Iphigenia bei den Tauriern



Iphigenia bei den Tauriern

Von Athen hatten sich die beiden Freunde, Orestes und Pylades, der erste nun wieder von seiner Schwermut genesen, nach Delphi zu dem Orakel Apollos gewendet, und dort fragte Orestes den Gott, was er weiter über ihn beschlossen hätte. Der Spruch der Priesterin lautete dahin, daß der Königssohn von Mykene die Endschaft seiner Not erreichen sollte, wenn er nach den Grenzen der taurischen Halbinsel, in die Nachbarschaft der Skythen sich begeben hätte, wo Apollos Schwester Artemis ein Heiligtum besitze. Dort sollte er das Bildnis der Göttin, das nach der Sage dieses Barbarenvolkes vom Himmel gefallen war und daselbst verehrt wurde, durch List oder andere Mittel rauben und, nach bestandenem Wagestück, dasselbe nach Athen verpflanzen, denn die Göttin sehne sich nach milderem Himmelsstriche und griechischen Anbetern, und ihr gefalle das Barbarenland nicht mehr. Wäre dieses glücklich vollführt, so sollte der landesflüchtige Jüngling am Ziele seiner Not stehen.

Pylades verließ seinen Freund auch auf dieser rauhen Wanderung nach einem gefahrvollen Ziele nicht. Denn das Volk der Taurier war ein wilder Menschenstamm, der die an seinem Ufer Gestrandeten und andere Fremde der Jungfrau Artemis zu opfern pflegte. Den gefangenen Feinden hieben sie den Kopf ab, steckten ihn an einer Stange über den Rauchfang ihrer Hütten und bestellten ihn so zum Wächter ihres Hauses, der alles von der Höhe herab für sie überschauen sollte.

Die Ursache, warum das Orakel den Orestes in dieses wilde Land unter den grausamen Völkerstamm sandte, war aber diese: Als Agamemnons und Klytämnestras Tochter auf Anraten des griechischen Sehers Kalchas, im Angesichte der Griechen, am Strande von Aulis geopfert werden sollte und der Todesstreich gefallen war, der eine Hindin anstatt der Jungfrau getroffen hatte, da stahl die erbarmungsvolle Göttin Artemis das Mägdlein aus den Blicken der Griechen weg und trug sie durch das Lichtmeer des Himmels auf ihren Armen über Meer und Land zu diesen Tauriern und ließ sie hier in ihrem eigenen Tempel nieder. Dort fand sie der König des Barbarenvolkes, Thoas mit Namen, und bestellte sie zur Priesterin des Artemistempels, wo sie im Dienste der Göttin des fürchterlichen Brauches pflegen und, wie die alte Sitte des rohen Landes heischte, jeden Fremdling, dessen Fuß dies Ufer betrat – und meistens waren es Landsleute von ihr, Griechen, die dieses jammervolle Los traf –, der Landesgöttin opfern mußte. Indessen hatte sie nur das Todesopfer einzuweihen. Niedrigere Diener der Göttin mußten dasselbe sodann in das Heiligtum hinein zur grausen Schlachtbank schleppen.

Jahre schon hatte die Jungfrau, ihres traurigen Amtes wartend, übrigens hochgehalten vom Könige und um ihrer milden, griechischen Sitte und ihrer eigentümlichen Liebenswürdigkeit willen verehrt vom Volke, fern von der Heimat und gänzlich unbekannt mit den Geschicken des Hauses, vertrauert, als es ihr einstmals in der Nachtruhe träumte, sie wohne fern von diesem Barbarenstrand im heimatlichen Argos und schlafe von den Sklavinnen des Elternhauses umringt. Da fing auf einmal der Rücken der Erde zu beben und zu zittern an, und ihr war, als flöhe sie aus dem Palaste, stände draußen und müßte sehen und hören, wie das Dach des Hauses zu wanken begann und der ganze Säulenbau, bis auf den Grund erschüttert, zu Boden rasselte. Ein einziger Pfeiler – so dünkte ihr – vom väterlichen Hause blieb übrig. Mit einem Male bekam dieser Pfeiler Menschengestalt; aus dem Säulenknauf wurde ein Haupt, von blondem Haupthaar umwachsen, und dieses fing an, in vernehmlichen Lauten zu reden, deren Inhalt jedoch der Jungfrau entfallen war, als sie wieder erwachte. Im Traume aber geschah es noch, daß sie, ihrem Fremdenmord befehlenden Amte getreu, den Menschen, der ein Pfeiler ihres Vaterhauses gewesen war, als zum Tode bestimmt, mit dem Weihwasser besprengte und dazu bitterlich weinen mußte, bis sie der Traum verließ.

Am Morgen, der auf dieselbe Nacht folgte, war Orestes mit seinem Freunde Pylades am taurischen Uferstrande ans Land gestiegen, und beide schritten auf den Tempel der Artemis zu. Bald standen sie vor dem Barbarengebäude, das eher einem Zwinger denn einem Götterhause glich, und blickten staunend an dem hohen Mauerringe empor. Endlich brach Orestes das Schweigen. »Du treuer Freund«, sprach er, »der auch dieses Weges Gefahr mit mir geteilt hat, was fangen wir an? Wollen wir den Treppenkranz, der sich um den Tempel schlingt, erklimmen? Aber wenn wir droben sind, werden wir nicht in dem unbekannten Gebäude wie in einem Labyrinthe umhertappen? Und werden nicht eherne Schlösser uns den Zugang zu den Gemächern verschließen? Würden wir aber, indem wir Einlaß suchen, indem wir öffnen, an dem Tore von den Wachen, die ohne Zweifel bei dem Heiligtum aufgestellt sind, erhascht, so sind wir des Todes. Denn das wissen wir ja, daß Griechenmord den Altar dieser unerbittlichen Göttin unaufhörlich bespritzt! Darum, wäre es nicht geratener, zu dem Schiffe zurückzukehren, dessen Segel uns hierhergebracht hat?«

»Ei«, erwiderte Pylades, »das wäre wahrlich das erste Mal, daß wir miteinander die Flucht ergriffen! Heilig soll uns der Ausspruch Apollos sein! Doch wahr ist’s, fort müssen wir von diesem Tempel! Das Klügste ist, wir verbergen uns in den dunklen Grotten, die das Meer bespült, ferne von unserem Fahrzeug, damit keiner, der es erblickt, dem Herrscher dieses Landes von uns melden könne und wir nicht von Waffengewalt, die gegen uns ausgesendet wird, übermannt werden. Wenn aber dann die Nacht anbricht, dann laß uns frisch ans Werk schreiten. Die Lage des Tempels kennen wir nun schon; irgendeine List wird uns ins Innere des Tempelraumes führen, und haben wir das Götterbild einmal auf den Armen, so ist mir vor dem Rückwege nicht mehr bange. Tapfre stürzen sich mutig in die Gefahr! Haben wir rudernd nicht einen unermeßlichen Weg zurückgelegt? Nun wäre es doch schmählich, wenn wir am Ziele umkehrten und ohne die Beute, die der Gott uns bezeichnet hat, heimkehrten!«

»Wohl gesprochen!« rief Orestes, »es geschehe, wie du rätst! Wir wollen uns verbergen, bis der Tag vorüber ist; die Nacht kröne unser Werk!«

Die Sonne stand schon höher am Himmel, als auf die Priesterin der Artemis, die an der Schwelle ihres Tempels stand, ein Rinderhirt, der mit schnellen Schritten vom Meergestade herbeigeeilt kam, zuschritt. Er brachte die Meldung, daß ein paar Jünglinge, wohlgefällige Schlachtopfer der Göttin Artemis, am Ufer gelandet seien. »Bereite nur, erhabene Priesterin«, sprach er, »je eher, je lieber das heilige Wasserbad und schicke dich zu dem Werke an!« »Was für Landsleute sind die Fremdlinge?« fragte Iphigenia traurig. »Griechen«, erwiderte der Hirt, »weiter wissen wir nichts, als daß der eine von ihnen Pylades heißt und daß sie unsre Gefangenen sind.« »Laßt hören«, fragte die Priesterin weiter, »wo geschah’s, und wie finget ihr sie?« »Wir badeten eben«, erzählte der Hirt, »unsre Rinder im Meere und warfen eins ums andere in das Wasser, das strömend durch die Felsen fällt, welche man die Symplegaden heißt. Es findet sich dort ein hohler, durchbrochener, stets vom Wasser beschäumter Felssturz, eine Grotte für die Schneckenfischer. Hier gewahrte ein Hirte von unsrer Schar zwei Jünglingsgestalten; sie kamen ihm so schön vor, daß er sie für Götter hielt und vor ihnen niederfallen wollte. Ein anderer aber, der neben ihm stand, ein frecher, ungläubiger Mensch, war nicht so töricht; er lachte, als er seinen Kameraden die Knie beugen sah, und sprach: ›Siehest du denn nicht, daß es schiffbrüchige Seeleute sind, die sich in jene Felsenkluft gelagert haben, um sich zu verbergen, weil sie voll Angst von dem Gebrauche gehört haben, daß wir hierzulande die Fremden, die an unsern Strand geraten, zu opfern pflegen?‹ Diese Rede gefiel der Mehrzahl, und wir schickten uns an, Jagd auf die Opfer zu machen. Da trat der eine der Fremdlinge zu der Felskluft heraus, schüttelte sein Haupt und warf es wild umher, Arme und Hände schlotterten ihm; laut aufstöhnend, vom Wahnsinne gepackt, rief er: ›Pylades, Pylades! siehest du dort nicht die schwarze Jägerin, den Drachen aus dem Hades, wie sie mich zu morden begehrt, wie sie mit den wilden Schlangen züngelnd auf mich zufährt? Und dort die andre, die Feueratmende, die hat ja meine eigene Mutter im Arm und drohet sie auf mich zu schleudern! Wehe mir! Sie erwürgt mich! Wie soll ich ihr entfliehen?‹ Von allen diesen Schreckbildern«, fuhr der Hirte fort, »war weit und breit nichts zu sehen, sondern er hielt wohl das Gebrüll der Rinder und das Hundgebell für Stimmen der Erinnyen. Uns aber faßte alle ein Schrecken, zumal da der Fremdling sein Schwert von der Seite zog und sich wie rasend auf die Rinderschar warf und ihnen das Eisen in die Bäuche stieß, daß sich bald die Meeresflut rot färbte. Endlich ermannten wir uns, bliesen mit unsern Muscheln das Landvolk zusammen und nahten uns den bewaffneten Fremdlingen in einem geschlossenen Haufen. Der Rasende, den die Zuckungen des Wahnsinns allmählich verlassen hatten, stürzte nun, am Mund von Schaume triefend, zu Boden. Wir alle wandten uns ihm zu mit Werfen und Schleudern, während sein Genosse ihm den Schaum abwischte und seinen eigenen Mantel ihm gewandt um den Leib schlug. Bald aber sprang der Darniedergeworfene mit vollem Bewußtsein wieder auf und wehrte sich seines Lebens. Zuletzt jedoch mußten sie der Überzahl weichen, wir umschlossen sie in einem Kreise; die wiederholten Steinwürfe machten, daß ihnen die Waffen aus den Händen fielen und ihre Knie ermattet zu Boden sanken. Nun bemächtigten wir uns ihrer und geleiteten sie zu Thoas, dem Beherrscher des Landes. Dieser hatte sie kaum zu Gesichte bekommen, als er auch schon befahl, die Gefangenen dir als Todesopfer zuzusenden. Flehe nur, o Jungfrau, daß du recht viel solche Fremdlinge abzuschlachten bekommst, denn es scheinen recht herrliche Griechen zu sein. Tötest du solcher viele, so büßt Griechenland deine Todesangst nach Gebühr, und du bist gerächt dafür, daß sie dich in der Bucht von Aulis umbringen wollten!«

Der Hirte schwieg und erwartete die Befehle der Priesterin, die ihm auch wirklich auftrug, die Fremdlinge zu holen. Als sich Iphigenia allein sah, sprach sie zu sich selber: ›O Mein Herz, sonst warest du doch immer barmherzig gegen die Fremdlinge, schenktest gerne deinen Stammgenossen eine Träne, sooft dir griechische Männer in die Hände fielen! Nun aber, seit der Traum dieser Nacht mir die bittre Ahnung eingeflößt hat, daß mein geliebter Bruder Orestes das Licht der Sonne nicht mehr sieht – nun sollet ihr alle, die ihr nahet, mich grausam finden! Sind doch die Unglücklichen den Beglückten immer abhold! O ihr Griechen, die ihr mich wie ein Lamm zum Opferherde schlepptet, wo mein eigener Vater der Schlächter war! Ha, nie vergesse ich diese Schreckenszeit! Ja wenn Zeus mir mit frischen Winden den Mörder Menelaos einmal herbeiführen wollte und die trügerische Helena…‹

Sie ward in ihrem Selbstgespäch unterbrochen durch das Herannahen der Gefangenen, die in Fesseln zu ihr geführt wurden. Als sie dieselben kommen sah, rief sie denen, die sie brachten, entgegen: »Lasset den Fremden die Hände frei; die heilige Weihe, die sie empfangen sollen, spricht sie von allen Banden los. Dann gehet in den Tempel und bestellet alles, was dieser Fall erfordert!« Hierauf wandte sie sich zu den Gefangenen und redete sie an: »Sprechet, wer ist euer Vater, eure Mutter, wer eure Schwester, wenn ihr eine habt, die, jetzt eines so schmucken, stattlichen Bruderpaares beraubt, allein in der Welt stehen soll? Woher kommt ihr, bejammernswürdige Fremdlinge? Ihr hattet wohl eine weite Fahrt bis zu diesen Ufern. Doch bereitet euch zu einer weiteren; denn jetzt geht eure Fahrt hinunter ins Schattenreich!«

Ihr erwiderte Orestes: »Wer du auch immer seiest, o Weib, was beklagst du uns? Wer das Henkerbeil schwingt, dem steht es übel an, sein Opfer zu trösten, ehe er den Streich führt; und wem der Tod ohne Hoffnung droht, dem will auch das Jammern nicht geziemen. Keine Tränen, weder von dir noch von uns! Laß das Geschick ergehen!«

»Welcher von euch beiden ist Pylades? Das lasset mich zuerst wissen!« fragte nun die Priesterin. »Dieser hier!« sprach Orestes, indem er auf seinen Freund hindeutete. »Seid ihr Brüder?« »Durch Liebe«, antwortete Orestes, »nicht durch Geburt!« »Wie heißest denn aber du?« »Nenne mich einen Elenden«, erwiderte er; »am besten ist’s, ich sterbe namenlos; dann werd ich doch nicht zum Gespötte!« – Die Priesterin verdroß sein Trotz, und sie drang in ihn, ihm wenigstens seine Vaterstadt zu nennen. Als der Name Argos im Ohr klang, zuckte es ihr durch die Glieder, und sie rief heftig: »Bei den Göttern, Freund, stammst du wirklich dorther?« »Ja«, sprach Orestes, »von Mykene, wo mein Haus einst beglückt war.« »Wenn du von Argos kommst, Fremdling«, fuhr Iphigenia mit gespannter Erwartung fort, »so bringst du wohl auch Nachrichten von Troja mit? Ist’s wahr, daß es spurlos vertilgt ist? Kam Helena zurück?« »Ja, beides ist so, wie du fragst!« »Wie geht’s dem Oberfeldherrn? Agamemnon, deucht mich, hieß er, der Sohn des Atreus?« Orestes schauderte bei dieser Frage: »Ich weiß nicht«, rief er mit abgewandtem Haupte. »Sprich mir von diesem Gegenstande nicht, o Weib!« Aber Iphigenia bat ihn mit so weicher, flehender Stimme um Nachricht, daß er nicht zu widerstehen vermochte. »Er ist tot«, sprach er, »durch die Gemahlin starb er grausenhaften Todes!« Ein Schrei des Entsetzens entfuhr der Priesterin der Artemis. Doch faßte sie sich und fragte weiter: »Sprich nur das noch: Lebt des armen Mannes Weib?« »Nicht mehr«, war die Antwort, »ihr eigener Sohn hat ihr den Tod gegeben; er übernahm das Rächeramt für seinen ermordeten Vater; doch gehet es ihm schlimm dafür!« »Lebt noch ein anderes Kind Agamemnons?« »Zwei Töchter, Elektra und Chrysothemis.« »Und was weiß man von der Ältesten, die geopfert ward?« »Daß eine Hindin an ihrer Statt starb, sie selbst aber spurlos verschwunden ist. Auch sie ist wohl schon lange tot!« »Lebt der Sohn des Gemordeten noch?« fragte die Jungfrau ängstlich. »Ja«, sprach Orestes, »doch im Elend, vertrieben, überall und nirgends!« »O trügerische Träume, weichet!« seufzte Iphigenia vor sich hin. Dann hieß sie die Diener sich entfernen, und als sie mit den Griechen allein war, sprach sie flüsternd zu ihnen: »Vernehmet etwas, Freunde, das zu eurem und meinem Vorteil dient, wenn wir einig sind. Ich will dich retten, Jüngling, wenn du mir ein Briefblatt in deine und meine Heimat Mykene, an die Meinigen gerichtet, nehmen willst!« »Ich mag mich nicht retten ohne den Freund«, antwortete Orestes; »ich bin ein Unglücklicher, von dem er nicht gewichen ist. Wie sollte ich ihn in der Todesnot verlassen?« »Edler, brüderlich gesinnter Freund!« rief die Jungfrau. »O wäre mein Bruder wie du! Denn wisset, Fremdlinge, auch ich habe einen Bruder, nur daß er ferne aus meinen Augen ist. – Aber beide kann ich euch nicht entlassen: das duldet der König nimmermehr. Stirb denn du und laß deinen Pylades ziehen; welcher von euch mir das Blatt besorgt – mir gilt es gleich!« »Wer wird mich opfern?« fragte Orestes. »Ich selbst; auf Befehl der Göttin«, antwortete Iphigenia. »Wie, du, das schwache Mädchen, schwingst auf Männer dein Schwert?« »Nein, ich benetze nur mit dem Weihwasser deine Locken! Die Tempeldiener sind’s, die das Schlachtbeil schwingen. Dein verbranntes Gebein empfängt sodann ein Felsenschild.« »O daß mich meine Schwester bestattete!« seufzte Orestes. »Das ist freilich nicht möglich«, sagte die Jungfrau gerührt, »wenn deine Schwester im fernen Argos weilt. Doch, lieber Landsmann, sorge nicht, ich will deinen Scheiterhaufen löschen und mit Öl und Honig beträufeln und deine Gruft ausschmücken, als wäre ich deine leibliche Schwester! Jetzt aber laß mich gehen, die Zuschrift an die Meinen zu bestellen!«

