bewirte sie, holdselige Gattin; mich aber laß diesen Wust hier aus dem Wege schaffen.« So sprach der rußige Gott, erhob sich hinkend vom Amboß, und mühsam hin und her wankend, legte er die Blasebälge vom Feuer weg, verschloß alle die mancherlei Gerätschaften in einen silbernen Kasten, wusch sich dann mit einem Schwamm Hände, Angesicht, Hals und Brust und hinkte, in einen Leibrock eingehüllt und von geschäftigen Mägden gestützt, wieder aus der Kammer; diese Dienerinnen aber waren keine geborenen Wesen, doch lebenden gleich; voll Jugendreiz, alle von ihm aus Gold geschmiedet, mit Kraft, Verstand, Stimme und Kunsttrieb begabt. Sie eilten mit hurtigen Füßen von ihrem Herrn weg, er aber, nachwackelnd, nahm sich einen schmucken Sessel, setzte sich neben Thetis, faßte ihr Hand und sprach: »Ehrenwerte, geliebte Göttin, was führt dich zu meiner Wohnung, die du sonst nur wenig besuchest? Sage mir, was du verlangst: alles wir dir mein Herz gewähren, was ich nur gewähren kann und was an sich gewährbar ist.«

Da erzählte ihm Thetis ihren ganzen Jammer und bat ihn, seine Knie umfassend, ihrem früh verwelkenden Sohne Achill, solang er den Griechen zum Schirm noch lebe, Helm, Schild, Harnisch, Beinschienen und Knöchelbedeckung neu gefertigt zu verleihen; denn die Rüstung der Unsterblichen, die er früher besessen, habe der gefallene Genoß ihm vor Troja verloren. »Mutig, edle Göttin!« antwortete ihr Hephaistos, »dein Herz kümmere sich darum nicht; möchte ich deinen Sohn doch so gewiß aus der Gewalt des Todes retten können, wenn ihm dereinst sein Geschick herannaht, als ich ihm jetzt eine herrliche Rüstung fertigen will, die ihn erfreuen soll und die noch mancher Sterbliche, der sie erblickt, anstaunen wird!« So sprach er, verließ die Göttin, und in seine Feueresse hinkend, kehrte er die Blasebälge ins Feuer und ließ sie mit Macht arbeiten. Ihrer zwanzig schickten den glühenden Wind zugleich in die Öfen hinein, während in mächtigen Tiegeln Erz, Zinn, Silber und Gold auf der Glut stand. Alsdann richtete er den Amboß auf dem Blocke zurecht, griff mit der Rechten nach seinem gewaltigen Hammer und faßte mit der Linken die Zange. Und nun fing er an zu schmieden und formte zuerst den riesenmäßigen starken Schild aus fünf Schichten, mit einem Silbergehenk und dreifachem blanken Rande. Auf der Wölbung des Schilds bildete er die Erde, das wogende Meer, den Himmel mit Sonne, Mond und allen Gestirnen ab; ferner zwei blühende Städte, die eine voll von Hochzeitfesten und Gelagen, mit Volksversammlung, Markt, hadernden Bürgern, Herolden und Obrigkeiten; die andere von zwei Heeren zugleich belagert: in den Mauern Weiber, unmündige Kinder, wankende Greise; die Männer der Stadt, vor dieser draußen in einen Hinterhalt gelagert und den Hirten in die Herden fallend. Auf einer andern Seite Schlachtgetümmel; Verwundete, Kampf um Leichname und Rüstungen. Weiter schuf er ein lockres Brachfeld, mit Bauern und Ochsen am Pflug; ein wallendes Ährenfeld voll Schnitter, seitwärts unter einer Eiche die Mahlzeit bereit; weiter einen Rebgarten voll schwarzer, schwellender Trauben, an Pfählen von lauterem Silber, ringsum ein Graben von blauem Stahl und ein Gehege von Zinn; eine einzige Furche führte durch den Weingarten, und eben war Lese: Jünglinge jauchzten, und rosige Jungfrauen trugen die süße Frucht in schönen Körben davon; mitten in der Schar ging ein Leierknabe, den andere umtanzten. Weiter schuf er eine Rinderherde aus Gold und Zinn, längs einem wallenden Fluß mit vier goldenen Hirten und neun Hunden; vorn in die Herde waren zwei Löwen gefallen und hatten einen Farren gefaßt, die Hirten hetzten ihre Hunde, die bellend auf Sprungweite von den Löwen standen. Wiederum schuf er eine anmutige Taltrift, von silbernen Schafen durchschwärmt, mit Hirtengehegen, Hütten und Ställen; endlich einen Reigen von blühenden Jünglingen und Jungfrauen in glänzenden Gewanden; jede Tänzerin schmückte ein Kranz, die Tänzer hatten goldene Dolche an silbernen Riemen hangen; zwei Gaukler drehten sich im Kreise zur Harfe eines Sängers; Zuschauergedränge umgab den Reigen. Um den äußersten Rand des Schildes schlang sich der Strom des Ozeans wie eine Schlange.

