7. Kapitel


7. Kapitel

Der Geisterweg

Esther schläft, Esther wacht, und immer noch ist Regenwetter auf dem Landsitz in Lincolnshire.

Der Regen fällt: trip, trip, trip, Tag und Nacht auf die breiten Steinplatten der Terrasse, die der »Geisterweg« heißt. Das Wetter unten in Lincolnshire ist so schlecht, daß auch die lebhafteste Phantasie daran verzweifelt, es könne jemals wieder schön werden. Nicht etwa, daß ein besonderer Überschuß an Phantasie in dem Landhaus vorhanden wäre, denn Sir Leicester ist nicht da – und wenn er da wäre, würde das die Sache auch nicht wesentlich ändern –, sondern in Paris mit Mylady; und die Einsamkeit hockt brütend mit grauem Fittich über Chesney Wold.

Einige Regungen von Phantasie sind möglicherweise in den niederen Geschöpfen in Chesney Wold lebendig. Die Pferde in den Ställen – in den langgestreckten Ställen in einem roten kahlen Ziegelhof, wo im Turm eine Glocke hängt und eine Uhr mit einem großen Gesicht, das die Tauben in der Nähe, die gern dort auf dem Simse sitzen, immer zu fragen scheinen – malen sich im Geiste vielleicht manchmal doch ein Bild von schönem Wetter aus und sind darin bessere Künstler als ihre Stallknechte.

Der Rotschimmel, der sich so ausgezeichnet für einen Jagdritt über schwieriges Terrain eignet, denkt vielleicht, wenn er mit seinen großen Augen nach dem vergitterten Fenster nicht weit von seiner Krippe blickt, an die frischgrünen Blätter, die zu andern Zeiten dort glänzen, an die Wohlgerüche, die dort hereinströmen, und an einen feinen Galopp mit den Hatzhunden, während das Menschenkind, das den Stand daneben auskehrt, niemals über seine Heugabel und seinen Besen hinauskommt.

Der Grauschimmel, der der Tür gegenübersteht, ungeduldig am Halfter rüttelt und erwartungsvoll die Ohren spitzt, wenn die Tür aufgeht und der Stallknecht sagt: »Ruhig, Schimmel, ruhig, heut braucht dich niemand«, weiß das vielleicht so gut wie der Mann selber. Das scheinbar so stumme und ungesellige halbe Dutzend im Stall bringt vielleicht die langen nassen Stunden, wenn die Stalltür geschlossen ist, in lebhafterer Unterhaltung zu als das Gesinde in seiner Stube oder in der Ortsschenke; – vertreibt sich vielleicht gar damit die Zeit, das kleine Pony in der Ecke in die Schule zu nehmen, um es zu bilden – oder vielleicht gar zu verderben.

Und der Hofhund, der draußen in seiner Hütte, den großen Kopf auf den Pfoten, im Halbschlummer dröselt, träumt vielleicht von der heißen Sonne, die, wenn die Schatten der Stallgebäude seine Geduld durch ewiges Wechseln ermüdet haben, ihm um die Mittagszeit nicht mehr Zuflucht gewähren will als den Schatten seiner eignen Hütte, in dem er dann steif dasitzt und keucht und jault und gar zu gern noch an etwas anderm reißen möchte als an seiner Kette.

Jetzt träumt er sich vielleicht im Halbschlummer das Haus voller Gesellschaft, den Schuppen voller Wagen, die Ställe voller Pferde und die Dienerschaftsgebäude voller Reitknechte und Kutscher, bis er über die Gegenwart seine Zweifel bekommt und heraustritt, um nach der Wirklichkeit zu sehen. Dann knurrt er, sich ungeduldig schüttelnd, vielleicht innerlich: »Regen, Regen, Regen, nichts als Regen – und keine Familie«, wie er wieder in die Hütte geht und sich mit einem mürrischen Gähnen hinstreckt.

Und die Hunde im Zwinger hinten im Park, deren klagende Stimmen, wenn der Wind auf das Haus zusteht, zuzeiten selbst bis in Myladys Zimmer dringen, sie jagen jetzt vielleicht in der Einbildung die ganze Umgebung ab, während der Regen rings um sie niederschauert. Und die Kaninchen mit ihren verräterischen Schwänzchen, die zu Löchern unter Baumwurzeln heraus- und hineinschlüpfen, werden vielleicht munter bei dem Gedanken an die luftigen Tage, wo es um ihre Ohren weht, oder an die interessanten Jahreszeiten, wo es junge süße Pflänzchen zu nagen gibt.

Der Truthahn auf dem Hühnerhof, der sich immer über irgendein sein Geschlecht seit ewigen Zeiten verfolgendes Unrecht –wahrscheinlich die Weihnachtsfeier – zu ärgern scheint, denkt vielleicht an einen versäumten Sommermorgen, wo er in den dunkeln Heckengang unter die gefällten Bäume geriet und nicht loskonnte, während in der Scheune alles voll von Gerstenkörnern lag. Die mißgestimmte Gans, die sich jedes Mal bückt, wenn sie unter dem zwanzig Fuß hohen alten Torweg hindurchwackelt, schnattert vielleicht, wenn wir es nur verstünden, ihre Vorliebe für Wetter, wo der Torweg schwarze Schatten wirft, heraus.

All das mag ja sein, aber sonst lebt nicht viel Phantasie in Chesney Wold. Wenn in einem seltenen Augenblick ein bißchen davon vorhanden ist, so hallt es wie ein kleines Geräusch in dem alten Gebäude lange Zeit nach und endet meist mit Geistergeschichten und Geheimnissen.

Es hat so stark und anhaltend unten in Lincolnshire geregnet, daß Mrs. Rouncewell, die alte Wirtschafterin in Chesney Wold, schon mehrere Male ihre Brille abgenommen und abgewischt hat, um sich zu vergewissern, ob es wirklich noch regnet oder die Gläser nur so streifig aussehen.

Mrs. Rouncewell hätte sich durch das Rauschen und Plätschern hinreichend überzeugen lassen können, aber sie ist etwas taub und will das nicht zugeben.

Sie ist eine schöne alte Frau, stattlich und unendlich sauber, und hat einen Rücken und einen Brustkasten, daß sich niemand wundern würde, wenn sich nach ihrem Tode herausstellte, ihr Schnürleib sei ein großer altmodischer Familienkamin gewesen.

Um die Witterung kümmert sich Mrs. Rouncewell wenig. Das Haus steht immer da, ob es regnet oder nicht, und um das Haus, sagt sie, habe sie sich zu kümmern und sonst um nichts. Sie sitzt in ihrem Zimmer, in einem Seitengang im Erdgeschoß, mit einem Bogenfenster und der Aussicht auf einen geschorenen viereckigen Rasenflecken, in regelmäßigen Zwischenräumen mit glatten runden Bäumen und glatten runden Steinpfeilern verziert, daß es aussieht, als wollten die Bäume mit den Steinen Kegel schieben.

Das ganze Haus ist ihr anvertraut. Sie kann es gelegentlich öffnen, kann herumschäftern und sich erhitzen; aber jetzt ist alles abgeschlossen, und das Haus ruht auf Mrs. Rouncewells eisernem Brustkasten in majestätischem Schlummer.

Fast so unmöglich, wie an eine Aufheiterung des Wetters zu glauben, ist es, sich Chesney Wold ohne Mrs. Rouncewell vorzustellen. Aber sie ist auch erst fünfzig Jahre hier. Fragt sie heute an diesem Regentag: »Wie lange sind Sie hier?« und sie wird antworten:

»Fünfzig Jahre, drei Monate und vierzehn Tage werden es sein, wenn es Gott gefällt, daß ich bis Dienstag lebe.«

Mr. Rouncewell starb, kurz bevor die hübsche Mode der Zöpfe abkam, und versteckte den seinigen, wenn er ihn überhaupt mitnahm, bescheiden in einer Ecke des Parkkirchhofs, nicht weit von der altersgrauen Eingangspforte. Er war im Marktflecken geboren wie seine junge Witwe. Ihre Laufbahn in der Familie begann zur Zeit des letzten Sir Leicester in der Säuglingsstube.

Der gegenwärtige Repräsentant der Dedlocks ist ein vortrefflicher Herr. Er setzt bei allen seinen Leuten eine vollständige Abwesenheit individuellen Charakters und eigner Absichten und Meinungen voraus und ist überzeugt, daß er dazu da ist, seinerseits alle diese Mängel zu ersetzen. Sollte er einmal das Gegenteil entdecken, würde er einfach perplex sein und das Bewußtsein verlieren und wahrscheinlich nur wieder zu sich kommen, um noch einmal aufzuatmen und dann zu sterben. Aber er ist trotzdem ein vortrefflicher Herr und hält das für eine Pflicht seiner vornehmen Geburt. Er hat Mrs. Rouncewell sehr gern. Er nennt sie eine respektable, treffliche Frau. Er schüttelt ihr jedes Mal die Hand, wenn er nach Chesney Wold kommt oder wenn er abreist; und wenn er überfahren werden sollte oder ihm sonst ein Unfall zustieße, so würde er sagen, vorausgesetzt, daß er noch sprechen könnte: Laßt mich allein und schickt Mrs. Rouncewell her; denn er würde bei ihr seine Würde sicherer als bei andern aufgehoben wissen.

Mrs. Rouncewell hat Leid im Leben gar wohl erfahren. Der eine ihrer beiden Söhne schlug aus der Art, ging unter die Soldaten und ließ nie wieder etwas von sich hören. Selbst heute noch verlieren Mrs. Rouncewells ruhige Hände ihre Fassung, wenn sie von ihm spricht, und sie fahren unruhig hin und her, wenn sie sagt: »Was für ein hübscher Bursche, was für ein munterer, gutherziger, geschickter Junge er doch war!«

Ihr zweiter Sohn sollte in Chesney Wold untergebracht werden und wäre mit der Zeit Hausverwalter geworden; aber schon als Schuljunge hatte er die Gewohnheit, Dampfmaschinen aus Pfannen zu machen und Kanarienvögel dazu abzurichten, sich mit möglichst geringem Aufwand von Arbeit ihr Wasser selbst heraufzuziehen (und er kam ihnen dabei mit so raffiniert berechnetem hydraulischem Druck zuhilfe, daß ein Vogel, wenn er durstig war, sich nur mit der Achsel an das Rad zu lehnen brauchte, und die Sache war geschehen). Dieser Hang hatte Mrs. Rouncewell große Sorge gemacht. Mit der Herzensangst einer Henne, die Enteneier ausgebrütet hat, erkannte sie, daß das eine revolutionäre Richtung sei, denn sie wußte, daß Sir Leicester von jedem Hang für eine Kunst so denkt, die mit Rauch und einem hohen Schornstein irgend etwas zu tun hat. Aber da der verstockte junge Rebell, obwohl er sonst ein sanftes geduldiges Kind war, beim Älterwerden kein Zeichen der Besserung erkennen ließ, sondern im Gegenteil ein Modell zu einem Maschinenspinnstuhl baute, mußte sie sich doch endlich entschließen, unter Tränen dem Baronet seine Unverbesserlichkeit einzugestehen.

»Mrs. Rouncewell«, hatte Sir Leicester gesagt, »Sie wissen, ich kann mich mit niemandem herumstreiten. Schauen Sie, daß Sie den Jungen los werden; am besten ist, Sie stecken ihn in eine Fabrik. Die Eisenbaugegenden weiter nördlich wären, wie ich glaube, das beste für einen Jungen von solchen Neigungen.« Der Knabe ging also weiter nördlich und wuchs weiter nördlich auf, und wenn ihn Sir Leicester Dedlock jemals zu Gesicht bekam, oder jemals wieder an ihn dachte, so sah er in ihm jedenfalls nur ein Individuum von tausend ruß- und rauchgeschwärzten Verschwörern, die zwei oder drei Mal in der Woche nachts bei Fackelschein zu ungesetzmäßigem Treiben ausziehen.

Trotzdem ist Mrs. Rouncewells Sohn im Lauf der Zeit herangewachsen, hat geheiratet und sich selbständig gemacht und Mrs. Rouncewells Enkelseele aus dem Universum zu sich gerufen.

Dieser Enkel hat nun ausgelernt, ist von einer Reise nach fernen Ländern, wo er seine Kenntnisse erweitern und die Vorbereitungen für das Wagestück dieses Lebens auf Erden vollenden sollte, zurückgekehrt und steht jetzt, auf Besuch bei seiner Großmutter, an den Kamin gelehnt in deren Zimmer in Chesney Wold.

»Und nochmals und nochmals, es freut mich von Herzen, dich zu sehen, Watt! Und abermals, ich freue mich, dich zu sehen, Watt«, sagt Mrs. Rouncewell. »Du bist ein hübscher junger Bursche, deinem armen Onkel Georg so ähnlich. Ach!« – Mrs. Rouncewells Hände werden wie gewöhnlich bei Erwähnung dieses Namens unruhig.

»Man sagt, ich sei meinem Vater ähnlich, Großmutter.«

»Auch ihm, liebes Kind. Aber am ähnlichsten siehst du deinem armen, armen Onkel Georg; und dein lieber Vater« – Mrs. Rouncewells Hände werden wieder ruhig – »geht es ihm gut?«

»Sehr gut. In jeder Hinsicht, Großmutter.«

»Da bin ich dem Himmel dankbar!«

Mrs. Rouncewell liebt auch ihren zweiten Sohn, aber sie denkt an ihn mit einem gewissen Bedauern, so wie von einem Soldaten, der zwar tapfer ist, aber zum Feinde überging.

»Ist er glücklich?« fragt sie.

»Vollkommen.«

»Ich danke dem Himmel dafür. Also er hat dich in seinem Sinn erzogen und dich in fremde Länder geschickt und so? Nun, er wird es wohl am besten wissen. Es mag ja eine Welt außerhalb von Chesney Wold geben, die ich nicht verstehe, obgleich ich nicht mehr jung bin und doch auch viel gute Gesellschaft zu Gesicht bekommen habe.«

»Großmutter«, sagt der junge Mann und läßt das Thema fallen, »was war das für ein hübsches Mädchen, das vorhin bei dir war? Du nanntest sie Rosa.«

»Ja, Kind. Sie ist die Tochter einer Witwe im Dorf. Mädchen sind heutzutage so begriffsstutzig, daß ich sie schon als junges Ding zu mir genommen habe. Sie lernt gut, und es kann etwas aus ihr werden. Sie zeigt dem Fremden das Haus schon recht hübsch. Sie wohnt und ißt bei mir.«

»Ich hoffe, ich habe sie nicht vertrieben.«

»Sie glaubt wahrscheinlich, wir hätten Familienangelegenheiten zu besprechen. Sie ist sehr bescheiden. Eine gute Eigenschaft bei einem jungen Mädchen. Und gegenwärtig seltner«, sagt Mrs. Rouncewell und dehnt ihren Schnürleib zu seiner größten Breite aus, »als früher.«

Der junge Mann neigt das Haupt in Anerkennung der weisen Lehre. Mrs. Rouncewell lauscht. »Räder, horch!« sagt sie. Die jüngeren Ohren haben das Geräusch längst gehört. »Mein Himmel, was für ein Wagen kann das bei solchem Wetter sein?«

Nach einer kurzen Weile klopft es an die Tür.

»Herein!«

Eine schüchterne Dorfschöne mit dunkeln Augen und dunkelm Haar, so frisch in ihrer rosigen und doch zarten Blüte, daß die Regentropfen in ihrem Haar wie Tau auf einer frisch gepflückten Blume aussehen, tritt herein.

»Was sind das für Fremde, Rosa?«

»Zwei junge Herrn in einem Gig, Maam. Wollten das Haus sehen… Jawohl, ich sagte es ihnen schon«, setzt sie rasch als Antwort auf eine verneinende Gebärde der Wirtschafterin hinzu. »Ich ging an die Gartenpforte und sagte ihnen, es sei ein schlechter Tag und eine ungeeignete Stunde, aber der junge Mann, der kutschiert, zog den Hut bei dem Regen ab und bat mich, Ihnen diese Karte zu bringen.«

»Lies sie, lieber Watt!« sagt die Wirtschafterin.

– Rosa ist so verlegen, daß sie die Karte fallen läßt, wie sie sie dem jungen Mann geben will, und beide stoßen beinahe mit den Köpfen zusammen, als sie sich bücken. Rosa wird noch verlegner. –

»Mr. Guppy. Weiter steht nichts auf der Karte.«

»Guppy?« wiederholt Mrs. Rouncewell, »Mr. Guppy? Unsinn. Ich habe den Namen nie gehört.«

»Wenn Sie erlauben, dasselbe sagte er auch, aber er und der andre junge Herr wären erst gestern abend mit der Post von London gekommen zur Magistratsversammlung, zehn Meilen von hier. Und da sie bald fertig geworden seien und viel von Chesney Wold gehört hätten und beim besten Willen nicht wüßten, was sie mit der Zeit anfangen sollten, so wären sie trotz des Regens hierhergefahren. Sie sind Advokaten. Er sagt, er wäre zwar nicht bei Mr. Tulkinghorn, glaube aber, sich nötigenfalls auf Mr. Tulkinghorn berufen zu dürfen.«

– Als Rosa jetzt, wo sie fertig ist, bemerkt, daß sie eine lange Rede gehalten hat, wird sie noch verlegner. –

Mr. Tulkinghorn gehört gewissermaßen mit zu dem Edelsitz, und außerdem geht die Sage, daß er das Testament der Mrs. Rouncewell gemacht habe. Die alte Dame wird milder gestimmt, bewilligt den Gästen den Eintritt und entläßt Rosa. Der Enkel fühlt plötzlich in sich den Wunsch, ebenfalls das Haus anzusehen, rege werden und möchte sich der Gesellschaft anschließen. Die Großmutter freut sich, daß er sich dafür interessiert, und begleitet ihn, obgleich er sie dringendst bittet, sich ja nicht in ihrer Ruhe stören zu lassen.

»Ich bin Ihnen außerordentlich verbunden, Maam«, sagte Mr. Guppy und zieht in der Vorhalle seinen nassen, zottigen Überrock aus. »Wir Londoner Advokaten kommen nicht oft heraus, und wenn’s geschieht, nützen wir die Zeit so gut aus wie möglich.«

Die alte Wirtschafterin deutet mit gnädig stolzer Gebärde auf die große Treppe.

Mr. Guppy und sein Freund folgen Rosa, Mrs. Rouncewell und ihr Enkel kommen nach, und ein Gärtnerbursche eilt voraus, um die Jalousien aufzumachen.«

Wie es den meisten Leuten geht, wenn sie Häuser besichtigen, sind Mr. Guppy und sein Freund bereits tödlich abgespannt, ehe sie noch recht angefangen haben. Sie verlaufen sich in die falschen Gänge, besehen sich Überflüssigkeiten, kümmern sich nicht um wirkliche Sehenswürdigkeiten, gähnen, wenn neue Zimmerreihen aufgeschlossen werden, legen die größte Niedergeschlagenheit an den Tag und sind offenbar ganz und gar fertig. In jedem Zimmer, das gezeigt wird, zieht sich Mrs. Rouncewell, die so lotrecht steht wie das Haus selbst, in eine Fenstervertiefung oder sonst eine Nische zurück und hört mit stolzer Billigung Rosas Erklärungen zu. Ihr Enkel ist so aufmerksam, daß Rosa verlegner ist als je – und noch hübscher. So gehen sie von Zimmer zu Zimmer und beschwören die gemalten Dedlocks auf ein paar kurze Minuten herauf, wie der Gärtnerbursche das Tageslicht hereinläßt, und lassen sie wieder ins Grab sinken, wenn er wieder die Läden schließt.

Dem betrübten Mr. Guppy und seinem untröstlichen Freund kommt es vor, als ob es kein Ende nehmen wolle mit den Dedlocks, deren Familienruhm darin zu bestehen scheint, daß sie siebenhundert Jahre lang sich durch nichts ausgezeichnet haben.

Selbst der lange Gesellschaftssaal in Chesney Wold vermag Mr. Guppys Lebensgeister nicht aufzufrischen. Er ist so niedergeschlagen, daß er auf der Schwelle kleben bleibt und nicht Willenskraft genug aufbringen kann, um einzutreten. Aber ein Porträt über dem Kamin, von dem Modemaler des Tages gemalt, wirkt wie ein Zauber auf ihn. Er erholt sich im Augenblick. Er starrt es mit ungewöhnlichem Interesse an, er ist fasziniert davon und wie am Boden festgenagelt.

»Gott, wer ist das?« fragt er.

»Das Gemälde über dem Kamm stellt die gegenwärtige Lady Dedlock dar; es gilt für ausgezeichnet getroffen und als das beste Werk des Meisters«, leiert Rosa in einem Zug herunter.

»Ich will des Todes sein, wenn ich sie jemals gesehen habe«, flüstert Mr. Guppy und starrt seinen Freund erschrocken an, »und doch kenne ich sie! Gibt es Stahlstiche von dem Bild, Miß?«

»Das Porträt ist noch niemals vervielfältigt worden. Sir Leicester hat stets die Erlaubnis verweigert.«

»Hm«, sagt Mr. Guppy halblaut. »Ich will mich hängen lassen, wenn ich das Gesicht nicht schon irgendwo gesehen habe! So, so, das ist also Lady Dedlock.«

»Das Bild rechts stellt den gegenwärtigen Sir Leicester dar und das Bild links seinen Vater, den verstorbenen Sir Leicester.«

– Mr. Guppy hat kein Auge für die beiden Magnaten. –

»Es ist mir unerklärlich«, wiederholt er und starrt immer noch das erste Porträt an. »Wie gut ich das Bild kenne! Ich will verwünscht sein«, sagte er und sieht sich um, »wenn ich nicht glaube, ich muß von diesem Bilde geträumt haben.«

Da niemand von den Anwesenden ein besondres Interesse an Mr. Guppys Träumen nimmt, wird die Wahrscheinlichkeit nicht weiter erörtert. Aber der Herr ist so in das Porträt vertieft, daß er noch unbeweglich dasteht, als der Gärtnerbursche bereits die Läden zugemacht hat. Jetzt verläßt er das Zimmer ganz benommen und tritt mit den übrigen mit verwirrten, weitaufgerissenen Augen, als ob er sich überall nach Lady Dedlock umsähe, in die folgenden Gemächer.

Er bekommt nichts mehr von ihr zu Gesicht. Er sieht ihre Zimmer, die als besonders schön zuletzt gezeigt werden, und blickt aus dem Fenster hinaus, vor dem sie sich noch vor kurzer Zeit des Wetters wegen so tödlich langweilte.

Alle Dinge nehmen ein Ende, selbst die Besichtigung von Schlössern. Mr. Guppy hat das Ende der Sehenswürdigkeiten erlebt und die frische Dorfschöne das Ende ihrer Beschreibung, das da lautet:

»Die Terrasse unten findet die größte Bewunderung jedes Fremden; einer alten Familiensage zufolge nennt man sie den Geisterweg.«

»Wie?« fragt Mr. Guppy mit brennender Neugier. »Was ist das für eine Geschichte, Miß? Kommt etwas von einem Bild drin vor?«

»Bitte, erzählen Sie uns die Geschichte«, flüstert Watt halblaut.

»Ich weiß sie nicht, Sir«, – Rosa wird schon wieder verlegen.

»Sie wird den Fremden nicht erzählt und ist fast in Vergessenheit geraten«, meldet sich die Wirtschafterin dazwischentretend. »Sie ist niemals mehr als eine Familienanekdote gewesen.«

»Erlauben Sie mir nochmals die Frage, ob etwas von einem Bilde drin vorkommt, Maam«, forscht Mr. Guppy, »ich versichere Ihnen, je mehr ich an das Bild denke, desto bekannter kommt es mir vor, ohne daß ich einen Zusammenhang finden könnte.«

Ein Bild kommt in der Geschichte nicht vor, das kann die Wirtschafterin verbürgen.

Mr. Guppy ist ihr für die Auskunft sehr verbunden und außerdem für ihre Liebenswürdigkeit im allgemeinen. Er entfernt sich mit seinem Freund, wird von dem Gärtnerburschen eine andre Treppe hinabgeführt, und gleich darauf hört man ihn fortfahren.

Es dämmert bereits. Mrs. Rouncewell kann sich auf die Verschwiegenheit ihrer beiden jungen Zuhörer verlassen, und ihnen will sie daher gerne erzählen, wieso die Terrasse ihren gespenstischen Namen bekommen hat. Sie setzt sich in einen großen Lehnstuhl an dem rasch dunkel werdenden Fenster und erzählt:

»In den bösen Zeiten Karls I. – ich nenne sie natürlich nur deswegen böse, weil die Rebellen sich damals gegen den vortrefflichen König verschworen haben – war Sir Morbury Dedlock Besitzer von Chesney Wold. Ob man vor jener Zeit von einem Gespenst in der Familie gehört hat, weiß ich nicht. Ich halte es aber für sehr wahrscheinlich.«

– Mrs. Rouncewell ist dieser Meinung, weil sie überzeugt ist, daß eine Familie von so altem Adel und solcher Bedeutung ein Recht auf ein Gespenst hat. Sie betrachtet ein Gespenst als eines der Privilegien der höheren Stände, als eine vornehme Auszeichnung, auf die das gewöhnliche Volk keinen Anspruch hat. –

»Sir Morbury Dedlock stand, wie sich von selbst versteht, auf der Seite des heiligen Märtyrers. Aber man vermutet, daß seine Gemahlin, in deren Adern kein Tropfen des Familienblutes floß, die schlechte Sache begünstigte. Es geht die Sage, daß sie mit den Feinden König Karls in Verbindung stand, mit ihnen Briefe gewechselt und ihnen auf diese Weise Nachricht gegeben hat. Wenn Landedelleute von der Partei Seiner Majestät hier zusammenkamen, soll Mylady, wie man erzählt, der Tür des Beratungszimmers immer näher gewesen sein, als man ahnte… Hörst du nicht ein Geräusch wie Fußtritte auf der Terrasse, Watt?«

– Rosa rückt näher an die Wirtschafterin. –

»Ich höre den Regen auf die Steine tropfen«, gibt der junge Mann zu, »und ich höre ein sonderbares Echo –, ich glaube, es ist ein Echo. Es klingt fast wie ein hinkender Schritt.«

Die Wirtschafterin nickt ernst und fährt fort:

»Teils wegen dieser Gesinnungsverschiedenheit, teils aus andern Ursachen lebten Sir Morbury und seine Gemahlin nicht glücklich miteinander. Sie war von heftiger und stolzer Gemütsart. Sie paßten den Jahren und dem Charakter nach nicht zueinander und hatten keine Kinder, die zwischen ihnen hätten vermitteln können. Als ihr Lieblingsbruder als junger Mann von der Hand eines nahen Verwandten Sir Morburys fiel, empfand sie seinen Tod so tief, daß sie das ganze Geschlecht, in das sie geheiratet hatte, tödlich haßte. Als die Dedlocks im Begriff standen, von Chesney Wold für die Sache des Königs in den Kampf zu ziehen, soll sie mehr als ein Mal in der Stille der Nacht hinunter in die Ställe geschlichen sein und die Pferde lahm gemacht haben, und die Sage geht, ihr Gatte habe sie einmal zu solcher Stunde die Treppe hinunterschlüpfen sehen und sei ihr in den Stall gefolgt, wo sein Lieblingspferd stand. Er habe sie am Arm gepackt, und im Ringen oder Fallen oder durch das Pferd, das vielleicht erschrocken ausgeschlagen hat, getroffen, wurde sie lahm an der Hüfte und fing von dieser Stunde an zu siechen.«

Die Wirtschafterin hat ihre Stimme fast bis zum Flüsterton gedämpft.

»Sie war eine Dame von schöner Gestalt und edler Haltung gewesen. Sie klagte nie und sprach mit niemandem davon, daß sie ein Krüppel geworden war oder Schmerzen litt. Aber Tag für Tag versuchte sie auf die Terrasse zu gehen, und mit Hilfe eines Stocks und auf die steinerne Balustrade gestützt ging sie auf und ab, auf und ab, auf und ab, im Sonnenschein und im Schatten, und jeden Tag mit größerer Mühe. Da, eines Nachmittags, sah ihr Gatte, mit dem sie seit jener Nacht, mochte er sie bitten, wie er wollte, kein Sterbenswörtchen mehr gesprochen, aus dem großen Fenster an der Südseite, wie sie auf die steinernen Platten hinsank. Er eilte hinab, um sie aufzuheben, aber sie stieß ihn zurück, und als er sich über sie beugte, sah sie ihn fest und kalt an und sprach: ‚Ich will hier sterben, wo ich gegangen bin. Und ich will hier gehen, wenn ich auch im Grabe liege. Ich will hier gehen, bis der Stolz dieses Hauses gedemütigt ist. Und wenn Unglück und Schande es ereilen wird, dann sollen die Dedlocks meine Schritte hören.’«

Watt sieht Rosa an. Rosa blickt auf den im Dunkel verschwimmenden Fußboden nieder, halb von Grauen erfüllt, halb verlegen.