Wie die Jünglinge allein, nur in der Ferne von Dienern bewacht waren, hielt sich Pylades nicht länger: »Nein«, rief er, »bei deinem Tode leben kann ich nicht! Diese Schmach verlange nicht von mir. Ich muß dir in den Tod folgen, wie ich dir aufs weite Meer gefolgt bin. Phokis und Argos würden mich der Feigheit zeihen. Alle Welt – denn böse ist die Welt – würde sagen, um die Heimat mir zu gewinnen, hätte ich dich verraten, dich getötet, dir nach dem Reich, nach dem Erbe getrachtet, zumal da ich dein künftiger Schwager bin und um deine Schwester Elektra ohne Mitgift gefreit habe. Jedenfalls also will ich, muß ich mit dir sterben!« Orestes wollte nichts von diesem Entschlusse hören, und noch stritten sie, als Iphigenia, das beschriebene Blatt in der Hand, zurückkehrte. Als sie den Empfänger Pylades hatte geloben lassen, daß er den Brief gewiß den Ihrigen abliefern wolle, und dagegen geschworen, ihn zu retten, besann sich die Jungfrau, und auf den Fall, daß das Schreiben durch irgendeinen Unglücksfall von der See verschlungen würde, während der Überbringer mit dem Leben davonkäme, wollte sie ihm den Inhalt überdies auch noch mündlich mitteilen. »Melde«, sprach sie, »dem Orestes, dem Sohne des Agamemnon: Iphigenia, die in Aulis vom Opferherde entrückt wurde, lebt und bestellet an dich, was folgt.« »Was höre ich«, fiel ihr Orestes ins Wort, »wo ist sie? Steht sie von den Toten auf?« »Hier steht sie«, sagte die Priesterin; »doch störe mich nicht! – ›Lieber Bruder Orestes! Ehe ich sterbe, hole mich aus der fernen Barbarei nach Argos; erlöse mich vom Opferherd, an dem ich im Dienste der Göttin die Fremdlinge morden muß. Tust du es nicht, Orestes, so seien du und dein Haus verflucht!‹«

Die beiden Freunde konnten lange vor Staunen keine Worte finden, bis zuletzt Pylades das Blatt aus ihren Händen nahm und gegen den Freund gewendet, ihm den Brief überreichend, ausrief: »Ja, ich will den Eid auf der Stelle halten, den ich geleistet. Da nimm, Orestes, ich händige dir das Schreiben ein, welches die Schwester Iphigenia dir überschickt.« Orestes warf es auf den Boden und umschlang die Wiedergefundene mit den Armen. Sie wollte ihm wehren, sie konnte es nicht glauben, bis Erzählungen aus der innersten Geschichte des Atridenhauses ihn ihr als denjenigen beglaubigten, als der er von Pylades bezeichnet ward. »O Geliebtester!« rief die Jungfrau jetzt, »denn das bist du und nichts anderes, du der Meine, der Meine, der einzige, der Bruder! Aus dem geliebten Argos kommend! Wie jugendlich zart warest du, als ich dich verließ, im Arme des Pflegers ruhend, sorglos und glücklich! Ja, glücklich, wie wir beide in diesem Augenblick es sind.« – Doch Orestes war schon zur Besinnung gekommen, und sein Antlitz hatte sich umwölkt. »Freilich sind wir jetzt glücklich«, sprach er, »aber wie lange wird es währen? Ist nicht der Jammer, der Untergang uns gewiß?« Auch Iphigenia bedachte sich voll Unruhe: »Was ersinne ich nun«, sagte sie bebend, »wie erlöse ich dich aus dem Reiche des Barbarenfürsten, wie sende ich dich frei vom Tode nach Argos zurück, daß du nicht mitsamt deinem Freunde am Opferherde dem Stahl erliegen mußt? Aber schnell, ehe der Herr dieses Reiches, ungeduldig über den verzögerten Tod der Gefangenen, erscheint, erzähle mir, Bruder, und verschweige mir nichts von den entsetzlichen Ereignissen in unsrem unglücklichen Hause.«

Orestes meldete ihr mit gedrängten Worten alles, wie es sich begeben, und schloß das Fürchterliche mit einer guten Kunde, mit der Verlobung Elektras und seines Freundes. Während der Erzählung hatte sich die Jungfrau, so ganz sie Ohr war, doch auch mit der Rettung ihres geliebten Bruders im Geiste beschäftigt, und zuletzt hatte sich ihr ein glücklicher Gedanke dargeboten. »Ich habe«, rief sie, »endlich den rechten Weg erdacht. Dein Seelenleiden, das sich bei eurer Gefangennehmung am Strande noch einmal regte, soll mir zum Vorwande bei dem König dienen. Du kommest, sage ich ihm, wie denn dies die Wahrheit ist, als Muttermörder von Argos. Deswegen seiest du unrein und noch nicht entsündiget, um als angenehmes Opfer der Göttin dargebracht zu werden. Erst müsse ein Wasserbad im Meere die Blutspur abwaschen, welche deinem Leibe noch von dem entsetzlichen Mord anklebe. Und weil du, im Tempel der Göttin dargestellt, ihr Bild als Schutzflehender berührt habest, so sei auch dieses verunreinigt worden und bedürfe einer Reinigung in der Meeresflut. Da nun mir, der Priesterin, allein vergönnt ist, das heilige Bildnis zu berühren, so trage ich selbst dasselbe auf meinen Armen und in eurer Begleitung – denn auch dich, Pylades, nenne ich als Teilhaber der Blutschuld, wie du es denn auch in der Tat warest – an den Meeresstrand, dort wo euer Schiff in der Bucht versteckt vor Anker liegt. Dies alles soll durch Überredung des Königes geschehen; denn hintergehen ließe sich der Wachsame nicht. Das weitere Gelingen des Planes, wenn wir einmal am Schiff angekommen sind, ist eure Sache, ihr Freunde!«

Dies alles war zwischen den Geschwistern und ihrem Freund im Vorhofe des Tempels verhandelt worden, ferne von den Dienern und Wachen. Jetzt wurden die Gefangenen den Aufsehern wieder übergeben, und Iphigenia führte sie in das Innere des Tempels. Nicht lange darauf erschien Thoas, der König des Landes, mit einem ansehnlichen Gefolge und fragte nach der Tempelwächterin, denn der Verzug gefiel ihm nicht, und er konnte nicht begreifen, warum die Leiber der Fremdlinge nicht schon lange auf dem Hochaltare der Göttin brannten. Wie er nun eben vor dem Tempel angekommen war, trat Iphigenia zu den Pforten desselben heraus und trug die Bildsäule der Göttin auf den Armen. »Was ist das, Agamemnons Tochter«, rief der König erstaunt, »warum trägst du dieses Götterbild von dem heiligen Gestelle in deinen Armen fort?« »Es ist Abscheuliches geschehen, o Fürst!« erwiderte die Priesterin mit bewegter Miene, »die Opfer, die am Strande erjagt worden, sind nicht rein; das Standbild der Göttin, als sie sich ihm näherten, es schutzflehend zu umfangen, drehte sich freiwillig auf seinem Sitze und schloß die Augenlider. Wisse, dieses Paar hat Grauenhaftes verübt.« Und nun erzählte sie dem Könige, was im wesentlichen Wahrheit war, und stellte das Verlangen an ihn, die Fremdlinge samt dem Bilde entsündigen zu dürfen. Um ihn recht sicher zu machen, verlangte sie, daß die Fremden wieder gefesselt und ihre Häupter als Frevler vor dem Strahl der Sonne verhüllt würden; auch begehrte sie Sklaven zur Sicherheit, die im Gefolge des Königs erschienen waren. Nach der Stadt – auch dies hatte die Jungfrau schlau in ihrem Sinne ausgedacht – sollte der Fürst einen Boten senden, der den Bürgern befehle, sich, bis die Entsündigung vorüber sei, innerhalb der Mauern zu halten, um von der verpestenden Blutschuld nicht angesteckt zu werden. Der König selbst sollte in ihrer Abwesenheit im Tempel bleiben und für die Ausräucherung des gesamten Gewölbes besorgt sein, damit die Priesterin dasselbe nach ihrer Rückkehr gereinigt wiederfinde. Sobald die Fremden aus dem Tore des Tempels träten, sollte der König sein Antlitz ins Gewand hüllen, damit der Greuel sich ihm nicht mitteilen könnte. »Und wenn es dir«, schloß die Priesterin ihren Antrag, »auch dünken sollte, als säumte ich lang am Meeresstrande; werde darum nicht ungeduldig, o Herrscher; bedenke, welchen großen befleckenden Frevel es zu entsündigen gilt!«

Der König willigte in alles und verhüllte sich das Haupt, als bald darauf Orestes und Pylades aus dem Tempel geführt wurden, und es währte nicht lange, so war Iphigenia mit den Gefangenen und einigen Trabanten des Königes auf dem Wege zum Meeresufer aus dem Gesichtskreise des Tempels verschwunden. Thoas begab sich in das Innere desselben und ließ dort die von der Priesterin gebotene Räucherung vornehmen, die bei der Größe des Gebäudes eine geraume Zeit erforderte.

Nach mehreren Stunden kam ein Bote vom Meeresufer dahergeeilt! »Treulose Weiberseelen!« fluchte er vor sich hin, als er erhitzt und keuchend vor der Tempelpforte stand und an das verschlossene Tor pochte. »Holla, ihr Leute drinnen«, schrie er, »öffnet die Riegel; tut dem Herrn zu wissen, daß ich als Überbringer schlimmer Neuigkeit vor dem Tore stehe!« Die Türflügel öffneten sich, und Thoas selbst trat aus dem Tempel. »Wer ist’s«, sprach er, »der mit seinem Lärm den Frieden dieses heiligen Hauses zu stören sich herausnimmt?« »Vernimm, o König, welche Botschaft ich dir bringe«, hub der Diener an. »Die Priesterin des Tempels, dieses Griechenweib, ist mitsamt den Fremden und dem Standbild unserer erhabenen Schutzgöttin aus dem Lande entronnen! Das ganze Entsündigungsfest war eine Lüge!« »Was sagst du?« rief der König, der Unmögliches zu hören glaubte. »Welcher böse Geist hat dieses Weib ergriffen? Wer ist es, mit dem sie flieht?« »Ihr Bruder Orestes«, erwiderte der Bote; »derselbe, den sie hier dem Opfertode geweiht zu haben schien. Hör die ganze Geschichte, und dann sinne auf Mittel, wie wir die Flüchtigen verfolgen und beifahen, denn ihre Fahrt ist lang, und dein Speer kann sie schon noch erreichen! Als wir ans Gestade des Ozeans gelangt waren, wo das Schiff des Orestes vor Anker lag, winkte Iphigenia uns, die wir die Fremdlinge in Fesseln daherführten, haltzumachen, damit wir dem heiligen Brandopfer und der beschlossenen Feier fernblieben. Sie selbst nahm den Fremden die Fesseln ab, hieß sie vorangehen und trug sie, ihnen folgend. Zwar schien uns dieses schon etwas verdächtig, indessen glaubten deine Diener, o Herr, es sich doch gefallen lassen zu müssen. Hierauf, damit es schien, als würde mit der Sühnungshandlung wirklich der Anfang gemacht, sang die Priesterin Zauberformeln ab und sprach in fremden Weisen allerlei Gebete. Wir aber hatten uns gelagert und harrten. Endlich kam uns der Gedanke, das entfesselte Paar könnte die wehrlose Frau getötet haben und entsprungen sein. Wir machten uns daher auf und eilten der Felsenbucht zu, die uns den Anblick der Priesterin und der Fremdlinge entzogen hatte. Als wir dicht an den Felsenstrand gelangt waren, sahen wir ein Griechenschiff auf dem Wasserspiegel schwebend und an fünzig Ruderer auf seinen Bänken; am Hinterteile des Schiffes, noch auf dem Ufer standen die beiden Fremden, der Fesseln entledigt; die einen lichteten die Anker und hängten sie ein, andere schlugen Zugbrücken, wanden an den Tauen, ließen Leitern für die Fremdlinge nieder. Da besannen wir uns denn freilich nicht länger; wir hatten das ganze Truggewebe vor uns und ergriffen das Weib, das auch noch am Strande verweilte. Orestes aber, sein Geschlecht und Vorhaben laut verkündend, wehrte sich mit Pylades für seine Schwester, die wir schleifend zwingen wollten, uns zu folgen. Da weder wir noch die Fremdlinge Schwerter hatten, so setzte es einen hartnäckigen Faustkampf. Indessen zwangen uns die Griechenjünglinge zum Rückzuge, da auch die Schützen vom Hinterteile des Schiffes uns mit Pfeilen aus der Ferne scharf zusetzten. Zu gleicher Zeit warf eine mächtige Meereswoge das Schiff ans Land, und es fehlte wenig, so wäre es gescheitert. Da nahm Orestes Iphigenien auf den Arm, die selbst das Bild in den Händen trug, sprang ins Wasser und schnell die Leiter des Schiffes hinan. Dort legte er die Schwester mitsamt dem Himmelsbilde der Artemis auf dem Verdecke nieder. Ihm nach war Pylades gesprungen, und als alle glücklich im Schiffe sich befanden, brach das Schiffsvolk in dumpfen Jubel aus und ruderte frisch durch die salzige Flut. Solange das Schiff durch die Hafenbucht fuhr, glitt es in sanftem Laufe dahin; als es aber in die offene See gelangt war, sauste ein Windstoß auf dasselbe herein und trieb es, trotz aller Anstrengungen der Ruderer, an das Gestade zurück. Da sprang Agamemnons Tochter flehend empor und rief laut: »Tochter Letos, jungfräuliche Artemis, du selbst verlangtest ja durch das Orakel deines Bruders Apollo nach Griechenland, rette mich mit dir dorthin, mich, deine Priesterin, und vergib mir den kühnen Betrug, den ich mir gegen den Beherrscher dieses Landes erlaubt habe, dem ich gezwungen so lange dienen mußte. Du selbst ja hast auch einen Bruder und liebst ihn, du Himmlische! drum sieh auch unsere Geschwisterliebe gnädig an!« Zu diesem Gebete der Jungfrau stimmten, die entblößten Arme ums Ruder geschlungen, die Schiffer alle den flehenden Gesang, Päan genannt, an, wie ihnen befohlen ward. Dennoch trieb das Schiff immer mehr an den Strand, und ich bin geradenweges hierhergeeilt, um dir zu melden, was sich am Ufer dort begeben. Darum sende du nur auf der Stelle Fangstricke und Fesseln ans Gestade; denn wenn das brausende Meer nicht bald ruhig wird, so ist den Fremdlingen jeder Weg zur Flucht versperrt. Der Meeresgott Poseidon denkt mit Zorn an die Zerstörung seiner Lieblingsstadt Troja zurück; er ist ein Feind aller Griechen, und des Atridengeschlechts insbesondere. So wird er denn, wenn mich nicht alles trügt, die Kinder Agamemnons heute in deine Gewalt geben!«

Mit Ungeduld hatte der König Thoas das Ende des langen Berichtes abgewartet und ließ nun auf der Stelle an alle Bewohner seines rauhen Küstenlandes den Befehl ergehen, die Rosse aufzuzäumen, dem Meeresstrande zuzusprengen, das Griechenschiff, wenn es durch die Wellen ans Land geschleudert wäre, zu fassen und unter dem Beistande der Göttin Artemis die flüchtigen Verbrecher einzufangen. Das Fahrzeug sollte mit allen Ruderern versenkt werden, die beiden Fremdlinge aber mit der treulosen Priesterin wollte er vom schroffen Felsen ins Meer hinabstürzen oder bei lebendigem Leib mit dem Pfahle spießen lassen.

Und schon jagte er an der Spitze seines riesigen Volkes dem Meeresufer zu, als plötzlich eine himmlische Erscheinung den Zug hemmte und den König wider Willen stillezustehen zwang. Pallas Athene, die erhabene Göttin, war es, deren Riesengestalt, von einer lichten Wolke umgeben, über der Erde schwebend, dem Heereszuge den Weg vertrat und deren Götterstimme wie Donner über die Häupter der Taurier hinrollte: »Wohin, wohin jagest du, König Thoas, erhitzt und atemlos mit deinem Volke? Schenke den Worten einer Göttin Gehör! Laß die Haufen deines Heeres ruhen, laß meine Schützlinge frei abziehen! Das Verhängnis selbst hat, durch den Ausspruch Apollos, den Orestes hierhergerufen, daß er, von den Furien befreit, seine Schwester ins Vaterland zurückgeleite und das heilige Bildnis der Artemis in meine geliebte Stadt Athen bringe, wohin sie selbst begehret hat! Die Flüchtlinge trägt deswegen Poseidon, der Meeresgott, mir zulieb auf unbewegter Meeresfläche in ihrem Ruderschiffe dahin, und Orestes wird in Athen der taurischen Artemis Bild in einem heiligen Hain und neuen, herrlichen Tempel aufstellen, und Iphigenia wird auch dort ihre Priesterin sein, dort sterben, dort ihre fürstliche Gruft finden. Du, o Thoas, und du Volk der Taurier, gönnt ihnen allen ihr Geschick und zürnet nicht!«

Der König Thoas war ein frommer Verehrer der Götter. Er warf sich vor der Erscheinung nieder und sprach anbetend: »O Pallas Athene! Wer Götterwort vernimmt und sein Ohr nicht ihm zuneiget, der denkt verkehrt. Kampf mit allmächtigen Göttern bringt keine Ehre. Mögen deine Schützlinge mit dem Bildnis der Göttin ziehen, wohin sie wollen; mögen sie das Bild glücklich in deinem Reiche aufstellen. Ich senke meine Lanze vor den Göttern. Laßt uns umwenden und in die Mauern unserer Stadt zurückkehren.«

Es geschah, wie Athene verkündet hatte. Die taurische Artemis erhielt ihren Tempel und behielt ihre Priesterin Iphigenia in Athen. Orestes setzte sich zu Mykene als beglückter König auf den Thron seiner Väter und gewann mit der einzigen, lieblichen Tochter des Menelaos und der Helena, Hermione, die vergebens an Neoptolemos, den Sohn des Achill, verlobt worden war und die ihm der Bräutigam mit Verlust seines eigenen Lebens lassen mußte, auch das Königreich Sparta, und zuvor noch hatte er Argos erobert. So besaß er ein mächtigeres Reich, als je sein Vater besessen. Seine Schwester Elektra setzte ihr Gemahl Pylades auf den Thron von Phokis. Chrysothemis starb unvermählt; Orestes selbst erreichte ein Alter von neunzig Jahren. Da regte sich der alte, erlöschende Fluch der Tantaliden noch einmal: eine Schlange stach ihn in die Ferse, daß er starb.

Jammer Achills



Jammer Achills

Antilochos fand den Helden vorn an den Schiffen nachdenklich sitzend, im Geiste das Geschick übersinnend, dessen Vollendung er noch nicht kannte. Als er die Griechen aus der Ferne flüchtig herannahen sah, sprach er unmutig zu sich selbst: ›Wehe mir, was schwärmen doch die Achiver voll Angst durchs Gefilde den Schiffen wieder zu? Werden doch die Götter nicht mir zum Grame das Unglück verwirklichen, das meine Mutter mir einst verkündigt hat, daß der tapferste der Myrmidonen, solang ich noch lebte, das Leben durch die Hand der Trojaner lassen müsse!‹

Während er noch solches erwog, kam Antilochos weinend mit der Schreckensbotschaft und rief ihm schon von ferne zu: »Wehe mir, Pelide, möchte es doch nie geschehen sein, was du jetzt vernehmen mußt. Unser Patroklos ist gefallen; sie kämpfen um seinen nackten Leichnam, die Waffen hat ihm Hektor abgezogen.« Nacht wurde es vor den Augen Achills, als er dieses hörte; mit beiden Händen griff er nach dem schwarzen Staube und bestreute Haupt, Antlitz und Gewand. Dann warf er sich selbst, so riesig er war, zu Boden und raufte sich das Haupthaar aus. Jetzt stürzten auch die Sklavinnen, die Achill und Patroklos erbeutet hatten, aus dem Zelte hervor, mit wankenden Knien rannten sie herbei, als sie ihren Herrn zu Boden gestreckt sahen; und da sie innewurden, was geschehen war, schlugen sie wehklagend an ihre Brust. Auch Antilochos vergoß bittre Tränen, jammernd und die Hände des Helden festhaltend; denn er fürchtete, dieser möchte sich mit dem Schwerte die Kehle durchstechen.