Als er den Schild vollendet, schmiedete er auch den Harnisch und gab ihm helleren Glanz, als das Feuer hat; dann den schweren prangenden Helm, den Schläfen ganz gerecht, mit goldnem Haarbusch; und zuletzt Beinschienen aus dem feinsten Zinn. Dieses ganze Geräte legte er gehäuft vor die Mutter des Peliden hin. Sie aber warf sich auf die Rüstung, wie ein Habicht auf die Beute, dankte und trug das schimmernde Waffengeschmeide mit ihren Götterhänden von dannen.

Mit dem ersten Morgenlichte war sie wieder bei ihrem Sohne, der, noch immer weinend und von jammernden Genossen umgeben, über seinen Freund Patroklos gestreckt lag. Sie legte die Waffen vor Achill nieder, daß alle die Wunder zusammenrasselten. Die Myrmidonen zitterten bei dem Anblicke, und keiner wagte der Göttin gerade ins Gesicht zu schauen. Dem Peliden aber funkelten die Augen unter den Wimpern wie Feuerflammen, von Zorn und Freude; er hielt die herrlichen Gaben des Gottes, eine um die andere, in die Höhe, und weidete lange sein Herz an der Betrachtung. Dann brach er auf, sich damit zu waffnen. »Sorget mir dafür«, sprach er im Weggehen zu seinen Freunden, »daß nicht Fliegen in die Wunden meines erschlagenen Streitgenossen schlüpfen und den schönen Leichnam entstellen!« »Laß dies meine Sorge sein«, sprach Thetis; und nun flößte sie dem Patroklos Ambrosia und Nektar in die halbgeöffneten Lippen, und dieser Götterbalsam durchdrang seinen Leib, daß er blieb wie ein Lebender.

Achill aber ging an den Meerstrand, und seine Donnerstimme rief die Danaer herbei. Da lief zusammen, was wandeln konnte; selbst die Steuermänner, die die Schiffe noch nie verlassen hatten, kamen herbei; herbei hinkten, auf die Lanze gestützt, Diomedes und Odysseus, die Verwundeten; alle Helden kamen, am spätesten erschien der Völkerfürst Agamemnon, auch er noch krank an der Wunde, die ihm Koon, der Sohn des Antenor, mit dem Speere gebohrt hatte.

Achill und Agamemnon versöhnt



Achill und Agamemnon versöhnt

Als die Versammlung vollzählig war, stand Achill auf und sprach: »Sohn des Atreus, hätte lieber Artemis‘ Pfeil an jenem Tage die Tochter des Brises bei den Schiffen getötet, an dem ich sie mir aus dem zerstörten Lyrnessos zur Beute erlesen, ehe so viele Argiver, dieweil ich zürnte, von den Feinden gebändigt, den Staub mit den Zähnen knirschen mußten! Vergessen sei das Vergangene, wenn es uns auch in der Seele kränkt: mein Zorn wenigstens ist besänftigt. Auf nun, zum Gefecht! Ich will versuchen, ob die Trojaner noch Lust haben, bei den Schiffen zu ruhen!«