»Und auf dieser Stelle starb sie. Und aus jenen Tagen stammt der Name ‚Geisterweg‘. Wenn der Schritt ein Echo ist, so ist er ein Echo, das nur nach dem Dunkelwerden hörbar wird und selbst dann nur von Zeit zu Zeit. Aber manchmal kehrt es wieder, und jedes Mal hört man es, wenn Krankheit oder Tod der Familie bevorsteht.«

»– oder Schande, Großmutter«, ergänzt Watt.

»Schande kommt nie über Chesney Wold«, entgegnet die Wirtschafterin.

– Ihr Enkel macht seinen Vorstoß mit einem: »Natürlich! Natürlich!« wieder gut. –

»Das ist die Geschichte. Woher der Schall auch kommen mag, es ist ein angsterregendes Geräusch«, sagt Mrs. Rouncewell und steht vom Stuhle auf. »Und was das Merkwürdigste ist, man muß ihn hören. Mylady, die sich vor nichts fürchtet, gibt selbst zu, wenn er einmal da ist, sei man gezwungen, ihn zu hören. Man kann sich nicht verschließen dagegen. Watt, hinter dir steht eine große Stehuhr, sie hat einen sehr lauten Schlag und kann auch Musik machen. Du weißt mit solchen Dingen umzugehen.«

»So ziemlich, Großmutter.«

»Nun, so zieh sie auf.«

Watt zieht sie auf, das Musik- und das Schlagwerk.

»Jetzt komm hierher«, sagt die Wirtschafterin, »hierher an das Kopfkissen von Mylady. Ich weiß nicht, ob es schon dunkel genug ist, aber horch! Kannst du den Schall auf der Terrasse hören, durch die Musik und das laute Ticken und alles andre hindurch?«

»Ja!«

»Das sagt Mylady auch.«

8. Kapitel


8. Kapitel

deckt eine Menge Sünden zu.

Es war interessant, beim Ankleiden vor Tagesanbruch hinaus zum Fenster zu schauen, in dessen schwarzen Scheiben meine Kerzen sich wie zwei Leuchtfeuer spiegelten, und zu beobachten, wie beim Hellerwerden die Nacht draußen schwand.

Die Aussicht wurde allmählich deutlicher, und wie sich die Landschaft zeigte, über die der Wind die Nacht über hingestrichen, fand ich ein Vergnügen daran, die unbekannten Gegenstände zu entdecken, die mich im Schlafe umgeben hatten.

Anfangs waren sie im Nebel nur schwach erkennbar, und einige verspätete Sterne schimmerten über ihnen. Dann dämmerte das Bild schnell größer und voller hervor, unmerklich vertrugen sich meine Lichter mit der morgendlichen Umgebung nicht mehr, die Finsternis in den Ecken meines Zimmers verschwand, und hell schien der Tag auf eine heitere Landschaft, gekrönt von der alten Abteikirche mit ihrem dicken Turm.

Alles im Hause war so in Ordnung und jedermann so aufmerksam gegen mich, daß mir meine zwei Bund Schlüssel nicht viel Arbeit machten. Immerhin hatte ich so viel zu tun mit dem Aufschreiben des Inhalts jedes kleinen Faches und Kastens auf eine Schiefertafel und dem Notieren, was vorrätig war an Eingemachtem und Konserven, an Flaschen und Glaszeug, Porzellan und andern Dingen, daß ich gar nicht glauben wollte, es sei schon Frühstückszeit, als ich klingeln hörte.

Ich lief hinunter und bereitete den Tee, welches verantwortliche Amt mir bereits übertragen war, und da sich alle etwas verspätet hatten und sich noch nicht sehen ließen, wollte ich den Garten ein wenig kennenlernen. Wie allerliebst, vorn die hübsche Allee und die Auffahrt, hinten der Blumengarten, und meine liebe Freundin oben am Fenster mir zulächelnd, als ob sie mich aus der Ferne küssen wolle. In der Auffahrt waren die tiefen Einschnitte der Räder, die wir gestern bei der Ankunft mit dem Wagen gemacht hatten, noch sichtbar, und ich bat den Gärtner, den Sand wieder zu glätten. Hinter dem Blumengarten befanden sich Gemüsebeete, ein Grasplatz und hübsche kleine Ökonomiegebäude. Das Haus selbst mit seinen drei Giebeln auf dem Dach, seinen abwechslungsreich geschnittenen Fenstern – einige ganz groß, einige winzig klein, aber alle entzückend –, mit seinem Spalier aus Rosen und Jelängerjelieber an der Südfront und seinem heimlichen, behäbigen, gastfreundlichen Aussehen war, wie Ada sagte, als sie mir am Arm des Hausherrn entgegenkam, ihres Vetters John würdig. Ein gewagter Ausspruch, aber er kniff sie nur dafür in die Wange.

Mr. Skimpole war beim Frühstück wieder so gewinnend wie gestern abend. Es stand Honig auf dem Tisch, und er knüpfte daran eine Bemerkung über die Bienen. Er habe nichts gegen Honig einzuwenden – und das schien sehr wahr zu sein, denn er ließ sich ihn sehr gut schmecken –, aber er wolle den übermäßigen Fleiß der Bienen nicht als Vorbild gelten lassen. Jedenfalls müsse die Biene Gefallen am Honigsammeln finden, sonst würde sie sich doch damit nicht abgeben; es verlange es ja niemand von ihr. Es sei gar nicht notwendig, daß sie soviel Aufhebens von ihren Neigungen mache. Wenn jeder Zuckerbäcker in der Welt herumschwärmen und egoistischerweise alle Leute auffordern wolle, ihn ja nicht zu stören, würde die Welt zu einem ganz unerträglichen Aufenthalt werden. Im übrigen sei es doch wirklich eine lächerliche Sache, sich aus seinem Besitz, kaum daß man ihn erworben, herausräuchern zu lassen. Von einem Fabrikanten in Manchester würde man sehr gering denken, wenn er zu keinem andern Zweck Baumwolle spänne. – Die Drohne halte er dagegen für die Verkörperung einer viel schöneren und weiseren Idee. Die Drohne sage ganz ohne Ziererei: »Ihr müßt mich schon entschuldigen, ich kann mich wirklich nicht ums Geschäft bekümmern. Ich befinde mich in einer Welt, wo es so viel zu sehen gibt und so wenig Zeit dazu ist, daß ich mir schon die Freiheit nehmen muß, mich umzuschauen und zu bitten, daß jemand für mich sorgt, dem nichts daran liegt, sich umzuschauen.«

Das war nach Mr. Skimpole die Drohnenphilosophie, und sie erschiene ihm als eine sehr gute Philosophie – vorausgesetzt, daß es der Drohne passe, mit der Biene auf gutem Fuß zu stehen, und das sei, soviel er wisse, immer der Fall, wenn nur nicht der wichtigtuende fleißige Knirps zuweilen seinerseits Späne machen und sich soviel auf seinen Honig einbilden wolle. – Er malte das Bild bis ins Kleinste aus, und es belustigte uns sehr, obgleich er die Sache ungemein ernst zu nehmen schien. – Die andern hörten ihm noch zu, als ich mich entfernte, um meinen neuen Pflichten nachzukommen. Sie nahmen mich einige Zeit in Anspruch, und ich ging, das Schlüsselkörbchen am Arm, durch die Korridore, da rief mich Mr. Jarndyce in ein kleines Stübchen, das neben seinem Schlafzimmer lag und zum Teil eine kleine Bibliothek mit Büchern und Papieren war, teils ein kleines Museum von Stiefeln, Schuhen und Hutschachteln.

»Setzen Sie sich, liebes Kind«, sagte er. »Sie müssen wissen, das ist mein Brummstübchen. Wenn ich schlechter Laune bin, gehe ich hierher und brumme.«

»Dann müssen Sie also sehr selten hier sein, Sir«, sagte ich.

»O, Sie kennen mich noch nicht. Wenn ich enttäuscht bin oder verstimmt – es liegt am Wind –, so flüchte ich mich hierher. Das Brummstübchen wird von allen Zimmern im Hause am meisten benützt. Sie kennen meine Launen noch nicht zur Hälfte, aber Gott, wie Sie zittern, mein Kind.«

– Ich konnte nichts dafür, ich nahm mich sehr zusammen, aber als ich mich allein sah mit diesem gütigen Menschen und in seine wohlwollenden Augen blickte und mich so glücklich, so geehrt und mein Herz so voll fühlte, küßte ich ihm die Hand. –

Ich weiß nicht, was ich sagte, überhaupt nicht, ob ich sprach. Er geriet ganz außer Fassung und ging ans Fenster – ich glaubte fast in der Absicht hinauszuspringen –, dann drehte er sich um, und ich sah in seinen Augen, was er hatte verbergen wollen. Er streichelte mir sanft das Haar, und ich setzte mich.

»Gut, schon gut!« sagte er. »Es ist schon vorbei. Bah, seien Sie doch kein Kind!«

»Es soll nicht wieder geschehen, Sir«, stotterte ich, »aber anfangs ist es so schwer…«

»Unsinn, Esther. Es ist leicht, ganz leicht. Warum auch nicht? Ich höre von einem guten kleinen verwaisten Mädchen ohne Beschützer und setze mir in den Kopf, ihm beizustehen. Sie wächst, übertrifft noch meine gute Meinung, und ich bleibe ihr Vormund und ihr Freund. Was ist da weiter? Also! Jetzt haben wir die Geschichte erledigt.«

Ich sagte zu mir: Esther, ich wundere mich über dich. Das hätte ich nicht von dir erwartet. Und die gute Wirkung war, daß ich die Hände über mein Körbchen faltete und wieder ganz ruhig wurde. Mr. Jarndyce sah sehr froh darüber aus und fing an, so vertraulich mit mir zu sprechen, als ob wir schon seit langem jeden Morgen beisammen gewesen wären.

»Diese Kanzleigerichtsgeschichte verstehen Sie natürlich nicht, Esther?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Ich weiß nicht, wer sie überhaupt versteht«, fuhr er fort. »Die Advokaten haben sie so bodenlos verwirrt, daß die ursprüngliche Prozeßangelegenheit längst von der Erde verschwunden ist. Es handelte sich um ein Testament oder eine Hinterlassenschaft. Jetzt handelt es sich nur noch um Kosten. Wir werden beständig vorgeladen und wieder entlassen, müssen schwören, Eingaben machen und Gegeneingaben, irgend etwas beweisen, besiegeln, beantragen und berichten, uns um den Lordkanzler und alle seine Trabanten drehen und uns nach bestmöglicher Rechtsform in einen staubigen Tod walzen lassen. Alles nur wegen der Kosten. Darum handelt es sich jetzt. Alles übrige ist auf wunderbare Weise spurlos verschwunden.«

»Aber es handelte sich um ein Testament«, erinnerte ich ihn, da er wieder anfing, sich durch die Haare zu fahren.

»Nun ja, es handelte sich um ein Testament, wenn überhaupt um irgend etwas Greifbares. Ein gewisser Jarndyce erwarb sich in einer bösen Stunde ein großes Vermögen und machte ein langes Testament. Über der Frage, wie die durch dieses Testament gestifteten Legate zu verwalten seien, verfliegt das Vermögen selbst in der Luft; die Erben geraten in eine so jämmerliche Lage, als ob sie sich eines großen Verbrechens schuldig gemacht hätten, und das Testament selbst sinkt zu einem toten Buchstaben herab. In dem ganzen beklagenswerten Rechtsstreit wird alles, was jeder der Beteiligten mit Ausnahme eines einzigen bereits weiß, an diesen einzigen, der es nicht weiß, gewiesen, um es herauszufinden. Jeder einzelne muß immer und immer wieder Abschriften des ganzen Falles bekommen, was sich zu Wagenladungen von Papier aufhäuft, und muß sie bezahlen, auch wenn er sie nicht bekommt, was gewöhnlich der Fall ist, denn niemand verlangt danach, muß aber den höllischen Tanz von Kosten und Spesen und Unsinn und Korruption durchtanzen, wie ihn noch kein Hexensabbat je ausgeheckt hat. Das römische Recht fragt das bürgerliche Recht, und das bürgerliche Recht fragt wieder das römische. Das bürgerliche Recht entdeckt, daß es dies, und das römische Recht, daß es jenes nicht tun kann. Beide entschließen sich aber nicht zu sagen, daß sie beide zusammen nichts tun können, ehe nicht für A ein Solizitor bestellt ist und ein Advokat erscheint und für B desgleichen. So geht es das ganze Alphabet hindurch. Auf diese Art dauert es Jahre und Menschenalter und fängt immer wieder von vorne an und wird nie fertig. Und wir können uns unter keinen Umständen von dem Prozeß freimachen, denn man hat uns zu Parteien gepreßt, und wir müssen Parteien sein, ob wir wollen oder nicht… Aber es ist nicht gut, daran zu denken. Als mein Großonkel, der arme Tom Jarndyce, daran zu denken anfing, war es der Anfang vom Ende.«

»Derselbe Mr. Jarndyce, dessen Geschichte ich gehört habe?«

Er nickte ernst.

»Ich war sein Erbe, und dies ist sein Haus gewesen, Esther. Als ich hierherkam, war es wirklich unheimlich hier. Darum heißt es Bleakhaus, das unheimliche Haus. Er hatte die Zeichen seines Jammers allerwärts hier aufgedrückt.«

»Wie verändert muß es jetzt sein«, sagte ich.

»Es hat vordem das Hohe Haus geheißen. Er gab ihm seinen jetzigen Namen und wohnte hier ganz zurückgezogen. Tag und Nacht brütete er über den niederträchtigen Aktenhaufen des Prozesses und wähnte, allem gesunden Menschenverstand entgegen, ihn entwirren und zu Ende bringen zu können. Dabei verfiel das Haus. Der Wind pfiff durch die gesprungenen Mauern, der Regen strömte durch das baufällige Dach, und das Unkraut verwehrte den Weg zu den verfaulenden Türen. Als ich seine Leiche hierherbrachte, schien auch dem Hause das Gehirn aus dem Kopf geschossen zu sein, so zerfetzt und trümmerhaft sah es aus.«

Er ging ein Weilchen auf und ab, nachdem er dies mit einem Schauder mehr zu sich selbst gesagt hatte… Dann sah er mich an, seine Mienen hellten sich auf, und er setzte sich wieder hin, die Hände in die Taschen gesteckt.

»Ich sagte Ihnen, dies sei das Brummstübchen, mein Kind. Wo bin ich stehen geblieben?«

Ich erinnerte ihn an die wohltätige Veränderung in Bleakhaus.

»Ja richtig, Bleakhaus. In der City von London haben wir auch noch eine Besitzung, die jetzt so aussehen muß wie damals Bleakhaus. Ich sage, wir haben eine Besitzung, das heißt, der Prozeß hat sie, denn die Kosten sind die einzige Macht auf Erden, die jemals etwas anderes davon bekommen wird als Augenweh oder Herzeleid. Der Besitz besteht aus einer Straße verfallender blinder Häuser, denen die Augen ausgeschlagen sind – ohne Glasscheiben, ohne Fensterrahmen, nur mit kahlen Läden versehen, die aus ihren Angeln herunterhängen und auseinanderfallen. Der Rost schält sich in Flocken von dem Eisengitter ab; die Schornsteine fallen zusammen, die steinernen Stufen vor jeder Tür sind mit grünem Moder überzogen, und selbst die Stützen, die die Ruinen am Zusammenstürzen hindern, fangen schon an zu faulen. Obgleich Bleakhaus keinen Kanzleiprozeß hatte, so führte doch sein Herr einen, und es ist gebrandmarkt mit demselben Siegel. Das sind die Abdrücke des Großen Siegels, das in ganz England jedes Kind kennt.

»Wie verändert es ist«, sagte ich wiederum.

»Nun ja, das ist es«, antwortete er viel heiterer jetzt als vorhin, »und es ist sehr weise von Ihnen, mich immer wieder auf die Lichtseite des Bildes aufmerksam zu machen. Übrigens, das sind Angelegenheiten, von denen ich nie spreche, an die ich kaum denke, außer im Brummstübchen hier. Wenn Sie es für angezeigt halten, Rick und Ada davon zu erzählen, so überlasse ich es ganz Ihrem Urteil, Esther.«

»Ich hoffe, Sir, daß…«

»Wollen Sie mich nicht du und Vormund nennen, liebe Esther?«

Ich fühlte wieder, daß mir etwas die Kehle zuschnürte. Aber er gab sich den Anschein, als sage er es nur so leichthin, als bloße Laune und nicht als überlegte, aus Herzensgrund kommende Güte.

Ich ließ meine Wirtschaftsschlüssel klingeln, um mich an meine Schuldigkeit zu erinnern, und faltete meine Hände noch ein wenig entschlossener über dem Körbchen und zwang mich, ihn ruhig anzusehen.

»Ich hoffe, Vormund«, sagte ich, »du wirst auf meine Klugheit nicht zu viel bauen, und ich hoffe, ich werde dich nicht enttäuschen. Ich fürchte immer, du wirst unangenehm überrascht sein, wenn du herausfindest, daß ich nicht besonders gescheit bin – aber es ist wirklich so, und du würdest selbst bald dahinterkommen, wenn ich es dir jetzt nicht selbst eingestünde.«

Er schien von meinen Worten durchaus nicht unangenehm überrascht zu sein; ganz im Gegenteil. Er sagte mir, und sein Gesicht strahlte dabei vor Lächeln, daß er mich recht gut kenne und ich gescheit genug für ihn sei.

»Nun, so will ich hoffen, daß es wahr ist, aber ich fürchte doch, du irrst dich, Vormund.«

»Du bist gescheit genug, um unsre gute kleine Hausfrau hier zu sein, Kind«, versetzte er gutmütig, »kleine Alte aus dem Kinderlied.« Er trällerte:

‚Kleines altes Weibchen, und willst so hoch hinaus?
Willst die Spinnenweben fegen im blauen Himmelshaus?‘

»Du wirst sie im Lauf deiner Haushaltung, Esther, so rein von unserm Himmel fegen, daß wir einmal eines schönen Tages das Brummstübchen werden räumen und seine Tür zunageln müssen.«

Bei dieser Gelegenheit erhielt ich zuerst die Namen »altes Weibchen«, »kleine Alte« und »Spinnweb« und »Mutter Hubbard«, »Mütterchen Durden«, »Mrs. Shipton« und dergleichen, so daß »Esther« darüber ganz vergessen wurde.

»Um auf unsere frühere Rede zurückzukommen«, begann Mr. Jarndyce wieder. »Da haben wir Rick, einen vielversprechenden hübschen Jungen. Was sollen wir mit dem anfangen?«

– O du meine Güte, was für ein Einfall, mich deswegen um Rat zu fragen! –

»Er muß doch etwas lernen, Esther«, Mr. Jarndyce steckte die Hände in die Taschen und streckte die Beine aus. »Er muß sich einen Beruf wählen. Das wird noch eine lange komplizierte Zopfflechterei werden, das ahne ich schon, aber es muß geschehen.«

»Eine lange komplizierte… was, Vormund?«

»Zopfflechterei. Es ist das einzige Wort, mit dem man die Sache benennen kann. Er ist ein Kanzleigerichtsmündel, liebe Esther. Kenge & Carboy werden etwas davon zu erzählen wissen; Assessor Soundso – eine Art lächerlicher Totengräber, der in einem Hinterstübchen am Ende der Quality-Court, Kanzleigerichtsgasse, Gräber für Prozeßakten schaufelt – wird etwas dreinzureden haben; die Advokaten desgleichen; der Kanzler wird etwas drüber sagen, die Trabanten werden hineinreden, und jeder wird sich ein Honorar dabei machen, und die ganze Sache wird ausnehmend feierlich, wortreich, unzulänglich und kostspielig sein. Das nenne ich so im allgemeinen Zopfflechterei. Wie das Menschengeschlecht zu dieser Plage gekommen ist oder wessen Sünden diese jungen Leute abzubüßen haben, weiß ich nicht; aber es ist so.«

Er fing wieder an, sich wütend durch die Haare zu fahren und anzudeuten, daß er Ostwind zu spüren beginne. Es gab mir ein Beispiel seiner Herzensgüte, daß sein Gesicht, mochte seine Stimmung wechseln, wie sie wollte, mich immer mit gleich wohlwollendem Ausdruck ansah. Er wurde gleich wieder ruhig, steckte die Hände in die Taschen und streckte die Beine aus.

»Vielleicht wäre es das Beste, man würde Mr. Richard fragen, wozu er selbst am meisten Lust hat«, sagte ich.

»Sehr richtig. Das meine ich auch. Ich dächte, es wäre das Beste, wenn du mit ihm und Ada mit deinem angebornen Takt und deiner stillen Weise darüber sprechen würdest. Wir werden gewiß in dieser Angelegenheit durch deine Hilfe zum Ziele kommen, Frauchen.«

– Mir machte der Gedanke an die Verantwortung, die mir jetzt auferlegt wurde, und die vielen andern Dinge wirklich Sorge. –

Ich hatte das doch nicht gemeint; ich hatte gemeint, er solle mit ihm sprechen.

Natürlich sagte ich weiter nichts, als daß ich mein Bestes tun wolle, gab jedoch meiner Befürchtung Ausdruck, er halte mich für viel klüger, als ich in Wirklichkeit sei, aber er lachte nur herzlich darüber.

»Komm«, sagte er, stand auf und schob den Stuhl zurück. »Ich glaube, wir können das Brummstübchen für einen Tag zusperren. Und noch ein Wort zum Schluß, Esther: Wünschest du vielleicht irgend etwas von mir zu wissen?«

– Er sah mich aufmerksam an, und ich mußte ihm ebenso gespannt ins Auge schauen und fühlte gut, was er meinte. –

»Über mich selbst, Vormund?«

»Ja.«

»Vormund«, sagte ich und fühlte, daß meine Hände plötzlich kälter wurden, »Vormund, ich bin fest überzeugt, daß ich dich nicht erst zu bitten brauche, mir etwas zu sagen, wenn du es für nötig oder gut befindest. Wenn ich nicht meinen ganzen Glauben und mein ganzes Vertrauen auf dich setzte, müßte ich wahrhaftig wenig Gefühl haben. Ich habe dich wirklich nichts zu fragen. Gar nichts.«

Er zog meinen Arm durch den seinen, und wir gingen hinaus, nach Ada zu sehen. Von dieser Stunde an fühlte ich mich ihm gegenüber ganz unbefangen, war ganz zufrieden, nicht mehr zu wissen, und ganz glücklich.

Anfangs ging es in Bleakhaus ziemlich lebhaft zu, denn wir hatten Bekanntschaft mit den vielen nahen und entfernten Nachbarn, die Mr. Jarndyce kannten, zu machen. Es schien Ada und mir, als ob ihn jeder kenne, der etwas mit fremder Leute Geld anfangen wollte. Es setzte uns nicht wenig in Erstaunen, als wir frühmorgens anfingen, seine Briefe zu sortieren und im Brummstübchen einige derselben zu beantworten, daß das große Lebensziel fast aller seiner Korrespondenten zu sein schien, Komitees zu bilden und Geld zu sammeln und auszugeben. Die Damen waren darauf so versessen wie die Herren, ja, übertrafen sie noch bei weitem. Sie taten sich in leidenschaftlichster Weise zu Komitees zusammen und veranstalteten mit wahrer Wut Kollekten. Einige von ihnen schienen ihr ganzes Leben mit dem Verteilen von Subskriptionslisten, Schillingskarten, Halbkronenkarten, Halbsovereignkarten, Pennykarten usw. an das ganze Adreßbuch zuzubringen.

Sie baten um alles.

Sie baten um Kleider, um alte Leinwand, um Geld, um Kohlen, sie baten um Suppe, um persönliche Verwendung, sie baten um Autographen, um Flanell, kurz um alles, was Mr. Jarndyce hatte – oder nicht hatte. Ihre Zwecke waren so mannigfaltig wie ihre Wünsche. Sie wollten neue Gebäude errichten, Schulden von alten abzahlen, den mittelalterlichen Marienorden in einem malerischen Gebäude wieder aufleben lassen, sie wollten Mrs. Jellyby ein Ehrengeschenk überreichen, sie wollten den Sekretär des betreffenden Unternehmens malen lassen und das Porträt seiner Schwiegermutter schenken, deren große Verehrung für ihn allgemein bekannt sei; sie hatten vor, alles mögliche anzuschaffen, von fünfhunderttausend Traktätchen bis zu einer Leibrente und von einem Marmordenkmal bis zu einer silbernen Teekanne.

Und welche Menge von Namen sie annahmen. Da gab es: die Frauen von England, die Töchter von Britannien, die Schwestern jeder einzelnen Kardinaltugend, die Frauen von Amerika, die »Damen« von dem und jenen. Sie schienen beständig vor lauter Stimmwerben und Wählen außer sich vor Erregung zu sein. Unserm geringen Einblick und ihren eigenen Berichten nach schienen sie fortwährend Leute zehntausendeweis für ihre Wahlliste zu werben, aber nie ihre Kandidaten durchzubringen. Wir bekamen Kopfweh schon bei dem bloßen Gedanken, in welch fieberhafter Erregung ihr Leben vergehen müsse.

Unter den Damen, die sich ganz besonders durch solch habgierigen Wohltätigkeitstrieb auszeichneten, befand sich auch eine gewisse Mrs. Pardiggle, die, aus der Anzahl ihrer Briefe an Mr. Jarndyce zu schließen, eine ebenso gewaltige Briefschreiberin wie Mrs. Jellyby zu sein schien. Es fiel uns auf, daß sofort Ostwind eintrat, sowie die Rede auf Mrs. Pardiggle kam, und stets Mr. Jarndyce am Weiterreden hinderte. Er pflegte zu bemerken, daß es zwei Klassen wohltätiger Leute gäbe; die einen, die wenig tun und viel Lärm machen, die andern, die gar keinen Lärm machen und viel tun.

Wir waren daher sehr neugierig auf Mrs. Pardiggle, die wir für einen Typus der ersten Klasse halten mußten, und freuten uns sehr, als sie uns eines Tags mit ihren fünf jungen Söhnen einen Besuch abstatten kam.

Sie war eine Dame in gewaltigem Stil, mit einer Brille, einer Adlernase und einem lauten Organ behaftet, die den Eindruck machte, als habe sie sehr viel Platz nötig. Das war übrigens auch der Fall, denn sie verstand es, mit ihrer Schleppe kleine Stühle, selbst wenn sie in ziemlicher Entfernung standen, umzuwerfen. Da nur Ada und ich zu Hause waren, empfingen wir sie schüchtern, denn sie schien wie kaltes Wetter in das Haus zu kommen und den kleinen Pardiggles, die ihr nachfolgten, blaue Nasen zu machen.

»Hier sind, meine jungen Damen«, sprach Mrs. Pardiggle mit großer Geläufigkeit nach den ersten Begrüßungsphrasen, »meine fünf Knaben. Sie haben vielleicht ihre Namen auf einer der gedruckten Subskriptionslisten im Besitze unseres geschätzten Freundes Mrs. Jarndyce gelesen. Egbert, mein Ältester (zwölf), ist der Knabe, der sein ganzes Taschengeld, 5 sh. und 3 d., den Tokahupo-Indianern geschickt hat. Oswald, mein Zweiter (zehnundeinhalb), hat zu dem großen Nationalehrengeschenk für Smithers 2 sh. und 9 d. beigetragen; Francis, mein Dritter (neun), 1 sh. und 6½ d., mein Vierter (sieben) 8 d. für die altersschwachen Witwen, Alfred, mein Jüngster (fünf), ist freiwillig dem Kinderverein ‚Die Freude‘ beigetreten und hat gelobt, sich sein ganzes Leben hindurch des Tabaks in jeder Gestalt zu enthalten.«

Noch nie in meinem Leben sind mir so mißvergnügte Kinder vorgekommen. Sie waren nicht bloß schwächlich und welk, sondern sahen geradezu verbissen und haßerfüllt vor Unzufriedenheit aus. Bei der Erwähnung der Tokahupo-Indianer hätte ich wirklich Egbert für eines der wildesten Mitglieder dieses Stammes halten können, so wütend sah er mich an. Als die Beitragssumme der Kinder erwähnt wurde, nahm wohl das Gesicht jedes einzelnen einen besonders bösartigen Ausdruck an, aber bei ihm war es weitaus am schlimmsten. Nur den kleinen Rekruten des Kinderordens »Die Freude«, der sein Unglück in stumpfsinniger Ruhe zu tragen schien, muß ich ausnehmen.

»Sie haben Mrs. Jellyby einen Besuch gemacht, höre ich.«

Wir sagten ja, wir hätten eine Nacht dort zugebracht.