Achill selbst heulte so fürchterlich in die Lüfte hinaus, daß seine Mutter im Abgrunde des Meeres, neben ihrem grauen Gatten sitzend, die Stimme des Weinenden vernahm und selber so laut zu schluchzen anfing, daß ihre silberne Grotte sich bald mit den Nereiden füllte, die alle zugleich an die Brust schlugen und die Wehklage mit der Schwester begannen. »Wehe mir Armen«, rief diese ihren Geschwistern zu, »wehe mir unglücklicher Mutter, daß ich einen so edeln, so tapfern, so herrlichen Sohn gebar! Er wuchs empor wie eine Pflanze von Gärtnershand gepflegt, dann sandt ich ihn zu den Schiffen gen Troja; aber nie sehe ich ihn wieder, nie kehrt er in den Palast des Peleus zurück; und solange er das Sonnenlicht noch sieht, muß er solche Qual dulden, und ich kann ihm nicht helfen! Dennoch will ich mein geliebtes Kind zu schauen gehen, will hören, welcher Kummer ihn betraf, während er ungefährdet vom Kampfe bei den Schiffen sitzt!« So sprach die Göttin und stieg mit den Schwestern durch die gespaltenen Wogen hinan zum Gestade, tauchte bei den Schiffen ans Land und eilte dem schluchzenden Sohne zu. »Kind, was weinst du«, rief sie, indem sie unter Wehklagen sein Haupt umschlang, »wer betrübt dir dein Herz? Rede, verhehle mir nichts! Ist es doch alles geschehen, wie du gewollt hast: die Männer Griechenlands sind um die Schiffe zusammengedrängt und schmachten trostlos nach deiner Hilfe!« Endlich begann Achill unter schweren Seufzern: »Mutter, was hilft mir das, seit mein Patroklos, der mir lieb war wie mein Haupt, in den Staub gesunken ist! Meine eigenen köstlichen Waffen, das Ehrengeschenk, das dem Peleus die Götter bei deiner Hochzeit dargebracht, hat ihm sein Mörder Hektor vom Leibe gezogen. O wohntest du doch lieber immer im Meere und hätte Peleus ein sterbliches Weib, so müßtest du nicht unsterbliches Leid tragen um deinen gestorbenen Sohn; denn nie kehrt er zur Heimat wieder! Ja das Herz selbst verbietet mir, lebend umherzuwandeln, wenn mir nicht Hektor, von meiner Lanze durchbohrt und sein Leben aushauchend, den Raub meines Patroklos büßt!« Weinend antwortete Thetis: »Ach, nur allzubald verblüht dir das Leben, mein Sohn; denn gleich nach Hektor ist dir dein eigenes Ende bestimmt.« Aber Achill rief voll Unmut: »Möchte ich doch auf der Stelle sterben, da das Schicksal mir nicht vergönnt hat, meinen gemordeten Freund zu verteidigen! Ohne meine Hilfe, fern von der Heimat, mußte er sterben; was frommt den Griechen nun mein kurzes Leben? Kein Heil habe ich dem Patroklos, kein Heil unzähligen erschlagenen Freunden gebracht. Bei den Schiffen sitz ich, eine unnütze Last der Erde, so schlecht im Gefecht wie kein anderer Achiver; im Rate besiegen mich ohnedem andere Helden. Verflucht sei der Zorn bei Göttern und Menschen, der zuerst dem Herzen süß eingeht wie Honig und bald wie eine Feuerflamme in der Mannesbrust emporwächst!« Und plötzlich fuhr er, sich ermannend, fort: »Doch Vergangenes sei vergangen: ich gehe, den Mörder des geliebtesten Hauptes zu erschlagen, den Hektor. Mag mein Los mir werden, wann Zeus und die Götter es wollen, wird doch manche Trojanerin über mir mit beiden Händen sich die Tränen des Jammers von der Rosenwange trocknen, und zitternde Seufzer werden ihrer Brust entsteigen. Die Trojaner sollen merken, daß ich lange genug vom Kriege gerastet habe! Verwehre mir den Kampf nicht, liebe Mutter!«

»Du hast recht, mein Kind«, antwortete ihm Thetis, »nur daß deine strahlende Rüstung in der Gewalt der Trojaner ist und Hektor selbst in ihr sich brüstet. Doch soll er nicht lange darin frohlocken; denn in aller Frühe, sobald die Sonne aufgeht, bringe ich dir neue Waffen, die Hephaistos selbst geschmiedet. Nur geh mir nicht früher in die Schlacht, als bis du mich mit eigenen Augen zurückkommen sahest.« So sprach die Göttin und hieß ihre Schwestern in den Schoß des Meeres wieder hinabtauchen. Sie selbst eilte hinauf zum Olymp, den Gott der Feuerarbeit Hephaistos aufzusuchen.

In dieser Zeit ereilte den Leichnam des Patroklos, den die Freunde davontrugen, der Kampf der Trojaner noch einmal, und Hektor kam ihm, gleich daherstürmendem Feuer, so nahe, daß er ihn dreimal hinten am Fuße faßte, um ihn wegzuziehen, und dreimal die beiden Ajax ihn von dem Toten hinwegstoßen mußten. Nun wütete er seitwärts durchs Schlachtengewühl, hielt dann wieder von neuem stand und schrie laut auf; zurückweichen wollte er nimmermehr. Vergebens bestrebten sich die beiden gleichnamigen Helden, ihn von dem Leichnam abzuschrecken, wie Hirten bei Nacht umsonst einen hungrigen Berglöwen vom Leibe des zerrissenen Rindes zu verscheuchen bemühet sind. Und wirklich hätte Hektor zuletzt die Leiche geraubt, wäre nicht Iris auf Heras Befehl mit der Botschaft zu dem Peliden geflogen, sich von Zeus und den andern Göttern ungesehen heimlich zu bewaffnen. »Aber wie soll ich denn zur Schlacht gehen«, fragte erwidernd Achill die Götterbotin, »da die Feinde meine Rüstung haben? Auch hat mir meine Mutter alle Bewaffnung verboten, bis ich sie selbst mit einer neuen Rüstung von Hephaistos zurückkehren sehen würde. Ich weiß niemand, dessen Waffen mir gerecht wären, es müßte denn der Riesenschild des Ajax sein; aber der hat und braucht ihn selber zum Schutze meines erschlagenen Freundes!« »Wohl wissen wir«, antwortete ihm Iris, »daß du deiner herrlichen Waffen beraubt bist, aber nahe dich einstweilen nur so dem Graben, wie du bist, und erscheine den Trojanern: vielleicht stehen sie vom Kampfe ab, wenn sie dich von fern erblicken, und den Griechen ist Erholung gegönnt.«

Als Iris wieder entflogen war, erhub sich der göttliche Achill. Athene selbst hängte ihm ihren Ägisschild um die Schulter und umgab sein Gesicht mit überirdischem Glanze. So trat er schnell durch Wall und Mauer zum Graben; doch mischte er sich, der mütterlichen Warnung eingedenk, nicht in den Kampf, sondern blieb von ferne stehen und schrie, und in seinen Ausruf mischte sich der Ruf Athenes, daß er wie eine Kriegsposaune ins Ohr der Trojaner tönte. Als sie die eherne Stimme des Peliden vernahmen, füllte sich ihr Herz mit unheilvoller Ahnung, und Wagen und Rosse wandten sich rückwärts; mit Grauen sahen die Lenker um das Haupt des Peliden die Flamme brennen, und vor seinem dreifachen Schrei vom Graben her zerstob dreimal das Schlachtgewühl der Troer; und zwölf ihrer tapfersten Männer fielen in dem Gewühl unter den Wagen und Lanzen ihrer eigenen Freunde. Jetzt war Patroklos den Geschossen entrissen; die Helden legten ihn auf Betten, und voll Wehmut umringten den Leichnam die Freunde. Als Achill seinen treuen Genossen von den Speeren zerfleischt auf der Bahre liegen sah, mischte er sich zum ersten Male wieder unter die Griechen und warf sich mit heißen Tränen über den Leichnam. Die untergehende Sonne beleuchtete das jammervolle Schauspiel.

Juno facht Krieg an. Amata. Turnus. Die Jagd der Trojaner



Juno facht Krieg an. Amata. Turnus. Die Jagd der Trojaner

Dieses Glück des Äneas konnte seine Feindin Juno nicht mit gleichgültigen Augen betrachten. Sie rief die Furie Alekto aus der Unterwelt herauf, um die Eintracht im Keime zu zerstören. Diese schwebte zuerst nach Latium und nahm Besitz von dem stillen Gemache der Amata; sie warf der Königin, der ohnedem schon peinliche Sorgen über das Herannahen der Trojaner und die ersehnte Vermählung ihrer Tochter Lavinia mit dem Rutulerfürsten Turnus das Herz zernagten, heimlich aus ihrem Schlangenhaare eine der Nattern auf die Brust, damit sie, von diesem Scheusal angefressen, das ganze Haus in Verwirrung bringe. Die Schlange verwandelte sich sofort in Amatas goldenen Halsring, in ihren langen Schleier, ihr Lockengeschmeide und durchschlüpfte und umirrte ihr so alle Glieder. Zu gleicher Zeit träufelte sie unvermerkt ihr Gift auf die Haut, und dieses fing an, den Leib zu durchrieseln. Solang es noch nicht bis ins Mark der Gebeine durchgedrungen war, zeigte sich noch nicht seine volle Wirkung. Es äußerte sich nicht anders, als wie natürliche Gemütsbewegungen sich zu offenbaren pflegen; Amata fing an zu weinen und über die Vermählung ihrer Tochter zu klagen: ›Grausamer Gatte‹, sagte sie zu sich selbst, ›du hast weder mit mir noch mit deiner Tochter Mitleid! Wo ist deine frühere Sorge um die Deinigen, wo das heilige Wort, das du so oft deinem Blutsverwandten Turnus gegeben hast? An heimatlose Flüchtlinge verschenkst du unser Kind!‹

Solche Klagen richtete sie auch an ihren Gemahl selbst. Aber als sie ihn fest und unwiderruflich auf seinem Beschlusse beharren sah, da erst durchströmte sie das Schlangengift der Furie ganz, und sie tobte wie wahnsinnig durch die Stadt. Nun war Alekto zufrieden und hatte hier das Werk, das ihr Juno aufgetragen, vollbracht. Sofort schwang sie sich in die Hauptstadt der Rutuler, welche die Geliebte Jupiters, Danaë, gegründet haben soll und die von alters her den Namen Ardea führte. Hier fand sie im Innersten des Königspalastes den Fürsten Turnus in tiefem Schlafe. Da legte Alekto ihre Furienkleider ab und nahm die Gestalt eines alten Weibes an, mit häßlichen Runzeln auf der Stirne und unter dem Schleier hervorquellenden grauen Haaren, um welche sich ein Olivenzweig schlang, so daß sie ganz und gar der greisen Calybe, der Tempelpriesterin Junos, glich. In dieser Gestalt trat sie vor den schlummernden Jüngling und sprach: »Ist es auch möglich, Turnus, kannst du ohne Zorn es mit ansehen, wie alle deine Hoffnung vereitelt und der Zepter, der dich erwartete, an trojanische Landfahrer verschenkt wird? Mich sendet Juno selbst zu dir: du sollst dein Volk waffnen, sollst zum freudigen Kampf aus den Toren ziehen, am Strande den Phrygiern ihre bunten Schiffe verbrennen und sie selbst vertilgen!« Lachend erwiderte im Traume der Jüngling: »Alte, daß die Trojanerflotte in die Tiber eingelaufen ist und Juno meiner gedenkt, wußte ich schon längst; das andere sind Schreckbilder, mit denen dich dein Alter quält. Warte du der Götterbilder und des Tempels! Krieg und Frieden laß den Mann betreiben!«

Die Furie durchbebte ein Zorn bei diesen Worten, und der Jüngling empfand ihren Schauer auf der Stelle. Er hörte das Zischen ihrer Hydern, sein Blick erstarrte, und er wollte noch mehreres erwidern, als die nächtliche Gestalt, plötzlich übermenschlich groß geworden, den Aufgerichteten mit einem Stoß aufs Lager zurückwarf, aus dem Haare zwei Schlangen hervorzog, mit ihnen wie mit einer Peitsche zu klatschen anfing und dazu mit schäumendem Munde sprach: »Meinst du noch, ich sei ein kraftloses altes Weib und verstehe mich nicht auf den Zwist der Könige? Erkenne die Rachegöttin in mir, die Krieg und Tod in ihrer Hand trägt!« In diesem Augenblicke warf sie ihre Fackel, die der Jüngling in ihrer Furienhand geschwungen sah, ihm auf die offenliegende Brust, so daß der schwarze, qualmende Brand sich fest in sein Fleisch heftete. Seine Glieder und Gebeine überströmte ein Schweiß. »Waffen!« schnaubte er noch in der Besinnungslosigkeit des Schlafes; Waffen suchte er erwacht in seinem Bette, erstanden in seinem Hause; rasende Kriegswut tobte in seiner Brust, wie die Welle in einem siedenden Kessel unter dem Reisigfeuer aufhüpft. Sobald der Morgen angebrochen war, beschickte er die Häuptlinge seines Volkes und hieß sie zu den Waffen gegen den treulosen König Latinus greifen und sich zum Kampf gegen beide, Latiner und Trojaner, rüsten.

Während so Turnus den Mut seiner Landsleute stachelte, flog die Furie zuletzt auch noch an den Tiberstrand, wo Julus mit seinen Begleitern in den dichten Uferwäldern eben dem Wild auf die Jagd nachging. Hier beseelte Alekto die Spürhunde mit plötzlicher Wut, berührte ihre Nasen mit dem bekannten Geruch und jagte sie ganz hitzig einem Hirsche nach. Dieses Wild war besonders herrlich und von Geweihen hoch; die Knaben des Tyrrhus, welcher der Oberhirte über die Herden des Königs Latinus war, hüteten sein, denn es war vom Euter seiner Mutter weggenommen und in den Wäldern des Königs aufgefüttert worden. Die Tochter des Tyrrhus, Silvia, hatte das Tier ganz an ihre Befehle gewöhnt, sie kämmte es, wusch es in lauterer Waldquelle und schmückte seine Hörner mit weichen Blumenkränzen; es ließ sich willig von ihr streicheln, war an den Tisch seines Herrn gewöhnt, irrte frei in den Wäldern umher und stellte sich jeden Abend freiwillig in der Wohnung des königlichen Hüters.

Auf die Spur dieses schönen zahmen Hirsches führte die Furie des Askanius Rüden, während das Tier eben den heißen Ufersand, nach Kühlung begehrend, verlassen hatte und den Tiberstrom hinabschwamm. Askanius faßte das herrliche Wild ins Auge, drückte den Pfeil vom Bogen ab und sandte ihn tief in das Gedärme des Hirsches. Der Verwundete fuhr aus dem Wasser, kam blutig zum wohlbekannten Hause seines Herrn, schleppte sich ächzend in den Stall und erfüllte wie ein um Mitleid Flehender das ganze Haus mit Gewinsel an. Jammernd entdeckte zuerst Silvia ihren Liebling und rief mit lautem Geschrei die Bauern der Umgegend zu Hilfe. Diese kamen mit angebrannten Pfählen und Keulen bewaffnet, Tyrrhus selbst rief seinen Gesellen herzu, der just eine stämmige Eiche mit dem Beil spaltete; und als Alekto den rechten Zeitpunkt ersehen, stellte sie sich auf den Giebel des Hofgebäudes und ließ durch das gewundene Horn den lauten Hirtenruf in die Gegend hinaustönen. Von allen Seiten strömte jetzt tobendes Bauernvolk herbei, aber auch dem Askanius kam die trojanische Mannschaft zu Hilfe. Bald waren es auf der andern Seite auch nicht mehr bloß mit Prügeln bewaffnete Haufen. Es hatten sich zwei ordentliche Schlachtreihen gebildet; Schwerter wurden gezogen, Bogen gespannt.

Der erste Pfeilschuß von seiten der jagenden Trojaner, die sich gegen die anstürmenden Feinde zur Wehr setzten, traf den ältesten Sohn des Tyrrhus, Almo, in die Kehle, daß ihm Stimme und Leben zugleich schwand. Nun begann ein allgemeines Gemetzel unter den Hirten. Der ehrlichste und begütertste Bauer in ganz Latium, der alte Galäsus, der fünf Rinder- und fünf Schafherden besaß und hundert Pflüge über seine Äcker gehen hatte, war aus den Scharen des Bauernvolkes hervorgetreten, um den Frieden zu vermitteln; aber er wurde nicht angehört, und ein Pfeilregen bedeckte ihn, unter dem er sterbend erlag. Jetzt stürzten die überwältigten Hirten aus dem Kampfe in die Stadt und trugen ihre Erschlagenen, den Almo, den Galäsus und viele andere, wehklagend durch die Tore. Sie riefen die Götter laut um Hilfe an, eilten auf den Königspalast zu und versammelten sich um Latinus, ihren Herrn.

Auch Turnus fand sich schreiend und tobend ein, mit der lauten Anklage, daß die Herrschaft des Landes an die Trojaner verraten werde. So umringten sie alle, in Klagen und Lärm wetteifernd, die Königsburg des Alten. Dieser aber stand unbeweglich wie ein Fels im Meere. Dennoch vermochte er dem blinden Toben in die Länge nicht Widerstand zu leisten. »Wehe mir«, rief er endlich, »ich fühl es wohl, uns reißt der Sturm fort! Armes Volk, du wirst, gegen den Willen der Götter kämpfend, diesen Frevel mit deinem eigenen Blute büßen! Auch du, Turnus, wirst dem Strafgerichte des Himmels nicht entgehen! Ich aber glaubte schon im Hafen zu sein und hoffte in Ruhe zu enden, nun gönnt ihr mir nicht einmal einen friedlichen Tod!«

Der Götterkönigin Juno, der Feindin Trojas, dauerte der Verzug zu lange. In der Latinerstadt stand ein Tempel des Krieges mit zwiefachen Pfosten, von hundert ehernen Riegeln verschlossen; sein Hüter ist Janus, der uralte Städtegott der Latiner. Wenn die Häupter des Volkes blutigen Kampf auf Leben und Tod beschließen, so öffnet der König selbst im feierlichen Kriegsgewande die knarrenden Pfosten. Dieses zu tun ermahnte das Volk jetzt auch seinen König Latinus; er aber weigerte sich dieses gräßlichen Dienstes und verbarg sich in die tiefste Einsamkeit seines Palastes. Da schwang sich Juno selbst vom Himmel hernieder, stieß mit eigener Götterhand an die widerstrebenden Pfosten, drehte die Angeln, und donnernd fuhren die ehernen Pforten des Kriegstempels auseinander.