Unermeßlicher Jubel der Griechen erfüllte bei diesen Worten die Luft. Und jetzt erhub sich Agamemnon der Völkerfürst und sprach, aufgestanden von seinem Sitze, doch ohne wie andere Redner in den Kreis vorzutreten: »Bändiget eure Zungen! Wer vermag bei solchem Getümmel zu reden oder zu hören? Ich will mich dem Sohne des Peleus erklären, ihr andern merkt’s und beherziget meine Worte. Oft schon haben mich die Söhne Griechenlands über mein Betragen an jenem Unglückstage gestraft. Doch war die Schuld nicht mein: Zeus, die Parze und die Erinnys schickten mir damals in der Volksversammlung die verderbliche Verblendung zu. So mußte ich fehlen. Aber solange Hektor um die Schiffe her die Scharen der Argiver vertilgte, ward ich unaufhörlich an meine Schuld gemahnt, und ich wurde es inne, daß Zeus mir die Besinnung hinweggenommen hatte. Nun will ich gerne büßen, was ich gefehlt, und biete dir Sühnung, Achill, soviel du begehrst. Zieh in den Kampf, und ich bin erbötig, dir alle die Geschenke reichen zu lassen, die dir Odysseus, von mir in dein Zelt abgesandt, jüngst noch verheißen hat. Oder wenn du lieber willst, so bleib noch so lange, bis meine Diener aus dem Schiffe sie hergebracht haben, damit du mit eigenen Augen sehest, wie ich mein Versprechen erfülle.«

»Ruhmvoller Völkerfürst Agamemnon«, antwortete der Held, »mag es dir gut dünken, mir die Geschenke, wie es ziemlich ist, zu reichen oder sie zu behalten: es gilt mir gleich. Jetzt aber laß uns ohne Verzug der Schlacht gedenken, denn noch ist vieles ungetan, und mich verlangt darnach, daß man den Achill wieder im Vordertreffen gewahr werde!« Aber der kluge Odysseus tat Einrede und sprach: »Göttergleicher Pelide, treibe doch die Achiver nicht so ungespeist vor Troja hin! Laß sie sich vorher bei den Schiffen mit Speise und Wein erquicken, denn nur das gibt Kraft und Stärke! Inzwischen mag Agamemnon das Geschenk in unsern Kreis bringen, daß alle Danaer es mit Augen schauen und dein Herz sich dran erfreue. Und darauf soll er selbst dich in seinem Gezelte feierlich mit einem köstlichen Mahl bewirten.« »Freudig habe ich dein Wort vernommen, Odysseus«, antwortete der Atride; »du aber, Achill, wähle dir selbst die edelsten Jünglinge aus dem ganzen Heere, daß sie dir alle Geschenke aus meinem Schiffe herbeibringen; und Talthybios, der Herold, schaffe uns einen Eber herbei, daß wir Zeus und dem Sonnengott opfern und ohne Fährde den Bund der Eintracht beschwören.« »Tut ihr, wie ihr wollt«, sprach Achill; »mir soll weder Trank noch Speise durch die Kehle gleiten, solang mir der Freund zerfleischt im Zelte daliegt. Mich verlangt nur nach Mord und Blut und Geröchel der Sterbenden!« Aber Odysseus sprach besänftigend zu ihm: »Erhabenster Held aller Griechen, du bist viel stärker als ich und viel tapferer im Speerkampf; am Rate jedoch möchte ich es dir vielleicht zuvortun, denn ich habe länger gelebt und mehr erfahren. So füge sich denn diesmal dein Herz meiner Ermahnung. Die Danaer müssen ja ihre Toten nicht mit dem Bauch betrauern; wie einer gestorben, beerdigt man ihn und beweint ihn einen Tag: wer aber entronnen ist, der stärke sich mit Trank und Speise, damit wir um so rastloser kämpfen mögen!«