»Mrs. Jellyby«, fuhr die Dame in ihrem demonstrativen lauten harten Ton fort, so daß es mir vorkam, ihre Stimme habe auch eine Art Brille auf – ich möchte nicht zu bemerken versäumen, daß ihre Brille auf der Nase dadurch nicht verschönend wirkte, daß Mrs. Pardiggle gestielte Augen hatte, wie Ada sich ausdrückte –, »Mrs. Jellyby ist eine Wohltäterin der Menschheit und verdient hilfreiche Unterstützung. Meine Knaben haben zu dem afrikanischen Unternehmen beigetragen: Egbert 1 sh. und 6 d., das ganze Taschengeld für neun Wochen; Oswald 1 sh. und 1½ d., ebenfalls neunwöchentliches Taschengeld; die übrigen ihren bescheidenen Mitteln angemessen. Dessenungeachtet kann ich nicht in jeder Hinsicht mit Mrs. Jellyby übereinstimmen. Ich bin mit Mrs. Jellyby, was die Behandlung ihrer jungen Familie anbetrifft, nicht einverstanden. Es fängt übrigens an, die allgemeine Aufmerksamkeit zu erregen. Man hat bemerkt, daß ihre junge Familie von der Teilnahme an der Sache, der sie sich widmet, ausgeschlossen ist. Sie kann recht haben, sie kann unrecht haben; aber ob sie nun recht oder unrecht hat, ich verfahre mit meinen Kindern anders. Ich nehme sie überallhin mit.«

Ich kam später zu der Überzeugung – ebenso wie Ada –, daß diese Worte es waren, die dem bösgelaunten Ältesten ein scharfes Geheul erpreßten. Er versteckte es schnell unter einem Gähnen, aber es fing als Geheul an.

»Sie gehen mit mir in die Frühmesse um halb sieben, das ganze Jahr hindurch mit Einschluß des tiefen Winters«, fuhr Mrs. Pardiggle im Galopp fort, »und sind um mich während der wechselnden Pflichten des Tages. Ich bin bei dem Schulkomitee, ich bin beim Besuchskomitee, ich bin beim Lehrkomitee, ich bin bei dem Almosenverteilungskomitee, ich bin Mitglied der lokalen Leinwandverteilungsgesellschaft und vieler allgemeiner Gesellschaften, und mit dem Wahlgeschäft hat vielleicht niemand soviel zu tun wie ich. Aber überall sind sie meine Begleiter und eignen sich auf diese Art die Kenntnis der Armen an und die allgemeine Geschäftskenntnis in Wohltätigkeitssachen – mit einem Wort, den Geschmack für diese Dinge, die ihnen im spätem Leben zur Befriedigung und ihren Nebenmenschen zur Hilfe gereichen werden. Meine Jungen sind nie leichtsinnig, sie verwenden ihr gesamtes Taschengeld unter meiner Anleitung zu Subskriptionen und haben so vielen öffentlichen Versammlungen beigewohnt, so viele Vorlesungen, Reden und Diskussionen mitangehört wie nur wenig Erwachsene. Alfred (fünf), der, wie Sie wissen, aus freier Wahl dem Kinderorden ‚Die Freude‘ beigetreten ist, war eins der wenigen Kinder, das nach einer zweistündigen, eindringlichen Anrede von dem Vorsitzenden des Abends bei dieser Gelegenheit noch bewußtes Empfinden an den Tag legte.«

– Alfred glimmerte uns so böse an, als ob er die Schmach dieses Abends nie vergessen könne noch wolle. –

»Sie werden bemerkt haben, Miß Summerson, daß auf einigen der erwähnten Listen im Besitz unseres geschätzten Freundes Mr. Jarndyce die Namensreihe meiner jungen Familie mit O. A. Pardiggle F. R. S. = 1 £ – schließt. Das ist ihr Vater. Wir beobachten meistens immer das gleiche Verfahren. Ich lege zuerst mein Scherflein hin, dann zeichnen meine Jungen ihre Beiträge je nach dem Alter und den bescheidnen Mitteln jedes einzelnen, und dann schließt Mr. Pardiggle den Zug. Mr. Pardiggle schätzt sich glücklich, unter meiner Anleitung seine kleine Gabe beizusteuern, und so gestalten wir die Sache nicht bloß für uns angenehm, sondern auch, schätze ich, erhebend für andere.«

Gesetzt, Mr. Pardiggle speise bei Mr. Jellyby und Mr. Jellyby schütte nach Tisch Mr. Pardiggle sein Herz aus, würde Mr. Pardiggle sich auch zu einer vertraulichen Mitteilung gegenüber Mr. Jellyby bewogen fühlen? Ich wurde ganz wirr, als ich mich bei diesem Gedanken ertappte; er kam mir so von selbst in den Kopf.

»Das Haus liegt sehr hübsch hier«, bemerkte Mrs. Pardiggle.

– Wir waren froh, daß die Rede auf etwas anderes kam, traten ans Fenster und machten die Dame auf die Schönheiten der Aussicht aufmerksam, aber ihre Brillengläser schienen mir mit auffallender Gleichgültigkeit hinzusehen. –

»Kennen Sie Mr. Gusher?«

Wir mußten leider eingestehen, daß wir nicht das Vergnügen von Mr. Gushers Bekanntschaft hätten.

»Da verlieren Sie viel«, versicherte uns Mrs. Pardiggle mit gebieterischem Blick. »Er ist ein höchst eindringlicher, leidenschaftlicher Redner – voller Feuer! In einem Wagen auf dieser Wiese hier, die nach der ganzen Terrainbildung von der Natur wie zu einer öffentlichen Versammlung geschaffen scheint, würde er fast jede mögliche Gelegenheit stundenlang benutzen! Nun, meine jungen Damen!« Mrs. Pardiggle trat von ihrem Stuhl zurück und warf wie durch unsichtbare magische Kraft das ziemlich entfernte runde Tischchen, auf dem mein Arbeitskörbchen stand, um… »Nun, meine jungen Damen, haben Sie mich jetzt ganz ergründet?« – Das war eine so verwirrende Frage, daß mich Ada ganz fassungslos ansah. Mein eignes Schuldbewußtsein nach dem, was ich gedacht hatte, muß sich in der Farbe meiner Wangen ausgesprochen haben. – »Ich meine, meinen hervorstechendsten Charakterzug ergründet. Ich weiß, er ist so hervorstechend, daß er auf der Stelle zu entdecken ist. Ich breite ihn selber offen hin. Ja, ich gestehe es frei und frank, ich bin eine Frau der Tat. Ich liebe anstrengende Arbeit, ich finde Genuß an anstrengender Arbeit. Aufregung tut mir gut. Ich bin anstrengende Arbeit so gewöhnt, daß ich nicht weiß, was Müdigkeit heißt.«

– Wir murmelten etwas, daß das erstaunlich und sehr hübsch sei, oder etwas derart. Wir wußten zwar nicht den Grund, warum es erstaunlich oder hübsch sei, aber taten es aus Höflichkeit. –

»Ich weiß nicht, was es heißt, müde zu sein. Sie können mich nicht müde machen, versuchen Sie es nur einmal!« fuhr Mrs. Pardiggle fort. »Die Menge von Anstrengungen, die mir keine sind, die Unsumme von Geschäften, die mir obliegen, setzen mich manchmal selbst in Erstaunen, aber sie werden für mich zu nichts. Manchmal sind meine Jungen und Mr. Pardiggle schon vom bloßen Zusehen aufs äußerste erschöpft, während ich mich noch rühmen kann, frisch wie eine Lerche zu sein.«

– Der finstere älteste Junge sah womöglich jetzt noch böswilliger aus als vorhin. Ich bemerkte, daß er die rechte Faust ballte und damit dem Deckel seiner Mütze, die er unter dem linken Arme trug, einen heimlichen Schlag versetzte. –

»Diese Eigenschaft kommt mir bei meinen Rundgängen vortrefflich zustatten. Wenn jemand nicht hören will, was ich ihm zu erzählen habe, so sage ich nur: Ermüdung kenne ich nicht, guter Freund; ich werde nie müde und werde fortreden, bis ich fertig bin. Dieses Verfahren versagt nie! Miß Summerson, ich hoffe, ich werde sogleich das Vergnügen Ihrer Begleitung auf meinem Rundgang haben, und Miß Clare wird doch auch mitkommen?«

Anfangs versuchte ich, mich mit dem Hinweis auf meine häuslichen Pflichten zu entschuldigen. Da ich damit nicht durchkam, wandte ich ein, ich zweifle an meiner Befähigung zu solchen Dingen, sei zu unerfahren darin, meinen Charakter anders Gearteten anzupassen, um vom passenden Gesichtspunkt aus auf sie einzuwirken, und daß mir die feine Kenntnis des menschlichen Herzens fehle, die doch eine wesentliche Erfordernis bei diesem Werke sei. Ich sagte, ich hätte selbst noch viel zu lernen, ehe ich andre lehren könnte, und daß mein guter Wille allein nicht ausreiche. Alles das brachte ich mit wenig Selbstvertrauen vor, denn Mrs. Pardiggle war viel älter als ich, hatte große Erfahrung und war höchst gebieterisch in ihrem Auftreten.

»Sie befinden sich im Irrtum, Miß Summerson«, sagte sie, »aber vielleicht können Sie anstrengende Arbeit oder die damit verbundene Aufregung nicht aushalten. Wenn Sie vielleicht sehen wollen, wie ich ans Werk gehe, so will ich Sie jetzt recht gern mitnehmen, denn ich bin eben im Begriff, mit meinen Jungen einen Ziegelstreicher in der Nähe hier, einen sehr schlechten Charakter, zu besuchen. Auch Miß Clare, wenn sie mir die Ehre erweisen will.«

Ada und ich wechselten einen Blick und nahmen, da wir ohnehin ausgehen wollten, das Anerbieten an. Wir setzten unsre Hüte auf, kehrten nach kurzer Abwesenheit zurück und fanden die »junge Familie« gelangweilt in einer Ecke hinschmachten, während Mrs. Pardiggle im Zimmer auf und nieder schritt und alle leichteren Gegenstände mit der Schleppe umfegte. Sie ergriff sofort von Ada Besitz, und ich folgte mit der »Familie«. Ada erzählte mir nachher, Mrs. Pardiggle habe ihr in ihrem lauten Ton auf dem ganzen Wege zu dem Ziegelstreicher von einem aufregenden Kampfe erzählt, den sie vor zwei oder drei Jahren gegen eine andre Dame ausgefochten habe. Es habe sich dabei um Vergebung einer Stelle in einem Stift an zwei rivalisierende Kandidaten gehandelt. Es sei außerordentlich viel gedruckt, geredet, bevollmächtigt und abgestimmt worden und habe große Lebhaftigkeit da und dort gesetzt, wenn auch die Folge war, daß keiner der beiden Kandidaten die Stelle erhielt.

Ich sehe es sehr gerne, wenn sich Kinder mir anvertrauen, und habe in dieser Hinsicht viel Glück, aber damals mußte ich viel darunter leiden. Kaum waren wir nämlich aus der Haustür draußen, forderte Egbert mit der Miene eines kleinen Straßenräubers einen Schilling von mir, weil ihm sein Taschengeld »von ihr« abgeschwindelt worden sei. Als ich ihn auf die Unangemessenheit dieses Wortes namentlich in Verbindung mit seiner Mutter aufmerksam machte, kniff er mich in den Arm und sagte: »O ja freilich! Würde es Ihnen vielleicht gefallen? Warum tut sie, als gäbe sie mir Geld, und nimmt es mir dann wieder weg? Warum heißt es mein Taschengeld, und ich darf es nicht ausgeben?« Diese aufregenden Fragen stiegen ihm und Oswald und Francis so zu Kopf, daß sie alle gleichzeitig an mir herumzwickten, und zwar auf so erschrecklich kunstfertige Weise, indem sie winzige Hautstücke auf meinen Armen zwischen die Nägel nahmen, daß ich mich kaum überwinden konnte, nicht laut aufzuschreien.

Überdies trat mir noch Felix auf die Zehen. Und das kleine Mitglied vom Orden der »Freude«, das sein gesamtes Einkommen schon im voraus unterzeichnet hatte und sich nicht nur des Tabaks, sondern auch des Kuchens enthalten mußte, raste so vor Schmerz und Wut, als wir bei einem Konditor vorbeigingen, daß es ganz feuerrot im Gesicht wurde und mich ordentlich in Schrecken versetzte.

– Ich habe noch nie auf einem Spaziergang mit Kindern an Leib und Seele so viel zu erdulden gehabt wie von diesen an Jugendfreude unterbundenen Jungen, die mir jetzt die Ehre erwiesen, natürlich zu sein. –

Ich war froh, als wir des Ziegelstreichers Wohnung erreichten, obgleich sie in einer Gruppe jämmerlicher Hütten vor einer Lehmgrube stand, mit einem Schweinestall dicht vor den zerbrochenen Fenstern und einem elenden kleinen Gärtchen neben der Tür, in dem nichts als lauter Pfützen gediehen. Hie und da war bei den Hütten ein altes Faß hingestellt, um das vom Dache abfließende Regenwasser aufzufangen. Die an den Türen und Fenstern lungernden Männer und Frauen beachteten uns nicht weiter, nur, daß sie manchmal einander anlachten oder bei unserm Vorbeigehen Worte über »vornehme Leute« fallenließen, die sich um ihre Sachen kümmern und sich mit den Angelegenheiten andrer nicht den Kopf zerbrechen sollten. Mrs. Pardiggle ging voran, trug sittliche Entschiedenheit zur Schau, ließ sich sehr wortreich über die unreinlichen Gewohnheiten der Leute aus – als ob irgend jemand an einem solchen Orte hätte reinlich sein können – und führte uns schließlich in eine Hütte am äußersten Ende, deren Stube wir fast ausfüllten.

Außer uns befanden sich in dem feuchten dumpfigen Zimmer eine Frau mit einem blaugeschlagenen Auge, die ein kleines ächzendes Kind am Feuer wiegte, ein Mann, ganz bedeckt von Lehm und Schlamm und von sehr liederlichem Aussehen, der lang hingerekelt auf dem Boden lag und eine Pfeife rauchte, ein athletischer junger Bursche, der einem Hunde ein Halsband umlegte, und ein frech aussehendes Mädchen, das in sehr schmutzigem Wasser irgend etwas wusch. Sie blickten alle auf, als wir hereintraten, und die Frau schien ihr Gesicht nach dem Feuer zu kehren, wie um ihr verletztes Auge nicht sehen zu lassen. Niemand hieß uns willkommen.

»Nun, meine Freunde«, begann Mrs. Pardiggle, aber ihre Stimme klang durchaus nicht freundschaftlich und viel zu geschäftsmäßig und systematisch, »wie geht es euch allen? Hier bin ich wieder. Ich habe euch schon gesagt, ich bin nicht müde zu machen. Ich liebe Anstrengung und halte Wort.«

»Kommen leicht noch mehr herein?« brummte der Mann auf dem Boden, den Kopf auf die Hand gestützt und uns anstierend.

»Nein, mein Freund«, sagte Mrs. Pardiggle, setzte sich auf einen Stuhl und fegte den andern um. »Wir sind alle hier.«

»Ich hab schon gmeint, es langt sonst net«, sagte der Mann mit der Pfeife im Mund und musterte uns.

Der junge Bursche und das Mädchen lachten. Zwei Bekannte von ihnen, die unser Kommen angelockt hatte, standen, die Hände in den Taschen, draußen vor der Tür und lachten laut mit.

»Ihr könnt mich nicht ermüden, liebe Leute«, sagte Mrs. Pardiggle zur Türe hinaus. »Ich habe Freude an angestrengter Arbeit, und je schwerer ihr sie mir macht, desto besser gefällt sie mir.«

»Dann machen wir sie ihr leicht«, brummte der Mann auf dem Boden, »damits schon ein End hat. Ich laß mir die Frechheiten in meinem Haus nicht mehr lang gefallen. Ich laß mich nicht länger verhören wie einen Spitzbuben. Jetzt wollen Sie wie gewöhnlich herumschnüffeln und herumspitzeln; ich weiß schon, woraufs hinausgeht. Schon gut, ich werd Ihnen keine Gelegenheiten geben, anzufangen. Ich will euch die Müh ersparen. Wascht meine Tochter? Ja, sie wascht. Schauen Sies Wasser an. Stinkts? Das trinken wir. Wie gfallts Ihnen und was halten Sie von Schnaps? Is meine Wohnung schmutzig? Ja, sie is schmutzig, sie ist von Natur schmutzig und ungsund, und wir haben fünf schmutzige und ungsunde Kinder ghabt; schon tot alle, und das ist für sie das beste und für uns auch. Ob ich Ihner kleines Buch glesen hab? Nein, ich hab Ihner kleines Buch nicht glesen. Hier kann keiner lesen, und dann paßts für ein Wickelkind, und ich bin kein Wickelkind. Und wie ich mich aufgführt hab? Drei Tag bsoffen gwesen! Und ich hätt mich vier Tag lang bsoffen, wenns Geld glangt hätt. Ob ich niemals dran denk in die Kirch zu gehen? Fallt mir net ein. Sie warten dort net auf mich. Der Kirchendiener ist zu vornehm für mich. Und woher hat meine Frau das blaue Äug? Hm. Von mir. Und wenn sie sagt nein, so lügts.«

Er hatte die Pfeife aus dem Mund genommen, während er sprach, legte sich jetzt auf die andre Seite und fing wieder an zu rauchen.

Mrs. Pardiggle, die ihn durch ihre Brille mit einer erkünstelten Fassung, die meiner Ansicht nach nur dazu angetan war, seine Widerspenstigkeit zu vermehren, angesehen hatte, zog jetzt ein Buch heraus wie einen Konstablerstab und nahm die ganze Gesellschaft in Haft. In geistige Haft natürlich. Aber sie tat es mit der Miene eines unerbittlichen Polizeimanns.

Ada und mir wurde es sehr unbehaglich zumute. Wir fühlten uns als Eindringlinge, und es kam uns beiden vor, als ob Mrs. Pardiggle viel mehr erreicht haben würde, wenn sie nicht so mechanisch zu Werke gegangen wäre. Die Kinder sahen mürrisch drein und starrten alles mit großen Augen an; die Familie nahm von uns nicht die geringste Notiz, außer, wenn der junge Bursche den Hund bellen ließ, was er meistens tat, wenn Mrs. Pardiggle mit besonderer Emphase sprach. Wir empfanden beide aufs schmerzlichste, daß zwischen uns und diesen Leuten eine eiserne unüberbrückbare Schranke bestand.

Durch wen oder wie sie beseitigt werden könnte, wußten wir nicht, aber durch Mrs. Pardiggle nicht, das sahen wir ein. Selbst was sie vorlas und sagte, schien uns für solche Zuhörer schlecht gewählt zu sein, selbst wenn man es ihnen noch so rücksichtsvoll und mit noch so viel Takt beigebracht hätte. Was das kleine Buch, von dem der Mann auf dem Boden gesprochen hatte, betraf, so bekamen wir es später zu Gesicht, und Mr. Jarndyce sagte, er zweifle, ob Robinson Crusoe es gelesen haben würde, auch wenn er kein andres auf seiner wüsten Insel gehabt hätte.

Unter diesen Umständen bedeutete es eine große, allgemeine Erleichterung, als Mrs. Pardiggle aufhörte. Der Mann auf dem Boden drehte wieder den Kopf und sagte mürrisch:

»Also sind S jetzt fertig?«

»Für heute ja, mein Freund. Aber ich werde nie müde. Ich werde regelmäßig wiederkommen«, antwortete Mrs. Pardiggle mit zur Schau getragener Leutseligkeit.

»Wenn S nur jetzt schon gehen«, sagte er, verschränkte mit einem Fluch die Arme und schloß die Augen, »können S von mir aus tun, was S mögen.«

Mrs. Pardiggle stand auf und erzeugte in dem engen Raum einen Wirbel, dem selbst die Pfeife des Mannes nur mit knapper Not entging. Sodann nahm sie zwei ihrer Jungen an der Hand, hieß die andern ihr auf dem Fuße folgen, sprach die Hoffnung aus, daß der Ziegelstreicher und sein ganzes Haus bei ihrem nächsten Besuche sich gebessert haben würden, und begab sich nach einer andern Hütte.

Sie glaubte wahrscheinlich, wir folgten ihr, aber als sie draußen war, gingen wir zu der am Feuer sitzenden Frau hin, um sie zu fragen, ob das Kleine krank sei.

Sie wandte keinen Blick von dem Kind, das jetzt auf ihrem Schoß lag. Wir hatten schon früher bemerkt, daß sie ihr verletztes Auge mit der Hand zudeckte, als wolle sie jede Erinnerung an Gewalttat und schlechte Behandlung von dem armen kleinen Wesen fernhalten.

Ada, deren weiches Herz bei dem Anblick gerührt wurde, beugte sich herab, um das kleine Gesicht zu berühren. Da bemerkte ich, was vor sich ging, und zog sie schnell zurück.

Das Kind starb.

»Ach, Esther!« rief sie und sank auf die Knie. »Sieh her! Ach, liebe Esther, das kleine Wesen! Das hübsche kleine stille Wesen! Es tut mir so leid. Und die Mutter tut mir so leid. Ich habe noch nie so etwas Trauriges gesehen. Ach das arme, arme Kind!«

Ihre Teilnahme und Milde, mit der sie sich weinend über das Kleine beugte und ihre Hand auf die der Mutter legte, hätten jedes Herz rühren müssen. Die Frau sah sie zuerst erstaunt an und brach dann in Tränen aus.

Ich nahm ihr die leichte Last von Schoße, tat, was ich konnte, um die kleine Leiche hübscher und friedlicher aussehen zu machen, legte sie auf ein Brett und deckte sie mit meinem Taschentuche zu. Wir versuchten die Mutter zu trösten und flüsterten ihr die Worte zu, die unser Heiland über die Kinder gesagt hatte. Sie antwortete nichts, sondern blieb sitzen und weinte – weinte bitterlich.

Als ich mich umdrehte, sah ich, daß der junge Bursche den Hund hinausgeführt hatte und an der Türe stand und auf uns blickte, mit trocknen Augen, aber still. Auch das Mädchen war stumm, saß in einer Ecke und blickte zu Boden. Der Mann war aufgestanden. Er rauchte noch immer mit trotziger Miene, aber er schwieg.

Ein häßliches Weib, sehr ärmlich angezogen, kam rasch herein, während ich noch die Szene betrachtete, ging auf die Mutter zu und rief: »Jenny, Jenny.« Die Mutter stand bei diesen Worten auf und fiel ihr um den Hals.

Auch diese Frau trug auf Gesicht und Armen die Spuren von Mißhandlungen. Sie hatte nichts Anmutiges an sich als die Anmut des Mitleids, aber wie sie die andere tröstete und ihr dabei die Tränen über die Wangen liefen, vermißte man die Schönheit nicht. Ich sage: tröstete; aber sie sagte nichts weiter als: »Jenny, Jenny.« Alles übrige lag in dem Ton, mit dem sie diese Worte sprach.

Es war rührend, wie diese beiden Frauen, arm, zerlumpt und zerschlagen, so einig waren, – zu sehen, was sie einander sein konnten, – wie sie füreinander fühlten, – wie ihre Herzen bei den harten Prüfungen des Lebens sanfter geworden waren. Ich glaube, die beste Seite solcher Leute bleibt uns fast immer verborgen. Was der Arme dem Armen ist, ist wenigen bekannt außer ihnen selbst und Gott.

Wir hielten es für das beste, uns zu entfernen und sie ungestört sich selbst zu überlassen. Wir stahlen uns still hinaus und wurden von niemand beachtet außer von dem Mann. Er stand an die Wand gelehnt, ganz nahe an der Tür, und als er bemerkte, daß wir nur mühsam an ihm vorbei konnten, ging er vor uns hinaus. Er schien nicht merken lassen zu wollen, daß er es unsertwegen tat, aber wir verstanden es gar wohl und dankten ihm. Er gab keine Antwort.

Ada war auf dem ganzen Nachhausewege so bekümmert, und Richard, den wir zu Hause fanden, schmerzte es so sehr, sie in Tränen zu sehen – wenn er auch einmal zu mir hinausging, um mir zu sagen, wie schön sie aussähe –, daß wir übereinkamen, abends ein paar Sachen mitzunehmen und unsern Besuch in der Hütte des Ziegelstreichers zu wiederholen. Wir sagten Mr. Jarndyce so wenig wie möglich davon, aber der Wind schlug sofort nach Osten um.

Richard begleitete uns abends nach dem Schauplatz unsres Morgenausfluges. Unterwegs mußten wir an einer lärmenden Schenke vorbei, wo eine Anzahl Männer um die Türe herumstanden. Unter ihnen und sich am lautesten herumstreitend der Vater des kleinen gestorbenen Kindes. Nicht weit davon trafen wir den jungen Burschen mit seinem Hund in ähnlich gestimmter Gesellschaft. Die Schwester lachte und plauderte mit ein paar andern Mädchen an einer Ecke der Hüttenreihe, aber sie schien sich zu schämen und wendete sich weg, als wir vorbeigingen.

Wir ließen Richard warten, als wir das Haus des Ziegelstreichers erblickten, und gingen allein weiter. Als wir die Tür erreichten, sahen wir das Weib, das die Mutter getröstet hatte, dort stehen und sich voll Angst umschauen.

»Ach so, Sie sinds, junge Damens«, sagte sie flüsternd. »Ich schau nach meinem Mann aus. Ich hab das Herz im Mund. Wenn er mich außer Haus trifft, schlägt er mich tot.«

»Ihr Ehegatte?« fragte ich.

»Ja, Miß, mein Mann. Jenny schläft. Sie ist todmüd. Seit sieben Tagen und Nächten ist das Kind kaum von ihrem Schoß gekommen, außer, wenn ich es ihr für ein paar Minuten hab abnehmen können.«

Sie machte uns Platz, wir traten leise ein und legten, was wir mitgebracht, neben das elende Bett, auf dem die Mutter schlief, hin. Man hatte keinen Versuch gemacht, die Stube zu reinigen; ihre Beschaffenheit schien jede Hoffnung auszuschließen, daß sie jemals rein werden könnte, aber die kleine starre Leiche, die soviel Feierlichkeit ringsum verbreitete, war gewaschen und reinlich in ein paar weiße Leinwandlappen gehüllt worden, und auf mein Taschentuch, das immer noch das arme Kind zudeckte, hatten dieselben rauhen narbenvollen Hände einen kleinen Strauß gelegt.

»Der Himmel möge es Ihnen vergelten!« sagten wir zu dem Weib. »Sie sind eine gute Frau.«

»Ich, junge Damens?« fragte sie mit Erstaunen. »Ruhig, Jenny!«

– Die Mutter hatte im Schlafe gestöhnt und bewegte sich. Der Klang der bekannten Stimme schien sie zu beruhigen. Sie war wieder ganz still. –

Ich ahnte nicht, als ich mein Taschentuch in die Höhe hob, um die kleine Leiche darunter zu betrachten, und Adas Haar, die sich mitleidig darüber gebeugt hatte, das Kind wie ein Glorienschein umgab – ich ahnte nicht, auf welch sturmdurchtobter Brust dieses Taschentuch noch einmal ruhen würde. Ich dachte nur daran, daß vielleicht der Engel des Kindes auf die Frau niederblicke, die es mit so mitleidiger Hand wieder darüber deckte und dann, als wir Abschied nahmen, an der Türe stehen blieb und sich abwechselnd umsah, in banger Angst hinauslauschte und wieder in ihrer beruhigenden Weise flüsterte: »Jenny, Jenny.«

9. Kapitel


9. Kapitel

Anzeichen

Ich weiß nicht, wie es zugeht, aber es kommt mir vor, als erzählte ich stets von mir selbst. Ich denke stets, ich schreibe von andern Leuten, und will so wenig wie möglich an mich denken, und plötzlich bin ich wieder mitten in der Geschichte drin und bin ärgerlich und sage: Aber, aber, du zudringliches, unbedeutendes Geschöpf!

Mein Liebling und ich lasen und arbeiteten und waren die ganze Zeit über so beschäftigt, daß die Wintertage wie froh beschwingte Vögel an uns vorüberflogen. Meistens nachmittags und jeden Abend leistete uns Richard Gesellschaft. Obgleich er einer der ruhelosesten Menschen war, die es nur geben konnte, so fühlte er sich doch sehr wohl in unsrer Gesellschaft.

Er hatte Ada sehr, sehr gern. Ich weiß es, und es ist besser, ich sage es gleich. Ich hatte noch nie junge Leute sich ineinander verlieben sehen, aber ich wußte ziemlich bald, wie es mit ihnen stand. Ich konnte natürlich nicht sagen oder merken lassen, daß ich etwas davon wußte. Im Gegenteil, ich tat so ernsthaft und stellte mich so blind, daß ich manchmal, wenn ich an der Arbeit saß, bei mir dachte, ob ich mich denn nicht gar zu hinterlistig benähme.

Aber es ging nicht anders. Ich hatte weiter nichts zu tun als still zu sein und war so still wie eine Maus. Sie waren auch so still wie Mäuse, was das Reden anbelangte, aber die unschuldige Art, mit der sie sich mehr und mehr auf mich verließen und einander immer lieber gewannen, war so entzückend, daß es mir sehr schwer wurde, zu verbergen, wie sehr es meine Teilnahme erregte.

»Unser kleines altes Hausmütterchen ist so ein vortreffliches Frauchen«, pflegte Richard zu sagen, wenn er mir frühmorgens im Garten mit seinem gewinnenden Lachen und vielleicht nicht ohne ein wenig zu erröten entgegenkam, »daß es ohne sie gar nicht geht. Ehe ich meine wilde Tageshetze beginne, mich mit Büchern und Instrumenten herumschlage und dann wie ein Straßenräuber im Galopp bergauf, bergab die ganze Gegend durchstreife, tut es mir immer so wohl, einen ruhigen Spaziergang mit unserer guten Freundin zu machen, daß ich schon wieder hier bin.«

»Du weißt, liebes Hausmütterchen«, sagte dann vielleicht Ada wieder vor dem Schlafengehen, ihren Kopf auf meiner Schulter gelehnt, während der Schein des Feuers sich in ihren nachdenklichen Augen widerspiegelte, »ich habe nicht vor zu plaudern, wenn wir abends heraufgehen, aber mit deinem lieben Gesicht als Gesellschaft eine kleine Weile dazusitzen und zu träumen und den Wind zu hören und an die armen Seeleute auf dem Meer zu denken…«

So, so, wollte vielleicht Richard Seemann werden?!