Kadmos



Kadmos

Kadmos war ein Sohn des phönizischen Königes Agenor, ein Bruder der Europa. Als Zeus, in einen Stier verwandelt, diese entführt hatte, sandte ihr Vater den Kadmos und dessen Brüder aus, sie zu suchen, und ohne sie erlaubte er ihnen nicht wieder zurückzukommen. Lange hatte Kadmos vergebens die Welt durchirrt, ohne des Zeus Schliche entdecken zu können. Als er die Hoffnung verloren hatte, seine Schwester wieder aufzufinden, scheute er seines Vaters Zorn, wandte sich an das Orakel des Phöbos Apollo und forschte, welches Land er inskünftige bewohnen sollte. Apollo gab ihm die Weisung: »Du wirst ein Rind auf einsamen Auen treffen, das noch kein Joch geduldet hat. Von diesem sollst du dich leiten lassen, und an dem Platze, wo es im Grase ruhen wird, erbaue Mauern und nenne die Stadt Theben.« Kaum hatte Kadmos die Kastalische Höhle verlassen, wo Apolls Orakel war, als er schon auf der grünen Weide eine Kuh sich bedächtig ergehen sah, die noch kein Zeichen der Dienstbarkeit um den Nacken trug. Lautlos zu Phöbos betend, folgte er mit langsamen Schritten den Spuren des Tieres. Schon hatte er die Furt des Kephissos durchwatet und war über eine gute Strecke Landes gekommen, als auf einmal das Rind stillestand, sein Gehörn gen Himmel streckte und die Luft mit Brüllen erfüllte; dann schaute es rückwärts nach der Schar der Männer, die ihm folgte, und kauerte sich endlich im schwellenden Grase nieder.

Voll Dankes warf sich Kadmos auf der fremden Erde nieder und küßte sie. Hierauf wollte er dem Zeus opfern und hieß die Diener sich aufmachen, um ihm Wasser aus lebendigem Quell zum Trankopfer zu holen. Dort war ein altes Gehölz, das noch von keinem Beile jemals ausgehauen worden war; mitten darin bildete durch zusammengefügtes Felsgestein, mit Gestrüppe und Strauchwerk verwachsen, eine Kluft, reich an Quellwasser, ein niedriges Gewölbe. In dieser Höhle versteckt ruhte ein grausamer Drache. Weithin sah man seinen roten Kamm schimmern, aus den Augen sprühte Feuer, sein Leib schwoll von Gift, mit drei Zungen zischte er und mit drei Reihen Zähne war sein Rachen bewaffnet. Wie nun die Phönizier den Hain betreten hatten und der Krug, niedergelassen, in den Wellen plätscherte, streckte der bläuliche Drache plötzlich sein Haupt weit aus der Höhle und erhub ein entsetzliches Zischen. Die Schöpfurnen entglitten der Hand der Diener, und vor Schrecken stockte ihnen das Blut im Leibe. Der Drache aber verwickelte seine schuppigen Ringe zum schlüpfrigen Knäuel, dann krümmte er sich im Bogensprunge, und über die Hälfte aufgerichtet schaute er auf den Wald herab. Darauf reckte er sich gegen die Phönizier aus, tötete die einen durch seinen Biß, die andern erdrückte er mit seiner Umschlingung, noch andere erstickte sein bloßer Anhauch, und wieder andere brachte sein giftiger Geifer um.

Kadmos wußte nicht, warum seine Diener solange zauderten. Zuletzt machte er sich auf, selbst nach ihnen zu schauen. Er deckte sich mit dem Felle, das er einem Löwen abgezogen hatte, nahm Lanze und Wurfspieß mit sich, dazu ein Herz, das besser war als jede Waffe. Das erste, was ihm beim Eintritt in den Hain aufstieß, waren die Leichen seiner getöteten Diener, und über ihnen sah er den Feind mit geschwollenem Leibe triumphieren und mit der blutigen Zunge die Leichname belecken. »Ihr armen Genossen«, rief Kadmos voll Jammer aus, »entweder bin ich euer Rächer oder der Gefährte eures Todes!« Mit diesen Worten ergriff er ein Felsstück und sandte es gegen den Drachen. Mauern und Türme hätte wohl der Stein erschüttert, so groß war er. Aber der Drache blieb unverwundet, sein harter schwarzer Balg und die Schuppenhaut schirmten ihn wie ein eherner Panzer. Nun versuchte es der Held mit dem Wurfspieß. Diesem hielt der Leib des Ungeheuers nicht stand, die stählerne Spitze stieg tief in sein Eingeweide nieder. Wütend vor Schmerz drehte der Drache den Kopf gegen seinen Rücken und zermalmte dadurch die Stange des Wurfspießes, aber das Eisen blieb im Leibe stecken. Ein Streich vom Schwerte steigerte noch seine Wut, der Schlund schwoll ihm auf, und weißer Schaum floß aus dem giftigen Rachen. Aufrechter als ein Baumstamm schoß der Drache hinaus, dann rannte er mit der Brust wieder gegen die Waldbäume. Agenors Sohn wich dem Anfalle aus, deckte sich mit der Löwenhaut und ließ die Drachenzähne an der Lanzenspitze sich abmüden. Endlich fing das Blut an, denn Untier aus dem Halse zu fließen, und rötete die grünen Kräuter umher; aber die Wunde war nur leicht, denn der Drache wich jedem Stoß und Stiche aus und verstattete den Streichen nicht, fest zu sitzen. Zuletzt jedoch stieß ihm Kadmos das Schwert in die Gurgel, so tief, daß es hinterwärts in einen Eichbaum fuhr und mit dem Nacken des Ungeheuers zugleich der Stamm durchbohrt wurde. Der Baum wurde von dem Gewichte des Drachen krummgebogen und seufzte, weil er seinen Stamm von der Spitze des Schweifes gepeitscht fühlte. Nun war der Feind überwältigt.

Kadmos betrachtete den erlegten Drachen lange; als er sich wieder umsah, stand Pallas Athene, die vom Himmel herniedergefahren war, zu seiner Seite und befahl ihm, sofort die Zähne des Drachens als Nachwuchs künftigen Volkes in aufgelockertes Erdreich zu säen. Er gehorchte der Göttin, öffnete mit dem Pflug eine breite Furche auf dem Boden und fing an, die Drachenzähne, wie ihm befohlen war, die Öffnung entlang auszustreuen. Auf einmal begann die Scholle sich zu rühren, und aus den Furchen hervor blickte zuerst nur die Spitze einer Lanze, dann kam ein Helm hervor, auf welchem ein farbiger Busch sich schwenkte, bald ragten Schulter und Brust und bewaffnete Arme aus dem Boden, und endlich stand ein gerüsteter Krieger da, vom Kopf bis zum Fuße der Erde entwachsen. Dies geschah an vielen Orten zugleich, und eine ganze Saat bewaffneter Männer wuchs vor den Augen des Phöniziers empor.

Agenors Sohn erschrak und war gefaßt darauf, einen neuen Feind bekämpfen zu müssen. Aber einer von dem erdentsprossenen Volke rief ihm zu: »Nimm die Waffen nicht, menge dich nicht in innere Kriege!« Sofort holte dieser auf einen der ihm zunächst aus der Furche hervorgekommenen Brüder mit einem Schwertstreich aus; ihn selbst streckte zu gleicher Zeit ein Wurfspieß nieder, der aus der Ferne geflogen kam. Auch der, welcher ihm den Tod gegeben, verhauchte unter einer Wunde den kaum empfangenen Lebensatem bald wieder. Der ganze Männerschwarm tobte in fürchterlichem Wechselkampfe; fast alle lagen mit zuckender Brust auf dem Boden, und die Mutter Erde trank das Blut ihrer eben erst geborenen Söhne. Nur fünf waren übriggeblieben. Einer davon – er ward später Echion genannt – warf zuerst auf Athenes Geheiß die Waffen zur Erde und erbot sich zum Frieden; ihm folgten die anderen.

Mit dieser fünf erdentsprossenen Krieger Hilfe baute der phönizische Fremdling Kadmos die neue Stadt, dem Orakel des Phöbos gehorsam, und nannte sie, wie ihm befohlen war, Theben.

Kampf des Achill mit dem Stromgotte Skamander



Kampf des Achill mit dem Stromgotte Skamander

Als die Fliehenden und ihr Verfolger an die Flut des wirbeldrehenden Skamander gekommen waren, teilte sich die Flucht. Ein Teil warf sich stadtwärts auf das Blachfeld, wo am vorigen Tage Hektor als Sieger die Griechen getummelt hatte. Über sie breitete Hera ein dichtes Gewölk aus und hinderte sie so, weiterzufliehen. Die andern aber, hart an das Gewässer des Stromes gedrängt, stürzten sich in seine tosenden Wirbel hinab, daß die Gestade ringsumher widerhallten. Dort schwammen sie durcheinander wie Heuschrecken, die man mit Feuer ins Wasser gescheucht hat; so füllte sich mit einem Gewirre von Rossen und Männern der ganze Fluß. Da lehnte der Pelide seine Lanze an einen Tamariskenbaum des Ufers und stürzte sich, das Schwert allein in der Hand, wie ein Gott ihnen nach. Bald rötete sich das Wasser von Blut, und unter seinen Streichen erhub sich hier und dort ein Röcheln aus den Wellen; er wütete wie in einer Hafenbucht ein ungeheurer Delphin, der von den andern Fischen verschlingt, welchen er erhascht. Als ihm allmählich vom Morden die Hände starr wurden, ergriff er doch noch zwölf Jünglinge lebendig im Strome; er zog sie, der Sinne halb schon beraubt, heraus und übergab sie den Seinigen: sie sollten bei seinem Zelt als Sühnopfer für den Tod seines Freundes Patroklos fallen.

Als der Held nun wieder in den Strom stürzte, nach neuem Würgen sich sehnend, begegnete ihm, eben aus den Fluten aufstrebend, Lykaon, der Sohn des Priamos, und Achill stutzte bei dem Anblick. Ihn hatte einst bei einem früheren nächtlichen Überfalle der Pelide im Obsthaine seines Vaters Priamos überrascht, wo er gerade wilde Feigensprossen zu einem Sesselrande seines Wagens schnitt. Damals entführte ihn Achill mit Gewalt und sandte ihn zu Schiffe nach der Insel Lemnos, wo der Sohn des Iason, Euneos, ihn als Sklaven an sich kaufte. Als nun ein anderer Sohn des Iason, Eëtion, Fürst von Imbros, seinen Halbbruder zu Lemnos besuchte, kaufte er den feinen Jüngling diesem um teures Geld ab und sandte ihn nach seiner Stadt Arisbe. Nachdem Lykaon hier einige Zeit gelebt, schlich er sich heimlich von dannen und rettete sich nach Troja. Es war der zwölfte Tag, daß er aus der Gefangenschaft zurückgekehrt war und jetzt zum zweiten Male dem Achill in die Hände fiel. Wie dieser ihn mit wankenden Knien kraftlos aus dem Strome hervortauchen sah, sprach er staunend zu sich selber: ›Wehe mir, welch Wunder muß ich erblicken! Gewiß werden jetzt auch die andern Trojaner, die ich erschlagen habe, aufs neue aus der Nacht hervorkriechen, da dieser wiederkommt, den ich vor langer Zeit nach Lemnos verkauft habe. Nun, wohlan, mag er die Spitze unserer Lanzen kosten und es dann versuchen, ob er auch aus dem Boden zurückkehren kann!‹ Doch ehe Achill recht mit dem Speere zielen konnte, hatte sich Lykaon heraufgeschwungen, umschlang ihm mit der einen Hand die Knie und faßte mit der andern seine Lanze. »Erbarme dich meiner, Achill«, rief er, »war ich doch einst deinem Schutze anvertraut! Damals trug ich dir hundert Stiere ein, jetzt will ich mich dreimal so hoch lösen! Erst seit zwölf Tagen bin ich in der Heimat, nach langer Qual der Gefangenschaft, aber Zeus muß mich wohl hassen, daß er mich von neuem in deine Hand gegeben. Doch töte mich nicht; ich bin ein Kind Laothoes und kein leiblicher Bruder des Hektor, der dir deinen Freund gemordet hat.« Aber Achill faltete die Stirn, und mit unbarmherziger Stimme sprach er: »Schwatze mir nicht von Lösung, du Tor; ehe Patroklos starb, war mein Herz zu schonen willig, jetzt aber entflieht keiner dem Tode. So stirb denn auch du, mein Guter; sieh mich nicht so kläglich an! Ist doch auch Patroklos gestorben, der viel herrlicher war als du. Und betrachte mich selbst, wie schön und groß ich von Gestalt bin; dennoch, ich weiß es gewiß, wird auch mich das Verhängnis von Feindeshand ereilen, sei’s am Morgen, am Mittag oder am Abend!« Lykaon ließ zitternd den Speer fahren, als er ihn so reden hörte, saß mit ausgebreiteten Händen und empfing den Stoß des Schwertes in den Hals. Achill faßte den Gemordeten am Fuße, schleuderte ihn in den Strudel des Flusses und rief ihm höhnend nach: »Laß sehen, ob der Strom dich rette, dem ihr vergebens so viele Sühnopfer gebracht habt.«

Über diese Worte ergrimmte der Stromgott Skamander, der ohnedem auf Seite der Trojaner war, und erwog bei sich im Geiste, wie er den gräßlichen Helden in seiner Arbeit hemmen und die Plage von seinen Schützlingen abwenden könnte. Achill sprang indessen mit seiner Lanze auf Asteropaios den Päonier, den Sohn des Pelegon, ein, der, zwei Speere in den Händen, eben aus dem Strome stieg. Diesem hauchte der Flußgott Mut in die Seele, daß er mit Ingrimm das erbarmungslose Gemetzel des Peliden überblickte und kühn auf den Mordenden zueilte. »Wer bist du, der es wagt, mir entgegenzugehen?« rief Achill ihm zu, »nur die Kinder unglückseliger Eltern begegnen meiner Kraft.« Ihm antwortete Asteropaios: »Was fragst du nach meinem Geschlechte? Der Enkel des Stromgottes Axios bin ich, Pelegon hat mich gezeugt; vor elf Tagen bin ich mit meinen Päonen als Bundesgenosse Trojas erschienen. Jetzt aber kämpfe mit mir, hoher Achill!« Da erhub der Pelide seine Lanze; der Päonier aber warf zwei Speere zugleich, einen mit jeder Hand, denn er konnte die linke wie die rechte brauchen: der eine brach das Schildgewölbe des Peliden, ohne den Schild selbst zu brechen, der andere streifte ihm den rechten Arm am Ellenbogen, daß das Blut hervorrieselte. Jetzt erst schwang Achill seine Lanze, aber sie verfehlte den Gegner und fuhr bis zur Hälfte ins Ufer. Dreimal zog Asteropaios mit seiner nervigen Hand an ihr, ohne sie aus dem Boden herausreißen zu können. Als er das vierte Mal ansetzte, überfiel ihn Achill mit dem Schwert und hieb ihn in den Leib, daß alles Gedärme hervordrang und er röchelnd auf die Erde sank. Der Pelide zog ihm jauchzend die Rüstung ab und ließ den Leichnam den Aalen zur Uferbeute liegen; dann stürzte er sich unter die Päonier, die noch voll Angst an dem Flusse umherflogen. Ihrer sieben hatte sein Schwert erschlagen, und noch wollte er unter ihnen fortwüten, als plötzlich Skamander, der zürnende Beherrscher des Stromes, in Menschengestalt aus dem tiefen Strudel ernportauchte und dem Helden zurief. »Pelide, du wütest mit entsetzlichen Taten, mehr als ein Mensch! Meine Gewässer sind voll von Toten; mit Mühe ergießen sich meine Ströme ins Meer, laß ab!« »Ich gehorche dir, denn du bist ein Gott«, antwortete Achill, »aber darum wird mein Arm nicht vom Morde der Trojaner rasten, bis ich sie in die Stadt zurückgejagt und meine eigene Kraft mit der Kraft Hektors gemessen habe.« So sprach er und stürzte sich auf die flüchtigen Reihen der Trojaner, drängte sie aufs neue dem Ufer zu, und als sie sich ins Wasser retteten, sprang, den Befehl des Gottes vergessend, auch er wieder in den Strudel. Nun fing der Strom an, wütend zu schwellen, regte seine trüben Fluten auf, warf die Getöteten mit lautem Gebrüll ans Gestade; seine Brandung schlug schmetternd an den Schild des Peliden. Dieser, mit den Füßen wankend, faßte eine Ulme mit den Händen, riß sie aus den Wurzeln und klomm über ihre Äste ans Ufer. Nun flog er über das Gefilde hin, aber der Flußgott rauschte ihm mit der tosenden Welle nach und erreichte ihn, so rasch er war. Und sooft er ihm widerstehen wollte, bespülten die Wogen ihm die Schultern und raubten ihm den Boden unter den Füßen. Da klagte der Held gen Himmel: »Vater Zeus, erbarmt sich denn keiner der Ewigen meiner, mich aus der Gewalt des Stroms zu retten? Betrogen hat mich meine Mutter, als sie weissagte, daß mir der Tod durch Apolls edles Geschoß bereitet sei. Hätte mich doch Hektor getötet, der Starke den Starken! So aber soll ich des schmählichsten Todes in den Fluten sterben, wie der Knabe eines Sauhirten, der im Winter durch den Sturzbach watet und fortgerissen wird!«.

Wie er so jammerte, gesellten sich Poseidon und Athene in Menschengestalt zu ihm, faßten ihn bei der Hand und trösteten ihn, denn nicht sei ihm vom Schicksale bestimmt, in den Strom zu sinken. Die Götter schieden wieder, aber Athene füllte ihn mit Kraft, daß er hoch mit den Knien aus der Flut sprang und das Gefilde wiedergewann. Aber noch immer ließ Skamander von seinem Zorne nicht ab, vielmehr bäumte er sich mit immer höherer Brandung und rief laut seinem Bruder Simois zu: »Komm, Bruder, laß uns beide zusammen die Gewalt dieses Mannes da bändigen; sonst wirft er uns heute noch die Feste des Priamos in den Staub! Auf, hilf mir! Nimm die Quellen des Gebirges zu dir, ermuntere jeden Gießbach, hebe deine Flut hoch, rolle Steinblöcke daher! Nicht seine Kraft, nicht seine Rüstung soll ihn verteidigen: tief im Sumpfe soll diese liegen, mit Schlamm bedeckt. Ihn selbst verschütte ich mit Muscheln, Kies und Sand, daß die Argiver selbst seine Gebeine in dem Wust nicht mehr finden können. So türme ich ihm selbst sein Denkmal auf, und die Danaer brauchen ihm für kein Rasengrab zu sorgen!« Unter diesem Zurufe rauschte er mit Schaum, Blut und Leichen auf den Helden daher, daß bald seine Welle sich über ihm bäumte, indes auch der Strom Simois aus der Ferne sich herbeimachte.