So sprach er und wandelte, Nestors Söhnen, dann auch dem Meges, Meriones, Thoas, Melanippos und Lykomedes sich beigesellend, mit diesen der Lagerhütte Agamemnons zu. Dort nahmen sie die versprochenen Geschenke: sieben Dreifüße, zwölf Rosse, zwanzig Becken, sieben untadelige Weiber und die rosige Brisëis als achte. Odysseus wog die zehn Talente Goldes dar und schritt mit ihnen voran, die Jünglinge mit den andern Geschenken folgten. So stellten sie sich in den Volkskreis; Agamemnon erhub sich von seinem Sitze, der Herold Talthybios aber faßte den Eber, richtete ihn zum Opfer zu, betete und zerschnitt ihm die Kehle. Dann warf er den geschlachteten wirbelnd in die Meerflut, den Fischen zum Fraß. Nun stand Achill auf und sprach vor den Argivern: »Vater Zeus, wie große Verblendung sendest du doch oft den Männern zu! Gewiß hätte mir der Sohn des Atreus nicht den Zorn so fürchterlich im Herzen aufgeweckt oder nicht so unbeugsam mit Gewalt das Mädchen mir entführt, wenn du nicht den Tod vielen Danaern hättest bereiten wollen! Doch nun laßt uns zum Mahle gehen und uns dann zum Angriffe rüsten.«

Nachdem der Held so gesprochen, trennte sich die Versammlung. Als die Tochter des Brises, holdselig wie Aphrodite, in das Zelt ihre früheren Gebieters trat, und den Helden Patroklos mit seinen tiefen Speerwunden auf den Teppichen ausgestreckt daliegen sah, zerschlug sie sich Brust und Wangen und warf sich weinend über ihn. »Ach mein teurer Patroklos«, rief sie, »der du mein liebreichster Freund im Elende warst, blühend verließ ich dich im Zelte, tot finde ich dich wieder! So verfolgt mich immer Unheil auf Unheil. Meinen Bräutigam sah ich vor unserer Stadt vom Speer getötet, drei leibliche, herzlich geliebte Brüder riß mir derselbe Unglückstag von der Seite weg. Dennoch, als Achill meinen Freund erschlagen und meine Heimat verheert hatte, wolltest du mich nie weinen sehen; du versprachst, mich dem Peliden zu vermählen, sobald du mich auf den Schiffen nach Phthia gebracht hättest, und dort unter den Myrmidonen meine Hochzeit zu feiern. Nie werd ich aufhören, dich zu beweinen, du Freundlicher.« So sprach sie weinend, und ringsum seufzten mit ihr die gefangenen Weiber, zum Schein um den Patroklos, im Herzensgrund aber jede über ihr eigenes Elend.

Die edelsten Danaerfürsten umringten indessen den Peliden, indem sie ihn flehentlich baten, sich doch des Mahles zu erfreuen. Doch er weigerte sich dessen unter Seufzen. »Wenn ihr wirklich Liebe zu mir heget«, sprach er »so verlanget nicht, mir das Herz zu erfrischen, ihr Freunde; mein Kummer duldet es nicht. Laßt mich bleiben, wie ich bin, bis die Sonne ins Meer sinkt.« Mit diesen Worten entließ er die andern Fürsten, und nur die beiden Atriden, Odysseus, Nestor, Idomeneus und Phönix blieben zurück. Sie alle waren vergebens bestrebt, den Trauernden aufzuheitern, doch dieser blieb regungslos; und wenn er einmal sprach, so flog sein Atem schneller, und seine Rede galt dem toten Freunde. »Ach wie oft hast du mir«, sagte er,»vordem selber, wenn das Heer der Griechen zur Schlacht hinausdrang, in geschäftiger Hast das labende Frühstück nach dem Zelt gebracht! Jetzt liegst du erschlagen hier, und mich vermag von all dem reichlichen Vorrat nichts zu erquicken; Herberes hätte mich nicht treffen können, selbst nicht die Botschaft vom Tode meines Vaters Peleus oder meines lieben Sohnes Neoptolemos, der mir in Skyros erzogen wird, wenn er anders noch lebt. Früher tröstete mich immer noch die Hoffnung, ich würde allein hier sterben dürfen, du aber werdest nach Phthia heimkehren und meinen Sohn von Skyros abholen, ihn in alle meine Habe einzusetzen; denn daß mein Vater Peleus, immer den schrecklichen Boten erwartend, der ihm meinen frühen Tod zu verkündigen käme, längst von Alter und Traurigkeit niedergebeugt gestorben sei, das ahnt mir ja im Geiste.« So sprach er weinend, und die Fürsten im Kreise seufzten mit, denn jeder dachte daran, was er im eigenen Hause von Geliebten zurückgelassen. Mitleidig sah Zeus von seiner Höhe auf die Trauernden herab, wandte sich schnell zu seiner Tochter Pallas und sagte: »Kümmert sich denn dein Herz gar nicht mehr um den edlen Helden, trautes Töchterchen, der dort, während die andern zum Frühmahl hingingen, um seinen Freund wehklagend dasitzt, ohne Speise und Trank zu berühren? Auf, labe ihm sogleich die Brust mit Nektar und Ambrosia, daß ihm in der Schlacht kein Hunger nahe!«