Wir hatten schon öfter besprochen, was er werden sollte, und es war von seiner alten Neigung für die See die Rede gewesen. Mr. Jarndyce hatte an einen Verwandten der Familie, einen gewissen hochgestellten Sir Leicester Dedlock, geschrieben und ihn um seine Verwendung für Richard gebeten. Und Sir Leicester hatte sehr gnädig geantwortet, er werde sich glücklich schätzen, wenn sich ihm Gelegenheit bieten sollte – was aber keineswegs wahrscheinlich sei –, dem jungen Gentleman irgendwie förderlich sein zu können. Und Mylady sende dem jungen Herrn, an dessen Verwandtschaft sie sich noch recht gut erinnere, die besten Wünsche. Sie hoffe, er werde seine Pflicht in jedem Beruf, den er zu ergreifen gedenke, tun.

»Daraus scheint klar hervorzugehen«, sagte Richard zu mir, »daß ich mir meinen eignen Weg zu bahnen haben werde. Tut nichts! Viele haben das vor mir versuchen müssen und haben es zuwege gebracht. Ich wünschte nur, ich wäre schon jetzt Kapitän eines Kaperschiffs und könnte den Lordkanzler entführen und auf schmale Kost setzen, bis er ein Urteil in unserm Prozeß fällt. Er sollte bald mager werden, wenn er sich nicht dazu hält.«

Neben einer Elastizität, Hoffnungsfreudigkeit und einem fröhlichen Sinn, der kaum jemals müde wurde, legte Richard eine Sorglosigkeit an den Tag, die mich beunruhigte, besonders, weil er sie seltsamerweise für Klugheit hielt. Sie mischte sich auf ganz merkwürdige Art in alles, was mit Rechnen und Geld zusammenhing, die ich nicht besser glaube erklären zu können, als wenn ich für einen Augenblick wieder auf unser Mr. Skimpole vorgeschossenes Darlehen zurückkomme. Mr. Jarndyce hatte den Betrag entweder von Mr. Skimpole selbst oder von »Coavinses« in Erfahrung gebracht und mir das Geld mit dem Auftrag übergeben, ich möge meinen Anteil zurückbehalten und den Rest Richard aushändigen. Die Menge gedankenlosen Geldverzettelns im kleinen, die Richard durch die Wiedererlangung seiner zehn Pfund rechtfertigte, und die vielen Male, die er diese zehn Pfund als eine Ersparnis oder einen Gewinn aufzählte, würden, einfach addiert, schon eine beträchtliche Summe ergeben haben.

»Mein kluges Mütterchen Hubbard, warum nicht?« sagte er einmal zu mir, als er ohne die mindeste Überlegung dem Ziegelstreicher fünf Pfund schenken wollte. »Ich habe doch bei der Coavinsesgeschichte reine zehn Pfund verdient.«

»Wieso denn?« fragte ich.

»Nun, ich wurde zehn Pfund los, an denen mir nichts lag und auf die ich nie wieder rechnete. Das können Sie doch nicht leugnen.«

»Nein.«

»Also gut. Und dann bekam ich wieder zehn Pfund…«

»Dieselben zehn Pfund«, verbesserte ich.

»Das hat nichts damit zu tun! Ich habe zehn Pfund mehr bekommen, als ich erwarten konnte, und darf sie daher ausgeben, ohne mir viel daraus zu machen.«

Ganz in derselben Weise schrieb er sich fünf Pfund gut, als er von der Nutzlosigkeit, sie dem Ziegelstreicher zu schenken, überzeugt war, und addierte sie dazu.

»Schauen Sie mal her«, sagte er. »Ich habe fünf Pfund bei der Ziegelstreichergeschichte erspart. Wenn ich mir nun den Spaß mache und mit der Extrapost nach London und zurückfahre und dafür vier Pfund rechne, so erspare ich eins. Und es ist eine sehr hübsche Sache, ein Pfund zu sparen, behaupte ich; ein Penny gespart, ist ein Penny verdient.«

Ich glaube, Richard war eine so offne und hochherzige Natur, wie man sie nur irgend finden konnte. Temperamentvoll und mutig und bei all seiner wilden Ruhelosigkeit so mild und sanft, daß ich ihn in wenigen Wochen wie einen Bruder kannte. Seine Liebenswürdigkeit war ihm angeboren und hätte sich selbst ohne Adas Einfluß im besten Lichte gezeigt. Aber unter diesem wurde er einer der gewinnendsten Gesellschafter, immer zur Teilnahme geneigt und immer glücklich, hoffnungsfreudig und leichtherzig.

Wie ich mit ihnen zusammensaß, mich mit ihnen unterhielt und spazierenging und von Tag zu Tag sie sich immer mehr ineinander verlieben sah, trotzdem sie nichts davon zueinander verlauten ließen und ihre Liebe für das größte aller Geheimnisse hielten, war ich kaum weniger als sie von dem hübschen Traum bezaubert und erfreut.

In dieser Weise lebten wir fort, da erhielt Mr. Jarndyce eines Morgens beim Frühstück einen Brief, sagte mit einem Blick auf die Adresse: »Ah! Von Boythorn«, öffnete ihn mit sichtlichem Vergnügen und las ihn.

Ehe er noch damit zu Ende war, sagte er, Boythorn käme auf Besuch.

»Wer ist Boythorn?« fragten wir alle. Und ich glaube, wir dachten auch alle – ich wenigstens tat es –, wird Boythorn vielleicht einen Einfluß auf das, was jetzt, vorgeht, ausüben?«

»Ich bin mit Lawrence Boythorn in die Schule gegangen«, erzählte Mr. Jarndyce und legte den Brief auf den Tisch. Das sind jetzt mehr als fünfundvierzig Jahre. Er war damals der ungestümste Junge von der Welt und ist jetzt der ungestümste Mann. Er war damals der herzhafteste und wackerste Junge von der Welt und ist jetzt dasselbe als Mann. Er ist ein kolossaler Bursche.«

»An Wuchs, Sir?« fragte Richard.

»Auch in dieser Hinsicht, Rick. Er ist etwa zehn Jahre älter als ich und ein paar Zoll größer; er trägt den Kopf zurückgeworfen wie ein alter Soldat, die eiserne Brust frei heraus; Hände hat er wie ein Schmied, und Lungen!… Solche Lungen gibt es nur einmal. Mag er sprechen, lachen oder schnarchen, so zittern die Balken des Hauses.«

– Wie sich Mr. Jarndyce an dem Bilde seines Freundes Boythorn erfreute, bemerkten wir als günstiges Omen, daß sich nicht das mindeste Anzeichen von Ostwind zeigte. –

»Aber eigentlich meine ich die Seele des Mannes, das warme Herz, die Leidenschaftlichkeit, das feurige Blut des Mannes, Rick und Ada und auch du, kleine Spinnwebe, denn euch alle wird der Besuch interessieren. Seine Sprache ist so volltönend wie seine Stimme. Er bewegt sich immer in Extremen; er kommt nicht aus dem Superlativ heraus. In seinen Verdammungsurteilen kennt er keine Grenzen. Nach seinen Reden könnte man ihn für einen Menschenfresser halten, und ich glaube, einige Leute halten ihn auch dafür. So! Ich sage euch für jetzt nichts weiter von ihm. Ihr dürft euch nicht wundern, wenn er mich wie seinen Schützling behandelt, denn er kann nicht vergessen, daß ich in der Schule einer von den Kleinsten war und unsre Freundschaft damit begann, daß er meinem Obertyrannen vor der Frühstückspause zwei Zähne (er sagt sechs) ausschlug. Boythorn und sein Bedienter«, sagte er zu mir gewendet, »werden heute nachmittag hier eintreffen, liebe Esther.«

Ich trug Sorge, daß die nötigen Anstalten für Mr. Boythorns Empfang getroffen wurden, und wir sahen neugierig seiner Ankunft entgegen. Der Nachmittag verging jedoch, und er erschien nicht. Die Speisestunde kam, und er erschien immer noch nicht. Das Essen wurde eine Stunde verschoben, und wir saßen um den Kamin, ohne ein andres Licht als seine Glut, als das Haustor plötzlich aufgerissen wurde und die Halle von einer Stentorstimme erdröhnte, die mit größter Heftigkeit rief:

»Jarndyce, ein gottvergessener Schurke hat uns einen falschen Weg gewiesen. Rechts statt links. Er ist der bodenloseste Halunke, den die Erde trägt. Sein Vater muß ein vollendeter Schuft gewesen sein, daß er so einen Sohn bekommen konnte. Ich würde den Kerl ohne den leisesten Gewissensbiß erschießen lassen.«

»Hat er es absichtlich getan?« hörten wir Mr. Jarndyce fragen.

»Ich zweifle nicht im geringsten, daß der Schurke sein ganzes Leben lang nichts andres getan hat, als Reisende irrezuführen. Bei meiner Seele, er kam mir wie der falscheste Hund, den ich je gesehen, vor, als er uns riet, rechts zu fahren. Und dennoch hab ich dem Kerl gegenübergestanden, Auge in Auge, und ihm nicht das Gehirn herausgeschlagen.«

»Zähne, meinst du«, sagte Mr. Jarndyce.

»Hahaha!« lachte Mr. Lawrence Boythorn, daß die Wände zitterten. »Was, das hast du immer noch nicht vergessen? Hahaha!… Das war auch so ein unglaublicher Schuft! Bei meiner Seele, das Gesicht dieses Kerls war schon damals das schwärzeste Bild der Hinterlist, Feigheit und Grausamkeit, das man nur als Vogelscheuche in einem Felde von Halunken hätte aufstellen können. Und wenn ich morgen diesem beispiellosen Despoten auf der Straße begegnete, ich würde ihn fällen wie einen verfaulten Baum.«

»Ich zweifle nicht im geringsten«, sagte Mr. Jarndyce, »aber willst du nicht heraufkommen?«

»Bei meiner Seele, Jarndyce« – der Gast schien auf die Uhr zu sehen – »wenn du verheiratet wärst, würde ich lieber an der Gartentür umgekehrt sein und auf die entlegensten Gipfel des Himalayagebirges gegangen, als daß ich mich zu solch unpassender Stunde eingefunden hätte.«

»Doch wohl nicht ganz so weit«, sagte Mr. Jarndyce.

»Bei meinem Leben und bei meiner Ehre, ja! Um keinen Preis der Welt würde ich mich der unglaublichen Unverschämtheit schuldig machen, eine Dame vom Hause solang warten zu lassen. Lieber hinrichten würde ich mich lassen.«

Bei diesen Worten gingen sie die Treppen hinauf, und gleich darauf hörten wir den Gast oben in seinem Schlafzimmer losdonnern: »Hahaha!« und wieder »Hahaha!« bis das leiseste Echo in der Nachbarschaft davon angesteckt wurde und so lustig zu lachen schien wie er und wie wir.

Wir alle faßten ein Vorurteil zu Mr. Boythorns Gunsten, denn es lag ein gewisser innerer Wert in seinem Lachen, seiner kräftigen, gesunden Stimme und der Wucht, mit der jedes seiner Worte aus seinem Munde kam, und selbst in der Wut seiner Superlative, die wie blindgeladene Kanonen loszugehen und niemanden zu verletzen schienen, aber wir waren kaum daraufgefaßt, dieses Vorurteil so durch seine äußere Erscheinung gerechtfertigt zu sehen, als ihn Mr. Jarndyce vorstellte.

Er war nicht nur ein schöner alter Herr, aufrecht und kraftvoll, wie er uns beschrieben worden, mit einem massiven grauen Kopf, einer schönen Ruhe im Gesicht, wenn er schwieg, einer Gestalt, die ein wenig zur Korpulenz geneigt hätte, wenn er sie nicht so beständig in Leben erhalten haben würde, einem Kinn, das, ohne die heftige Emphase, in der er sich beständig befand, ein Doppelkinn hätte werden können – er war auch ein echter Gentleman in seinem Benehmen, so ritterlich höflich, das Gesicht von einem freundlichen liebenswürdigen Lächeln erhellt, und es schien so klar zu sein, daß er nichts zu verbergen hatte und sich immer so gab, wie er war –, unfähig, etwas in beschränktem Maßstabe zu tun, und immer die blindgeladenen Kanonen abfeuernd, weil er keine kleinern Waffen hatte, daß ich wirklich nicht anders konnte als ihn bei Tisch stets mit gleicher Freude anzusehen, mochte er nun lächeln, sich mit Ada oder mir unterhalten oder sich von Mr. Jarndyce zu einer großen Salve von Superlativen verleiten lassen oder den Kopf wie ein Bluthund emporwerfen und das gewaltige Hahaha ertönen lassen.

»Du hast doch deinen Vogel mitgebracht?« fragte Mr. Jarndyce.

»Bei Gott! Es ist der erstaunlichste Vogel in ganz Europa«, rief Mr. Boythorn. »Er ist das allerwunderbarste Geschöpf. Ich gebe diesen Vogel nicht für zehntausend Guineen her. Ich habe ihm in meinem Testament eine Leibrente ausgesetzt, falls er mich überleben sollte. Er ist, was Verstand und Anhänglichkeit betrifft, ein Phänomen. Und sein Vater war einer der fabelhaftesten Vögel, die jemals gelebt haben.«

Der Gegenstand dieser Lobeshymne war ein außerordentlich kleiner Kanarienvogel, so zahm, daß ihn Mr. Boythorns Bedienter auf dem Zeigefinger herunterbrachte und daß er jetzt seinem Herrn auf den Kopf flog, nachdem er vorher in der Stube herumgeflattert war.

Den alten Herrn die unversöhnlichsten und leidenschaftlichsten Aussprüche tun zu hören, während das winzige schwache Geschöpfchen ruhig auf seiner Stirne saß, war die beste Illustration zu seinem Charakter, wie mir vorkam.

»Meiner Seel, Jarndyce«, sagte Mr. Boythorn und hielt dem Kanarienvogel zärtlich ein Stückchen Brot zum Picken hin, »wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich alle Kanzleigerichtsassessoren morgen früh an der Kehle packen und sie schütteln, bis ihnen das Geld aus der Tasche fiele und die Knochen im Leibe schepperten. Ich würde mir eine Entscheidung erzwingen durch gute Mittel oder durch schlimme. Wenn du mich dazu ermächtigen willst, so werde ich es mit dem größten Vergnügen verrichten.«

– Die ganze Zeit über fraß ihm der winzige Kanarienvogel aus der Hand. –

»Ich danke dir, Lawrence«, lachte Mr. Jarndyce, »aber der Prozeß ist auf einem Punkt angelangt, wo ihn nichts weiter vorwärts bringen könnte, selbst wenn man das ganze Richterkollegium und das gesamte Barreau durchrütteln würde.«

»Es hat auf der ganzen Welt noch keinen so höllischen Hexenkessel gegeben wie dieses Kanzleigericht«, stimmte Mr. Boythorn bei. »Nur eine Mine darunter gelegt, während der Gerichtszeit, wenn alle Urkunden und Dekrete und Präzedenzien und alle dazugehörigen Beamten groß und klein, aufwärts und abwärts gezählt von dem Sohne, dem Generalrevisor, bis zu seinem Vater, dem Teufel, darin sind, und dann das Ganze mit zehntausend Zentnern Pulver in die Luft gesprengt, würde seinen Mängeln ein wenig abhelfen.«

Man konnte nicht anders, man mußte über den tiefen Ernst lachen, mit dem er diese umfassende Reformmaßregel vorschlug. Und er lachte mit, warf den Kopf in die Höhe und schüttelte die breite Brust, und wieder hallte ringsumher alles sein Hahaha wider.

Er störte damit nicht im mindesten den Vogel, der sich vollkommen sicher fühlte und auf dem Tische herumhüpfte und von Zeit zu Zeit das kleine Köpfchen auf die Seite legte und mit einem schnellen Blick seinen Herrn wie seinesgleichen ansah.

»Aber wie steht es mit dem Wegerecht, um das du dich mit deinem Nachbarn streitest?« fragte Mr. Jarndyce. »Du leidest doch selbst unter der Last der Gesetze.«

»Der Kerl hat mich wegen Eigentumsverletzung verklagt, und ich habe ihn wegen Eigentumsverletzung verklagt«, erwiderte Mr. Boythorn. »Bei Gott, er ist der stolzeste Bursche, der jemals gelebt hat. Es ist ganz unmöglich, daß er wirklich Sir Leicester heißt, er sollte Sir Lucifer heißen.«

»Ein Kompliment für unsern entfernten Verwandten«, sagte mein Vormund lachend zu Ada und Richard.

»Ich würde Miß Clare und Mr. Carstone um Entschuldigung bitten«, fuhr unser Besuch fort, »wenn mir nicht das freundliche Gesicht der Dame und das Lächeln des Herrn sagten, daß es nicht angebracht ist und sie sich ihren entfernten Verwandten in respektvoller Entfernung vom Leibe zu halten wissen.«

»Er hält sich uns vom Leibe«, verbesserte Richard.

»Meiner Seel«, gab Mr. Boythorn wieder eine Breitseite ab. »Dieser Kerl ist – und sein Vater und sein Großvater waren es ebenfalls – der steifnackigste, arroganteste, einfältigste, dickköpfigste Pinsel, der jemals durch ein unerklärliches Mißverständnis der Natur zu etwas anderm als zu einem Spazierstock geboren wurde. Die ganze Familie besteht aus den eingebildetsten Strohköpfen… Aber es macht nichts, er soll mir meinen Weg nicht versperren und wenn er der Extrakt von fünfzig Baronets wäre und in hundert Chesney Wolds, eins in das andre geschachtelt wie die geschnitzten chinesischen Elfenbeinkugeln, wohnte. Schreibt mir der Kerl durch seinen Agenten oder seinen Sekretär oder sonst jemanden: Sir Leicester Dedlock, Baronet, empfiehlt sich Mr. Lawrence Boythorn und macht ihn auf den Umstand aufmerksam, daß der Wiesenpfad bei dem alten Pfarrhause, gegenwärtig in Mr. Lawrence Boythorns Besitz, Sir Leicesters Wegerecht ist, da er in Wirklichkeit einen Teil des Parks von Chesney Wold bildet, und daß Sir Leicester es für angemessen erachtet, ihn zu schließen. Ich schreibe an den Kerl: Mr. Lawrence Boythorn empfiehlt sich Sir Leicester Dedlock, Baronet, und macht ‚ihn‘ auf den Umstand aufmerksam, daß er die Richtigkeit von Sir Leicester Dedlocks Ansprüchen auf irgend etwas in jeder Hinsicht leugnet und in bezug auf das Sperren des Wiesenpfades hinzusetzt, daß er sich freuen würde, den Mann zu sehen, der es zu unternehmen wagt.

Der Kerl schickt einen gottverlassenen Strolch mit einem Auge, um ein Gitter bauen zu lassen. Ich bearbeite den Burschen mit der Feuerspritze, bis er fast keinen Atem mehr im Leibe hat. Der Bursche baut während der Nacht ein Gitter. Ich hacke es um und verbrenne es am andern Morgen. Der Baronet schickt seine Myrmidonen, läßt sie über das Gehege klettern und schickt sie hin und her. Ich fange sie in unschädlichen Fallen, schieße ihnen gespaltene Erbsen in die Beine, bearbeite sie mit einer Feuerspritze und bin entschlossen, die Menschheit von der unerträglichen Last des Daseins dieser wegelagernden Schurken zu befreien. Er klagt wegen unrechtmäßigen Betretens fremder Grundstücke, ich tue desgleichen. Er klagt wegen Realinjurie; ich verteidige meinen Grund und Boden und fahre unbeirrt mit Realinjurien fort. Hahaha!«

Wer ihn das mit seiner unerhörten Energie sagen hörte, hätte ihn für den größten Wüterich halten müssen. Und wer ihn zur selben Zeit dem Vogel auf seinem Daumen die Federn glattstreichen gesehen hätte, würde ihn für den sanftmütigsten aller Menschen gehalten haben. Ihn lachen zu hören und sein offenes gutmütiges Gesicht zu sehen, hieß, überzeugt sein, daß er auf der Welt keine Sorge, keinen Streit, keine Abneigung kenne und daß sein ganzes Dasein ein sonniger Scherz sei.

»Nein, nein«, schwor er. »Meine Wege lasse ich mir von keinem Dedlock absperren, obgleich ich gerne zugestehe« – hier wurde er einen Augenblick milde – »daß Lady Dedlock eine vollendete Weltdame ist, der ich jede Huldigung darbringen würde, die ein einfacher Gentleman und kein Baronet mit einem siebenhundert Jahr alten Dickkopf darbringen kann. Ein Mann, der mit zwanzig Jahren zum Regiment kam und acht Tage darauf den frechsten und anmaßendsten Bengel von einem kommandierenden Offizier, der jemals durch eine geschnürte Taille Atem holte, forderte – und dafür kassiert wurde –, ist nicht der Mann, sich von allen Sir Lucifers zusammengenommen auf der Nase herumtanzen zu lassen. Hahaha!«

»Auch nicht der Mann, der duldet, daß man seinem Jüngern Kameraden auf der Nase herumtanzt«, fügte mein Vormund hinzu.

»Ganz gewiß nicht!« Mr. Boythorn schlug Mr. Jarndyce mit einer Gönnermiene, die, trotzdem er lachte, etwas Ernstes hatte, auf die Schulter. »Er wird stets dem kleinen Jungen beistehen, Jarndyce! Du kannst dich auf ihn verlassen. Aber, um wieder von der Eigentumsverletzung zu sprechen – ich muß Miß Clare und Miß Summerson um Verzeihung bitten, daß ich solange bei dem trocknen Thema verweile –, ist nichts von deinen Anwälten Kenge & Carboy für mich gekommen?«

»Ich glaube nicht, Esther?«

»Nichts, Vormund.«

»Sehr verbunden. Hätte nicht zu fragen brauchen, selbst bei meiner geringen Erfahrung von Miß Summersons Fürsorglichkeit für jeden, der in ihre Nähe kommt. Ich fragte nur, weil ich von Lincolnshire herüberfuhr und natürlich nicht in London gewesen bin. Ich glaubte, man habe vielleicht einige Briefe hierher geschickt. Wahrscheinlich wird morgen früh Nachricht kommen.«

Im Verlauf des Abends, der uns sehr angenehm verging, sah ich ihn oft Richard und Ada mit einer sympathischen Teilnahme und Befriedigung betrachten. Er saß in geringer Entfernung vom Piano und hörte der Musik zu, die er leidenschaftlich liebte, wie sein Gesicht verriet. Mein Vormund saß mit mir am Pochbrett, und ich fragte ihn, ob Mr. Boythorn jemals verheiratet gewesen sei.«

»Nein«, sagte er, »nein.«

»Aber er hat heiraten wollen?«

»Wie hast du das erraten?« fragte Mr. Jarndyce lächelnd.

»Siehst du, Vormund«, gab ich zur Antwort und mußte ein wenig erröten, »es liegt etwas so Zartes in seinem Benehmen, und er ist so höflich und liebenswürdig zu uns und…«

Mr. Jarndyce blickte nach ihm hin.

Ich sagte weiter nichts.

»Du hast recht, Mütterchen. Er stand einmal dicht vor dem Heiraten. Vor langer Zeit. Nur ein Mal.«

»Starb die Dame?«

»Nein… Aber sie starb für ihn. Diese Zeit hat auf sein ganzes späteres Leben Einfluß gehabt. Würdest du glauben, daß sein Kopf und sein Herz jetzt noch voll Romantik stecken?«

»Ich glaube, Vormund, ich hätte das angenommen. Aber jetzt läßt es sich leicht sagen, wo du es mir verraten hast.«

»Er ist seitdem nie gewesen, was er hätte sein können, und jetzt in seinem Alter hat er niemand um sich als seinen Bedienten und seinen kleinen, gelben Freund. – Du bist am Wurf, liebe Esther. Da hast du den Würfelbecher.«

Ich merkte an der Stimmung meines Vormunds, daß ich, sollte nicht Ostwind eintreten, das Thema nicht weiter verfolgen dürfe. Ich stand daher von weiteren Fragen ab. Meine Teilnahme war erregt, aber nicht meine Neugierde. Des Nachts, als mich Mr. Boythorns lautes Schnarchen weckte, mußte ich ein wenig über diese alte Liebesgeschichte nachdenken und versuchte etwas sehr Schweres, nämlich, mir alte Leute jung und in den Reizen der Jugend vorzustellen. Aber ich schlief wieder ein, ehe es mir gelang, und träumte von der Zeit, wo ich bei meiner Patin gewesen war. Ich bin in derlei Dingen nicht bewandert genug, um zu wissen, ob es überhaupt merkwürdig ist, daß ich fast immer von diesem Lebensabschnitt träumte.

Am Morgen kam ein Brief von den Herren Kenge & Carboy an Mr. Boythorn, worin sie ihn benachrichtigten, daß einer ihrer Angestellten ihm mittags seine Aufwartung machen werde. Da es der Tag in der Woche war, wo ich die Rechnungen bezahlte, meine Bücher abschloß und alle Wirtschaftsangelegenheiten soweit wie möglich in Ordnung brachte, blieb ich zu Hause, während Mr. Jarndyce, Ada und Richard den schönen Tag zu einem Ausflug benutzten. Mr. Boythorn wollte auf Mr. Kenge & Carboys Angestellten warten und ihnen dann zu Fuß entgegengehen.

Ich hatte vollauf zu tun, prüfte Rechnungsauszüge, addierte Zwischenreihen, zahlte Geld aus, ordnete Quittungen und sah ungeheuer beschäftigt aus, als Mr. Guppy angemeldet und hereingelassen wurde. Ich hatte so eine leise Ahnung gehabt, daß der erwartete Angestellte der junge Gentleman sein könnte, der mich im Postkutschenbureau abgeholt hatte, und ich freute mich, ihn wiederzusehen, weil er zu meiner gegenwärtigen glücklichen Lage in gewisser Beziehung stand.

Ich erkannte ihn kaum wieder, so hatte er sich herausgeputzt. Er trug einen funkelnagelneuen Anzug, einen glänzenden Hut, lila Glacehandschuhe, ein vielfarbiges Halstuch, eine große Gewächshausblume im Knopfloch und einen dicken goldnen Ring am kleinen Finger. Außerdem durchduftete er das ganze Speisezimmer mit Bärenpomade und andern Parfümerien. Er betrachtete mich mit einer Aufmerksamkeit, die mich ordentlich verwirrte, als ich ihn bat, sich zu setzen, bis der Bediente wieder herunterkomme. Er saß in einer Ecke, schlug abwechselnd ein Bein über das andre, und so oft ich aufsah, während ich ihn das und jenes fragte, bemerkte ich stets, daß er mich in derselben forschenden und sonderbaren Weise anstarrte.

Als der Bediente mit der Nachricht, Mr. Boythorn lasse bitten, herunterkam, sagte ich Mr. Guppy, er werde nach Erledigung seiner Geschäfte hier ein Frühstück vorfinden, das Mr. Jarndyce für ihn befohlen habe. Als er den Türgriff schon in der Hand hielt, fragte er ein wenig verlegen:

»Werde ich die Ehre haben, Sie hier zu finden, Miß?«

Ich bejahte, und er ging mit einer Verbeugung zur Türe hinaus.

Ich hielt ihn für etwas linkisch und schüchtern, denn er war sichtlich verwirrt, und glaubte, es sei das beste, zu warten und mich zu überzeugen, ob er alles habe, was er brauche, und dann ihn sich selbst zu überlassen.

Das Frühstück wurde bald aufgetragen und blieb einige Zeit auf dem Tische stehen. Die Unterredung mit Mr. Boythorn dauerte sehr lange und verlief, wie mir vorkam, sehr stürmisch, denn obgleich sein Zimmer ziemlich entfernt lag, hörte ich seine laute Stimme sich dann und wann wie einen Sturmwind erheben und offenbar volle Breitseiten von Beschuldigungen abgeben.

Endlich kam Mr. Guppy, wie es schien, von der Konferenz stark mitgenommen, wieder herunter. »O Gott, Miß«, sagte er halblaut zu mir, »das ist ja der reinste Menschenfresser.«

»Bitte nehmen Sie etwas zu sich, Sir«, sagte ich.

Mr. Guppy nahm am Tische Platz und begann nervös das Tranchiermesser an der Vorleggabel zu schärfen, wobei er mich immer noch in derselben ungewöhnlichen Weise ansah, wie ich recht wohl merkte, trotzdem ich nicht aufsah. Das Messerwetzen dauerte so lang, daß ich endlich eine Art Verpflichtung fühlte, aufzublicken, um den auf Mr. Guppy liegenden Zauber, der ihn gar nicht aufhören ließ, zu lösen.

Er blickte sofort auf die Gerichte und fing an, vorzuschneiden.