Hera selbst, voll inniger Angst um ihren Liebling, schrie laut, als sie dieses sah. Dann sprang sie schnell zu Hephaistos: »Lieber hinkender Sohn, nur deine Flammen sind dem gewaltigen Strome gewachsen: bringe dem Peliden deine Hilfe; ich selbst will den West- und Südwind vom Meergestade erregen, daß sie die schreckliche Glut bis ins Heer der Trojaner hineintragen. Du aber zünde die Bäume am Gestade des Flusses an und durchlodere ihn selbst; laß dich durch keine Schmeichelei und durch keine Drohung zurückschrecken, Glut muß die Vertilgung im Zaume halten!« Auf ihr Wort durchflog die Flamme des Hephaistos das Gefild, und zuerst verbrannte sie die Leichname der Troer, die von Achills Hand gefallen waren. Dann wurde das Feld ganz trocken und das Wasser gehemmt. Am Ufer fingen die Ulmen, die Weiden, die Tamarisken und alles Gras zu brennen an; schon schnappten die Aale und andere Fische, angstvoll und matt von dem Glutanhauche, nach frischem Wasser. Endlich wogte der Strom selbst in lichten Flammen, und Skamander, der Gott, rief wimmernd aus seinen Fluten hervor: »Glutatmender Gott, ich begehre nicht, mit dir zu kämpfen, laß uns vom Streite ruhen; was geht mich die Fehde der Trojaner und des Achill an!« So klagte er, während seine Gewässer sprudelten, wie Fett im Kessel über der Flamme brodelt. Endlich wandte er sich laut wehklagend an die Göttermutter und rief. »Hera, warum quält denn dein Sohn Hephaistos meinen Strom so entsetzlich? Hab ich doch nicht mehr verschuldet als die andern Götter alle, soviel ihrer den Trojanern beistehen; jetzt aber will ich ja gerne ruhig sein, wenn du es befiehlst; nur sollte auch er mich in Ruhe lassen!« Da begann Hera zu ihrem Sohn: »Halt ein, Hephaistos, martere mir den unsterblichen Gott nicht länger um der Sterblichen willen!« Jetzt löschte der Feuergott seine Flamme, der Strom rollte in seine Ufer zurück, und der ferne Simois gab sich auch zufrieden.

Kampf um die Mauer



Kampf um die Mauer

Der Graben und die Mauer, welche die Griechen um ihre Schiffe her breit aufgetürmt hatten, war ohne ein Festopfer den Göttern zum Trotze von ihnen gebaut worden. Deswegen sollte sie ihnen auch nicht zum Schutze dienen und nicht lange unerschüttert bestehen. Schon jetzt, wo Troja im zehnten Jahre seiner Belagerung schmachtete, beschlossen Poseidon und Apollo, den Bau dereinst zu vertilgen, die Bergströme auf sie hereinzuleiten und das Meer gegen sie zu empören. Doch sollte dies erst nach der Zerstörung Trojas ins Werk gesetzt werden.

Jetzt aber war Getümmel und Schlacht rings um den gewaltigen Bau entbrannt, und die Argiver drängten sich, bange vor Hektors Wut, bei den Schiffen eingehegt. Dieser rannte wie ein Löwe im Gewühl umher und muntere die Seinigen auf, den Graben zu durchrennen. Das aber wollte kein Rossegespann ihm wagen. Am äußersten Rande des Grabens angekommen, bäumten sich alle unter lautem Gewieher zurück; denn er war zu breit zum Sprunge und zu abschüssig von beiden Seiten zum Durchgang, dazu mit dicht gereihten spitzen Pfählen bepflanzt. Nur die Fußvölker versuchten daher den Übergang. Als dies Polydamas sah, ging er mit Hektor zu Rate und sprach: »Wir wären alle verloren, wenn wir es mit den Rossen wagen wollten, und kämen ruhmlos in der Tiefe des Grabens um. Lasset deswegen die Wagenlenker die Rosse hier am Graben hemmen, uns selbst aber in den ehernen Waffen eine Fußschar bilden, unter deiner Führung über den Graben setzen und den Wall durchbrechen.«

Hektor billigte diesen Rat. Auf seinen Befehl sprangen alle Helden von den Wagen, mit Ausnahme der Lenker; sie scharten sich in fünf Ordnungen: die erste unter Hektor und Polydamas, die andere unter Paris, die dritte führten Helenos und Deïphobos, der vierten gebot Äneas; an der Spitze der Bundesgenossen schritten Sarpedon und Glaukos. Diese Fürsten alle aber hatten andere bewährte Helden zur Seite. Von den sämtlichen Streitern wollte nur Asios seinen Wagen nicht verlassen. Er wandte sich mit demselben zur Linken, wo die Achajer selbst beim Bau einen Durchgang für ihre eigenen Rosse und Streitwagen gelassen hatten. Hier sah er die Flügel des Tores offen; denn die Griechen harrten, ob nicht noch ein verspäteter Genosse käme, der, dem Treffen entflohen, Rettung im Lager suchte. So lenkte Asios die Rosse gerade auf den Durchgang los, und andere Trojaner folgten ihm zu Fuße mit lautem Geschrei nach. Aber am Eingang waren zwei tapfere Männer aufgestellt, Polypötes, der Sohn des Peirithoos, und Leonteus. Diese standen am Tore, hohen Bergeichen gleich, die mit langen und breiten Wurzeln in den Boden eingesenkt in Sturm und Regenschauer unverrückt aushalten. Plötzlich stürzten diese beiden auf die hereinstürmenden Trojaner vor, und zugleich flog ein Schwall von Steinen von den festen Türmen der Mauer herab.

Während Asios und die ihn umringenden verdrießlich den unvermuteten Kampf bestanden und viele erlagen, kämpften andere, zu Fuß über den Graben stürmend, um andere Tore des griechischen Lagers. Die Argiver waren jetzt auf die Beschirmung ihrer Schiffe beschränkt; und die Götter, soviel ihrer ihnen halfen, trauerten herzlich, vom Olymp herabschauend. Nur die zahlreichste und tapferste Schar der Trojaner, unter Hektor und Polydamas, verweilte noch unschlüssig am jenseitigen Rande des Grabens, den sie eben erstiegen; denn vor ihren Augen hatte sich ein bedenkliches Zeichen ereignet. Ein Adler streifte links über das Kriegsheer hin; er trug eine rote, zappelnde Schlange in den Klauen, die sich unter seinen Krallen wehrte und, den Kopf rückwärts drehend, den Vogel in den Hals stach; von Schmerzen gequält, ließ er sie fahren und flog davon; die Schlange aber fiel mitten im Haufen der Trojaner nieder, die sie mit Schrecken im Staube liegen sahen und in diesem Ereignis ein Zeichen des Zeus erkannten. »Laß uns nicht weitergehen«, rief Polydamas, der Sohn des Panthoos, seinem Busenfreunde, dem Hektor, erschrocken zu, »es könnte uns ergehen wie dem Adler, der seinen Raub nicht heimbrachte.« Aber Hektor erwiderte finster: »Was kümmern mich die Vögel, ob sie rechts oder links daherfliegen; ich verlasse mich auf des Zeus Ratschluß! Ich kenne nur ein Wahrzeichen: es heißt Rettung des Vaterlandes! Warum zitterst denn du vor dem Kampfe? Sänken wir auch alle an den Schiffen darnieder, dir droht kein Todesschrecken, denn du hast kein Herz, in der Feldschlacht auszuhalten; doch wisse, wo du dich dem Kampf entziehest, so fällst du, von meiner eigenen Lanze durchbohrt!« So sprach Hektor und ging voran, und alle andern folgten ihm unter gräßlichem Geschrei. Zeus aber schickte einen ungeheuren Sturmwind vom Idagebirge herab, der den Staub zu den Schiffen hinüberwirbelte, daß den Griechen der Mut entsank, die Trojaner aber, dem Winke des Donnergottes und der eigenen Kraft vertrauend, die große Verschanzung der Danaer zu durchbrechen sich anschickten, indem sie die Zinnen der Türme herabrissen, an der Brustwehr rüttelten und die hervorragenden Pfeiler des Walles mit Hebeln umzuwühlen begannen.

Aber die Danaer wichen nicht von der Stelle; wie ein Zaun standen sie mit ihren Schilden auf der Brustwehr und begrüßten die Mauerstürmer mit Steinen und Geschossen. Die beiden Ajax machten die Runde auf der Mauer und ermahnten das Streitvolk auf den Türmen, die Tapferen freundlich, die Nachlässigen mit strengen Drohworten. Inzwischen flogen die Steine hin und her wie Schneeflocken; doch hätte Hektor mit seinen Trojanern den mächtigen Riegel an der Wallpforte noch immer nicht durchbrochen, wenn nicht Zeus seinen Sohn Sarpedon, den Lykier mit dem goldgeränderten Schilde, wie einen heißhungrigen Berglöwen gegen die Feinde gereizt hätte, daß er schnell zu seinem Genossen Glaukos sprach: »Was ist es, Freund, daß man uns im Lykiervolke mit Ehrensitz und gefüllten Bechern beim Gastmahle wie die Götter ehrt, wenn wir in der brennenden Schlacht nicht auch uns im Vorkampfe zeigen? Auf, entweder wollen wir den eigenen Ruhm oder durch unsern Tod den Ruhm anderer verherrlichen!« Glaukos vernahm es nicht träge, und beide stürmten mit ihren Lykiern in gerader Richtung voran. Menestheus, von seinem Turme herab, stutzte, als er sie so wütend herannahen und sich und die Seinigen dem Verderben ausgesetzt sah. Ängstlich schaute er sich nach der Unterstützung anderer Helden um: wohl sah er in der Ferne die beiden Ajax, unersättlich im Kampfe, dastehen und noch näher den Teucer, der eben von den Zelten zurückkam; doch hallte sein Hilferuf nicht so weit, er prallte an Helmen und Schilden ab, und das Getöse der Schlacht verschlang ihn. Deswegen schickte er den Herold Thootes zu den beiden Ajax hinüber und bat den Telamonier durch ihn, samt seinem Bruder Teucer, wenn sie beide dies könnten, ihm aus der Bedrängnis zu helfen. Der große Ajax war nicht säumig, er eilte mit seinem Bruder Teucer und Pandion, der dessen Bogen trug, der Mauer entlang, von innen dem Turme zu. Sie kamen bei Menestheus an, als eben die Lykier an der Brustwehr emporzuklimmen anfingen. Ajax brach sogleich einen scharfgezackten Marmorstein zuoberst aus der Brustwehr und zerknirschte damit dem Epikles, einem Freunde des Sarpedon, Helm und Haupt, daß er wie ein Taucher von dem Turme herabschoß. Teucer aber verwundete den Glaukos am entblößten Arme, während er eben den Wall hinanstieg. Dieser sprang ganz geheim von der Mauer, um nicht von den Griechen erblickt und mit seiner Wunde gehöhnt zu werden. Mit Schmerzen sah Sarpedon seinen Bruder aus der Schlacht scheiden; er selbst aber klomm aufwärts, durchstach den Alkmaon, den Sohn Thestors, mit der Lanze, daß dieser der wieder herausgezogenen taumelnd folgte, faßte dann mit aller Gewalt die Brustwehr, daß sie von seinem Stoß zusammenstürzte und die Mauer, entblößt, für viele einen Zugang gewährte. Doch Ajax und Teucer begegneten dem Stürmenden; der letztere traf ihn mit einem Pfeil in den Schildriemen; Ajax durchstach dem Anlaufenden den Schild: die Lanze durchdrang ihn schmetternd, und einen Augenblick wich Sarpedon von der Brustwehr hinweg. Doch ermannte er sich bald wieder, und gegen die Schar seiner Lykier sich umdrehend, rief er laut: »Lykier, vergesset ihr des Sturmes? Mir allein, und wäre ich der Tapferste, ist es unmöglich, durchzubrechen! Nur wenn wir zusammenhalten, können wir uns die Bahn zu den Schiffen öffnen!« Die Lykier drängten sich um ihren scheltenden König und stürmten rascher empor; aber auch die Danaer von innen verdoppelten ihren Widerstand, und so standen sie, nur durch die Brustwehr getrennt und über sie hin wild aufeinander loshauend, wie zwei Bauern auf der Grenzscheide stehen und miteinander darum hadern. Rechts und links von den Türmen und der Brustwehr rieselte das Blut hinab. Lange stand die Waage der Schlacht schwebend, bis endlich Zeus dem Hektor die Oberhand gab, daß er zuerst an das Tor der Mauer vordrang und die Genossen teils ihm folgten, teils zu seinen beiden Seiten über die Zinnen kletterten. Am verschlossenen Tore, dessen Doppelflügel zwei sich begegnende Riegel von innen zusammenhielten, stand ein dicker, oben zugespitzter Feldstein. Diesen riß Hektor mit übermenschlicher Gewalt aus dem Boden und zerschmetterte damit die Angeln und die Bohlen, daß die mächtigen Riegel nicht mehr standhielten, das Tor dumpf aufkrachte und der Stein schwer hineinfiel. Furchtbar anzuschauen wie die Wetternacht, im schrecklichen Glanze seiner Erzrüstung, mit funkelndem Auge, sprang Hektor, zwei blinkende Lanzen schüttelnd, in das Tor. Ihm nach strömten seine Streitgenossen durch die aufgerissene Pforte; andere hatten zu Hunderten die Mauer überklettert: Aufruhr tobte allenthalben im Vorlager, und die Griechen flüchteten zu den Schiffen.

Kampf um die Schiffe



Kampf um die Schiffe

Als Zeus die Trojaner so weit gebracht hatte, überließ er die Griechen ferner ihrem Elende, wandte, auf dem Gipfel des Ida sitzend, seine Augen von dem Schiffslager ab und schaute gleichgültig ins Land der Thrakier hinüber. Inzwischen blieb der Meergott Poseidon nicht untätig. Dieser saß auf einem der obersten Gipfel des waldigen Thrakiens, wo der Ida mit allen seinen Höhen samt Troja und den Schiffen der Danaer unter ihm lag. Mit Gram sah er die Griechen vor Trojas Volk in den Staub sinken; er verließ das zackige Felsengebirg, und mit vier Götterschritten, unter denen Höhen und Wälder bebten, stand er am Meeresufer bei Aigai, wo ihm in den Tiefen der Flut ein von unvergänglichem Golde schimmernder Palast erbaut stand. Hier hüllte er sich in die goldne Rüstung, schirrte seine goldmähnigen Rosse ins Joch, ergriff die goldene Geißel, schwang sich in seinen Wagensitz und lenkte die Pferde über die Flut; die Meerungeheuer erkannten ihren Herrscher und hüpften aus den Klüften umher, die Woge trennte sich freudig, und ohne die eherne Wagenachse zu benetzen, kam Poseidon bei den Schiffen der Danaer, zwischen Tenedos und Imbros, in einer tiefen Grotte an, wo er die Rosse aus dem Geschirr spannte, ihnen die Füße mit goldenen Fesseln umschlang und Ambrosia zur Kost reichte. Er selbst eilte mitten ins Gewühl der Schlacht, wo sich die Trojaner wie ein Orkan um Hektor mit brausendem Geschrei drängten und jetzt eben die Schiffe der Griechen zu bemeistern hofften. Da gesellte sich Poseidon zu den Reihen der Griechen, dem Seher Kalchas an Wuchs und Stimme gleich. Zuerst rief er den beiden Ajax zu, die für sich selbst schon von Kampflust glühten: »Ihr Helden beide vermöchtet wohl das Volk der Griechen zu retten, wenn ihr eurer Stärke gedenken wolltet. An andern Orten ängstet mich der Kampf der Trojaner nicht, so herzhaft sich ihre Heeresmacht über die Mauer hereinstürzt; die vereinigten Achiver werden sie schon abzuwehren wissen. Hier nur, wo der rasende Hektor wie ein Feuerbrand vorherrscht, hier nur bin ich um unsre Rettung bange. Möchte doch ein Gott euch den Gedanken in die Seele geben, hierhin euren Widerstand zu kehren und auch andere dazu anzureizen.« Zu diesen Worten gab ihnen der Ländererschütterer einen Schlag mit seinem Stabe, davon ihr Mut erhöht und ihre Glieder leicht geschaffen wurden; der Gott aber entschwang sich ihren Blicken wie ein Habicht, und Ajax, der Sohn des Oïleus, erkannte ihn zuerst. »Ajax«, sprach er zu seinem Namensbruder, »es war nicht Kalchas, es war Poseidon, ich habe ihn von hinten an Gang und Schenkeln erkannt; denn die Götter sind leicht zu erkennen. Jetzt verlangt mich im innersten Herzen nach dem Entscheidungskampfe, Füße und Hände streben mir nach oben!« Ihm erwiderte der Telamonier: »Auch mir zücken die Hände ungestüm um den Speer; die Seele hebt sich mir; die Füße wollen fliegen; Sehnsucht ergreift mich, den Einzelkampf mit Hektor zu bestehen!«

Während die beiden Führer dies Gespräch wechselten, ermunterte Poseidon hinter ihnen die Helden, die vor Gram und Müdigkeit bei den Schiffen ausruhten, und schalt sie, bis alle Tapfern sich um die beiden Ajax scharten und gefaßt den Hektor mit seinen Trojanern erwarteten. Lanze drängte sich an Lanze, Schild auf Schild, Helm an Helm, Tartsche war an Tartsche gelehnt, Krieger an Krieger, die nickenden Helmbüsche berührten sich mit den Bügeln, so dicht stand die Heerschar; ihre Speere aber zitterten dem Feind entgegen. Doch auch die Trojaner drangen mit aller Kraft herein; Hektor voran, wie ein Felsstein von der Krone des Bergs, durch den herbstlichen Strom abgerissen, im Sprunge herniederstürzt, daß die Waldung zerschmettert zusammenkracht. »Haltet euch, Trojaner und Lykier«, rief er hinterwärts, »jene wohlgeordnete Heerschar wird nicht lange bestehen, sie werden vor meinem Speere weichen, so gewiß der Donnerer mich leitet!« So rief er, den Mut der Seinigen anspornend. In seiner Schar ging trotzig, doch mit leisem Schritt, unter dem Schilde Deïphobos, das andere Heldenkind des Priamos, einher. Ihn wählte sich Meriones zum Ziele und schoß die Lanze nach ihm ab; aber Deïphobos hielt den mächtigen Schild weit vom Leibe ab, daß der Wurfspieß brach. Erbittert über den verfehlten Angriff, wandte sich Meriones zu den Schiffen hinab, sich einen mächtigeren Speer aus dem Zelte zu holen.

Die andern kämpften indessen fort, und der Schlachtruf brüllte. Teucer warf den Imbrios, den Sohn Mentors, unter dem Ohre mit dem Speer, daß er wie eine Esche auf luftigem Gebirgsgipfel hintaumelte. Den Leichnam machte ihm Hektor streitig; doch traf er statt des Teucer nur den Amphimachos; als er diesem den Helm von den Schläfen ziehen wollte, traf ihn die Lanze des großen Ajax auf den Schildnabel, daß er von dem Erschlagenen zurückprallte und Menestheus samt Stichios den Leichnam des Amphimachos, den Imbrios aber die beiden Ajax, wie zwei Löwen die Ziege, die sie den Hunden abgejagt, hinab ins Heer der Griechen trugen.