Wie ein Adler mit breiten Flügeln schwang sich die Göttin, die längst darnach verlangt hatte, ihrem Freunde zu helfen, durch den Äther, und während das Heer sich eifrig zur Schlacht rüstete, flößte sie Nektar und Ambrosia sanft und unvermerkt in die Brust des Peliden, daß seine Knie ihm nicht im Treffen von Hunger erstarrten. Dann kehrte sie zum Palast ihres allmächtigen Vaters heim. Inzwischen drangen, Helm an Helm, Schild an Schild, Harnisch an Harnisch und Lanzen an Lanzen, die Danaer aus den Schiffen hervor; das ganze Erdreich leuchtete von Erz und dröhnte von Erz unter ihren Fußtritten. Mitten unter den Dahineilenden bewaffnete sich Achill, mit den Zähnen knirschend und Glut in den Augen wie feurige Lohe. Er ergriff das Göttergeschenk, legte zuerst Schienen und Knöchelbedeckung an, dann bekleidete er die Brust mit dem Harnisch, warf das Schwert um die Schulter und ergriff den Schild, der dem vollen Mond ähnlich durch den Äther glänzte. Hierauf setzte er den schweren Helm mit dem hohen goldenen Busch, strahlend wie ein Gestirn, aufs Haupt, und die Mähne flatterte aus gesponnenem Golde von ihm herab. Nun versuchte er sich selbst in der Rüstung, ob sie ihm auch genug anpaßte und sich die Glieder ungehemmt bewegten: und siehe, seine Waffen deuchten ihm wie Flügel und schienen ihn vom Boden emporheben zu wollen. Jetzt zog er den schweren gediegenen Speer seines Vaters Peleus, den kein anderer Danaer schwingen könnte, aus dem schönen Gehäuse; Automedon und Alkimos schirrten die Rosse ein, legten jedem den Zaum ins Maul und spannten die Zügel über den Wagensitz. In diesen sprang Automedon, die blanke Geißel fassend, und in Waffen strahlend schwang sich hinter ihm Achill auf »Ihr unsterblichen Rosse«, rief dieser dem Gespanne seines Vaters zu, »ich sag es euch, bringt mir, nachdem wir uns in der Schlacht gesättigt haben, die Helden, die ihr führet, anders ins Heer zurück, als Patroklos heimgekehrt ist, den ihr tot im Gefilde liegen ließet.« Wie der Held so sprach, ward ihm ein grauenhaftes Wunderzeichen zuteil: sein Roß Xanthos neigte das Haupt tief zur Erde, daß die wallende Mähne ganz aus dem Ringe des Joches hervordrang und bis auf den Boden hinuntersank; und von der Göttin Hera plötzlich mit Sprache begabt, erteilte es ihm unter dem Joch die traurige Antwort: »Wohl, starker Achill, führen wir jetzt dich, den Lebenden, rüstig dahin; aber der Tag des Verderbens ist dir nahe. Nicht unsere Säumnis oder Fahrlässigkeit, sondern das Verhängnis und die Allmacht der Götter hat dem Patroklos das Leben geraubt und dem Hektor Siegesruhm gegeben. Wir können mit Zephyros, dem schnellsten der Winde, um die Wette laufen und ermüden nicht. Dir aber ist vom Geschicke bestimmt, unter der Hand eines Gottes zu erliegen.« So sprach das Roß und wollte noch weitersprechen, aber die Macht der Rachegöttinnen hemmte seinen Laut, und Achill antwortete voll Unmut: »Xanthos, was redest du mir da vom Tode? Es bedarf deiner Weissagung nicht, weiß ich doch selbst, daß mich, ferne von Vater und Mutter, das Schicksal hier wegraffen wird. Doch auch so raste ich nicht, bis Trojaner genug im Kampfe erlegen sind!« So sprach er und lenkte mit lautem Ruf die stampfenden Rosse vorwärts.