»Was darf ich Ihnen anbieten, Miß? Sie werden doch einen Bissen genießen?«

»Nein, ich danke Ihnen.«

»Darf ich Ihnen denn gar nichts vorlegen, Miß?« fragte Mr. Guppy und stürzte ein Glas Wein hinunter.

»Nein, ich danke Ihnen. Ich habe nur gewartet, um zu sehen, ob Sie alles haben, was Sie brauchen. Wünschen Sie noch irgend etwas?«

»Nein, ich danke Ihnen, Miß. Ich bin Ihnen wirklich sehr verbunden. Ich habe alles, was ich mir nur wünschen könnte… wenigstens… Alles, ach, das hab ich nie.« Er trank noch zwei Gläser Wein hintereinander aus.

Ich hielt es für angezeigt, zu gehen.

»Ich bitte um Entschuldigung, Miß«, sagte Mr. Guppy und stand ebenfalls auf, »aber würden Sie nicht die Liebenswürdigkeit haben, mir ein paar Worte unter vier Augen zu gestatten?«

Ich wußte nicht, was ich antworten sollte, und nahm wieder Platz.

»Was ich sagen möchte, ist ohne Präjudiz, Miß«, sagte Mr. Guppy und schob in großer Aufregung einen Stuhl an meinen Tisch.

»Ich verstehe nicht, was Sie meinen«, bemerkte ich verwundert.

»Es ist einer unsrer juristischen Fachausdrücke. Sie werden doch von der Sache keinen Gebrauch zu meinem Schaden, weder bei Kenge & Carboy noch anderswo, machen? Wenn unsre Unterredung resultatlos verläuft, so bin ich, was ich früher war, und bitte Sie, mir in meiner Stellung oder meinen Zukunftschancen nicht zu schaden. Mit einem Wort, ich spreche im vollsten Vertrauen.«

»Ich kann mir durchaus nicht vorstellen, Sir, was Sie mir, wo Sie mich nur ein einziges Mal gesehen haben, so im strengsten Vertrauen mitteilen könnten, aber selbstverständlich würde es mir sehr leid tun, wenn ich Ihnen irgendwie einen Schaden zufügen sollte.«

»Ich danke Ihnen, Miß. Ich bin davon überzeugt… Das genügt vollkommen.«

Die ganze Zeit hindurch polierte sich Mr. Guppy entweder die Stirn mit seinem Taschentuch oder rieb sich sehr erregt die Hände.

»Wenn Sie mir gestatten würden, noch ein Glas Wein zu trinken, Miß, so würde es mich instand setzen, fortzufahren, ohne von dem beständigen Würgen in der Kehle gehindert zu werden, das für uns beide nur unangenehm sein kann.«

Er stand auf, trank und kam wieder zurück. Ich benützte die Gelegenheit, um mich möglichst hinter dem Tisch zu verschanzen.

»Sie würden mir also nicht erlauben, Ihnen ein Glas anzubieten, Miß?« fragte Mr. Guppy, sichtlich erfrischt.

»Ich danke.«

»Auch nicht ein halbes Glas? Ein Viertel?«

»Nein!«

»Also vorwärts. Mein gegenwärtiges Gehalt bei Kenge & Carboy, Miß Summerson, beträgt zwei Pfund wöchentlich. Als ich zuerst das Glück hatte, Sie zu sehen, betrug es 1 £ 15 sh. und war schon längere Zeit auf dieser Höhe geblieben. Seitdem hat eine Erhöhung von 5 sh. stattgefunden, und eine weitere von 5 sh. ist mir nach Ablauf eines Termins, der zwölf Monate vom heutigen Tag an nicht übersteigen soll, garantiert. Meine Mutter hat ein kleines Vermögen in Form einer kleinen Leibrente; sie lebt davon in unabhängiger, wenn auch bescheidener Weise in Oldstreet-Road. Sie eignet sich vortrefflich zu einer Schwiegermutter. Sie mischt sich nie ein, ist sehr für den Frieden und gutmütig. Sie hat ihre Fehler – wer hätte keinen –, aber ich wüßte nie, daß sie es in Gesellschaft getan hätte, und wenn Gesellschaft da ist, können Sie ihr hinsichtlich Wein, Likör oder Bier das vollste Vertrauen schenken. Ich selbst habe meine Zimmer in Penton-Place, Pentonville, und es ist eine bescheidene, aber luftige Wohnung nach hinten hinaus mit der Aussicht ins Freie und in einer der gesündesten Lagen… Miß Summerson!… Gelinde gesagt, ich bete Sie an! Wollen Sie mir freundlichst gestatten, Ihnen, um mich juristisch auszudrücken, eine Erklärung zu unterbreiten, Sie um Ihre Hand zu bitten?«

Mr. Guppy sank vor mir auf die Knie nieder. Ich fühlte mich hinter meinem Tisch sicher und war nicht sonderlich erschrocken. Ich sagte:

»Machen Sie dieser lächerlichen Szene ein Ende, Sir, oder Sie nötigen mich, mein gegebenes Versprechen zu brechen und zu klingeln.«

»Lassen Sie mich ausreden, Miß«, flehte Mr. Guppy und faltete bittend die Hände.

»Ich kann nicht ein Wort mehr anhören, Sir, wenn Sie nicht sofort aufstehen und sich wieder an den Tisch setzen.«

Er sah mich mit einem kläglichen Blick an, stand aber langsam auf und setzte sich an den Tisch.

»Welch ein Hohn des Schicksals, Miß«, sagte er, die Hand auf dem Herzen und mich über den Speisetisch hinüber melancholisch anblickend, »in einem solchen Augenblick am Eßtisch zu sitzen. Die Seele stößt in solchen Augenblicken die Nahrung von sich, Miß!«

»Ich bitte Sie, aufzuhören«, sagte ich. »Sie haben mich gebeten, Sie zu Ende zu hören, und ich muß Sie bitten, jetzt Schluß zu machen.«

»Ich will es tun, Miß. Wen ich liebe und ehre, dem gehorche ich auch. Wollte Gott, ich könnte Sie zum Gegenstand dieses Gelübdes vor dem Altare machen.«

»Das ist ganz unmöglich und vollkommen ausgeschlossen.«

»Ich weiß es«, sagte Mr. Guppy, beugte sich über das Servierbrett und starrte mich wieder mit dem alten gespannten Blick an, wie ich seltsamerweise fühlte, obgleich ich ihn nicht ansah. »Ich weiß allerdings, daß vom rein materiellen Gesichtspunkt aus alles, was ich zu bieten vermag, nur armselig ist. Aber Miß Summerson! Engel! – Nein, bitte klingeln Sie nicht! – Ich bin in einer harten Schule aufgewachsen und in allen möglichen Sätteln gerecht. Obgleich noch jung, habe ich schon mancherlei Beweise aufgespürt, Material gesammelt und das Leben vielfach kennengelernt. An Ihrer Seite, was könnte ich da nicht alles ausfindig machen, Ihre werten Interessen zu fördern. Was könnte ich nicht alles in Erfahrung bringen, was Sie nahe angeht! Allerdings weiß ich jetzt noch nichts, aber was könnte ich nicht alles herausbringen, wenn ich Ihr Vertrauen besäße und Sie mir ein Sporn wären!«

Ich sagte ihm, daß er sich an mein Interesse oder an das, was er für mein Interesse halte, ebenso erfolglos wende wie an meine Neigung und daß ich ihn jetzt auf das entschiedenste bitten müsse, sich gefälligst sofort zu entfernen.

»Grausames Fräulein. Nur noch ein einziges Wort! Ich glaube, Sie müssen gesehen haben, wie Ihre werten Reize schon an dem Tag, wo ich am Whytorseller wartete, mein Herz in Fesseln schlugen. Sie müssen doch bemerkt haben, daß ich Ihren werten Reizen meine ergebene Huldigung nicht versagen konnte, als ich den Tritt des Fiakers herunterließ. Es war nur ein schwacher Tribut, aber er kam von Herzen. Seitdem war dein Bild, Angebetete, auf ewig in mein Herz gegraben! Ich bin des Abends vor Jellybys Haus auf und ab gegangen, nur um die Ziegelmauer zu betrachten, die einst dich beschützte. Die heutige Reise, die bezüglich des in Rede stehenden Geschäftes ganz unnötig war, ist von mir allein ausgegangen. Wenn ich von Interessen sprach, so geschah es nur, um mich in meiner Armseligkeit in Ihren werten Augen zu heben. Liebe geht und ging dem allen voraus.«

»Es würde mir peinlich sein, Mr. Guppy«, unterbrach ich, stand auf und legte die Hand an den Klingelzug, »gegen Sie oder gegen wen immer, der es aufrichtig meint, so ungerecht zu sein, eine ehrlich gemeinte Empfindung zu verletzen, mag sie auch noch so unangenehm ausgedrückt sein. Wenn Sie wirklich beabsichtigt haben, mir einen Beweis Ihrer guten Meinung zu geben, so fühle ich mich, so schlecht auch Zeit und Ort gewählt sein mögen, verpflichtet, Ihnen zu danken. Ich habe keinen Grund, stolz zu sein, und bin es auch nicht. Ich hoffe, daß Sie mich jetzt verlassen werden, als ob Sie nie diesen törichten Streich begangen hätten, und sich Ihren Obliegenheiten bei Kenge & Carboy wieder zuwenden werden.«

»Nur eine halbe Minute, Miß!« rief Mr. Guppy mit einer abwehrenden Bewegung, als ich klingeln wollte. »Das war ohne Präjudiz?«

»Ich werde gegen niemanden etwas davon erwähnen«, sagte ich, »wenn Sie mir nicht selbst in Zukunft Veranlassung dazu geben.«

»Noch eine Viertelminute, Fräulein! Im Falle Sie sich’s doch noch überlegen sollten – zu jeder beliebigen Zeit, wenn sie auch noch so fern liegt, denn das hat nichts zu sagen, da meine Gefühle sich nie ändern können –, wenn Sie auf etwas, was ich gesagt habe, hauptsächlich über das, was ich alles tun könnte, einmal mehr Gewicht legen sollten, so wird Mr. William Guppy, 86, Pentonplace, oder wenn er ausgezogen oder an enttäuschten Hoffnungen oder dergleichen gestorben sein sollte: per Adresse Mrs. Guppy, 302, Oldstreet-Road, vollkommen genügen.«

Ich klingelte, der Bediente trat ein, und Mr. Guppy verabschiedete sich mit einer kummervollen Verbeugung, nachdem er seine selbst geschriebene Karte auf den Tisch gelegt hatte.

Als ich aufblickte, während er hinausging, fiel mir auf, daß er mich noch immer scharf anblickte, selbst, nachdem er bereits die Tür passiert hatte.

Ich blieb noch ein paar Stunden sitzen, ordnete meine Bücher und Zahlungen und erledigte eine ganze Menge. Dann räumte ich mein Schreibpult auf, schloß alles ab und war so gefaßt und heiter, daß ich den unerwarteten Zwischenfall ganz vergessen zu haben glaubte.

Aber als ich hinauf in mein Zimmer ging, da kam es zu meiner Überraschung über mich; ich mußte zuerst lachen und dann zu meiner noch größern Verwunderung weinen; mit einem Wort, ich war eine Weile lang ziemlich außer mir und hatte die Empfindung, als ob eine rauhe Hand eine alte Saite in mir berührt habe, rauher als jemals seit den Tagen meiner lieben, alten, im Garten begrabenen Puppe.

56. Kapitel


56. Kapitel

Verfolgung

Leidenschaftslos, wie es sich für vornehm erzogene Leute schickt, starrt das Stadtpalais der Dedlocks die andern Häuser der traurigstolzen Straße an, und kein äußeres Zeichen verrät, daß in seinem Innern etwas nicht in Ordnung ist. Kutschen rasseln, es wird an die Türen gehämmert, die Welt stattet Besuche ab, ältliche Circen mit dürren Hälsen und Pfirsichwangen, die etwas Gespensterhaftes haben in ihrer blühenden Röte, blenden die Augen der Menschheit. Bei Tageslicht erblickt, haben diese faszinierenden Geschöpfe eine fatale Ähnlichkeit mit Zwittergeschöpfen, halb Tod halb Dame. Aus den frostigen Marställen kommen elastisch gefederte Wagen, gelenkt von kurzbeinigen Kutschern mit flachsenen Perücken, die in daunenweichen Bockpolstern eingesunken sitzen, und hintenauf stehen Prunkmerkure, prächtig lange Stöcke in den Händen und dreieckige Hüte quer auf den Köpfen; ein Schauspiel für die Götter.

Unverändert starrt das Stadtpalais der Dedlocks vor sich hin, und Stunden vergehen, ehe die erhabene Schlummerruhe in seinem Innern gestört wird. Indessen leidet die schöne Volumnia an der üblichen allgemeinen Langeweile, und da sich gerade jetzt diese Krankheit zu einem besonders heftigen Anfall zuspitzt, so wagt sie sich endlich nach der Bibliothek, um eine Ortsveränderung vorzunehmen. Da sie auf ihr schüchternes Klopfen an der Tür keine Antwort bekommt, öffnet sie sie und blickt hinein. Sie sieht niemanden darin und nimmt daher Platz.

In dem grasüberwachsenen altertümlichen Bath sagt man der jugendlich munteren Dedlock nach, sie litte beständig unter einer quälenden Neugier, die sie bei allen passenden und unpassenden Gelegenheiten zwinge, mit einem goldeingefaßten Glas vor dem Auge herumzuschweben, um Gegenstände aller Art zu begucken. Tatsache ist, daß sie die gegenwärtige Gelegenheit benützt, wie ein Vogel über den Briefen und Papieren ihres Verwandten zu kreisen, bald dieses Dokument anzupicken, bald mit auf die Seite geneigtem Kopf jenes anzuschielen und, mit dem Glas vor dem Auge, wißbegierig und ruhelos von Tisch zu Tisch zu hüpfen. Im Laufe dieser Untersuchungen stolpert sie über etwas; und wie sie ihr Glas nach dieser Richtung wendet, sieht sie ihren Verwandten auf dem Boden liegen gleich einem gefällten Baum.

Volumnias herziger kleiner Lieblingsschrei bekommt einen ziemlich starken Anstrich von Wirklichkeit bei diesem überraschenden Anblick, und bald ist das ganze Haus in Bewegung.

Bediente stürzen die Treppen auf und ab, Klingeln werden heftig gezogen, Ärzte geholt, und Lady Dedlock wird gesucht, aber nirgends gefunden. Niemand hat sie gesehen oder gehört, seitdem sie zuletzt geklingelt hat. Man findet ihren Brief an Sir Leicester auf dem Tisch; aber es ist noch ungewiß, ob der Baronet nicht eine Botschaft aus einer andern Welt erhalten hat, die persönliche Antwort verlangt, und vorläufig sind ihm alle lebenden Sprachen und alle toten vollkommen gleichgültig.

Man legt den alten Herrn auf sein Bett, frottiert und fächelt ihn, legt ihm Eis auf den Kopf und versucht jedes Mittel, ihn wieder zum Bewußtsein zu bringen; aber der Tag vergeht, und es wird Nacht in seinem Zimmer, ehe das Röcheln seines Atmens aufhört und seine starren Augen auf das Licht reagieren, das man ihnen von Zeit zu Zeit vorhält. Aber als diese Veränderung einmal eingetreten ist, macht sie Fortschritte, und bald nickt er oder bewegt die Augen oder sogar die Hand zum Zeichen, daß er hört und versteht.

Als er diesen Morgen niederstürzte, war er ein schöner, stattlicher alter Herr, ein wenig mitgenommen von den Jahren, aber prächtig konserviert, und die Wangen voll und blühend. Jetzt liegt er auf seinem Bett, ein Greis mit verfallenen Zügen, der Schatten seiner selbst. Seine Stimme war voll und weich, und er fühlte sich seit langer Zeit so vollkommen überzeugt von der Wichtigkeit und hohen Bedeutung jedes seiner Worte für die gesamte Menschheit, daß seinen Reden ein Klang innewohnte, als hätten sie wirklich einen gewissen inneren Wert. Aber jetzt kann er nur flüstern; und was er flüstert, klingt wie das, was es ist – wie bloße Sinnlosigkeit und Kauderwelsch.

Seine treue Haushälterin steht neben seinem Bett. Sie ist die erste, die er bemerkt, und ihr Anblick hellt sein Gesicht auf. Nachdem er vergeblich versucht hat, sich durch Worte verständlich zu machen, verlangt er durch Zeichen einen Bleistift. So undeutlich, daß man ihn anfangs nicht versteht, bis die alte Haushälterin errät, was er haben will, und ihm eine Schiefertafel bringt.

Nachdem seine Hand eine Weile gezaudert hat, malt er langsam in einer Schrift, die nicht die seinige ist: »Chesney Wold?«

Nein, sagt ihm Mrs. Rouncewell, er befände sich in London und sei heute morgen in der Bibliothek plötzlich ohnmächtig geworden. Sie dankt dem Himmel, daß sie zufällig nach London gekommen ist und ihm beistehen kann.

»Es ist keine ernste oder gefährliche Krankheit, Sir Leicester. Sie werden sich morgen wieder besser befinden, Sir Leicester. Alle die Herren sagen es.« So spricht sie, und heiße Tränen laufen ihr über das schöne Matronengesicht.

Nachdem er sich im Zimmer umgesehen und mit besonderer Aufmerksamkeit die Augen rund um das Bett hat schweifen lassen, wo die Ärzte stehen, schreibt er: »Mylady.«

»Mylady ist ausgegangen, Sir Leicester, ehe Sie den Anfall hatten, und weiß noch nichts von Ihrer Krankheit.«

Er deutet abermals mit großer Aufregung auf das Wort. Sie versuchen alle, ihn zu beruhigen, aber er deutet mit steigender Angst darauf. Wie sie einander ansehen und nicht wissen, was sie sagen sollen, nimmt er noch ein Mal die Schiefertafel und schreibt: »Mylady. Um Gottes willen, wo?« Und ein flehentliches Stöhnen dringt aus seiner Kehle.

Man hält es für das Beste, daß die alte Haushälterin ihm Lady Dedlocks Brief gibt, dessen Inhalt allerdings niemand weiß oder ahnen kann. Sie bricht den Brief für ihn auf und faltet ihn auseinander, daß er ihn lesen kann. Er liest ihn zwei Mal mit großer Anstrengung, dann legt er ihn verkehrt auf das Bett, so, daß man den Inhalt nicht sehen kann, und liegt stöhnend da. Er bekommt eine Art Rückfall oder sinkt in Ohnmacht; und es vergeht eine Stunde, ehe er wieder die Augen öffnet, gestützt auf den Arm seiner alten treuen Dienerin. Die Ärzte sehen ein, daß er sich am wohlsten befindet, wenn sie um ihn ist, und halten sich fern, wenn ihre Hilfeleistung nicht unmittelbar erforderlich ist.

Wieder muß die Schiefertafel gebracht werden; aber er kann sich auf das Wort, das er schreiben will, nicht besinnen. Seine Angst, sein fieberhaftes Ringen, sich verständlich zu machen, und seine Qual darüber sind kläglich anzusehen. Eine wahnsinnige Aufregung, etwas nicht ausdrücken zu können, was unverzüglich zu geschehen habe, beherrscht ihn. Er hat den Buchstaben B geschrieben und ist dabei stecken geblieben. Plötzlich, wie seine Herzensqual und sein Jammer ihren Höhepunkt erreicht haben, setzt er ein Mr. davor. Die alte Haushälterin rät »Bucket«. Dem Himmel sei Dank! das meint er.

»Mr. Bucket wartet unten und sagt, er sei bestellt. Ob er heraufkommen soll?«

Es ist nicht möglich, Sir Leicesters brennendes Verlangen, ihn zu sehen, oder seinen Wunsch, daß alle, außer Mrs. Rouncewell, das Zimmer verlassen möchten, mißzuverstehen. Es geschieht sofort, und Mr. Bucket erscheint. Sir Leicester ist von seinem hohen Thron so tief herabgesunken, daß dieser Mann sein letzter Trost, sein einziger Verlaß auf Erden ist.

»Sir Leicester Dedlock, Baronet, es tut mir unendlich leid, Sie in diesem Zustande zu sehen. Ich hoffe, Sie werden und müssen sich wieder aufraffen, schon wegen des Ansehens der Familie.«

Sir Leicester drückt ihm den Brief in die Hand und sieht ihm gespannt in das Gesicht. Eine plötzliche Erkenntnis blitzt in Mr. Buckets Auge auf, wie er die Zeilen überfliegt. Mit einem Krümmen seines Fingers, noch während sein Auge die Worte liest, deutet er an: »Sir Leicester Dedlock, Baronet, ich verstehe, was sie wünschen.«

Sir Leicester schreibt auf die Schiefertafel: »Volle Verzeihung. Finden…« Mr. Bucket hält ihm die Hand auf.

»Sir Leicester Dedlock, Baronet, ich werde sie finden. Aber die Nachforschung muß auf der Stelle begonnen werden. Keine Minute ist zu verlieren.«

Mit Gedankenschnelle folgt er Sir Leicester Dedlocks Blick nach einem Kästchen auf dem Tisch.

»Herbringen, Sir Leicester Dedlock, Baronet? Gewiß. Es mit einem dieser Schlüssel aufschließen? Gewiß. Mit dem kleinsten Schlüssel? Natürlich. Die Banknoten herausnehmen? Gut. Zählen? Ist bald geschehen. Zwanzig und dreißig macht fünfzig, und zwanzig, siebenzig und fünfzig hundertundzwanzig und vierzig hundertundsechzig. Für die Reisekosten einstecken? Gut. Lege natürlich Rechnung ab. Kein Geld sparen? Nein, gewiß nicht.«

Die Schnelligkeit und Sicherheit, mit der Mr. Bucket alles errät, grenzt ans Wunderbare. Mrs. Rouncewell, die das Licht hält, ist von der Schnelligkeit seiner Augen und Hände noch ganz schwindlig, als er bereits reisefertig aufgestanden ist.

»Sie sind Georges Mutter, alte Dame. Ich irre mich doch nicht, nicht wahr?« wirft Mr. Bucket hin, während er den Hut schon aufhat und seinen Rock zuknöpft.

»Ja, Sir, ich bin seine Mutter und bin so in Angst um ihn.«

»Das dachte ich mir nach dem, was er mir vor kurzem mitgeteilt hat. Nun will ich Ihnen etwas sagen. Sie brauchen sich nicht mehr zu grämen. Mit Ihrem Sohne ist bereits alles in schönster Ordnung. Fangen Sie jetzt nicht an zu weinen, Sie müssen vor allen Dingen Sir Leicester Dedlock, Baronet, behüten und pflegen, und das geht nicht mit Weinen. Was Ihren Sohn betrifft, sage ich Ihnen doch, so ist alles in schönster Ordnung. Er schickt Ihnen seine zärtlichsten Grüße und hofft, daß Sie seiner ebenso gedenken. Er ist in Ehren entlassen. So steht die Sache. Mit einem ebenso unbescholtnen Rufe wie dem Ihrigen, und ich will ein Pfund wetten, der ist ohne Fehl und Makel. Sie können sich auf mich verlassen, denn ich selbst habe Ihren Sohn verhaftet. Und ich sage Ihnen, er hat sich brav und wacker dabei benommen und ist ein schöner, stattlicher Mann, und Sie sind eine schöne stattliche Matrone. Mutter und Sohn sind ein Paar, das man auf der Messe als Muster zeigen könnte. – Sir Leicester Dedlock, Baronet, den Auftrag, den Sie in meine Hände gelegt haben, werde ich ausführen. Fürchten Sie nicht, daß ich mich von meinem Weg auch nur einen Schritt ablenken lasse. Ich will nicht schlafen, mich nicht waschen noch rasieren, bis ich gefunden habe, was ich suche. Ich soll ihr alles Gute von Ihnen ausrichten und ihr sagen, daß Sie ihr verzeihen? Sir Leicester Dedlock, Baronet, machen wir! Und ich wünsche Ihnen gute Besserung, und daß diese Familienangelegenheiten beigelegt werden mögen – wie schon, ach Gott, so viele andre ausgeglichen worden sind und bis zum Ende der Welt werden ausgeglichen werden.«

Mit diesen Worten geht Mr. Bucket, zugeknöpft und ruhig, hinaus und sieht festen Blickes vor sich hin, als durchsuche er schon im Geiste die Nacht nach der Flüchtigen.

Sein erster Gang ist nach Lady Dedlocks Zimmern. Sorgfältig durchforscht er alles mit seinen Blicken nach Anzeichen, die für ihn von Wert sein könnten. Es ist stockfinster darin, und Mr. Bucket, ein Wachslicht über den Kopf emporhaltend, zu sehen, wie er ein ganz genaues Inventar der vielen zierlichen Gegenstände, die so merkwürdig von ihm selbst abstechen, aufzeichnet und seinem Gedächtnis einprägt, ist ein seltsames Bild. Aber niemand sieht es, denn er hat fürsorglich die Türen abgeschlossen.

»Ein schmuckes Boudoir das«, brummt Mr. Bucket, der heute morgen sein Französisch sozusagen aufgefrischt hat. »Muß einen guten Batzen Geld gekostet haben. Seltsam, von solchen Sachen davon zu laufen; der Boden muß ihr unter den Füßen gebrannt haben.«

Er öffnet und schiebt Schubladen zu, späht in Kästchen und Juwelenetuis und sieht dabei sein Bild in den verschiedenen Spiegeln und stellt allerlei Betrachtungen darüber an.

»Man könnte fast auf den Gedanken kommen, ich bewegte mich in den vornehmen Kreisen und putzte mich heraus zum Modeball. Vielleicht bin ich gar ein Offizier von der Garde und weiß es nur nicht.«

Alles durchstöbernd, hat er auch ein zierliches Kästchen in einem geheimen Schubfach geöffnet. Wie seine groben Finger in Handschuhen wühlen, die er kaum fühlen kann, so leicht und weich sind sie, findet er plötzlich ein weißes Taschentuch.

»Hm! Dich wollen wir einmal ansehen«, sagt Mr. Bucket und setzt das Licht hin. »Warum bist du aufgehoben worden? Was hast du mir zu erzählen? Gehörst du der Gnädigen oder sonst jemandem? Du hast doch gewiß irgendein Zeichen, sollte ich meinen?«

Er findet es, während er noch spricht: »Esther Summerson.«

»Aha!« sagt Mr. Bucket und läßt sich von seinem Finger beraten. »Wart einmal, dich nehmen wir mit.«

Er vollendet seine Nachforschungen so ruhig und sorgsam, wie er sie angefangen, läßt alles andre genau so, wie er es gefunden, gleitet hinaus, nachdem er sich im ganzen kaum fünf Minuten aufgehalten hat, und tritt auf die Straße. Mit einem Blick hinauf nach den schwach erhellten Fenstern von Sir Leicesters Zimmern eilt er im vollen Trabe nach dem nächsten Droschkenstand, sucht sich für sein Geld ein Pferd aus und befiehlt, nach der Schießgalerie zu fahren.

Mr. Bucket macht keinen Anspruch darauf, ein wissenschaftlich geschulter Rossekenner zu ein; aber er läßt etwas springen, wenn er einen besonders tüchtigen Repräsentanten dieser Tiergattung mietweise ergattern kann, und drückt gewöhnlich das Um und Auf seines Wissens in diesem Gebiet mit der Bemerkung aus, er könne einem Pferd auf den ersten Blick ansehen, ob es laufen könne.

Auch diesmal hat er sich nicht getäuscht. Er rasselt in einem geradezu gefährlichen Tempo über das Pflaster, faßt aber gedankenvoll und mit scharfem Blick jedes umherschleichende Geschöpf ins Auge, an dem er in den mitternächtlichen Straßen vorüberfährt, und vergißt selbst die Lichter in den oberen Stockwerken, wo die Leute zu Bett gehen oder gegangen sind, und die Straßenecken, um die er rasselt, und den dicken Himmel und die Erde, auf der eine dünne Schneedecke liegt, nicht – denn jede Kleinigkeit kann ihm vielleicht etwas verraten, das ihm irgendwie von Nutzen ist. Die Eile, mit der er auf sein Ziel losstürmt, ist so groß, daß, als er hält, das Pferd wie in eine Dampfwolke gehüllt ist, die ihn fast erstickt.

»Laß es eine halbe Minute rasten, damit’s wieder munter wird. Ich bin gleich zurück.«

Er läuft den langen Plankengang hinein und findet den Kavalleristen, wie er sich gerade seine Pfeife schmecken läßt.

»Recht so, George, nach dem, was Sie durchgemacht haben, mein Junge. Ich habe kein Wort übrig. Drauf und dran, jetzt gilt’s, eine Frau zu retten. Wo wohnt Miß Summerson, die hier war, als Gridley starb – so hieß sie – ich weiß es doch –, schnell, schnell! – Wo wohnt sie?«

Der Kavallerist kommt eben von dort und gibt ihm die Adresse. Nähe von Oxford-Street.

»Sie werden es nicht bereuen, George. Gute Nacht.«

Schon ist er wieder draußen, mit einer dunkeln Ahnung, daß er Phil an dem kärglichen Feuer, mit offnem Munde und ganz verblüfft ob seines Kommens, sitzen gesehen habe, und rasselt in scharfem Trab weiter und steigt, abermals von einer Dampfwolke umgeben, aus.