Amphimachos war ein Enkel des Poseidon, und sein Fall empörte diesen. Er eilte zu den Zelten hinunter, die Griechen noch mehr zu entflammen. Da begegnete ihm Idomeneus, der einen verwundeten Freund zu den Ärzten geschafft hatte und jetzt seinen Speer im Zelte suchte. In den Thoas verwandelt, den Sohn des Andraimon, näherte sich ihm der Gott und sprach mit tönender Stimme zu ihm: »Kreterkönig, wo sind eure Drohungen? Nimmer kehre der Mann von Troja heim, der an diesem Tag den Kampf freiwillig meidet; die Hunde sollen ihn zerfleischen!« »So geschehe es, Thoas«, rief Idomeneus dem enteilenden Gotte nach, suchte sich zwei Lanzen aus dem Zelte hervor, hüllte sich in schönere Waffen und flog, herrlich wie der Blitz des Zeus, aus dem Zelte hervor. Da begegnete er dem Meriones, dessen Speer an des Deïphobos Schilde zerbrochen war und der dahineilte, sich im fernen Zelt einen andere zu holen. »Tapferer Mann«, rief ihm Idomeneus zu,»ich sehe, in welcher Not du bist; in meinem Zelte lehnen wohl zwanzig erbeutete Speere an der Wand; hole dir den besten davon.« Und als Meriones sich eine stattliche Lanze erkoren hatte, eilten sie beide in die Schlacht zurück und gesellten sich zu den Freunden, die den eindringenden Hektor bekämpften. Obgleich Idomeneus schon halb ergraut war, ermunterte er die Griechen doch, sobald sie ihn in ihren Reihen wieder begrüßt hatten, wie ein Jüngling. Der erste, dem er den Wurfspieß mitten in den Leib sandte, war Othryoneus, der als Freier der Kassandra, der Tochter des Königes Priamos, in den Reihen der Trojaner kämpfte. Frohlockend rief Idomeneus, während er den Gefallenen am Fuß aus dem Schlachtgewühl zog: »Hole dir jetzt die Tochter des Priamos, beglückter Sterblicher! Auch wir hätten dir die schönste Tochter des Atriden versprochen, wenn du uns hättest helfen wollen Troja vertilgen! Folge mir nun zu den Schiffen; dort wollen wir uns über die Ehe verabreden, du sollst eine stattliche Mitgift erhalten!« Er spottete noch, als Asios mit seinem Gespanne, das der Wagenführer lenkte, herangeflogen kam, den Getöteten zu rächen. Schon holte er den Arm zum Wurfe aus, da traf ihn der Speer des Idomeneus unter dem Sinn in die Gurgel, daß das Erz aus dem Nacken hervorragte und er vor seinem Streitwagen der Länge nach darniederfiel. Sein Wagenlenker erstarrte, als er dieses sah, er vermochte das Gespann nicht mehr rückwärts zu lenken, und ein Lanzenstoß von Antilochos, dem Sohne Nestors, warf auch ihn vom Wagen herab.

Nun aber kam Deïphobos auf Idomeneus heran, und entschlossen, den Fall seines Freundes Asios zu rächen, schleuderte er die Lanze gegen den Kreter. Dieser aber schmiegte sich so ganz unter den Schild, daß der Wurfspieß über ihn hinwegflog und den Schild nur klirrend streifte, dafür aber dem Fürsten Hypsenor in die Leber fuhr, der auch alsbald in die Knie sank. »So liegst du doch nicht ungerächt, lieber Freund Asios«, so frohlockte der Troer, »denn ich habe dir einen Begleiter gegeben, gleichviel welchen!« Der schwer aufstöhnende Hypsenor wurde indessen von zwei Genossen aus dem Getümmel getragen. Doch war Idomeneus dadurch nicht mutlos gemacht, er erschlug den Alkathoos, den edlen Eidam des Anchises, und rief jauchzend: »Ist unsre Rechnung billig, Deïphobos? Ich gebe dir drei für einen! Wohlan, erprobe du selbst auch, ob ich wirklich von des Zeus Geschlechte bin!« Es war aber Idomeneus ein Enkel des Königes Minos und ein Urenkel des Göttervaters. Deïphobos besann sich einen Augenblick, ob er den Zweikampf allein bestehen oder sich einen heldenmütigen Trojaner beigesellen sollte. Der letzte Gedanke schien ihm der beste; und bald führte er seinen Schwager Äneas dem Idomeneus entgegen. Dieser aber, als er die beiden gewaltigen Kämpfer auf sich zukommen sah, zagte nicht etwa vor Furcht wie ein Knabe, sondern erwartete sie, wie ein Gebirgseber die Hetzhunde. Doch rief auch er seine Genossen herbei, die er in der Nähe kämpfen sah, und sprach: »Heran, ihr Freunde, und helfet mir einzelnem, denn mir graut vor Äneas, der ein Gewaltiger in der Feldschlacht ist und noch in üppiger Jugend strotzt!« Auf diesen Ruf versammelten sich um ihn, die Schilde an die Schultern gelehnt, Aphareus, Askalaphos, Deïpyros, Meriones, Antilochos. Indes rief auch Äneas seine Genossen Paris und Agenor herbei, und die Trojaner folgten ihnen nach wie Schafe dem Widder. Bald rasselte das Erz der Speere ans Erz, und aus dem Zweikampfe wurde ein vielfältiger Männerkampf. Äneas schoß zuerst seinen Speer auf Idomeneus ab; aber er fuhr an dem Helden vorüber in den Boden. Idomeneus dagegen traf den Önomaos mitten in den Leib, daß er stürzend und sterbend mit der Hand den Boden faßte; der Sieger hatte eben nur Zeit, den Speer aus dem Leichnam herauszuziehen; denn die Geschosse bedrängten ihn so, daß er sich zum Weichen entschließen mußte. Aber seine greisen Füße trugen ihn nur langsam aus dem Treffen, und Deïphobos schickte ihm voll Groll die Lanze nach, die zwar ihn selbst verfehlte, aber den Askalaphos, den Sohn des Ares, dafür in den Staub warf. Der Kriegsgott, der durch den Ratschluß des Zeus mit andere Göttern in die goldenen Wolken des Olymp gebannt war, ahnte nicht, daß ihm ein Sohn gefallen sei. Diesem aber riß Deïphobos den blanken Helm vom Haupte: da fuhr ihm der Speer des Meriones in den Arm, daß der Helm auf den Boden rollte. Meriones sprang herzu, zog den Wurfspieß aus dem Arme des Verwundeten und flog ins Gedränge seiner Freunde zurück. Nun faßte Polites seinen verwundeten Bruder Deïphobos um den Leib und trug ihn aus der stürmenden Schlacht über den Graben hinüber zu dem harrenden Wagen, auf dem der Blutende, matt vor Schmerz, alsbald nach der Stadt geführt wurde.

Die andern kämpften fort. Äneas durchstach den Aphareus, Antilochos den Thoon; der Trojaner Adamas verfehlte diesen und verblutete bald am Speere des Meriones. Dafür rollte Deïpyros der Grieche, von Helenos mit dem Schwert über die Schläfe getroffen, die Reihen der Danaer entlang. Schmerzergriffen zuckte Menelaos seinen Speer gegen Helenos, der zu gleicher Zeit den Pfeil vom Bogen auf den Atriden abschnellte. Menelaos traf den Sohn des Priamos auf das Panzergewölbe, doch prallte der Wurfspieß ab; aber auch der Pfeil des Helenos war vergebens entflogen, und nun bohrte ihm Menelaos seine Lanze in die Hand, die den Bogen noch hielt, und Helenos schleppte den Speer, ins Gedränge seiner Freunde flüchtend, nach. Sein Kampfgenosse Agenor zog ihm die Waffe aus der Hand, nahm einem Begleiter die wollene Schleuder ab und verband damit die Wunde des Sehers.

Jetzt führte ein böses Geschick den Trojaner Peisander dem Helden Menelaos entgegen. Der Atride schoß fehl mit der Lanze, sein Gegner stieß kräftig den Speer dem Menelaos in den Schild; aber der Schaft zerbrach am Öhre. Nun holte Menelaos mit dem Schwert aus; Peisander hob die lange Streitaxt unter dem Schilde, und beide rannten aufeinander los; aber der Trojaner traf dem Gegner nur die Spitze des Helmbusches, indes dieser ihm den Knochen über der Nase zerspaltete, daß die Augen ihm blutig vor die Füße hinabrollten und er sich sterbend auf dem Boden wand. Menelaos stemmte ihm die Ferse auf die Brust und sprach frohlockend: »Ihr Hunde, die ihr mein junges Weib und Schätze genug freventlich von dannen geführt, nachdem sie euch freundlich bewirtet hatte, die ihr nun auch noch den Feuerbrand in unsere Schiffe werfen und alle Griechen ermorden möchtet: wird man euch endlich zur Ruhe bringen, ihr nimmersatten Fechter?« So sprach er und zog dem Leichnam die blutige Rüstung ab, die er den Freunden übergab. Dann drang er wieder in den Vorderkampf und fing die geschwungene Lanze des Harpalion mit dem Schilde auf; den, der sie abgeschossen, traf Meriones rechts in die Weiche, daß er sterbend von seinem Vater Pylaimenes auf den Wagen gerettet werden mußte. Das erbitterte den Paris, und er schoß dem Korinther Euchenor, der ihm eben in den Weg kam, den Pfeil durch Ohr und Backen, daß dieser entseelt zu Boden sank.

So kämpften sie dort; Hektor ahnete indessen nicht, daß zur Linken der Schiffe der Sieg sich auf die Seite der Griechen hinneigte, sondern wo er zuerst durchs Tor hereingesprungen und die Mauer am niedrigsten gebaut war, fuhr er fort, siegreich in die Schlachtreihen der Achiver einzubrechen. Vergebens wehrten ihn anfangs die Böotier, Thessalier, Lokrer, Athener ab; sie vermochten nicht, ihn hinwegzudrängen. Wie zwei Stiere am Pflug wandelten die beiden Ajax aneinander: vom Telamonier wichen die Seinigen nicht, lauter entschlossene Männer; aber die Lokrer, den stehenden Kampf nicht aushaltend, waren ihrem Ajax nicht auf den Fersen gefolgt; denn voll Zuversicht waren sie ohne Helme, Schilde und Lanzen, mit Bogen und wollenen Schleudern allein bewaffnet, gen Troja gezogen und hatten früher mit ihren Geschossen manche trojanische Schar gesprengt. Auch jetzt bedrängten sie die Troer, sich verbergend und von ferne her schießend, mit ihren Pfeilen und richteten selbst so keine geringe Verwirrung unter ihnen an.

Und wirklich wären die Trojaner jetzt, von Schiffen und Zelten zurückgetrieben, mit Schmach in ihre Stadt geworfen worden, hätte nicht Polydamas dem trotzigen Hektor so zugeredet: »Verschmähest du denn allen Rat, Freund, weil du im Kampf der Kühnere bist? Siehest du nicht, wie die Flamme des Krieges über dir zusammenschlägt, die Trojaner sich teils mit den erbeuteten Rüstungen aus dem Gefechte entfernen, teils, und dies die wenigeren, durch die Schiffe hin und her zerstreut kämpfen? Weiche darum, beruf einen Rat unserer Edeln und laß uns dann entscheiden, ob wir uns ins Labyrinth der Schiffe hineinstürzen oder unbeschädigt von dannen ziehen wollen; denn fürwahr, ich besorge, die Griechen möchten uns die gestrige Schuld mit Wucher heimbezahlen, solang ihr unersättlichster Krieger noch bei den Schiffen auf uns harrt!« Hektor war es zufrieden und beauftragte seinen Freund, die Edelsten des Volkes zu versammeln. Er selbst eilte in die Schlacht zurück, und wo er einen der Führer traf, befahl er ihm, sich bei Polydamas einzufinden. Seine Brüder Deïphobos und Helenos, den Asios und seinen Sohn Adamas suchte er im Vorderkampfe und fand die ersteren verwundet, die andern tot. Als er seinen Bruder Paris erblickte, rief er ihn zornig an: »Wo sind unsere Helden, du Weiberverführer? Bald ist es aus mit unserer Stadt, dann nahet auch dir das grause Verhängnis; jetzt aber komm in den Kampf, während die andern sich zum Rat versammeln!« »Ich begleite dich mit freudiger Seele«, erwiderte Paris dem Bruder, ihn beschwichtigend, »du sollst meinen Mut nicht vermissen!« So eilten sie miteinander in das heftigste Gefecht, wo die tapfersten Trojaner wie ein Sturmwind im rollenden Wetter daherrauschten; und bald war Hektor wieder an ihrer Spitze. Doch erschreckte er die Griechen nicht mehr wie früher, und der mächtige Ajax rief ihn trotzig zum Kampfe heraus. Der Trojaner achtete sein Schelten nicht und stürmte vorwärts ins Getümmel der Schlacht.

Keyx und Halkyone



Keyx und Halkyone

Keyx, der Sohn des Abendsterns und der Nymphe Philonis, ward durch unheilverkündende Weissagungen erschreckt und beschloß deshalb, über das Meer nach Klaros in Kleinasien, wo ein berühmtes Orakel des Apollon war, zu fahren. Seine treue Gattin Halkyone, eine Tochter des Windgottes Äolos, mit welcher ihn die innigste Liebe verband, suchte ihn mit Klagen und zärtlichen Vorwürfen von seinem Vorhaben abzubringen oder ihn doch wenigstens dazu zu bewegen, sie mit auf die gefährliche Reise zu nehmen. Obgleich er sich durch ihre Worte und Tränen im innersten Herzen gerührt fühlte, wich er doch nicht von seinem Vorsatze und versuchte sie durch Tröstungen zu ermutigen. »Lang zwar ist für uns beide jeder Verzug«, sprach er, »aber ich schwöre dir bei meinem strahlenden Vater: vergönnt mir das Schicksal die Heimfahrt, so kehre ich wieder, ehe der Mond sich zweimal erneuet hat.« Darauf ließ er alsbald das Schiff in die Flut ziehen und alles zur Reise rüsten. Beim Abschied konnte Halkyone ihren unsäglichen Schmerz nicht bergen. »Lebe wohl!« sprach sie nur und sank ohnmächtig am Ufer zusammen. Gern hätte der zärtliche Gatte noch gezögert, aber schon begannen die Jünglinge auf dem Schiffe die Ruder anzuziehen, daß das Meer schäumte. Da durfte er nicht länger weilen und eilte an Bord. Als Halkyone das nasse Auge erhob, sah sie den geliebten Mann auf dem Hinterteil des Schiffes stehen und ihr mit der Hand die letzten Grüße zuwinken. Sie erwiderte ihm auf gleiche Weise, und so folgte sie mit den Augen dem fliehenden Schiff, bis das weiße Segel ihrem Blick entschwand. Da kehrte sie wieder in ihr einsames Haus zurück, warf sich weinend auf das Lager und härmte sich um den entfernten Gatten.

Unterdessen fuhren jene immer weiter hinaus auf das hohe Meer; ein sanfter Wind begann zu wehen, die Ruder wurden beigelegt, und vom günstigen Lufthauch schwollen die Segel. Schon war die Hälfte der Fahrt zurückgelegt, gleich weit schwebte das Schiff von beiden Ufern, siehe, da schnob gegen Abend der schreckliche Euros von Süden daher und krönte die Wogen mit weißem Schaum; ein wütender Sturm erhob sich. »Schnell die Rahen herab«, schrie der Steuermann, »die Segel fest um die Stangen gewickelt!« Aber seine Worte verhallten ungehört im Geheul des Sturms und im Brausen der Wellen. Nun eilte ein jeder, zu tun, was ihn das beste dünkte: der eine zog die Ruder ein, andere verstopften die Ruderlöcher am Bord; hier wurden die Segel herabgerissen, dort ward die eingedrungene Flut wieder ins Meer geschöpft. Während dieser Verwirrung wuchs das Rasen der Winde, die das Meer bis zum Grunde aufwühlten. Verzagt stand der Lenker des Schiffes und bekannte, daß er nicht wisse, wie es stehe noch was er befehlen und verbieten solle. Nun verhüllt schwarzes Gewölk den Äther, finstre Nacht sinkt herein, nur vom zuckenden Blitz durchleuchtet. Der Donner kracht Schlag auf Schlag, immer höher türmen sich die Wogen und überschütten das Schiff mit salziger Flut. Laut auf schreit das Schiffsvolk, die Balken drohen schon zu wanken, und jetzt springt eine riesige Welle hinein in den inneren Schiffsraum. Da faßt die meisten Verzweiflung, der eine weint, ein anderer staunt wie zu Stein erstarrt; der preist den glücklich, welcher auf dem Lande ein Grab findet; der fleht die Götter um Rettung an und streckt vergebens die Arme zum unsichtbaren Himmel empor; der denkt an die Lieben, die er daheim gelassen, an den alten Vater, die zärtliche Gattin, die blühenden Kinder; – Keyx denkt nur an Halkyone, nur ihr Name tönt wieder und wieder von seinen Lippen. Wie auch sein Herz nach ihr sich sehnt, so freut er sich doch, daß sie jetzt fern ist. Ach, nach dem heimischen Ufer möchte er so gern sein Antlitz kehren, sterbend die Hände ausstrecken nach der Gegend, wo die Geliebte wohnt; aber im undurchdringlichen Dunkel der Nacht weiß er nicht, wohin er sich wenden soll. Jetzt stürzt der geborstene Mastbaum herab und zerschlägt krachend auch das Steuer. Stolz auf ihre Beute hebt sich die Woge wie eine Siegerin, und auf den Grund des Meeres versenkt sie das Fahrzeug. Viele der Schiffer werden mit in den Strudel hinabgerissen und kommen nicht lebend wieder empor. Keyx hielt ein armseliges Brett mit der Hand, in der einst das Zepter ruhte. »Halkyone!« rief er, wie die müden Arme ihm erlahmten, »Halkyone!« seufzte er, als die Wellen über sein Haupt zusammenschlugen; »Halkyone!« murmelte zum letzten Mal der Mund des Ertrinkenden. Sein göttlicher Vater, der nicht vom Firmamente weichen durfte, verhüllte das Antlitz mit schwarzem Gewölk, um den geliebten Sohn nicht sterben zu sehen.

Unterdes zählte Halkyone, unkundig all des Jammers, die Tage und Nächte, die bis zur Heimkehr des trauten Gemahls noch verstreichen mußten; sie richtete schon die Gewänder, die er und die sie selbst tragen sollte; auch vergaß sie nicht, den Göttern, insbesondere der Hera, zu opfern, flehend, daß sie ihr den lieben Mann gesund wieder heimbringe. Hera sah es mit Trauern und sprach zu Iris, der Götterbotin: »Eile an den Hof des Schlafgottes und heiß ihn der harrenden Halkyone einen Traum in Gestalt des toten Keyx senden, daß er ihr das wahre Schicksal verkünde!« Alsbald zog Iris das tausendfarbige Gewand an und eilte über den schimmernden Himmelsbogen hinab zu der Felsenbehausung des Gottes. Fern am westlichen Rande der Erdscheibe liegt ein Berg mit einer tiefen und weiten Grotte; dort herrscht der Schlafgott. Niemals dringen dahin die Strahlen des Helios, ein dunkler Nebel steigt aus dem Boden empor und hüllt alles in Dämmerung. Kein Laut, weder Hundesgebell noch menschliche Rede stört die ewige Stille. Nur ein sanfter Bach fließt mit einschläferndem Murmeln um den Eingang der Höhle; an seinen Ufern sprießen unzählige duftende Kräuter, aus denen die Nacht betäubenden Saft sammelt. Keine knarrende Tür ist in der Behausung, offen steht der Eingang. Tief im innersten Gemach steht ein Lager aus Ebenholz, mit schwellenden Kissen bedeckt; darauf ruht der Gott, die Glieder von süßer Ermattung gelöst, und rings um ihn liegen in tausend Gestalten die Träume, die Söhne des Gottes.