Achill und Hektor vor den Toren



Achill und Hektor vor den Toren

Auf einem hohen Turme der Stadt stand der greise König Priamos und schaute nieder auf den gewaltigen Peliden, wie er die fliehenden Trojaner vor sich her trieb, ohne daß ein Gott oder ein Sterblicher erschien, ihn abzuwehren. Wehklagend stieg der König vom Turme hernieder und ermahnte die Hüter der Mauer: »Öffnet die Torflügel und haltet sie, bis alle die fliehenden Völker sich in die Stadt hereingedrängt haben, denn Achill tobt ganz nahe dem Schwarm, und mir ahnet schlimmer Ausgang. Sind sie innerhalb der Mauer, so füget mit die Flügel wohl ineinander, sonst stürmt der Verderbliche hinter ihnen durch das Tor zu uns herein!« Die Wächter schoben die Riegel zurück, die Torflügel taten sich auseinander, und eine Rettungspforte stand offen.

Während aber die Trojaner, ausgedörrt von Durst, bedeckt mit Staub, durch das Blachfeld flohen und Achill mit seiner Lanze sie wie wahnsinnig verfolgte, verließ Apollo Trojas offenes Tor, die Not seiner Schutzbefohlenen zu wenden. Er erweckte den Helden Agenor, den tapfern Sohn Antenors, und stand ihm, in dunkeln Nebel eingehüllt, an die Buche des Zeus gedrängt, selbst zur Seite. So geschah es, daß Agenor zuerst von allen Trojanern im Fliehen innehielt, sich besann und schämte und zu sich selbst sagte: ›Wer ist es, der dich verfolgt? Ist nicht auch ihm der Leib mit spitzem Eisen verwundbar, ist er nicht auch sterblich wie andere Menschen?‹ So faßte er sich in Gedanken und erwartete den heranstürmenden Achill, streckte den Schild vor und rief ihm, die Lanze schwingend, entgegen: »Hoffe nicht so schnell die Stadt der Trojaner zu verheeren, Törichter; noch gibt es Männer unter uns, die für Eltern, Weiber und Kinder ihre Feste beschirmen!« Damit entschwang er den Speer und traf die neugegossene zinnerne Knieschiene des Helden, von der die Lanze jedoch, ohne zu verwunden, abprallte. Achill stürzte sich auf den Gegner, aber Apollo entführte diesen im Nebel und wußte den Peliden selbst durch eine List von der Verfolgung abzulenken. Er selbst verwandelte sich nämlich in die Gestalt Agenors und nahm seinen Weg durch das Weizenfeld, dem Skamanderflusse zu. Achill eilte ihm fliegend nach und hoffte beständig, ihn im Laufe zu erhaschen. Indessen flüchteten die Trojaner glücklich durchs offene Tor in die Stadt, die sich bald mit gedrängten Scharen füllte: keiner wartete auf den andern, keiner schaute sich um, zu sehen, wer gerettet, wer gefallen sei; alle waren nur froh für sich selbst, sich sicher hinter den Mauern zu wissen. Da kühlten sie den Schweiß, löschten den Durst und streckten sich längs der Mauer an der Brustwehr nieder.