Mr. Jarndyce, der einzige im Haus, der noch auf ist, will eben zu Bett gehen; er sieht von seinem Buche auf, als er das ungestüme Klingeln hört, und kommt im Schlafrock an das Haustor hinunter.

»Erschrecken Sie nicht, Sir!«

Im Augenblick steht Bucket mit Mr. Jarndyce in vertraulichem Gespräch in der Vorhalle, hat die Tür zugemacht und die Hand auf das Schloß gelegt. »Ich habe schon früher einmal das Vergnügen gehabt. Inspektor Bucket. Sehen Sie dieses Taschentuch an, Sir. Gehört Miß Esther Summerson. Fand es vor einer Viertelstunde in einem Schubkasten bei Lady Dedlock. Kein Augenblick zu verlieren. Handelt sich um Leben oder Tod. Sie kennen Lady Dedlock?«

»Ja.«

»Es ist heute dort etwas vorgefallen. Familiengeschichten sind an den Tag gekommen. Sir Leicester Dedlock, Baronet, hat einen Schlaganfall gehabt und konnte nicht zu sich gebracht werden, und kostbare Zeit ist verloren worden. Lady Dedlock ist diesen Nachmittag verschwunden und hat einen Brief zurückgelassen, der schlimm aussieht. Überfliegen Sie ihn selbst. Hier ist er!«

Nachdem ihn Mr. Jarndyce gelesen hat, fragt er den Inspektor, was er davon halte.

»Weiß es nicht. Sieht aus wie Selbstmord. Jedenfalls wird mit jeder Minute die Gefahr größer, daß es dazu kommt. Ich gebe für jede Stunde, die ich gewinnen kann, hundert Pfund. Mr. Jarndyce, ich bin von Sir Leicester Dedlock, Baronet, beauftragt, Mylady zu folgen und sie zu finden – sie zu retten und ihr seine Verzeihung zu überbringen. Ich habe Geld und unbeschränkte Vollmacht, aber ich brauche noch etwas: Ich brauche Miß Summerson.«

Mr. Jarndyce wiederholt erschrocken: »Miß Summerson?«

»Hören Sie, Mr. Jarndyce!« – Mr. Bucket hat während der ganzen Zeit mit der größten Aufmerksamkeit in dem Gesicht seines Gegenübers gelesen. – »Ich spreche zu Ihnen wie zu einem Mann, der ein menschliches Herz in der Brust hat, und unter so drängenden Verhältnissen, wie sie nicht oft vorkommen. Wenn jemals Gefahr im Verzug war, so ist es jetzt der Fall; und wenn Sie sich später nicht bittere Vorwürfe machen wollen, schuld an einem Unglück zu sein, so willfahren Sie meiner Bitte. Acht oder zehn Stunden, jede wenigstens hundert Pfund wert, sind seit Lady Dedlocks Verschwinden verloren gegangen. Ich muß sie auffinden, koste es, was es wolle. Ich bin Inspektor Bucket. Außer all dem, was sie sonst noch schwer bedrückt, glaubt sie, des Mordes verdächtig zu sein. Wenn ich ihr allein folge, so kann sie, da sie nicht weiß, was Sir Leicester Dedlock, Baronet, mir mitgeteilt hat, zu einem verzweifelten Schritt getrieben werden. Aber wenn ich ihr in Begleitung einer jungen Dame folge, die der Beschreibung einer jungen Dame entspricht, für die sie eine zärtliche Neigung hat – ich stelle keine Fragen und sage weiter nichts –, so wird sie wissen, daß ich als Freund komme. Wenn ich sie einhole und imstande bin, diese junge Dame ein paar Worte vorher mit ihr sprechen zu lassen, so kann ich sie retten und sie überreden, zurückzukehren, wenn sie am Leben ist. Hole ich sie allein ein – was viel schwerer ist –, werde ich wohl mein Bestes tun; aber ich stehe nicht dafür, wie dieses Beste ausfallen wird. Die Zeit verstreicht; es geht stark auf ein Uhr. Wenn es eins schlägt, ist wieder eine Stunde verloren; und sie ist jetzt tausend Pfund wert anstatt hundert.«

Das ist alles sehr einleuchtend, und die Dringlichkeit des Falles steht außer Frage. Mr. Jarndyce bittet den Detektiv, hier zu warten, während er mit Miß Summerson sprechen will. Mr. Bucket verspricht das, hält es aber nicht, sondern handelt wie immer in solchen Fällen, geht mit hinauf und läßt seinen Mann nicht aus dem Auge. So bleibt er lauernd auf der dunkeln Treppe stehen, während die beiden beraten.

Nach ein paar Minuten kommt Mr. Jarndyce herunter und berichtet Mr. Bucket, daß Miß Summerson sogleich bei ihm sein und sich unter seinen Schutz stellen werde, um ihn zu begleiten, wohin er wolle. Sehr befriedigt, spricht Mr. Bucket seine höchste Billigung aus und wartet an der Tür, bis sie kommt.

Im Geiste steigt er auf einen hohen Turm und läßt seine Blicke im weiten Umkreise umherschweifen. Er sieht viele einsame Gestalten durch die Straßen schleichen, viele einsame Gestalten draußen auf der Heide und auf Landwegen und unter Heuschobern die Nacht verbringen. Aber die, die er sucht, ist nicht unter ihnen. Andre einsame Gestalten sieht er in dunkeln Brückennischen in den Fluß hinabschauen und an umschatteten Stellen unten am Strome stehen; und ein dunkler, gestaltloser Gegenstand, der, einsamer als alle andern, mit der Flut stromabwärts treibt, erfaßt mit der Kraft der Vision seine Aufmerksamkeit.

Wo ist sie? Lebendig oder tot, wo ist sie? Wenn das Taschentuch, das er jetzt zusammengelegt hat und sorgsam einsteckt, imstande wäre, ihm mit Zaubermacht den Ort vor Augen zu bringen, wo sie es fand, und die Nachtlandschaft um die Hütte, wo es die kleine Leiche zudeckte, würde er sie dort erblicken?

Auf dem wüsten Fleck, wo die Ringöfen mit blauem Scheine brennen, wo der Wind die Strohdächer der elenden Hütten zerzaust, in denen die Ziegel geformt werden, wo der Lehm und das Wasser hart gefroren sind und die Mühle, in der das magere, blinde Pferd den ganzen Tag lang im Kreise herumgeht, wie ein Folterwerkzeug für Menschen aussieht, –dort, über diese wüste, verlaßne Stelle, geht eine einsame Gestalt, allein in der Welt mit ihrem Schmerz, gepeitscht von Schnee und Regen und ausgestoßen aus der Gemeinschaft der Menschen. Wohl ist es die Gestalt einer Frau; aber sie ist jämmerlich angezogen, und solche Kleider gingen nie durch die Vorhalle und zur Pforte des Palastes der Dedlocks hinaus.

57. Kapitel


57. Kapitel

Esthers Erzählung

Ich war zu Bett gegangen und lag bereits in tiefem Schlaf, als mein Vormund an die Tür meines Zimmers klopfte und mich bat, auf der Stelle aufzustehen. Als ich rasch aus dem Bett sprang, um mit ihm durch die Türe zu sprechen und zu erfahren, was es denn gäbe, erzählte er mir nach einigen vorbereitenden Worten, daß Sir Leicester Dedlock alles erfahren habe, meine Mutter geflohen sei und eine Person jetzt unten warte, ermächtigt, ihr die umfassendste Versicherung liebevollster Verzeihung zu überbringen, wenn sie die Flüchtige auffinden sollte, und daß ich diesen Mann begleiten sollte, da er hoffe, meine Bitten würden sie bewegen, wenn es ihm nicht gelänge. Irgend etwas dieser Art wurde mir klar; aber Unruhe, Hast, Leid und Überraschung verwirrten mich dermaßen, daß ich trotz aller Anstrengung, mein Entsetzen niederzukämpfen, mich, meinem Empfinden und Erinnern nach, erst vollständig wieder erholte, als Stunden darüber vergangen waren.

Ich zog mich rasch an und hüllte mich ein, ohne Charley oder sonst jemanden zu wecken, und begab mich zu Mr. Bucket hinunter, der beauftragt war, Lady Dedlock zu suchen. Mein Vormund erzählte mir näheres, während er mich hinunterführte, und erklärte mir auch, wieso der Mann auf mich verfallen war. Mr. Bucket las mir bei dem Schein der Kerze meines Vormundes im Hausflur mit leiser Stimme einen Brief vor, den meine Mutter auf ihrem Tisch zurückgelassen hatte; und ich glaube, kaum zehn Minuten waren vergangen, seit ich geweckt worden, da saß ich bereits neben ihm und fuhr rasch durch die Straßen.

Er setzte mir kurz und ohne Umschweife, aber doch voll Rücksicht, auseinander, es hinge sehr viel davon ab, daß ich ohne Verwirrung ein paar Fragen beantwortete, die er mir vorzulegen wünschte. Sie bezogen sich hauptsächlich darauf, ob ich viel mit meiner Mutter (von der er nur als Lady Dedlock sprach) verkehrt, wann und wo ich mit ihr zuletzt gesprochen habe und wie sie zu meinem Taschentuch gekommen sei. Als ich ihn über diese Punkte zufriedengestellt hatte, forderte er mich auf, genau nachzudenken – und mir dabei wohl Zeit zu nehmen –, ob ich jemanden kenne, ganz gleichgültig wo, dem sie möglicherweise in Fällen dringendster Not wohl ihr Vertrauen würde geschenkt haben. Ich konnte mich anfangs auf niemanden besinnen als auf meinen Vormund; aber sodann nannte ich auch Mr. Boythorn. Er kam mir wegen seiner alten ritterlichen Weise, mit der er immer den Namen meiner Mutter nannte, in den Sinn, sowie nach Überlegung alles dessen, was mir mein Vormund von seinem früheren Verhältnis zu ihrer Schwester und dem Zusammenhang der ganzen unglücklichen Geschichte mit der seinigen erzählt hatte.

Mr. Bucket ließ den Kutscher während dieses Gesprächs haltmachen, damit wir einander besser verstehen könnten. Er hieß ihn jetzt weiterfahren und sagte mir, nachdem er einige Augenblicke nachgedacht, daß er sich jetzt über das einzuschlagende Verfahren vollkommen klar sei. Er wollte mir bereitwilligst seinen Plan auseinandersetzen, aber ich fühlte mich zu verwirrt, als daß ich hätte hoffen können, ihn zu verstehen.

Wir waren noch nicht weit gefahren, als wir in einer Nebenstraße vor einem wie ein öffentliches Gebäude aussehenden, mit Gas erleuchteten Hause hielten. Mr. Bucket nahm mich mit hinein und ließ mich in einem Lehnstuhl neben einem hellen Kaminfeuer Platz nehmen. Es war jetzt Eins vorüber, wie ich an der an der Wand angebrachten Uhr erkannte. Zwei Polizeibeamte, die in ihren saubern Uniformen gar nicht aussahen wie Leute, die Nacht für Nacht aufbleiben mußten, schrieben ruhig an einem Pulte. Der Ort schien sehr still zu sein, von dem Zuschlagen ferner Türen unter der Erde, worauf übrigens niemand zu achten schien, vielleicht abgesehen.

Ein dritter Mann in Uniform verließ das Zimmer, nachdem er die Anweisungen, die ihm Mr. Bucket zugeflüstert, entgegengenommen hatte; dann gingen die beiden andern miteinander zu Rate, und einer schrieb nieder, was ihm Mr. Bucket halblaut diktierte. Sie entwarfen eine Beschreibung meiner Mutter; und Mr. Bucket brachte sie mir, als sie fertig waren, und las sie mir leise vor. Sie stimmte wirklich auf das genaueste.

Der zweite Beamte, der aufmerksam zugehört hatte, schrieb sie dann ab und rief einen andern Mann in Uniform aus dem Vorzimmer, der das Papier nahm und damit hinausging. Alles dies geschah mit der größten Schnelligkeit und ohne einen Augenblick zu verlieren, aber trotzdem war nirgends kopflose Hast zu bemerken. Sobald das Papier seine Reise angetreten hatte, wendeten sich die beiden Polizeibeamten wieder ihrer früheren ruhigen Beschäftigung zu und setzten sich an ihre Pulte. Mr. Bucket trat zu mir und wärmte sich gedankenvoll seine Stiefelsohlen abwechselnd am Kaminfeuer.

»Sind Sie warm angezogen, Miß Summerson?« fragte er mich, als sein Blick dem meinen begegnete. »Es ist eine verwünscht kalte Nacht zum Reisen für eine junge Dame.«

Ich sagte ihm, das Wetter sei mir gleichgültig und ich hätte warme Kleider an.

»Es kann eine lange Reise werden«, bemerkte er, »aber machen Sie sich nichts daraus, Miß, wenn nur das Ende gut ist.«

»Gott gebe es.«

Er nickte mir tröstend zu. »Ich sagte Ihnen schon, härmen Sie sich nicht ab, was auch immer geschehen mag. Bleiben Sie kühl und ruhig und seien Sie auf alles gefaßt, und es wird besser für Sie, besser für mich, besser für Lady Dedlock und für Sir Leicester Dedlock, Baronet, sein.«

Er war wirklich sehr freundlich und rücksichtsvoll; und wie er vor dem Feuer seine Stiefel wärmte und sich das Gesicht mit dem Zeigefinger rieb, faßte ich Vertrauen zu seinem Scharfsinn und fühlte mich beruhigter. Es war noch nicht ein Viertel auf Zwei, als ich draußen einen Wagen vorfahren hörte. »Jetzt, Miß Summerson, geht es fort, wenn’s gefällig ist!« sagte er.

Er gab mir seinen Arm, und die beiden Polizeibeamten begleiteten mich höflich bis an die Tür, vor der wir eine Art Phaethon oder Barouche mit einem Postillon und Postpferden fanden. Mr. Bucket hob mich hinein und nahm selbst auf dem Bocke Platz. Der Mann in der Uniform, der nach dem Wagen geschickt hatte, reichte ihm auf sein Verlangen eine Blendlaterne hinauf, und nachdem er dem Kutscher einige Anweisungen gegeben, rollten wir fort.

Mir war zumute, als träumte ich. Wir fuhren mit großer Schnelligkeit durch ein Labyrinth von Straßen, so daß ich bald jede Orientierung verlor; ich wußte nur soviel, daß wir wiederholt den Fluß passierten und dann weiter durch einen niedrig gelegenen, nahe am Wasser befindlichen, dicht zusammengedrängten Stadtteil schmaler Gäßchen fuhren, in denen man überall Docks und Kessel, Warenhausspeicher, Drehbrücken und Schiffsmaste erblickte. Endlich hielten wir an der Ecke einer kleinen schlammigen Gasse, die die vom Flusse aufsteigende Ausdünstung nur noch übler riechen machte, und ich sah, wie sich mein Begleiter beim Schein seiner Laterne mit mehreren Personen, die halb wie Polizeileute und halb wie Matrosen aussahen, beriet. An der moderfeuchten Mauer, an der sie standen, klebte ein Zettel mit der Anzeige: »Ertrunken gefunden«; und dies und ein gedruckter Hinweis auf in der Nähe befindliche Schleppnetze erregten in mir einen grauenhaften Verdacht, weshalb wir diesen Ort aufgesucht hatten.

Ich bezwang mein Herzklopfen, so gut ich konnte, aber was ich an diesem schrecklichen Orte litt, werde ich nie vergessen.

Es war wie ein grauenhafter Traum. Ein schlammbedeckter Mann mit hohen, vom Wasser wie ein Schwamm aufgeweichten Stiefeln und einem ebensolchen Hut wurde aus einem Boote herbeigerufen und sprach mit Mr. Bucket, der sodann mit ihm einige schlüpfrige Stufen hinabstieg, wie um etwas Geheimnisvolles, das dort lag, anzusehen. Sie kamen wieder und wischten sich die Hände an ihren Röcken ab, als ob sie etwas Feuchtes angefaßt hätten; aber Gott sei Dank, es war nicht das, was ich fürchtete!

Nach weitern Beratungen ging Mr. Bucket, den alle zu kennen und als eine Art Vorgesetzten zu betrachten schienen, mit den andern in ein Haus und ließ mich im Wagen zurück, während der Kutscher bei den Pferden auf und ab ging, um sich zu wärmen. Die Flut kam den Fluß herauf, wie mich das Plätschern der Wellen erraten ließ, und ich konnte am Ende des Gäßchens die Strömung an den Mauern anschlagen hören. Das Wasser kam niemals bis zu mir; aber mich durchschauderte wohl hundert Mal in der bangen Viertelstunde der Gedanke, daß die Leiche meiner Mutter plötzlich den Pferden vor die Füße geschwemmt werden könnte.

Mr. Bucket kam wieder heraus, schärfte den andern äußerste Wachsamkeit ein, verfinsterte seine Laterne und nahm seinen Platz auf dem Bock ein. »Beunruhigen Sie sich nicht, Miß Summerson, daß wir hierher gefahren sind«, sagte er, zu mir gewendet. »Ich will nur nichts außer acht lassen und mich selbst überzeugen, daß alles im Zuge ist, indem ich selbst danach sehe. Fahren Sie zu, Kutscher.«

Wir schienen den Weg, den wir gekommen waren, zurückzufahren. Nicht etwa, daß ich mir in meiner Aufregung besondere Gegenstände gemerkt hätte, sondern mehr nach dem allgemeinen Charakter der Straßen zu schließen. Wir sprachen eine Minute lang an einer andern Polizeistation vor und fuhren abermals über den Fluß. Während der ganzen Zeit, und solange das Suchen dauerte, ließ mein Begleiter, der dicht eingehüllt auf dem Bock saß, auch nicht einen Augenblick in seiner Wachsamkeit nach; aber wie wir über die Brücke fuhren, schien sich seine gespannte Aufmerksamkeit womöglich noch zu verdoppeln. Er stand auf, um über die Brustwehr hinunterzusehen; er stieg ab und ging zurück, einer dunkeln weiblichen Gestalt nach, die an uns vorübereilte, oder spähte in den tiefen schwarzen Abgrund da unten, mit einem Gesicht, das mir das Herz erbeben machte. Grauenhaft sah der Strom aus, wie er so nebelbedeckt und geheimnisvoll rasch und still zwischen den flachen Ufern hinfloß, umdüstert von undeutlichen, grauenhaften Formen, halb Wesenheiten, halb Schatten: so totenähnlich und verschwiegen.

Ich habe ihn seitdem oft gesehen, bei Sonnen- und bei Mondenschein, aber niemals mehr konnte ich mich von dem Eindruck dieser Reise wieder befreien. Im Geiste sehe ich die Laternen auf der Brücke trübe brennen, der schneidend kalte Wind fegt an dem obdachlosen Weib vorbei, dem wir begegnen, die Räder rasseln eintönig weiter, und im Schimmer der Wagenlampen sieht mich ein bleiches Gesicht an, das aus den dunkeln Wassern emporzusteigen scheint.

Nachdem wir lange durch die leeren Straßen gefahren waren, kamen wir endlich aus dem Pflaster heraus auf die glatte dunkle Landstraße und ließen allmählich die Häuser hinter uns. Alsbald erkannte ich den mir bekannten Weg nach St. Albans. In Barnet standen frische Pferde für uns bereit, und wir spannten um und fuhren weiter. Es war sehr kalt, und die Gegend lag weit und breit unter einer weißen Schneedecke, wenn es auch jetzt nicht mehr schneite.

»Ein wohlbekannter Weg für Sie, Miß Summerson«, munterte mich Mr. Bucket auf.

»Ja, gewiß«, gab ich zurück. »Haben Sie schon etwas in Erfahrung gebracht?«

»Noch nichts von Belang«, gab er zur Antwort. »Aber das wäre auch zu bald.«

Er trat in jedes noch offen stehende Wirtshaus, wo sich Licht zeigte –die Zahl derselben war damals nicht gering, denn die Straße war sehr von Viehtreibern besucht –, und stieg jedes Mal ab, um mit den Mautwächtern an den Schlagbäumen zu sprechen. Ich hörte ihn immer zu trinken bestellen und mit Geld klimpern. Überall war er bemüht, sich angenehm zu machen und lustig zu sein; aber so oft er seinen Platz auf dem Bocke einnahm, bekam sein Gesicht wieder den Ausdruck gespanntester Wachsamkeit, und er sagte stets zu dem Postillon in demselben Geschäftstone: »Fahren Sie zu, Kutscher!«

Durch dieses häufige Anhalten war es zwischen fünf und sechs Uhr geworden, und immer noch lag St. Albans einige Meilen vor uns, als er aus einem dieser Wirtshäuser am Wege herauskam und mir eine Tasse Tee anbot.

»Trinken Sie, Miß Summerson, es wird Ihnen gut tun. Sie fangen an, mehr zu sich selbst zu kommen, nicht wahr?«

Ich dankte ihm und sagte, ich hoffte es.

»Im Anfang waren Sie, was man so sagt, ein wenig verdattert. Mein Gott, das ist auch schließlich kein Wunder. Sprechen Sie nicht zu laut, Miß. Die Sache geht gut. Wir haben die Fährte.«

Ich weiß nicht, welcher freudige Ausruf mir entschlüpfte oder entschlüpfen wollte, aber er hob den Finger warnend in die Höhe, und ich hielt an mich.

»Sie ist heute abend gegen acht oder neun Uhr zu Fuß hier durchgekommen. Ich hörte zuerst von ihr drüben in Highgate, konnte mir aber noch nicht volle Gewißheit verschaffen. Ich habe ihre Spur bis jetzt mit einigen Unterbrechungen verfolgen können, sie da und dort aufgefunden und dann wieder verloren; aber sie ist jetzt sicher vor uns. Hier, nehmen Sie die Tasse, Hausknecht. Und jetzt, wenn Sie nicht beim Butterfaß aufgewachsen sind, passen Sie mal auf, ob Sie diese halbe Krone mit der andern Hand fangen können. Eins, zwei, drei – na, also! Kutscher, versuchen Sie’s mal mit einem Galopp!«

Wir erreichten bald St. Albans und stiegen kurz vor Tagesanbruch aus, als ich gerade anfing, mir Rechenschaft über die Vorfälle der Nacht abzulegen und wirklich zu glauben, daß ich nicht träumte. Mr. Bucket ließ den Wagen im Posthause stehen, befahl, frische Pferde bereit zu halten, gab mir den Arm, und wir gingen nach unsrer Wohnung.

»Da Sie hier ziemlich zu Hause sind, Miß Summerson«, bemerkte er, »könnten Sie vielleicht erkunden, ob eine der Beschreibung entsprechende Unbekannte nach Ihnen oder nach Mr. Jarndyce gefragt hat. Was meinen Sie? Ich mache mir keine besonderen Hoffnungen, aber immerhin wäre es ja möglich.«

Als wir die Höhe hinaufgingen, spähte er mit scharfem Auge durch die Morgendämmerung und erinnerte mich daran, daß ich eines Abends mit meiner kleinen Zofe und dem armen Jo, den er »Schmier-Ober« nannte, hier herabgegangen sei.

Ich drückte meine Verwunderung aus, daß er das wissen könne.

»Sie begegneten damals einem Mann auf der Straße dort oben, nicht wahr, Miß?«

Ja; auch daran erinnerte ich mich nur zu gut.

»Das war ich. Ich fuhr an jenem Nachmittag in einem Gig hierher, um nach dem Jungen zu sehen. Sie hätten die Räder rollen hören können, als sie herauskamen, um ihn aufzusuchen, denn ich weiß noch, daß Sie und Ihre kleine Zofe hinaufgingen, als ich das Pferd hinunterführte. Durch ein paar Erkundigungen im Städtchen erfuhr ich bald, in welcher Gesellschaft er sich befand, und wollte ihn gerade in den Zieglerhütten aufsuchen, als ich sie mit ihm heraufkommen sah.«

»Hat er denn ein Verbrechen begangen?«

»Angezeigt hat ihn niemand«, sagte Mr. Bucket und lüftete kaltblütig den Hut; »aber ich glaube, es war nicht alles richtig mit ihm. Nein. Ich brauchte ihn nur, um eben diese Sache Lady Dedlocks nicht ruchbar werden zu lassen. Er hatte über kleine Gelegenheitsdienste, für die ihn der selige Mr. Tulkinghorn bezahlte, mehr gesprochen, als nötig war; und es ging durchaus nicht an, daß er das so weiter trieb. Nachdem ich ihm daher bedeutet hatte, London zu verlassen, benutzte ich einen freien Nachmittag, um ihm einen Wink zu geben, auch hübsch von London weg zu bleiben und sich wohl in acht zu nehmen, daß ich ihn nicht noch ein Mal in der Stadt fände.«

»Der Arme!« sagte ich.

»Arm genug«, gab Mr. Bucket zu, »und lästig genug. Besser, er war von London weg und anderswo. Mich hat’s fast umgeworfen, als ich hörte, Sie hätten ihn in Ihr Haus aufgenommen, das versichere ich Ihnen.«

Ich fragte ihn, warum.

»Warum, Miß? Da wäre doch sein Geschwätz erst recht losgegangen und hätte überhaupt nicht mehr aufgehört.«

Obgleich ich mich jetzt dieses Gesprächs noch ganz gut entsinne, war es mir doch damals so wirr im Kopfe, daß meine Aufmerksamkeit gerade nur ausreichte, um zu begreifen, daß Mr. Bucket von diesen Sachen bloß redete, um mich zu zerstreuen. Offenbar mit derselben freundlichen Absicht sprach er mit mir von allen möglichen gleichgültigen Dingen, während sein Gesicht verriet, daß er sich ausschließlich mit dem einen Ziel unsrer Reise beschäftigte. Er sprach immer noch, als wir zum Gartentor hereintraten.

»So! Da wären wir«, sagte er, »ein gar hübsches, stilles Fleckchen. Erinnert einen an das Häuschen von der Knusperhexe, das man schon von weitem durch den Rauch entdeckte, der so schön in die Höhe wirbelte. Das Küchenfeuer brennt zeitig, und das bedeutet eine gute Dienerschaft. Aber worauf Sie immer bei Dienstboten sehen müssen, ist, wer sie besucht. Sie sind nie sicher, was Sie von ihnen zu gewärtigen haben, wenn Sie das nicht wissen. Wenn Sie einen jungen Menschen hinter der Küchentür finden, so lassen Sie ihn immer gleich als verdächtig, sich zu einem unerlaubten Zweck in ein Wohnhaus eingeschlichen zu haben, verhaften.«

Wir standen jetzt vor dem Hause, und er suchte aufmerksam auf dem Sande nach Fußstapfen, ehe er nach den Fenstern hinaufblickte.

»Geben Sie dem alten jugendlichen Herrn immer dasselbe Zimmer, wenn er hier auf Besuch ist, Miß Summerson?« fragte er mit einem Blick nach dem Fenster Mr. Skimpoles.

»Sie kennen Mr. Skimpole?«

»Wie nannten Sie ihn?« entgegnete Mr. Bucket und neigte sein Ohr zu mir. »Skimpole, sagten Sie? Ich habe mir oft den Kopf zerbrochen, wie er wohl heißen möge. Skimpole. Doch nicht John, oder vielleicht Jakob?«

»Harold.«

»Harold. So so. Ein kurioser Bursche, dieser Harold«, sagte Mr. Bucket und sah mich mit sehr ausdrucksvollem Gesichte an.

»Er ist ein sehr merkwürdiger Mensch.«

»Hat keinen Begriff von Geld«, bemerkte Mr. Bucket, »nimmt’s aber doch!«

»Sie kennen ihn also«, gab ich unwillkürlich zur Antwort.

»Nun, ich will Ihnen die Geschichte erzählen, Miß Summerson. Es ist besser für Sie, wenn Sie nicht beständig an dieselbe Sache denken, und ich will es Ihnen der Abwechslung wegen erzählen. Er war’s doch, der mir gesagt hat, wo sich der ‚Schmier-Ober‘ befand. Ich wollte diesen Abend an die Haustür klopfen und direkt nach dem Jungen fragen, wenn mir nichts andres übrig bleiben sollte; aber um erst noch einen Versuch zu machen, fiel es mir ein, eine Handvoll Sand an das Fenster dort zu werfen, hinter dem ich einen Schatten sah. Sowie Harold es aufmacht und ich einen Blick auf ihn werfe, denke ich mir schon, du bist mein Mann. Ich sagte ihm, um ihn ein wenig kirre zu machen, ich möchte nicht erst die Familie aufwecken, und es sei doch sehr zu beklagen, daß junge mitleidige Damen Vagabunden beherbergten; und dann, als ich seine Art recht weg hatte, warf ich so hin, ich würde gern einen Fünfpfundlappen springen lassen, wenn ich den ‚Schmier-Ober‘ ohne Aufsehen von hier fortbringen könnte. Darauf sagte er und zog seine Augenbrauen fidel in die Höhe: ‚Es ist ganz unnütz, mit mir von einer Fünfpfundnote zu sprechen, mein Freund, ich bin in solchen Sachen ein wahres Kind und habe keinen Begriff von Geld.‘

Natürlich wußte ich sofort, woran ich war, wickelte die Banknote um einen Stein und warf sie ihm hinauf. Gut! Er lacht, macht ein freundliches Gesicht und sieht so unschuldig drein, wie man sich’s nur wünschen kann, und sagt:

‚Aber ich kenne den Wert dieser Sache doch nicht. Was soll ich damit machen ?‘

‚Ausgeben, Sir‘, rate ich ihm.