Wie nun Iris die Grotte betrat, erhellte der Glanz ihres Gewandes sogleich das ganze Haus. Der Schlafgott erhob matt die Augen, sank wieder und wieder zurück, nickte wie trunken mit dem Haupte, schüttelte sich aus sich selbst hervor und stützte sich auf den Arm. »Was bringst du für Botschaft, schimmernde Iris?« fragte er endlich. Schnell vollendete die Götterbotin ihren Auftrag und enteilte sogleich wieder zum Olymp, denn sie konnte den betäubenden Duft nicht länger ertragen, der die ganze Höhle durchdrang. Aber der Schlaf wählte aus der Schar seiner tausend Kinder den Morpheus, daß er den göttlichen Befehl ausführe; denn dieser war vor allen geschickt, Gang und Stimme, Gestalt und Antlitz der Menschen nachzuahmen. Der Alte sank zurück und barg wieder das Haupt im weichen Polster; Morpheus aber flog mit geräuschlosen Fittichen durch die Nacht und neigte sich über das Lager der schlummernden Halkyone. In des Ertrunkenen Gestalt, totenbleich, nackt, mit triefendem Bart und Haupthaar, die Wangen mit Tränen überströmend, sprach er also: »Kennst du deinen Keyx noch, armes Weib, oder hat der Tod mir die Mienen verwandelt? Du kennst mich! Ach, ich bin nicht Keyx, nein, nur sein Schatten. Ich bin tot, Geliebte. Im Ägäischen Meer, wo der Sturm unser Fahrzeug zerschellte, schwimmt meine Leiche. Darum lege Trauerkleider an und weihe mir Tränen, daß ich nicht unbeweint in die traurige Unterwelt wandeln muß.« Zitternd streckte die Schlafende die Arme aus, ihr eigenes Schluchzen weckte sie. »O bleibe! Wo eilst du hin?« rief sie dem schwindenden Traumbild nach. »Laß mich mit dir gehen!« Als sie nun allmählich zum vollen Bewußtsein kam, schlug sie das Haupt mit den Händen, zerraufte sich das goldene Lockenhaar, zerriß ihr Gewand und schrie laut auf vor unendlichem Jammer.

So nahte der Morgen. Da ging sie hinaus an das Meeresgestade, den Ort zu besuchen, wo sie einst dem Geliebten die letzten Grüße nachgesandt hatte. Wie sie so mit tränenden Augen in die blaue Ferne blickte, da erschien plötzlich weit vom Strande in den Wellen etwas wie ein menschlicher Körper. Immer näher trugen es die Wogen heran, und je näher es kam, je mehr und mehr schwanden ihr die Gedanken. Jetzt, jetzt schwamm es ganz nahe ans Land. »Er ist’s!« schreit die Unglückliche, die Hände nach dem Leichnam des teuren Gatten ausstreckend: »So also kehrst du mir zurück, du Armer! Wohlan, empfange mich denn, ich komme zu dir!« In die Flut will sie sich stürzen, aber siehe, Flügel heben sie durch die Luft, wehmütig klagend flattert sie als Vogel dicht über die Gewässer hin und schwingt sich schluchzend an die Brust des toten Gemahls. Und ist es nicht, als ob er die Nähe des trauten Weibes fühlte? Ja, wahrlich, die mitleidigen Götter verwandeln auch seine Gestalt und leihen ihm neues Leben. Als Eisvögel halten die beiden Gatten noch immer treu die alte zärtliche Liebe, in nie getrenntem Ehebund leben sie fort. Mitten zur Winterszeit kehren alljährlich sieben ruhige, windstille Tage wieder, dann sitzt Halkyone brütend im schwimmenden Nest auf dem glatten Spiegel des Meeres; denn ihr Vater Äolos hält zu dieser Zeit die Winde daheim im Hause und schafft seinen Enkeln schützende Ruhe.

Kreons Beschluß



Kreons Beschluß

Hierauf wurde an die Bestattung der Toten gedacht. Die Königswürde von Theben war nach dem Tode der beiden gefallenen Brüder an ihren Oheim Kreon gekommen, und dieser hatte nun über das Begräbnis seiner beiden Neffen zu verfügen. Sofort ließ er den Eteokles, als für die Verteidigung der Stadt gefallen, mit königlichen Ehren und aller sonstigen Gebühr feierlich zu Erde bestatten; alle Bewohner der Stadt folgten dem Leichenzuge, während Polyneikes unbegraben und in Unehren dalag. Dann ließ Kreon unter Heroldsruf durch die ganze Stadt verkündigen, den Feind des Vaterlandes, der gekommen sei, die Stadt mit Feuerglut zu zerstören, sich am Blute der Seinigen zu sättigen, die Landesgötter selbst zu vertreiben und, was übrigbliebe, in Knechtschaft zu stürzen – den weder zu beklagen, noch ihm ein Grab angedeihen zu lassen, vielmehr den Leichnam des Verfluchten unbegraben den Vögeln und Hunden zum Fraße zu übergeben. Zugleich gebot er den Bürgern, selbst Aufsicht darüber zu führen, daß diese königliche Willensmeinung vollzogen würde, und stellte noch besondere Späher zu dem Leichname, welche dafür zu sorgen hatten, daß niemand käme, denselben zu stehlen oder zu begraben. Der Lohn dessen, der dies doch täte, sollte unerbittlich der Tod sein; in offener Stadt sollte er gesteinigt werden.

Diese grausame Verkündigung hatte auch Antigone, die fromme Schwester, mitangehört und war ihres Versprechens, das sie dem Sterbenden gegeben, wohl eingedenk. Sie wandte sich mit beschwertem Herzen an ihre jüngere Schwester Ismene und wollte diese bereden, mit ihr gemeinschaftlich das Wagestück zu unternehmen, mit Hand anzulegen und den Leib des Bruders seinen Feinden zu entreißen. Aber Ismene war ein schwaches Mädchen und solchem Heldenmute nicht gewachsen. »Hast du denn, Schwester«, sagte sie weinend, »den grauenhaften Untergang unseres Vaters und unsrer Mutter schon so ganz vergessen, ja ist dir das frische Verderben unsrer Brüder schon aus dem Gedächtnisse verschwunden, daß du auch uns Zurückgebliebene noch ins gleiche Todeslos hineinziehen willst?« Antigone wandte sich mit Kälte von ihrer furchtsamen Schwester ab. »Ich will dich gar nicht zur Helferin«, sagte sie. »Ich gehe hin, den Bruder allein zu begraben. Wenn ich dies getan habe, sterbe ich mit Freuden und lege mich nieder neben dem, den ich im Leben geliebt habe!«

Bald darauf kam einer der Wächter mutlos und zögernden Schrittes vor den König Kreon. »Der Leichnam, den du uns zu bewahren gegeben, ist begraben«, rief er dem Herrscher entgegen, »und der unbekannte Täter ist uns entkommen. Wir wissen auch nicht, wie es geschehen ist. Als der erste Tageswächter uns die Tat anzeigte, war es uns allen ein Bekümmernis. Nur ein dünner Staub lag auf dem Toten; nur so viel, als notwendig ist, wenn ein Begräbnis vor den Göttern der Unterwelt für ein solches gelten soll. Kein Hieb, kein Schaufelwurf zeigte sich, keine Wagenspuren gingen durch den Boden. Unter uns Wächtern entstand Streit darüber, jeder beschuldigte den andern, und am Ende kam es zu Schlägen. Zuletzt jedoch vereinigte man sich, dir, o König, den Vorgang auf der Stelle zu melden, und mich traf dieses unselige Los!« Kreon geriet auf diese Nachricht in großen Zorn; er bedrohte alle Wächter, sie lebendig aufhängen zu lassen, wenn sie ihm den Täter nicht unverzüglich in die Hände lieferten. Diese mußten auch auf seinen Befehl den Leichnam wieder von aller Erde entblößen und hielten nach wie vor Wache bei demselben. So saßen sie vom Morgen bis zum Mittage im heißesten Sonnenschein. Da erhub sich plötzlich ein Sturm, und der Luftkreis füllte sich mit Staub. Die Wächter besannen sich noch über das unerwartete Zeichen, als sie eine Jungfrau herankommen sahen, die so wehmütig klagte wie ein Vogel, der sein Nest ausgeleert findet. Sie hatte in der Hand einen ehernen Krug, den sie schnell mit Staub füllte, dann näherte sie sich mit Vorsicht der Leiche – denn die Wächter, um von der Nähe des nun schon so lang unbegraben daliegenden Leichnams nicht zu leiden, saßen ziemlich ferne auf einem Hügel – und spendete dem Toten, anstatt des Begräbnisses, einen dreifachen Aufguß von Erde. Da zögerten die Wächter nicht länger, sie eilten herbei, griffen sie und schleppten die auf der Tat selbst Ertappte vor den zürnenden Herrscher.

Ion



Ion

Der König Erechtheus von Athen erfreute sich einer schönen Tochter, die Krëusa hieß. Mit dieser hatte sich, ohne Wissen ihres Vaters, Apollo vermählt, und sie hatte ihm einen Sohn geboren, welchen sie aus Furcht vor dem Zorn ihres Vaters in eine Kiste verschloß und in der Höhle aussetzte, wo sie ihre heimlichen Zusammenkünfte mit dem Gotte gehalten hatte, in der Hoffnung, daß sich die Götter des Verlassenen erbarmen würden. Um aber den neugeborenen Knaben nicht ohne Erkennungszeichen zu lassen, hing sie ihm den Schmuck um, den sie als Jungfrau zu tragen pflegte. Apollo, dem als einem Gotte die Geburt seines Sohnes nicht verborgen geblieben war und der weder seine Geliebte verraten noch den Knaben ohne Hilfe lassen wollte, wandte sich an seinen Bruder Hermes, welcher als Götterbote, ohne Aufsehen zu erregen, zwischen Himmel und Erde zu verkehren hatte. »Lieber Bruder«, sprach er, »eine Sterbliche hat mir ein Kind geboren, es ist die Tochter des Königes Erechtheus zu Athen. Aus Furcht vor ihrem Vater hat sie es in einem hohlen Felsen verborgen; hilf mir es retten, bring es in der Kiste, in der es liegt, und mit den Windeln, in die es gewickelt ist, nach meinem Orakel zu Delphi und lege es dort auf die Schwelle des Tempels. Das übrige laß meine Sorge sein, denn es ist mein Kind.« Hermes, der geflügelte Gott, eilte nach Athen, fand den Knaben an der bezeichneten Stelle und trug ihn in dem geflochtenen Weidenkorbe, in welchem er verschlossen lag, nach Delphi, wo er ihn vor den Pforten des Tempels niedersetzte und den Deckel des Korbes öffnete, damit das Kind bemerklich würde. Dies geschah bei Nacht. Am andern Morgen, als schon die Sonne emporstieg, kam die delphische Priesterin nach dem Tempel geschritten, und als sie ihn betreten wollte, fiel ihr Auge auf das neugeborne Kind, das in der Kiste schlummerte. Sie hielt dasselbe für die Frucht irgendeines Verbrechens und war schon geneigt, es von der heiligen Schwelle fortzustoßen, als das Mitleid doch in ihrer Seele die Oberhand gewann; denn der Gott wandte ihr Herz und sprach in demselben für seinen Sohn. Die Prophetin nahm also das Kind aus dem Korbe und zog es auf, ohne seinen Vater und seine Mutter zu kennen. Der Knabe erwuchs, um den Altar seines Vaters spielend, und wußte nichts von seinen Eltern. Er wurde ein stattlicher Jüngling. Die Bewohner von Delphi, die ihn schon als kleinen Tempelhüter gewohnt worden waren, setzten ihn zum Schatzmeister über alle Geschenke, die der Gott erhielt, und so brachte er fortwährend ein ehrbares und heiliges Leben im Tempel seines Vaters zu.

Inzwischen hatte Krëusa von dem Gotte nichts mehr erfahren und mußte wohl glauben, daß er ihrer und ihres Sohnes vergessen habe. Um diese Zeit gerieten die Athener in einen Krieg mit den Bewohnern der Nachbarinsel Euböa, der bis zur Vertilgung geführt wurde und in welchem die letzteren unterlagen. In diesem Kampfe war den Athenern besonders wirksam ein Fremdling aus Achaja beigestanden. Es war dies Xuthos, ein Sohn des Äolos, der selbst ein Sohn des Zeus war. Zum Lohne seiner Hilfe begehrte und erhielt er die Hand der Königstochter Krëusa; aber es war, als ob der ihr heimlich angetraute Gott die Geliebte seinen Zorn empfinden ließe, daß sie sich einem andern vermählt hatte; denn ihre Ehe war nicht mit Kindern gesegnet. Nach langer Zeit verfiel Krëusa auf den Gedanken, sich an das Orakel zu Delphi zu wenden und von ihm Kindersegen zu erflehen. Dies war es, was Apollo gewollt; denn er hatte seines Sohnes keineswegs vergessen. So brach die Fürstin mit ihrem Gemahl und einem kleinen Gefolge von Dienerinnen auf und wallfahrtete zu dem Tempel nach Delphi. Als sie vor dem Gotteshause ankamen, trat gerade der junge Sohn Apollos über die Schwelle, um gewohnterweise das Tor und den Vorhof mit Lorbeerzweigen zu fegen. Da fiel sein Auge auf die edle Matrone, welche auf die Tore des Tempels zugewandelt kam und der beim Anblicke des Heiligtums Tränen über die Wangen rollten. Er wagte es, die Frau, deren würdige Gestalt ihm auffiel, bescheiden um die Ursache ihres Kummers zu befragen. »Es wundert mich nicht, o Jüngling«, erwiderte sie seufzend, »daß meine Traurigkeit deinen Blick auf sich zieht; habe ich doch Geschicke zu beweinen, die man mir wohl ansehen mag. Die Götter verfahren oft hart mit uns Sterblichen!« »Ich will deinen Kummer nicht weiter stören«, sprach der Jüngling, »aber sage mir, wenn es zu wissen erlaubt ist, wer du bist und von wannen du kommst.« »Ich bin Krëusa«, antwortete die Fürstin, »mein Vater heißt Erechtheus, mein Vaterland ist Athen.« Mit unschuldiger Freude rief der Jüngling: »Ei, aus welchem berühmten Lande, aus welch berühmtem Geschlechte stammst du! Aber sage mir, ist es wahr, wie man es auf Bildern bei uns sieht, daß deines Vaters Großvater Erichthonios aus der Erde wie ein anderes Gewächs emporgesprossen ist, daß die Göttin Athene den erdgeborenen Knaben in eine Kiste eingeschlossen, ihm zwei Drachen als Wächter beigegeben und das Kistchen den Töchtern des Kekrops zur Bewahrung überlassen habe; daß diese aus Neugierde dasselbe eröffnet und beim Anblicke des Knaben in Wahnsinn geraten und sich von dem Felsen der Kekropischen Burg herabgestürzt?« Krëusa bejahte die Frage schweigend, denn das Schicksal ihres Urahns erinnerte sie an das Geschick ihres verlorenen Sohnes. Dieser aber, der vor ihr stand, fuhr fort, unbefangen weiter zu fragen: »Sage mir auch, hohe Fürstin, ist es wahr, daß dein Vater Erechtheus seine Töchter, deine Schwestern, auf den Ausspruch eines Orakels und mit ihrem freien Willen dem Tode geopfert, um über die Feinde zu siegen? Und wie kam es, daß du allein gerettet worden bist?« »Ich war«, sprach Krëusa, »ein neugeborenes Kind und lag in den Armen der Mutter.« »Und ist es auch wahr«, so fragte der Jüngling weiter, »daß dein Vater Erechtheus von einem Erdspalt verschlungen worden ist, daß der Dreizack Poseidons ihn verderbt hat und daß in der Nähe seines Erdgrabes eine Grotte ist, die mein Herr, der pythische Apollo, so lieb hat?« »O schweige mir von jener Grotte, Fremdling«, unterbrach ihn seufzend Krëusa, »in ihr ist eine Treulosigkeit und ein großer Frevel begangen worden.« Die Fürstin schwieg eine Weile, sammelte sich wieder und erzählte dem Jüngling, in welchem sie den Tempelhüter des Gottes erkannte, daß sie die Gemahlin des Fürsten Xuthos und mit diesem nach Delphi gewallfahrtet sei, um für ihre unfruchtbare Ehe den Segen Gottes zu erflehen. »Phöbos Apollo«, sprach sie mit einem Seufzer, »kennt die Ursache meiner Kinderlosigkeit; er allein kann mir helfen.« »So bist du kinderlos, Unglückliche?« sagte betrübt der Jüngling. »Ich bin es längst«, erwiderte Krëusa, »und ich muß deine Mutter beneiden, guter Jüngling, die sich eines so holdseligen Sohnes erfreut.« »Ich weiß nichts von einer Mutter und von einem Vater«, gab der junge Mann betrübt zur Antwort, »ich lag nie an eines Weibes Brust; ich weiß auch nicht, wie ich hierhergekommen bin; nur so viel weiß ich aus dem Munde meiner Pflegemutter, der Priesterin dieses Tempels, daß sie sich meiner erbarmt und mich großgezogen hat; das Haus des Gottes ist seitdem meine Wohnung, und ich bin sein Knecht.« Bei diesen Mitteilungen wurde die Fürstin sehr nachdenklich, doch drängte sie ihre Gedanken in die Brust zurück und sprach die traurigen Worte: »Mein Sohn, ich kenne eine Frau, der es gegangen ist wie deiner Mutter; um ihretwillen bin ich hierhergekommen und soll das Orakel befragen. So will ich denn dir, als dem Diener des Gottes, ihr Geheimnis anvertrauen, bevor ihr jetziger Gatte, der diese Wallfahrt auch gemacht, aber unterwegs abgelenkt ist, um das Orakel des Trophonios zu hören, den Tempel betritt. Jene Frau behauptet, vor ihrer jetzigen Ehe mit dem großen Gotte Phöbos Apollo vermählt gewesen zu sein und ihm ohne Wissen ihres Vaters einen Sohn geboren zu haben. Diesen setzte sie aus und weiß seitdem nichts mehr von ihm, nicht, ob er das Sonnenlicht schaut oder nicht. Über sein Leben oder seinen Tod den Gott auszuforschen, bin ich im Namen meiner Freundin hierhergekommen.« »Wie lang ist es her, daß der Knabe tot ist?« fragte der Jüngling. »Wenn er noch lebte, so hätte er dein Alter, o Knabe«, sprach Krëusa. »O wie ähnlich ist das Schicksal deiner Freundin und das meine!«rief mit dem Ausdrucke des Schmerzes der junge Mann; »sie sucht ihren Sohn, und ich suche meine Mutter. Doch ist, was ihr geschehen ist, fern von diesem Lande geschehen, und leider sind wir beide einander ganz fremd. Hoffe auch nicht, daß der Gott von seinem Dreifuße dir die gewünschte Antwort erteilen wird. Bist du doch gekommen, ihn im Namen deiner Freundin einer Treulosigkeit anzuklagen; er wird nicht über sich selbst Richter sein wollen!« »Halt ein, Jüngling«, rief jetzt Krëusa, »dort sehe ich den Gatten jener Frau herannahen; laß dir nichts von dem merken, was ich dir, vielleicht allzu vertraulich, vorgeplaudert habe.«