Doch die Griechen, Schild an Schulter, wandelten in dichten Scharen auf die Mauer zu. Von allen Trojanern war nur Hektor außerhalb des Skäischen Tores geblieben; denn sein Schicksal hatte es so geordnet. Achill aber war immer noch auf der Verfolgung Apollos begriffen, den er für Agenor hielt. Da stand plötzlich der Gott stille, wandte sich um und sprach mit seiner Götterstimme: »Was verfolgst du mich so hartnäckig, Pelide, und vergissest über mir die Verfolgung der Trojaner? Du meinest einen Sterblichen zu jagen und ranntest einem Gotte nach, den du doch nicht töten kannst.« Da fiel es wie Schuppen von den Augen des Helden, und er rief voll Ärger aus: »Grausamer, trügerischer Gott! daß du mich so von der Mauer hinweglocken konntest! Fürwahr, noch viele hätten mir im Staube knirschen müssen, ehe sie in Ilion einzogen! Du aber hast mir den Siegesruhm geraubt und sie gefahrlos gerettet, denn du hast als ein Gott keine Rache zu fürchten, wie gerne ich mich auch an dir rächen möchte!« Achill wandte sich und flog trotzigen Sinnes auf die Stadt zu, wie ein ungestümes, sieggewohntes Roß am Wagen. Ihn erblickte zuerst der greise Priamos von der Warte des Turmes herab, auf welcher der König wieder Platz genommen hatte, und er erschien ihm leuchtend, wie der ausdörrende Hundsstern am Nachthimmel dem Landmann verderbenbringend entgegenfunkelt. Der Greis schlug sich die Brust mit den Händen und rief wehklagend zu seinem Sohne herab, der außerhalb des Skäischen Tores stand und voll heißer Kampfgier auf den Peliden wartete: »Hektor, teurer Sohn, was weilest du draußen einsam und von allen andern getrennt? Willst du dich denn mutwillig dem Verderber in die Hände geben, ihm, der mir schon so viele tapfere Söhne geraubt hat? Komm herein in die Stadt, beschirme hier Trojas Männer und Frauen, verherrliche nicht den Ruhm des Peliden durch deinen Tod! Erbarme dich auch meiner, deines elenden Vaters, solange er noch atmet, meiner, den Zeus verdammt hat, an der äußersten Schwelle des Alters in Gram hinzuschwinden und so unendliches Leid mit anzuschauen! Meine Söhne werde ich sehen müssen erwürgt, meine Töchter hinweggerissen, ausgeplündert die Kammern meiner Burg, die stammelnden Kinder zu Boden geschmettert, die Schwiegertöchter fortgeschleppt. Zuletzt liege ich wohl selbst, von einem Speerwurf oder Lanzenstich ermordet, am Tore des Palastes, und die Haushunde, die ich aufgezogen, zerfleischen mich und lecken mein Blut!«

So rief der Greis vom Turme herab und zerraufte sein weißes Haar. Auch Hekabe, die Mutter, erschien an seiner Seite, zerriß ihr Gewand und rief weinend hinunter: »Hektor, gedenke, daß meine Brust dich gestillt hat; erbarme dich meiner! Wehre dem schrecklichen Manne hinter der Mauer, aber miß dich nicht mit ihm im Vorkampfe, du Rasender!«

Das laute Weinen und Rufen seiner Eltern vermochte den Sinn Hektors nicht umzustimmen; er blieb unbeweglich auf dein Platze und erwartete den herannahenden Achill. ›Damals hätte ich weichen müssen‹, sprach er in seinem Herzen, ›als mein Freund Polydamas mir den Rat gab, das Heer der Trojaner in die Stadt zurückzuführen. Jetzt, nachdem ich das Volk durch meine Betörung verderbt habe, fürchte ich mich vor den Männern und Weibern Trojas, daß nicht einer der Schlechteren mir dereinst sage: im Vertrauen auf seine eigene Stärke hat Hektor das Volk preisgegeben. Viel besser, ich siege oder falle im Kampfe mit dem Gefürchteten! – Oder wie? Wenn ich Schild und Helm jetzt zur Erde legte, meinen Speer an die Mauer lehnte, ihm entgegenginge, ihm Helena, alle Schätze, die Paris geraubt, zudem anderes Gut die Fülle anböte; wenn ich alsdann den Fürsten Trojas einen Eidschwur abnähme, nichts ingeheim zu entziehen; all unsre Schätze und Vorräte in zwei Teile zu teilen… Doch, wehe mir, was für Gedanken kommen mir ins Herz? Ich mich ihm flehend nahen? Ohne Erbarmen würde er mich, den Entblößten, niederhauen wie ein Weib! Fürwahr, es würde schön lassen, wenn ich mich zu einem traulichen Gespräche ihm beigesellen wollte, wie ein Jüngling wohl mit der Jungfrau plaudert! Besser, wir rennen aufeinander an zum Kampfe, daß es sich bald entscheiden muß, welchem von uns beiden die Olympischen den Sieg verleihen!‹ Solche Gedanken wog Hektor im Geiste ab und blieb.