‚Aber man wird mich betrügen‘, meint er; ’sie geben mir nicht genug heraus, und ich habe nichts davon.‘ Gott, Sie haben noch kein so unschuldiges Gesicht gesehen, wie er eins dabei machte! Natürlich sagte er mir, wo der Junge zu finden war, und ich fand ihn.«

Ich mußte in der Handlungsweise Mr. Skimpoles natürlich eine Verräterei gegen meinen Vormund sehen und meinte, daß so etwas denn doch die Grenzen kindlicher Unschuld überschritte.

»Grenzen, Miß Summerson?« entgegnete Mr. Bucket. »Ich will Ihnen bei dieser Gelegenheit einen Rat erteilen, der Ihnen und Ihrem Mann sehr nützlich sein wird, wenn Sie erst einmal glücklich verheiratet sein und Familie haben werden. Wenn Ihnen einer sagt, ich bin unschuldig wie ein Kind in allem, was Geld anbelangt, so nehmen Sie Ihr Portemonnaie in acht, denn Sie können Ihren Kopf darauf wetten, daß er es sich holt, wenn er’s kriegen kann. Wenn jemand ausposaunt, ‚in praktischen Sachen bin ich ein Kind‘, so nehmen Sie nur ruhig an, daß es sich diesem jemand nur darum handelt, nicht zur Rechenschaft gezogen zu werden, und daß das liebe ‚Ich‘ bei ihm die Hauptrolle spielt. Ich selber bin kein poetischer Mensch, höchstens hinsichtlich Rundgesängen, aber ich bin ein Praktiker, und das ist meine Erfahrung. Die Regel ist: unzuverlässig in einer Sache, unzuverlässig in allem. Ich habe noch nicht erlebt, daß sie nicht eingetroffen wäre. Und Sie werden es auch nicht erleben. Und mit dieser Warnung für Unvorsichtige, meine Liebe, nehme ich mir die Freiheit, die Klingel zu ziehen, und komme wieder auf unser Geschäft zurück.«

Ich glaube, das war ihm übrigens keinen Augenblick aus dem Kopf gekommen, ebensowenig wie mir, und auch sein Gesicht verriet, daß er sich innerlich ununterbrochen damit beschäftigt hatte.

Das ganze Haus war höchlichst erstaunt, mich ohne vorherige Benachrichtigung so früh am Morgen und in dieser Begleitung zu sehen. Und das Erstaunen unsrer Leute wurde durch meine Erkundigungen nicht vermindert. Es war jedoch niemand dagewesen. An der Richtigkeit dieser Angabe konnten wir nicht zweifeln.

»Dann, Miß Summerson«, sagte mein Begleiter, »können wir nicht rasch genug die Hütte der Ziegelstreicher, die Sie ja kennen, aufsuchen. Wenn Sie so gut sein wollen, sich dort zu erkundigen, so wäre das der natürlichste Weg, und der ist immer der beste.«

Wir brachen unverzüglich auf.

Als wir die Hütte erreichten, war die Tür zu, und allem Anscheine nach niemand daheim; aber einer der Nachbarn, der mich kannte und zu mir trat, als ich versuchte, mich jemandem hörbar zu machen, sagte mir, die beiden Frauen wohnten mit ihren Männern in einem andern Hause aus losen Ziegeln am Rande des Feldes, wo die Ringöfen ständen und die Ziegelsteine in langen Reihen trockneten. Die Stelle war nur ein paar hundert Schritt entfernt; da die Tür nur angelehnt war, stieß ich sie auf.

Es saßen nur drei der Leute beim Frühstück, und das Kind schlief auf einem Bett in der Ecke. Jenny war nicht da. Die andre Frau stand auf, als sie mich erblickte, und beide Männer, obgleich sie wie gewöhnlich finster und stumm dasaßen, nickten mir mürrisch zu. Sie warfen sich einen Blick zu, als Mr. Bucket hinter mir eintrat, und es überraschte mich, zu bemerken, daß die Frau ihn offenbar kannte.

Ich hatte natürlich um Erlaubnis gebeten, einzutreten. Liz (der einzige Name, unter dem ich sie kannte) stand auf, um mir ihren Stuhl anzubieten, aber ich nahm auf einer Bank neben dem Feuer Platz und Mr. Bucket auf einer Ecke der Bettstelle. Jetzt, wo ich sprechen sollte und mich unter halbfremden Leuten befand, kam mir erst zum Bewußtsein, wie außer Fassung und schwindlig ich war. Ich wußte nicht recht, wie anfangen, und konnte die Tränen nicht zurückhalten.

»Liz«, sagte ich endlich, »ich habe eine weite Reise durch Nacht und Schnee gemacht, um mich nach einer Dame zu erkundigen…«

»Die hier war, wißt ihr«, fiel Mr. Bucket ein und wendete sich mit ruhiger, einschmeichelnder Miene an sämtliche Anwesende. »Die Dame meint das Fräulein. Die Dame, die gestern abend hier war, wißt ihr.«

»Und wer hat Ihnen denn gsagt, das jemand hier gwesen is?« fragte Jennys Mann, hielt mürrisch im Essen inne, um zuzuhören, und maß uns von oben bis unten.

»Ein Mann namens Michael Jackson in einer blauen Manchesterweste mit einer doppelten Reihe Perlmutterknöpfe«, entgegnete Mr. Bucket schlagfertig.

»Er soll ich um seine Sachen kümmern; kenn ihn übrigens nicht«, brummte der Ziegelstreicher mürrisch.

»Er hat grad keine Arbeit, glaub ich«, entschuldigte Mr. Bucket seinen Freund Michael Jackson, »da gewöhnt man sich das Schwatzen an.«

Die Frau hatte sich noch nicht wieder niedergesetzt, griff mit der Hand unsicher auf der zerbrochnen Stuhllehne herum und sah mich an. Ich sah ihr an, daß sie am liebsten mit mir allein gesprochen hätte, aber sie wagte es offenbar nicht. Sie stand immer noch zögernd und unentschlossen da, als ihr Mann, der mit einem Schnappmesser ein Stück Brot und Speck aß, mit dem Griff heftig auf den Tisch schlug und ihr mit einem Fluche befahl, sich um ihre Sachen zu kümmern und sich zu setzen.

»Ich hätte Jenny sehr gern gesehen«, sagte ich. »Ich bin überzeugt, sie würde mir alles sagen, was sie weiß. Es liegt mir so sehr am Herzen, die Dame zu finden. Sie können sich gar nicht denken, wie sehr. Wird Jenny bald hier sein? Wo ist sie?«

In Liz‘ Mienen verriet sich deutlich der Wunsch, mir zu antworten, aber der Ziegelstreicher stieß fluchend mit seinem schweren Stiefel nach ihrem Fuße. Er überließ es Jennys Mann, zu sprechen; und nach einem verstockten Schweigen wendete mir dieser seinen zottigen Kopf zu.

»Ich seh’s nicht bsonders gern, wenn vornehmes Volk zu mir ins Haus kommt, wie ich Ihnen schon ein Mal gsagt hab, glaub ich, Miß. Ich lasse sie in ihren Wohnungen ungeschoren, und es ist doch merkwürdig, daß sie mich nicht in Ruh lassen wollen. Die möchten schön aufbegehrn, wenn ich sie bsuchen kommen möcht. Na, über Sie hab ich mich grad weiter net so zu beklagen wie über die andern; und ich will Ihnen eine höfliche Antwort gebn; aber das sag ich Ihnen gleich, i laß i mir net das Fell über die Ohren ziehen wie am Dachs. Ob Jenny bald hier sein wird, fragen S? Nein. Wo s is? Nach London is gangen.«

»Gestern abend?«

»Gestern abend? Ja, gestern abend«, gab er mit einem mürrischen Zurückwerfen des Kopfes zur Antwort.

»Aber war sie da, als die Dame hier war? Und was hat die Dame zu ihr gesagt? Und wo ist die Dame hingegangen? Ich bitte und flehe Sie an, seien Sie doch so gut, es mir zu sagen. Es liegt mir sehr am Herzen, es zu erfahren«, sagte ich.

»Wenn mein Mann mich sprechen lassen wollt; kein Wort, was an Schaden bringen könnt…« fing die Frau schüchtern an.

»Dein Mann wird dir das Gnack umdrehn, wenn du dich in Sachen mischst, wo dich nix angehn«, unterbrach sie der Ziegelstreicher und zerbiß ingrimmig einen Fluch zwischen den Zähnen.

Nach einer Pause antwortete mir Jennys Mann mit seinem gewohnten widerwilligen Brummen:

»Ob Jenny dagwesen is, als die Dame hier war? Ja, sie is dagwesen. Was die Dame zu ihr gsagt hat? No, ich wills Ihnen sagn, was die Dame zu ihr gsagt hat. ‚Sie erinnern sich doch, daß ich einmal hier war‘, hats gsagt, ‚um mich nach der jungen Dame zu erkundigen, die Sie früher amal bsucht hat. Sie erinnern sich, daß ich Ihnen Geld für das Taschentuch gab, das sie daglassen hat.‘ Ja, mir ham uns dran erinnert. Und die andern auch. Dann hats gfragt, ob die junge Dame jetzt oben im Hause is. Na, sie is net im Haus, ham mir gsagt. Jetzt hören S weiter. Die Dame is ganz allein unterwegs gwesen, und dös is uns seltsam vorkommen, und hat gfragt, ob s leicht a Stunde dorten auf dem Platz, wo Sie jetzt sitzen, ausruhen könnt. Ja, dös könnt s, ham mir gsagt, und nacher hat s ausgruht. Und nacher is wieder weiter gangen. S hat so zwanzig Minuten nach elf oder zwölf Uhr sein können; wir ham hier ka Taschenuhr net, um nach der Zeit zu sehn, und a Schlaguhr scho gar net. Wo s hingangen is? I weiß net, wo s hingangen is. Sie is den an Weg gangen, und Jenny den andern; die ane is den Weg gradaus nach London gangen, und die andre grade entgegengsetzt. So, dös ist aus. Fragn S den da. Er hat alls mit angehört und a alls gsehn. Er weiß es.«

»Dös is alls«, bestätigte Liz‘ Mann.

»Weinte die Dame?«

»Zum Teufel auch. Ihre Schuhe haben schlimm ausgsehen und ihre Kleider auch, aber gweint hat s net grad. I hab nix gsehn.«

Liz saß mit übereinandergeschlagnen Armen und zu Boden gesenkten Augen da. Ihr Mann hatte seinen Stuhl ein wenig umgedreht, so daß er sie im Auge behalten konnte; und seine hammerähnliche Faust lag auf dem Tisch, als wäre er bereit, jeden Augenblick seine Drohung auszuführen, wenn sie ihm nicht gehorchte.

»Ich hoffe, Sie werden nichts dawider haben, wenn ich Ihre Frau frage, wie die Dame aussah«, sagte ich.

»No, sprich also!« rief er ihr mürrisch zu. »Du hörst, was sie sagt. Mach’s kurz und sag’s ihr.«

»Schlecht«, entgegnete die Frau. »Bleich und erschöpft. Sehr schlecht.«

»Sprach sie viel?«

»Nicht viel; aber ihre Stimme war heiser.«

Die Frau antwortete zwar, fragte aber beständig ihren Mann mit den Augen um Erlaubnis.

»War sie sehr angegriffen? Hat sie hier etwas gegessen oder getrunken?«

»Sprich!« sagte der Mann, Liz‘ Blick beantwortend. »Sag’s ihr und mach’s kurz.«

»Sie hat etwas Wasser getrunken, Miß, und Jenny hat ihr Brot und Tee geholt. Aber sie hat’s kaum angrührt.«

»Und als sie von hier fortging…« fragte ich weiter, aber Jennys Mann unterbrach mich ungeduldig.

»Wie s von hier fortgangen is, is s gradaus vorwärts auf der Landstraße gangen. Fragen S unterwegs, wenn S es mir net glaubn, und Sie werden schon sehen, daß s wahr is. So, und jetzt is aus. Das ist alls, was wir wissen.«

Ich sah Mr. Bucket fragend an, und da ich bemerkte, daß er schon aufgestanden war, bereit, zu gehen, dankte ich den Leuten für die Auskunft, die sie mir gegeben hatten, und nahm Abschied. Die Frau sah Mr. Bucket, als er hinausging, scharf an, und er sie desgleichen.

»Ich will Ihnen was sagen, Miß Summerson«, sagte er zu mir, während wir uns rasch entfernten. »Die Leute dort haben die Uhr von Mylady. Das steht fest.«

»Sie haben sie gesehen?« rief ich aus.

»Es ist ebensogut, als ob ich sie gesehen hätte. Was spricht der Kerl da von ‚zwanzig Minuten nach‘ und gleich darauf, daß er keine Uhr habe? Zwanzig Minuten! Glauben Sie, er teilt sich für gewöhnlich seine Zeit so sorgfältig ein? Wenn er von halben Stunden spricht, ist das schon viel. Folglich hat ihm Mylady die Uhr entweder gegeben, oder er hat sie genommen. Ich glaube, sie hat sie ihm gegeben. Wofür mag sie ihm die Uhr gegeben haben? Wofür mag sie ihm die Uhr gegeben haben?«

– Er murmelte diese Frage mehrere Male vor sich hin, wie wir die Straße entlang eilten, und schien zwischen einer Reihe von Antworten zu schwanken, die sich ihm aufdrängten. –

»Wenn wir Zeit übrig hätten, und das ist gerade das einzige, was wir in dieser Sache nicht übrig haben, so könnte ich es aus dieser Frau schon herauskriegen; aber es hieße, unter den gegebenen Verhältnissen zuviel auf eine Karte setzen. Sie sind ganz die Leute, sie nicht aus den Augen zu lassen, und jeder Narr weiß, daß ein armes Geschöpf wie sie, gestoßen und geschlagen und von Kopf bis zu den Füßen mit Narben und Beulen bedeckt, durch Dick und Dünn zu ihrem Manne hält, wenn er sie auch mißhandelt. Sie verheimlichen etwas. Schade, daß wir nicht haben die andre sprechen können.«

– Auch ich bedauerte es außerordentlich, denn ich wußte, Jenny war sehr dankbar und hätte meinen Bitten gewiß nicht widerstanden. –

»Es ist möglich, Miß Summerson«, sagte Mr. Bucket, immer noch ganz in Grübeln verloren, »daß Mylady sie nach London geschickt hat, um Ihnen eine Botschaft zu überbringen; und es ist möglich, daß der Mann die Uhr bekommen hat, damit er seiner Frau erlaube, zu gehen. Es ist nicht so ganz klar, wie ich es gern haben möchte, aber es liegt mit in meinen Karten. Nun verschwende ich das Geld Sir Leicester Dedlocks, Baronet, nicht gern an solche Rüpel und sehe auch nicht ein, was es nutzen sollte. Nein, vorderhand, Miß Summerson, geht unser Weg geradeaus; und, bitte, kein Wort weiter über die Sache!«

Wir sprachen noch ein Mal zu Hause vor, damit ich in der Eile ein Billett an meinen Vormund schicken könnte, und eilten dann nach dem Posthaus zurück, wo der Wagen auf uns wartete. Man brachte sofort die Pferde heraus, als man uns kommen sah, und in wenigen Minuten waren wir wieder unterwegs.

Es hatte mit Tagesanbruch zu schneien angefangen und schneite jetzt sehr stark. Die Luft war von der Trübe des Wetters und dem dichten Flockentreiben so undurchsichtig, daß wir in keiner Richtung mehr als nur eine sehr kleine Strecke erkennen konnten. Obgleich es sehr kalt war, war der Schnee nur teilweise gefroren, und die Hufe der Pferde zerknirschten ihn – daß es klang, als ob die Straße ein Strand von kleinen Muscheln wäre – zu Schlamm und Wasser. Das Gespann konnte sich oft eine Meile weit, bald ausgleitend, bald in tiefe Löcher stürzend, nur mit Mühe hindurcharbeiten, und wir mußten manchmal haltmachen. Ein Pferd stürzte auf dieser ersten Station drei Mal und war so angegriffen, daß der Kutscher zuletzt vom Bock steigen und es führen mußte.

Ich konnte weder essen noch schlafen – und dieser Aufenthalt, und überhaupt die Langsamkeit, mit der wir vorwärts kamen, machten mich so unruhig, daß ich wider alle Vernunft, aus Ungeduld, aussteigen und zu Fuß gehen wollte. Ich gab jedoch den Vorstellungen meines Begleiters nach und blieb sitzen. Munter erhalten durch die Arbeitsfreude an der Aufgabe, die er übernommen, stieg er die ganze Zeit über bei jedem Hause, an dem wir vorüberkamen, im Nu vom Bock, redete Leute, die er nie gesehen, als alte Bekannte an, lief in die Wirtsstuben hinein, um sich zu wärmen, plauderte, trank, schüttelte den Leuten die Hände, war gut Freund jedes Fuhrmannes, Wagners, Schmieds oder Zolleinnehmers und schien dabei doch niemals Zeit zu verlieren. Jedes Mal, wenn er wieder mit seinem geschäftsmäßigen: »Los, Kutscher!« auf den Bock stieg, zeigte sein Gesicht die alte gespannte Aufmerksamkeit.

Als wir zum zweiten Mal die Pferde wechselten, watete er von den Ställen her knietief durch den Schnee – durchnäßt bis auf die Haut, ohne weiter darauf zu achten, schon seitdem wir St. Albans verlassen hatten – und sprach ein paar Worte mit mir durch das Kutschenfenster.

»Nur immer Kopf hoch, Miß! Sie ist ganz gewiß hier durchgekommen. Nach den Kleidern, die sie anhatte, läßt sich daran nicht mehr zweifeln.«

»Und immer noch zu Fuß?« fragte ich.

»Immer noch zu Fuß. Ich glaube, sie will den Herrn, den Sie nannten, aufsuchen. Nur daß seine Wohnung in so unmittelbarer Nähe von Sir Leicesters Besitzung liegt, will mir nicht in den Kram passen.«

»Ich kann das leider nicht beurteilen«, sagte ich. »Vielleicht wohnt sonst noch jemand in der Umgebung, von dem ich nicht weiß.«

»Sehr richtig. Aber ich bitte Sie, meine Liebe, fangen Sie um Gottes willen nur nicht wieder an zu weinen. Grämen Sie sich nicht überflüssigerweise. Los, Kutscher!«

Es schneite den ganzen Tag über in einem fort, und bald fiel ein dicker Nebel ein, der bis zum Abend keinen Augenblick nachließ. Die Straßen waren in einem geradezu unglaublichen Zustand. Manchmal dachte ich, wir müßten den Weg verloren haben und auf das Ackerfeld oder in die Sümpfe gekommen sein. Wenn ich an die vielen Stunden, die seit unsrer Abreise verflossen waren, dachte, kam mir die Zeit zwischen unsrer Abfahrt und der Gegenwart so lange vor wie ein ganzes Leben, und ich hatte die seltsame Empfindung, nie von der Sorge und der Angst frei gewesen zu sein, die mich damals erfüllten.

Je weiter wir kamen, desto mehr quälte mich eine böse Ahnung, mein Begleiter sei seiner Sache nicht mehr so sicher wie früher. Er benahm sich zwar immer gleich, wenn er Leute unterwegs traf, aber sein Gesicht schien mir ernster zu sein, wenn er wieder auf den Bock stieg. Ich sah, daß er häufig während der langen mühseligen Fahrt den Finger unruhig vor den Lippen hin und her bewegte. Es fiel mir auf, daß er die Kutscher der Landwagen und andrer uns entgegenkommender Fuhrwerke ausfragte, wie die Passagiere in andern Kutschen, denen sie begegnet seien, ausgesehen hätten. Und ihre Antworten schienen ihm durchaus nicht zu gefallen. Er gab mir wohl jedes Mal einen beruhigenden Wink mit dem Finger oder lächelte mir ermutigend zu, wenn er wieder auf den Bock stieg, aber es lag eine gewisse Unentschlossenheit in seinem Ton, wenn er sagte: Los, Kutscher!

Endlich, als wir abermals die Pferde wechseln mußten, gestand er mir, daß er die Spur der Frau, die, nach ihren Kleidern zu schließen, Lady Dedlock sein müßte, seit so langer Zeit schon verloren habe, daß ihm die Sache anfange, befremdlich vorzukommen. Es sei nichts weiter daran, eine solche Spur eine Zeitlang zu verlieren – erfahrungsgemäß tauche sie nach einiger Zeit wieder auf, und so fort –, aber diesmal habe sie plötzlich auf eine unerklärliche Weise aufgehört und sei seitdem nicht wieder zum Vorschein gekommen. Der Umstand, daß er anfing, Wegweiser anzusehen und an Kreuzwegen den Wagen manchmal wohl eine Viertelstunde lang stehen zu lassen, um zu rekognoszieren, bestätigte meine Befürchtungen. Ich solle nur den Mut nicht verlieren, beruhigte er mich immer wieder, denn es sei durchaus nicht ausgeschlossen, daß bereits der Befund auf der nächsten Station alles wieder ins Geleise bringen werde.

Die nächste Haltestelle enttäuschte uns jedoch abermals und gab uns keine neuen Anhaltspunkte. Es war ein alleinstehendes, aber komfortabel eingerichtetes und solides Wirtshaus, und ehe es mir noch recht zum Bewußtsein kam, fuhren wir in einen großen Torweg hinein. Eine saubere Wirtin trat mit ihren hübschen Töchtern an den Wagenschlag und bat mich, auszusteigen und eine Erfrischung zu nehmen, während die Pferde gewechselt würden. Ich konnte es nicht gut abschlagen, und sie führten mich die Treppe hinauf in eine geheizte Stube und ließen mich dort allein.

Es war ein Eckzimmer, wie ich mich noch recht gut entsinne, und man hatte aus seinen Fenstern die Aussicht nach zwei Seiten. Auf der einen in den Hof mit den Stallungen, mit einem Ausgange nach einem Fahrweg, wo die Stallknechte die kotbespritzten und müden Pferde von unserm schlammbedeckten Wagen abspannten, und weiter hinaus auf die Landstraße selbst, über der das Wirtszeichen schwer im Winde schwankte, und durch das andre Fenster auf ein dunkles Fichtengehölz. Die Äste der Bäume waren mit Schnee beladen, und ich sah, wie er von Zeit zu Zeit in dicken Schichten geräuschlos herunter fiel. Die Nacht brach herein; und die Unwirtlichkeit draußen wurde noch fühlbarer durch den Gegensatz zu dem traulichen Kaminfeuer, das auf der Fensterscheibe glühte und glitzerte. Wie ich zwischen den Stämmen der Fichten hindurchblickte und mit dem Auge die mißfarbigen Spuren im Schnee verfolgte, wo es zu tauen anfing und das durchsickernde Wasser das Weiß unterwühlte, dachte ich an das mütterliche Gesicht der Wirtin unten, inmitten ihrer hübschen Töchter; und das Bild meiner Mutter, die sich jetzt vielleicht in einem solchen Gehölz zum Sterben niederlegte, trat wie eine Vision vor meine Augen.

Ich erschrak, als ich sie alle um mich stehen fand, und dunkel kam mir zum Bewußtsein, daß ich mit aller Kraft gegen eine Ohnmacht angekämpft hatte, aber schließlich doch unterlegen war. Sie betteten mich auf ein großes Sofa vor dem Kaminfeuer, und die gutmütige Wirtin redete mir zu, ich dürfe heute nacht unter keinen Umständen weiter reisen und müsse zu Bett gehen. Aber als sie sah, in welche Aufregung mich der Gedanke, hier untätig die Zeit zu versäumen, versetzte, ließ sie bald ab und forderte nur, daß ich wenigstens eine halbe Stunde rastete.

Was für ein gutes, liebes Geschöpf sie war! Wie sie und ihre drei hübschen Töchter sich um mich sorgten! Im Nu stand ein rundes Tischchen weiß gedeckt neben dem Kamin, und ich sollte warme Suppe und gebratenes Huhn essen, während Mr. Bucket seinen Mantel trocknete und unten in der Wirtsstube speiste; aber es war mir nicht möglich, etwas zu genießen, so sehr es mir leid tat, ihnen ihre Bitte abschlagen zu müssen. Ein wenig Glühwein und Röstzwieback war das einzige, was ich zu mir nahm und was mir wirklich schmeckte, und so konnte ich ihnen wenigstens diesen kleinen Gefallen tun.

Pünktlich, nach Ablauf einer halben Stunde, kam der Wagen unter den Torweg gerumpelt, und man brachte mich hinunter, eingewärmt, erquickt und durch die mir erwiesene Liebe und Güte wieder hoffnungsfreudiger gestimmt und, wie ich ihnen versichern konnte, außer Gefahr, wieder in Ohnmacht zu fallen. Als ich einstieg und von allen dankbar Abschied nahm, trat die jüngste Tochter, ein blühendes Mädchen von neunzehn Jahren, die demnächst heiraten sollte, wie sie mir in der Geschwindigkeit anvertraut hatte, auf den Kutschentritt und gab mir einen Kuß. Ich habe sie seit jener Stunde nicht wieder gesehen, aber noch heute gedenke ich ihrer wie einer lieben Freundin.

Die lichterhellten Fenster, die im Gegensatz zu der kalten Nacht so hell und warm aussahen, waren bald verschwunden, und unser Wagen arbeitete sich wieder mit knirschenden Rädern durch den aufgeweichten tiefen Schnee. Es ging schlecht genug voran, aber die Wege waren nicht viel schlimmer als früher, und die nächste Station lag nur neun Meilen entfernt. Mein Begleiter rauchte auf dem Bock – ich hatte ihn gebeten, sich meinetwegen keinen Zwang aufzuerlegen, da ich bemerkt, daß er sich im Wirtshaus vor dem Kamin in der Gaststube in dichte Rauchwolken gehüllt hatte –, und seine Wachsamkeit erlahmte keinen Augenblick; wie immer sprang er hurtig vom Bock, wenn wir eine menschliche Wohnung erreichten oder Leuten begegneten. Er hatte seine kleine Blendlaterne angezündet, deren er sich mit besonderer Vorliebe zu bedienen schien, trotzdem Laternen an unserm Wagen angebracht waren; und von Zeit zu Zeit ließ er ihren Schein auf mich fallen, um sich zu überzeugen, ob ich mich wohl befände. Die Vorderseite der Kutsche hatte ein Schiebfensterchen, aber ich machte es niemals zu, denn es war mir, als ob ich damit die Hoffnung hinaussperrte.

Wir erreichten die Station, und noch immer hatte sich die verlorene Fährte nicht wiedergefunden. Ich sah Mr. Bucket mit angstvoller Erwartung an, als wir haltmachten, um die Pferde zu wechseln, und erriet aus seiner ernsten Miene, mit der er den Stallknechten zusah, daß er nichts Neues in Erfahrung gebracht hatte. Ein paar Minuten später trat er plötzlich an den Wagenschlag, die Blendlaterne in der Hand, und blickte sichtlich aufgeregt und ganz verändert herein.

»Was gibt’s?« rief ich erschreckt und fuhr in die Höhe. »Ist sie hier?«

»Nein, nein. Nur ruhig, Miß, nur ruhig. Niemand ist hier. Aber ich habe es jetzt heraus!«

– Eisnadeln hingen ihm im Haar, und seine Kleider waren über und über mit Schnee bedeckt. Er mußte sich die Flocken aus dem Gesicht schütteln und rang nach Atem, ehe er weiter sprach. –

»Vor allem, Miß Summerson«, sagte er und trommelte mit den Fingern auf dem Spritzleder, »machen Sie sich keine unnötigen Sorgen wegen dessen, was ich jetzt unternehmen werde. Sie kennen mich. Ich bin der Inspektor Bucket, und Sie können sich auf mich verlassen. Wir sind einen langen Weg umsonst gefahren. Tut nichts. – Vier Pferde vor, bis zur nächsten Station zurück! Rasch!«

Es entstand eine Bewegung im Hofe, und ein Mann kam aus dem Stall gelaufen, um noch ein Mal zu fragen, ob er zurück oder vorwärts meine.

»Zurück! sage ich. Zurück! Zurück! Hören Sie denn nicht? Zurück!«

»Zurück?« fragte ich erstaunt. »Wir fahren nach London zurück?«

»Ja, Miß Summerson. Wir kehren um. Geradenwegs zurück, ohne eine Minute zu versäumen. Sie kennen mich. Fürchten Sie nichts. Ich muß die andre verfolgen. Teufel noch einmal!«

»Die andre?« – Ich traute meinen Ohren kaum. – »Wen meinen Sie?«

»Sie nannten sie Jenny, glaube ich. Ich muß sie einholen. Rasch die vier Pferde heraus, jeder Mann kriegt eine Krone. Flott, flott, ihr Leute!«

»Sie werden doch nicht die Dame, die wir suchen, in einer solchen Nacht und in dem verzweifelten Gemütszustand, in dem sie sich befinden muß, ohne Hilfe lassen?« rief ich zu Tode erschrocken und ergriff seine Hand.