Xuthos kam fröhlich in den Tempel und auf seine Gemahlin zugeschritten. »Frau«, rief er ihr entgegen, »Trophonios hat einen glücklichen Ausspruch getan: ich soll nicht ohne Kinder von hinnen ziehen! Aber sage mir, wer ist dieser junge Prophet des Gottes?« Der Jüngling trat dem Fürsten bescheiden entgegen und erzählte ihm, wie er nur der Tempeldiener Apollos sei und im innersten Heiligtume die vornehmsten Delphier selbst, durchs Los ausgewählt, den Dreifuß umlagern, von dem jetzt eben die Priesterin Orakel zu geben bereit sei. Als der Fürst dieses hörte, befahl er Krëusen, sich mit den Zweigen zu schmücken, welche Bittflehende zu tragen pflegen, und an dem Altare des Gottes, der mit Lorbeer umwunden unter freiem Himmel stand, zu Apollo zu beten, daß er ihnen ein günstiges Orakel senden möge. Er selbst eilte nach dem Heiligtume des Tempels, indes der junge Schatzmeister des Gottes im Vorhofe seine Wache fortsetzte. Es hatte nicht sehr lange gedauert, so hörte dieser die Türen des innersten Heiligtums gehen und sich dröhnend wieder schließen, dann sah er den Xuthos in freudiger Bestürzung herauseilen; dieser warf sich mit Ungestüm dem Jüngling um den Hals, nannte ihn zu wiederholten Malen seinen Sohn und verlangte seinen Handschlag und Kindeskuß. Der junge Mann aber, der von alledem nichts begriff, hielt den Alten für wahnsinnig und stieß ihn mit jugendlicher Kraft von sich. Doch Xuthos ließ sich nicht abweisen. »Der Gott selbst hat es mir geoffenbart«, sprach er; »sein Spruch lautete: Der erste, der mir draußen begegnen würde, der sei mein Sohn und ein Göttergeschenk. Wie das möglich ist, weiß ich zwar nicht, denn meine Gattin hat mir nie zuvor Kinder geboren. Doch trau ich dem Gotte; mag er selbst sein Geheimnis enthüllen.« Jetzt gab sich auch der Jüngling der Freude hin; doch halb nur, und mitten unter den Küssen und Umarmungen seines Vaters mußte er seufzen: »O geliebte Mutter, wer bist du, wo bist du? wann wird es mir vergönnt sein, auch dein teures Antlitz zu schauen?« Dazu kamen ihm große Zweifel, wie die kinderlose Gemahlin des Xuthos, die er nicht zu kennen glaubte, ihn als unerwarteten Stiefsohn aufnehmen, wie die Stadt Athen den nicht gesetzlichen Erben ihres Fürsten empfangen würde. Sein Vater hieß ihn aber guten Mutes sein; er versprach ihm, ihn den Athenern und seiner Gattin als einen Fremdling und nicht als seinen Sohn vorzustellen, und gab ihm den Namen Ion, das heißt Gänger, weil er im Tempel den ihm Entgegengehenden als seinen Sohn erkannt hatte.

Krëusa war indessen von dem Altare Apollos, vor dem sie sich betend niedergeworfen, nicht gewichen. Sie wurde endlich in ihrem brünstigen Flehen von ihren Dienerinnen unterbrochen, welche sich ihr unter Wehklagen nahten. »Unglückliche Herrin«, riefen sie ihr entgegen, »dein Gatte zwar ist in große Freude versetzt, du aber wirst nie ein eigenes Kind in deine Arme nehmen und an deine Brust legen. Ihm freilich hat Apollo einen Sohn gegeben, einen erwachsenen Sohn, den ihm vor Zeiten wer weiß welch ein Nebenweib geboren hat; als er aus dem Tempel trat, kam ihm dieser entgegen. Er wird sich seines wiedergefundenen Kindes freuen, du aber wirst wie zuvor einer Witwe gleich im öden Hause wohnen.« Die arme Fürstin, deren Geist der Gott selbst mit Blindheit geschlagen zu haben schien, daß sich ein so naheliegendes Geheimnis ihr nicht enthüllte, brütete über ihrem traurigen Schicksal eine Weile fort. Endlich fragte sie nach der Person und dem Namen des Stiefsohnes, den sie so unvermutet erhalten hatte. »Es ist der junge Tempelhüter, den du schon kennst«, erwiderten die Dienerinnen; »sein Vater hat ihm den Namen Ion gegeben; wer seine Mutter ist, wissen wir nicht; jetzt ist dein Gatte zu dem Altare des Bakchos gegangen, um heimlich für seinen Sohn zu opfern und dann mit ihm den Erkennungsschmaus zu feiern. Uns hat er unter Androhung des Todes verboten, dir, o Herrin, die Geschichte zu entdecken; nur unsre große Liebe zu dir hat uns vermocht dieses Verbot zu übertreten. Du wirst uns ja nicht bei ihm verraten!« Jetzt trat aus dem Gefolge ein alter Diener hervor, der dem Stamme der Erechthiden mit blinder Treue anhing und seiner Gebieterin mit großer Liebe zugetan war. Dieser schalt den Fürsten Xuthos einen treulosen Ehebrecher und ließ sich von seinem Eifer so weit verleiten, daß er ihr das Anerbieten machte, den Bastard, der das Erbe der Erechthiden unrechtmäßigerweise an sich bringen würde, aus dem Wege zu räumen. Krëusa glaubte sich von ihrem Gatten und von ihrem früheren Geliebten, dem Gott Apollo, verlassen, und betäubt von ihrem Kummer, lieh sie den frevelhaften Anschlägen des Greisen allmählich ihr Ohr und machte ihn auch zum Vertrauten ihres Verhältnisses zu dem Gott.

Als Xuthos mit Ion, in welchem er unbegreiflicherweise einen Sohn gefunden zu haben meinte, den Tempel des Gottes verlassen hatte, begab er sich mit ihm nach dem doppelten Gipfel des Berges Parnassos, wo der Gott Bakchos, nicht weniger heilig als Apollo selbst, von den Delphiern verehrt und mit seinem wilden Orgiendienste von den Frauen gefeiert wurde. Nachdem er hier ein Trankopfer ausgegossen, zum Danke für den gefundenen Sohn, errichtete Ion im Freien mit Hilfe der Diener, die ihn begleitet hatten, ein herrliches und geräumiges Zelt, das er mit schön gewirkten Teppichen bedeckte, die er aus Apollos Tempel hatte herbeischaffen lassen. In dem Zelte wurden lange Tafeln aufgestellt und mit silbernen Schüsseln voll köstlicher Speisen und goldenen Bechern voll des edelsten Weines belastet; dann sandte der Athener Xuthos seinen Herold in die Stadt Delphi und lud sämtliche Einwohner ein, an seiner Freude teilzunehmen. Bald füllte sich das große Zelt mit bekränzten Gästen, und sie tafelten in Herrlichkeit und Freude. Beim Nachtische trat ein alter Mann, dessen sonderbare Gebärden den Gästen zur Belustigung dienten, mitten in den Saal des Zeltes und maßte sich das Amt des Mundschenken an. Xuthos erkannte in ihm jenen greisen Diener seiner Gemahlin Krëusa, lobte den Gästen seinen Eifer und seine Treue und ließ ihn arglos schalten. Der Alte stellte sich an den Schenktisch und fing an, sich der Becher anzunehmen und die Gäste zu bedienen. Als nun gegen Schluß des Mahles die Flöten ertönten, befahl er den Knechten, die kleinen Becher von der Tafel wegzunehmen und den Gästen große silberne und goldene Trinkgefäße vorzusetzen. Er selbst ergriff das herrlichste Gefäß und trat, als wollte er damit seinen neuen jungen Herrn ehren, an den Schenktisch, füllte es zuoberst mit köstlichem Weine, schüttete aber zugleich unvermerkt ein tödliches Gift in den Becher. Indem er sich nun damit dem Ion näherte und einige Tropfen des Weines als Trankopfer auf den Boden goß, entfuhr zufälligerweise einem der nahestehenden Knechte ein Fluch. Ion, der unter den heiligen Gebräuchen des Tempels aufgewachsen war, erkannte darin eine böse Vorbedeutung und befahl, indem er den vollen Becher auf den Boden schüttete, daß ihm ein neuer Becher gereicht würde, aus welchem er selbst feierlich das Trankopfer ausgoß, während alle Gäste aus ihren Bechern dasselbe taten. Während dies geschah, flatterte eine Schar heiliger Tauben, die im Tempel des Apollo unter dem Schirme des Gottes aufgefüttert wurden, lustig in das Zelt herein. Als sie die Ströme Weines sahen, die von allen Seiten ausgegossen wurden, ließen sie sich, lüstern gemacht, auf den Boden nieder und fingen an, von dem herumschwimmenden Weine mit ausgereckten Schnäbeln zu nippen. Und allen übrigen schadete das Trankopfer nicht; nur die eine Taube, die sich an die Stelle gesetzt hatte, wo Ion seinen ersten Becher ausgegossen, schüttelte, sowie sie den Trank gekostet hatte, krampfhaft ihre Flügel, fing, zum Staunen aller Gäste, zu ächzen und zu toben an und starb unter Flügelschlag und Zuckungen. Da erhub sich Ion von seinem Sitze, streifte sein Gewand zürnend von den Armen, ballte die Fäuste und rief. »Wo ist der Mensch, der mich töten wollte? Rede, Alter! denn du hast deine Hand dazu geliehen, du hast mir den Trank gemischt!« Damit faßte er den Greis bei der Schulter, um ihn nicht wieder loszulassen. Dieser, überrascht und erschrocken, gestand die ganze Freveltat als von Krëusen herrührend. Da verließ der durch Apollos Orakel für des Xuthos Sohn erklärte Ion das Zelt, und alle Gäste folgten ihm in wilder Aufregung nach. Als er draußen im Freien stand, erhub er die Hände, umringt von den vornehmsten Delphiern, und sprach: »Heilige Erde, du bist mein Zeuge, daß dieses fremde Erechthidenweib mich mit Gift aus dem Wege räumen will!« »Steiniget, steiniget sie!« erscholl es von der Versammlung der Delphier wie aus einem Munde; und die ganze Stadt brach mit Ion auf, die Verbrecherin zu suchen. Xuthos selbst, dem die schreckliche Entdeckung seine Besinnung geraubt hatte, wurde von dem Strome mit fortgerissen, ohne zu wissen, was er tat.

Krëusa hatte am Altar Apollos die Früchte ihrer verzweifelten Tat erwartet. Diese aber keimten ganz anders auf, als sie vermutet hatte. Ein Tosen aus der Ferne schreckte sie aus ihrer Versunkenheit auf, und noch ehe es ganz nahe kam, war dem heranstürmenden Haufen einer der Knechte ihres Gemahls, der ihr selbst vor andern getreu war, vorangeeilt und hatte kaum Zeit gehabt, die Entdeckung ihres Frevels und den Beschluß, den das Volk von Delphi gefaßt hatte, ihr zu melden. Ihre Dienerinnen scharten sich um sie. »Halte dich fest am Altare, Gebieterin«, riefen sie, »denn sollte dich auch der heilige Ort nicht vor deinen Mördern schützen, so werden sie doch durch deine Ermordung eine unsühnbare Blutschuld auf sich laden!« Indessen kam die tobende Schar der Delphier, von Ion angeführt, dem Altare immer näher. Noch ehe sie bei demselben angelangt waren, hörte man des Jünglings zürnende Worte, die der Wind durch die Lüfte führte: »Die Götter haben es gut mit mir gemeint«, rief er in lautem Grimme, »daß dieser Frevel mich von der Stiefmutter befreien sollte, die mich zu Athen erwartete. Wo ist die Verruchte, die Viper mit der Giftzunge, der Drache mit dem todspeienden Flammenauge? Auf, daß die Mörderin vom höchsten Felsen in den Abgrund gestürzt werde!« Das ihn begleitende Volk brüllte Beifall.

Jetzt waren sie am Altare angekommen, und Ion zerrte an der Frau, die seine Mutter war und in der er nur seine Todfeindin erkannte, um sie von dem Asyl, auf dessen Heiligkeit und Unverletzlichkeit sie sich berief, hinwegzureißen. Aber Apollo wollte nicht, daß sein eigener Sohn der Mörder seiner Mutter würde. Auf seinen göttlichen Wink war das Gerücht von dem gedrohten Verbrechen Krëusens und der Strafe, welche sie dafür erwartete, schnell bis in den Tempel und zu den Ohren der Priesterin gedrungen, und der Gott hatte ihren Sinn erleuchtet, so daß sie einen raschen Blick in den Zusammenhang aller Ereignisse warf und ihr plötzlich klar wurde, daß ihr Pflegling Ion nicht des Xuthos, wie sie selbst nebelhaft prophezeit hatte, sondern Apollos und Krëusas Sohn sei. Sie verließ den Dreifuß und suchte das Kistchen hervor, in welchem der neugeborene Knabe samt einigen Erkennungszeichen, die sie gleichfalls sorgsam aufbewahrt hatte, einst zu Delphi vor dem Tempeltor ausgesetzt worden war. Mit diesem im Arme, eilte sie ins Freie und nach dem Altare, wo Krëusa gegen den eindringenden Ion um ihr Leben kämpfte. Als Ion die Priesterin herannahen sah, ließ er sogleich von seiner Beute ab, ging ihr ehrerbietig entgegen und rief. »Sei mir willkommen, liebe Mutter, denn so muß ich dich nennen, obgleich du mich nicht geboren hast! Hörst du, welchen Nachstellungen ich entgangen bin? Kaum habe ich einen Vater gefunden, so sinnt auch schon die böse Stiefmutter auf meinen Tod! Nun sage mir, Mutter, was soll ich tun; denn deiner Mahnung will ich folgen!« Die Priesterin erhob warnend ihren Finger und sprach: »Ion, geh mit unbefleckter Hand und unter günstigen Vogelzeichen nach Athen!« Ion besann sich eine Weile, eh er antwortete. »Ist denn der nicht fleckenlos«, sprach er endlich, »der seine Feinde tötet?« »Tue du nicht also, bist du mich gehört hast«, sagte die ehrwürdige Frau. »Siehst du dies alte Körbchen, das ich, mit frischen Kränzen umwunden, in meinen Armen trage? In diesem bist du einst ausgesetzt worden, aus ihm habe ich dich hervorgezogen.« Ion staunte. »Davon Mutter«, sprach er, »hast du mir nie etwas gesagt. Warum hast du es so lange vor mir verborgen?« »Weil der Gott«, antwortete die Priesterin, »dich bis hierher zu seinem Priester haben wollte. Jetzt, wo er dir einen Vater gegeben hat, entläßt er dich nach Athen.« »Was soll mir aber dieses Kistchen helfen?« fragte Ion weiter. »Es enthält die Windeln, in welchen du ausgesetzt worden bist, lieber Sohn!« antwortete die Priesterin. »Meine Windeln?« sprach Ion heftig. »Nun, das ist ja eine Spur, die mich auf meine rechte Mutter führen kann. O erwünschte Entdeckung!« Die Priesterin hielt ihm nun das offene Kistchen hin, und Ion griff gierig hinein und zog die reinlich zusammengewickelte Leinwand heraus. Während er seine betränten Augen auf die kostbaren Überbleibsel heftete, hatte sich Krëusas Angst allmählich verloren und ein Blick auf das Kistchen ihr die ganze Wahrheit entdeckt. Mit einem Sprunge verließ sie den Altar, und mit dem Freudenrufe: »Sohn!« hielt sie den staunenden Ion umschlungen. Diesem schlich sich aufs neue Mißtrauen ins Herz, er fürchtete die Umarmungen der Fremden als eine Hinterlist und wollte sich unwillig losmachen. Aber Krëusa selbst raffte sich zusammen, trat einige Schritte zurück und sprach: »Diese Leinwand soll für mich zeugen, Kind! Wickle sie getrost auseinander; du wirst die Zeichen finden, die ich dir angebe. Die Stickerei, die sie schmückt, ist das Werk meiner mädchenhaften Nadel. In der Mitte des Gewebes muß sich das Gorgonenhaupt finden, umringt von Schlangen, wie auf dem Ägisschilde!« Ungläubig entfaltete Ion die Windeln, aber mit einem plötzlichen Freudenschrei rief er aus: »O großer Zeus, hier ist die Gorgone, hier sind die Schlangen!« »Noch nicht genug«, sprach Krëusa, »es müssen in dem Kistchen auch kleine goldne Drachen sein, zur Erinnerung an die Drachen in der Kiste des Erichthonios; ein Halsschmuck für das neugeborene Knäbchen.« Ion durchforschte den Korb weiter, und mit wonnigem Lächeln zog er bald auch die Drachenbilder hervor. »Das letzte Zeichen«, rief Krëusa, »muß ein Kranz aus den unverwelklichen Oliven sein, die vom erstgepflanzten Ölbaume Athenes stammen und den ich meinem neugeborenen Knaben aufgesetzt.« Ion durchsuchte den Grund des Kistchens, und seine Hand brachte einen schönen grünen Olivenkranz hervor. »Mutter, Mutter!« rief er mit einer von schluchzenden Tränen unterbrochenen Stimme, fiel Krëusen um den Hals und bedeckte ihre Wangen mit Küssen. Endlich riß er sich von ihrem Halse los und verlangte nach seinem Vater Xuthos. Da entdeckte ihm Krëusa das Geheimnis seiner Geburt und wie er des Gottes Sohn sei, dem er so lang und getreu im Tempel gedient habe. Auch die früheren Verwicklungen und die letzte Verirrung Krëusens wurden ihm jetzt klar, und er fand selbst den verzweifelten Anschlag seiner Mutter auf des unerkannten Sohnes Leben verzeihlich. Xuthos nahm den Ion, obgleich nur als Stiefsohn, doch auch so als ein teures Göttergeschenk in seine Arme, und alle drei erschienen wieder im Tempel, dem Gotte zu danken. Die Priesterin aber weissagte von ihrem Dreifuß herab, daß Ion der Vater eines großen Stammes werden sollte, Ionier nach seinem Namen genannt; auch dem Xuthos weissagte sie Nachkommenschaft von Krëusen, einen Sohn, der Doros heißen und der weltberühmten Dorier Vater werden sollte. Mit so freudigen Erfüllungen und Hoffnungen brach das Fürstenpaar von Athen mit dem glücklich gefundenen Sohn nach der Heimat auf, und alle Einwohner Delphis gaben ihm das Geleite.