»Da haben Sie recht, das werde ich gewiß nicht tun, meine Liebe. Aber ich muß der andern nach. – Schnell, schnell, ihr da mit den Pferden. Schickt einen berittenen Eilboten voraus zur nächsten Station. Auf jeder Haltestelle bis London müssen zwei Paar frische Pferde für uns bereit stehen. Verstanden?! Liebes Kind, Kopf hoch. Nur sich nicht unnötig aufregen!«

Seine Befehle und die Lebhaftigkeit, mit der er im Hofe herumrannte und die Leute antrieb, brachten eine allgemeine Aufregung hervor, die auf mich kaum minder betäubend wirkte als die plötzliche Änderung seines Entschlusses. Mitten im schlimmsten Wirrwarr sprengte ein reitender Bote fort, um die Relais zu bestellen, und unsre Pferde wurden in größter Eile angespannt.

»Meine Liebe«, sagte Mr. Bucket, sprang auf den Bock und sah wieder zu mir herein, »Sie müssen mich entschuldigen, wenn ich manchmal ein bißchen familiär bin – grämen und ängstigen Sie sich nur nicht. Ich sage jetzt weiter nichts, aber Sie kennen mich, meine Liebe; nun, habe ich nicht recht?«

Ich versicherte ihm, ich zweifelte keinen Augenblick, er müsse am besten wissen, was zu geschehen habe; aber ob er denn auch sicher sei, daß er sich nicht irre? Ob ich nicht vielleicht allein weiter reisen könnte, um – ich ergriff in meinem Schmerze wieder seine Hand und flüsterte es ihm zu – um meine Mutter zu suchen.

»Meine Liebe«, gab er zur Antwort, »ich weiß es ja, ich weiß es ja. Glauben Sie wirklich, daß ich Ihnen zu etwas Falschem raten würde? Inspektor Bucket. Sei kennen mich doch. Oder nicht?«

Was konnte ich anderes sagen als ja!

»Also, dann verlieren Sie den Mut nicht und verlassen Sie sich darauf, daß ich sie nicht im Stich lassen werde, so wenig wie Sir Leicester Dedlock, Baronet. Nun, seid Ihr endlich fertig da vorn?«

»Alles fertig, Sir!«

»Also vorwärts! Los, Kutscher!«

Und wieder fuhren wir die traurige Straße entlang, die wir gekommen waren, und das halbgefrorne Schneewasser spritzte umher, wie von einem Mühlrad gepeitscht.

58. Kapitel


58. Kapitel

Ein Wintertag und eine Winternacht

Gleichgültig und unbewegt, wie es sich für wohlerzogene Leute geziemt, sieht das Dedlockpalais in der Stadt drein. Von Zeit zu Zeit kann man gepuderte Köpfe aus den kleinen Fenstern der Vorhalle auf den taxfreien Puder, der da den ganzen Tag lang gratis vom Himmel fällt, hinausschauen sehen; und in demselben menschlichen Gewächshaus wendet sich eine Lakaienpfirsichblüte melancholisch von dem Anblick des schneidend kalten Wetters draußen dem großen Feuer im Kamin zu. Die Parole ist ausgegeben, Mylady sei nach Lincolnshire gereist, werde aber bald zurückerwartet.

Die immerwache Fama hält es aber gar nicht für nötig, mit nach Lincolnshire zu gehen. Sie begnügt sich damit, in der Stadt herumzuflattern und zu schnattern. Sie weiß, daß der arme unglückliche Sir Leicester schwer hintergangen worden ist. Ja, ja, mein liebes Kind, sie weiß ganz schreckliche Dinge zu erzählen und hält die Welt fünf Meilen im Umkreise in Atem. Nicht zu wissen, daß bei den Dedlocks etwas faul ist, heißt soviel, wie zu den ganz unbekannten Leuten zu zählen. Eines der vielen entzückenden Geschöpfe mit den Pfirsichwangen und den dürren Hälsen kennt bereits alle Nebenumstände, die zur Sprache kommen müssen, wenn Sir Leicester um Ehescheidung einreichen wird.

Bei Blaze & Sparkle, den Juwelieren, und bei Sheen & Gloß, den Seidenhändlern, bildet es bereits stundenlang das Hauptgespräch und wird als eine Art Wendepunkt des Jahrhunderts angesehen. Die ehedem so hoch erhabnen und unantastbaren Patronessen dieser Etablissements, die hier so sorgsam wie alle andern Artikel gewogen und abgeschätzt werden, sind bei diesem plötzlichen Modeumschwung dem Verständnis sogar des jüngsten Kommis hinter dem Ladentische näher gerückt.

»Unsre Kunden, Mr. Jones«, sagen Blaze & Sparkle zu dem neuen Reisenden, den sie anstellen wollen, »unsre Kunden sind wie die Schafe, ganz wie die Schafe. Wo zwei oder drei Leithammel hingehen, da folgen die übrigen. Behalten Sie diese zwei oder drei beständig im Auge, Mr. Jones, und Sie haben die ganze Herde.«

Ebenso sprechen Sheen & Gloß zu ihrem Jones über die Art, wie man die fashionable Kundschaft fesseln kann und wie man in die Mode bringt, was die Firma für gut befindet.

Von ähnlichen unfehlbaren Prinzipien ausgehend, gibt Mr. Sladdery, der Kunsthändler und Hauptzüchter von Prunkschafen, an demselben Tage zu: »Nun ja, Sir, allerdings kursieren gewisse Gerüchte über Lady Dedlock unter meinen vornehmen Kunden. Meine vornehmen Kunden haben das Bedürfnis, von etwas zu sprechen, Sir; und Sie sehen, man braucht nur ein Thema durch ein oder zwei Damen, die ich nennen könnte, in Fluß zu bringen, und im Handumdrehen wird es in aller Munde sein. Gerade so, sehen Sie, wie ich es mit diesen Damen gemacht haben würde, Sir, wenn es sich mir darum gehandelt hätte, eine Novität in die Mode zu bringen; so haben in diesem Falle meine werten Kundinnen selbsttätig funktioniert, da sie mit Lady Dedlock verkehrten und vielleicht ein bißchen eifersüchtig auf sie waren, Sir. Sie werden finden, Sir, daß das Gesprächsthema bereits bei meinen sämtlichen vornehmen Kunden die Runde gemacht hat. Wäre es eine Spekulation gewesen, Sir, so hätte man viel Geld dabei verdient. Und wenn ich das sage, so können Sie sich darauf verlassen, daß ich recht habe, Sir. Ich habe es zu meinem Beruf gemacht, die vornehme Kundschaft zu studieren, um jederzeit imstande zu sein, sie aufzuziehen wie eine Uhr, Sir.«

So wächst und wächst das Gerücht in der Hauptstadt und will sich nicht mit dem Hinweis auf Lincolnshire abfinden lassen. Um halb sechs nachmittags, nach der Rennuhr gemessen, hat es sogar Hochwohlgeboren Mr. Stables ein neues bon mot entlockt, das sogar verspricht, das alte in den Schatten zu stellen, auf dem seit langem sein Ruf als geistreicher Kopf basierte. Er habe immer gewußt, lautet der witzige Einfalt, sie sei im ganzen Gestüt am besten im Geschirr gegangen; aber auf Sonnenkoller hätte er nie geraten. Auf dem Turf ist man entzückt über diesen Einfall.

Auch bei Festlichkeiten und Gelagen, an Firmamenten, die Mylady so oft geziert, und unter den Sternbildern, deren Glanz sie noch gestern in den Schatten gestellt, ist sie allgemeines Gesprächsthema. Was ist los? Wer ist’s ? Wann war’s ? Wo war’s ? Wie war’s ? Von ihren besten Freunden wird sie mit dem gentilsten Gigerlton, der gerade Mode ist, den allerneusten Ausdrücken, in der affektiertesten Manier und dem näselndsten Akzent, mit der vollkommen höflichsten Gleichgültigkeit besprochen.

Höchst auffallend ist, wie Leute, denen es sonst gar nicht liegt, bei dieser Gelegenheit vor Geist sprühen! William Buffy bringt eines dieser Witzworte von der Tafel, an der er soeben dinierte, mit ins Unterhaus; und der Einpeitscher seiner Partei läßt es mit seiner Tabakdose unter den Leuten, die es sonst vor Langeweile nicht mehr aushalten würden, mit solchem Erfolg zirkulieren, daß der Sprecher, dem es natürlich auch schon privatim unter dem Zipfel seiner Perücke ins Ohr geflüstert worden ist, drei Mal, ohne daß es den geringsten Eindruck machen würde, ausruft: »Zur Ordnung an den Schranken!«

Und nicht weniger erstaunlich ist es, daß Leute, die sich an den Grenzmarken von Mr. Sladderys vornehmen Kunden herumtreiben, Leute, die Mylady gar nicht kennen und sie niemals gesehen haben, es jetzt plötzlich für unumgänglich notwendig für ihren Ruf halten, ebenfalls von ihr zu sprechen und aus zweiter Hand mit dem allerneusten Witzwort im Gigerljargon untergeordneten Sonnensystemen und Sternen dritten bis letzten Grades aufzuwarten. Wenn ein Mann der Literatur oder der Kunst und Wissenschaft unter diesen Kleinhändlern ist, wie selbstverständlich, daß er dann nicht zurückstehen darf!

So vergeht der Wintertag außerhalb der Stadtwohnung der Dedlocks. Und wie innerhalb?

Sir Leicester liegt im Bett und kann ein wenig sprechen, aber schwer und undeutlich. Die Ärzte haben ihm Stillschweigen und Ruhe empfohlen und ihm ein Opiat eingegeben, um seine Schmerzen zu lindern, denn sein alter Feind, die Gicht, setzt ihm sehr hart zu. Er schläft nie, wenn er auch manchmal in einen schweren Halbschlummer zu sinken scheint. Er hat sich sein Bett näher ans Fenster schieben lassen, als er hörte, daß so rauhes Wetter sei, und sich den Kopf so legen, daß er das wilde Schneetreiben sehen kann. Den ganzen langen Wintertag sieht er zu, wie sich die Flocken jagen.

Beim geringsten Geräusch im Hause, in dem die größte Stille herrscht, fährt seine Hand nach dem Griffel. Die alte Haushälterin, die neben ihm sitzt, weiß, was er schreiben will, und flüstert ihm jedes Mal zu: »Nein, er kann noch nicht zurück sein, Sir Leicester. Er ist erst spät gestern nacht abgereist. Er ist erst kurze Zeit unterwegs.«

Und immer wieder zieht er die Hand zurück, und immer wieder sieht er zu, wie der Schnee fällt, bis vom langen Hinsehen das Gestöber so dicht und schnell zu fallen scheint, daß er vor dem schwindelnden Tanz der weißen Flocken eine Minute die Augen schließen muß.

Schon als der Morgen dämmerte, fing er an, ihnen zuzusehen. Der Tag ist noch nicht weit vorgerückt, als er bereits Befehle gibt, die Zimmer für Myladys Empfang herrichten zu lassen.

»Es ist sehr kalt und naß. Daß für gute Heizung gesorgt wird. Sagen Sie den Leuten, daß sie jeden Augenblick kommen kann. Bitte, sehen Sie selbst nach.« So schreibt er auf seine Schiefertafel, und Mrs. Rouncewell gehorcht mit schwerem Herzen.

»Ich fürchte, George«, sagt sie zu ihrem Sohn, der unten wartet, um ihr Gesellschaft zu leisten, wenn sie gelegentlich ein paar freie Minuten hat, »ich fürchte, lieber George, Mylady wird nie wieder ihren Fuß über diese Schwelle setzen.«

»Du siehst zu schwarz, Mutter.«

»Und auch nicht über die Schwelle von Chesney Wold, lieber George.«

»Noch schlimmer. Aber warum, Mutter?«

»Als ich gestern Mylady sah, George, lag in ihrem Blick etwas, als ob die Schritte auf dem Geisterweg ihr Herz zertreten hätten.«

»Aber Mutter! Du darfst diese alten Geschichten nicht so ernst nehmen. Du machst dir unnötige Sorgen.«

»Nein, gewiß nicht, lieber George. Nein, gewiß nicht. Es sind nun bald sechzig Jahre, daß ich in dieser Familie bin, und ich habe den Spuk nie allzu ernst genommen, aber jetzt geht es zu Ende, lieber George. Das alte Haus der Dedlocks fällt in Trümmer.«

»Man muß nicht gleich das Schlimmste befürchten, Mutter.«

»Ich danke dem Himmel, daß ich noch solange gelebt habe, um Sir Leicester Dedlock in Krankheit und Unglück beistehen zu können. Ich weiß, er sieht mich noch immer lieber als jeden andern um sich. Aber glaub mir, die Tritte auf dem Geisterweg haben Mylady erreicht; sie sind ihr lange Zeit gefolgt, und jetzt werden sie über sie hinwegschreiten.«

»Nun, liebe Mutter, ich wiederhole dir noch einmal, man muß nicht immer gleich das Schlimmste befürchten.«

»Ach, ich kann mir nicht helfen, George«, seufzt die alte Dame und schüttelt besorgt den Kopf. »Was, wenn meine Befürchtungen wahr werden und er es erfahren muß, wer wird es ihm sagen!«

»Sind das ihre Zimmer?«

»Das sind die Zimmer Myladys, unberührt, so, wie sie sie verlassen hat.«

»Wahrhaftig«, sagt der Kavallerist, sieht sich um und dämpft unwillkürlich den Ton seiner Stimme. »Ich fange an zu begreifen, wie du auf solche Gedanken kommst, Mutter. Es geht etwas Schauerliches von diesen verlaßnen Zimmern aus. Man muß immer an die denken, auf die sie warten und die entflohen ist, vielleicht auf Nimmerwiedersehen.«

– Er hat nicht so unrecht. Wie jeder Abschied nichts andres ist als der Schatten, den der letzte große Abschied von der Welt vorauswirft, so scheinen leere verlaßne Zimmer voll des Flüsterns zu sein, das von bangem unabwendbarem Schicksal raunt. Der anspruchsvolle Prunk der Gemächer hat in diesem düstern und verlaßnen Zustande etwas Hohles, Unheimliches, und in dem innern Zimmer, wo Mr. Bucket gestern nacht seine geheimen Nachforschungen anstellte, geben Myladys Kleider, ihre Schmucksachen und sogar die Spiegel, gewohnt, ihr Bild zurückzustrahlen, allem einen wüsten und leeren Anstrich. So finster und kalt der Wintertag auch draußen ist, so ist es doch in diesen verlaßnen Räumen dunkler und kälter als in so mancher Hütte, die ihre Bewohner kaum vor dem Winde schützt; und ob auch die Bedienten große Feuer auf den Rosten der Kamine prasseln machen und die Diwane und Stühle in den Bereich der warmen gläsernen Schirme rücken, die den rötlichen Schein der Glut bis in die fernsten Ecken schimmern lassen, eine schwere Wolke schwebt über den Zimmern, die kein Licht zerstreuen kann. –

Die alte Haushälterin bleibt mit ihrem Sohn, bis alle Vorbereitungen fertig sind, und geht dann wieder hinauf.

Volumnia hat unterdessen Mrs. Rouncewells Platz eingenommen, obgleich Perlenhalsbänder und Schminktöpfe, so sehr sie auch zur Verschönerung des leuchtenden Sterns von Bath geeignet sein mögen, einem Kranken unter den gegebenen Verhältnissen nur geringen Trost gewähren können.

Da Volumnia nicht den Anschein erwecken will, als wisse sie, was vorgefallen ist – und bei Licht betrachtet, weiß sie auch nichts davon –, war es für sie eine kitzlige Sache, den richtigen Ton zu finden, und sie hat sich darauf beschränkt, mit einem gewissen krampfhaften Eifer das Bettzeug glatt zu streichen, mit affektierter Vorsicht auf den Zehen herumzuschleichen und ihren Vetter wachsam anzulügen und ihn mit einem geflüsterten: »Ach, er schläft«, zu stören. Zur Widerlegung dieser höchst überflüssigen Bemerkung hat Sir Leicester jedes Mal ärgerlich auf die Schiefertafel geschrieben: »Nein.«

Volumnia überläßt jetzt den Stuhl neben dem Bett der alten Haushälterin, setzt sich an einen Tisch in der Nähe und seufzt teilnehmend. Sir Leicester sieht immer noch dem Schneetreiben zu und horcht aufgeregt, ob denn die Schritte, die er so sehnlich erwartet, noch immer nicht kommen wollen. Der alten Frau, die aussieht wie aus einem alten Bilderrahmen herausgetreten, um einem von dieser Welt Abschied nehmenden Dedlock den letzten Liebesdienst zu erweisen, klingt durch das Schweigen immer noch der Widerhall ihrer eignen Worte in den Ohren: »Wer wird es ihm sagen!«

Mit Hilfe seines Kammerdieners hat er diesen Morgen, so gut es gehen wollte, Toilette gemacht, und er sieht so schmuck aus, wie es die Umstände nur erlauben. Kissen stützen sein Haupt, das graue Haar ist auf die gewohnte Weise gebürstet und gekämmt, seine Wäsche ist ein Muster von Sauberkeit, und ein entsprechender Morgenanzug hüllt ihn würdevoll ein. Augenglas und Uhr liegen im unmittelbaren Bereiche seiner Hand. Es ist notwendig – vielleicht jetzt weniger seiner eignen Würde wegen als um Myladys willen –, daß er so wenig angegriffen und so unverändert wie möglich aussieht.

Frauen können nun einmal das Reden nicht lassen, und Volumnia, wenn auch eine Dedlock, macht keine Ausnahme. Es kann kein Zweifel bestehen, daß er sie nur um sich duldet, damit sie nicht anderswo aus der Schule schwatze. Er ist sehr, sehr krank, aber er hält mutig den Leiden des Körpers und der Seele stand.

Da die schöne Volumnia eines von den Wesen ist, die nicht lange stumm bleiben können, ohne nicht Gefahr zu laufen, von dem grimmen Drachen der Langeweile gepackt zu werden, so verrät sie bald die drohende Nähe dieses Ungeheuers durch wiederholte unüberwindliche Gähnkrämpfe. Außerstande, diese Anfälle anders zu unterdrücken als durch Plauderei, lobt sie gegen Mrs. Rouncewell deren Sohn und erklärt, daß er ganz bestimmt einer der schönstgewachsenen Männer sei, die sie jemals gesehen, und etwas so Soldatisches an sich habe, wie – wie hieß er doch nur – ihr Lieblingsleibgardist – na, der Mann, den sie anbete, der entzückende Mensch, der bei Waterloo fiel.

In Sir Leicesters Mienen spiegelt sich bei diesen Lobsprüchen eine solche Überraschung, und er blickt so verwirrt um sich, daß sich Mrs. Rouncewell genötigt sieht, ihm eine Erklärung zu geben.

»Miß Dedlock meint nicht meinen ältesten Sohn, Sir Leicester, sondern meinen jüngsten. Ich habe ihn wieder. Er ist heimgekommen.«

Sir Leicester unterbricht die Stille mit einem lauten Schrei.

»George? Ihr Sohn George ist wiedergekommen, Mrs. Rouncewell?«

Die alte Haushälterin wischt sich die Augen. »Gott sei Dank. Ja, Sir Leicester.«

Erfüllt ihn dieses Wiederfinden eines Verlorengeglaubten, diese Rückkehr eines so lange Verschollenen mit neuen Hoffnungen für sich selbst? Denkt er: »Und ich sollte sie nicht wiederfinden, wo mir so viel Mittel zu Gebote stehen? Wo in ihrem Falle weniger Stunden vergangen sind als Jahre in diesem?«

Alle Bitten sind vergebens; er ist jetzt fest entschlossen zu sprechen, und er spricht. Die Töne drängen sich verwirrt aus seinem Munde, aber dennoch kann man einige Sätze daraus verstehen.

»Warum haben Sie mir es nicht gesagt, Mrs. Rouncewell?«

»Es ist erst gestern geschehen, Sir Leicester, und ich fürchtete, es könne Ihrem Zustand schaden, wenn ich Ihnen solche Sachen mitteilte.«

Außerdem erinnert sich plötzlich die jugendlich unbesonnene Volumnia mit ihrem herzigen Lieblingsschrei, daß ja niemand wissen dürfte, daß es Mrs. Rouncewells Sohn sei, und sie es nicht habe sagen sollen. Aber Mrs. Rouncewell protestiert mit Wärme, daß sie es selbstverständlich Sir Leicester sofort gesagt hätte, sowie sich sein Zustand gebessert haben würde.

»Wo ist Ihr Sohn George, Mrs. Rouncewell?« fragt Sir Leicester.

Nicht wenig beunruhigt, daß er die Vorschriften des Arztes so wenig beachtet, antwortet sie: »In London.«

»Wo in London?«

Mrs. Rouncewell ist genötigt, einzugestehen, daß er sich im Hause befindet.

»Bringen Sie ihn her in mein Zimmer. Bringen Sie ihn sogleich.«

Die alte Dame muß ihm den Willen tun und ihren Sohn suchen. Sir Leicester legt sich, soweit das die Bewegungsfreiheit seiner Glieder zuläßt, zurecht, um ihn zu empfangen. Dann blickt er wieder hinaus in das Schneegestöber und horcht im Geiste auf die ersehnten Schritte; man hat die Straße unten mit Stroh belegt, um den Lärm zu dämpfen, und Mylady könnte vielleicht vor der Tür vorfahren, ohne daß er die Räder hörte. Er liegt ruhig da und denkt anscheinend nicht mehr an die neue und soviel weniger einschneidende Überraschung, als die Haushälterin, begleitet von ihrem Sohne, zurückkehrt. Mr. George nähert sich leise dem Bett, macht seine Verbeugung und bleibt militärisch stramm, das Gesicht von tief innerer Scham gerötet, stehen.

»Gott im Himmel, es ist wirklich George Rouncewell!« ruft Sir Leicester aus. »Erinnern Sie sich meiner noch, George?«

Der Kavallerist muß ihn erst eine Weile ansehen und sich die Worte innerlich wiederholen, ehe sie ihm klar bewußt werden, dann ermannt er sich aber, von seiner Mutter ein wenig ermuntert, und gibt zur Antwort:

»Ich müßte ein schlechtes Gedächtnis haben, Sir Leicester, wenn ich mich Ihrer nicht mehr erinnerte.«

»Wenn ich Sie ansehe, George Rouncewell«, bemerkt Sir Leicester mit schwerer Zunge, »muß ich wieder an den Jungen denken – in Chesney Wold – damals.«

Er sieht den Kavalleristen an, bis Tränen in seine Augen treten, und dann blickt er wieder hinaus auf das Wirbeln der Schneeflocken.

»Ich bitte um Verzeihung, Sir Leicester«, sagt der Kavallerist, »aber würden Sie mir vielleicht erlauben, Sie ein wenig in den Kissen aufzurichten? Sie würden bequemer liegen, Sir Leicester, wenn Sie mir gestatteten, Sie anders zu legen.«

»Bitte, George Rouncewell; wenn Sie so gut sein wollen.«

Der Kavallerist nimmt ihn in seine Arme wie ein Kind, hebt ihn mit Leichtigkeit empor und wendet ihn mit dem Gesicht mehr nach dem Fenster.

»Ich danke Ihnen, Sie haben die sanfte Hand Ihrer Mutter«, sagt Sir Leicester, »und sind so stark. Ich danke Ihnen.« Er gibt ihm mit der Hand ein Zeichen, nicht wegzugehen. George bleibt an seinem Bett stehen und wartet, bis er angeredet wird.

»Warum wünschten Sie denn, daß – Ihre Rückkehr – verschwiegen bliebe?« – Sir Leicester braucht einige Zeit, bis er die Frage herausbringt. –

»Man kann auf mich wohl kaum besonders stolz sein, Sir Leicester, und ich würde am liebsten noch eine Weile unbekannt im Dunkel geblieben sein, aber meine Mutter sagte mir, Sie wären krank; – aber hoffentlich geht das bald wieder vorüber. Ich müßte Ihnen da manches auseinandersetzen, was vielleicht nicht allzu schwer zu erraten ist, aber ich glaube, dazu ist die Zeit nicht besonders geeignet, und ich würde wohl auch nicht viel Ehre damit einlegen. Wenn auch in manchen Punkten die Meinungen vielleicht auseinander gehen mögen, eins ist wohl sicher, nämlich, daß wohl niemand Grund haben kann, auf mich stolz zu sein, Sir Leicester.«

»Sie sind Soldat gewesen«, bemerkt Sir Leicester, »und haben sich gut geführt, höre ich.«

George macht seine militärische Verbeugung. »Was das anbetrifft, Sir Leicester, so habe ich meine Pflicht im Dienst getan, aber das war wohl das wenigste, was ich tun konnte.«

»Sie finden mich durchaus nicht wohl wieder, George Rouncewell«, sagt Sir Leicester, der den Blick nicht von dem Kavalleristen wenden kann.

»Es tut mir sehr, sehr leid, das zu hören, Sir Leicester.«

»Ich glaube Ihnen. Ich bin davon überzeugt. Und zu meiner alten Krankheit ist noch ein plötzlicher und schlimmer Anfall dazugekommen. Etwas, das lahmt –«, er versucht mit der einen Hand an der einen Seite hinabzufühlen, »und verwirrt…«, er berührt seine Lippen.

Mit einem Blick voller Teilnahme und Verständnis verbeugt sich George abermals.

Die alten Zeiten, wo beide junge Leute waren, und der Kavallerist noch ein Knabe, und einander in Chesney Wold sahen, steigen vor ihnen empor und machen sie beide weich gestimmt.

Sir Leicester versucht – offenbar mit einem Entschluß ringend, etwas, das ihm auf der Seele liegt, in irgendeine Form zu bringen und zu sagen, ehe er wieder in Schweigen versinkt –, sich in seinen Kissen ein wenig aufzurichten. George bemerkt es sogleich, nimmt ihn wieder in seine Arme und legt ihn so, wie er es wünscht. »Ich danke Ihnen, George, Sie sind mir wie ein zweites Ich. Wie oft haben Sie mir unten in Chesney Wold mein Reservegewehr getragen, George. Ihr Anblick berührt mich so anheimelnd und vertraut in diesen fremdartigen Verhältnissen; so sehr vertraut.«

Er bleibt eine Weile auf des Kavalleristen Arm gelehnt, und es scheint ihm wohl zu tun.

»Ich wollte hinzusetzen«, fährt er gleich darauf wieder fort, »ich wollte in bezug auf diesen Anfall hinzusetzen, daß er unglücklicherweise mit einem kleinen Mißverständnis, das ich mit Mylady hatte, zusammenfiel. Ich meine nicht, daß ein Zwist zwischen uns stattgefunden hätte, das ist keineswegs der Fall, sondern lediglich ein Mißverständnis hinsichtlich gewisser Umstände, die nur für uns von Wichtigkeit sind, das mich aber für einige Zeit der Gesellschaft Myladys beraubt. Sie hat es für notwenig gefunden, eine Reise zu machen… Ich bin überzeugt, daß sie in Bälde zurück sein wird. Volumnia, mache ich mich verständlich? Ich habe die Worte noch nicht recht in der Gewalt.«

Volumnia versteht ihn vollkommen, und er spricht in der Tat mit viel größerer Deutlichkeit, als man noch vor einer Minute für möglich gehalten hätte. Die Anstrengung, die es ihn kostet, kann man ihm leicht an seinen gespannten und erregten Zügen ansehen. Nur der Wille ist’s, der ihn aufrecht erhält.

»Was ich sagen will, ist, Volumnia, daß ich hiermit in Ihrer Anwesenheit – und in der Anwesenheit meiner alten Dienerin und Freundin, Mrs. Rouncewell – und in der Anwesenheit ihres Sohnes George, der wie eine vertraute Erinnerung an meine Jugendzeit auf dem Wohnsitz meiner Ahnen in Chesney Wold zurückgekommen ist –, im Fall ich einen Rückfall erleiden –, im Fall ich nicht wieder genesen –, im Fall ich die Fähigkeit zu sprechen und zu schreiben ganz verlieren sollte, wenn ich auch auf Genesung hoffe…«

– Die alte Haushälterin weint still vor sich hin; Volumnia ist im höchsten Grade aufgeregt, und unvergängliches Rot blüht auf ihren Wangen; der Kavallerist steht mit übereinandergeschlagnen Armen, den Kopf ein wenig vorgeneigt, ehrerbietig und aufmerksam da. –

»Was ich ausdrücklich wünsche, ist, vor Ihnen allen als Zeugen feierlichst zu erklären, daß dasselbe unverändert gute Einvernehmen zwischen Lady Dedlock und mir weiterbesteht und niemals getrübt wurde. Daß ich mich in keiner Hinsicht über sie beschweren kann und auch nicht den geringsten Grund dazu hätte. Daß ich immer die stärkste Herzensneigung für sie gefühlt habe und noch fühle. Sagen Sie all das ihr selbst und jedermann, Volumnia. Und wenn Sie ein Wort davon weglassen, so machen Sie sich einer absichtlichen Falschheit gegen mich schuldig.«

Volumnia beteuert zitternd, daß sie seinen Befehlen bis aufs I-Tüpfelchen gehorsam sein wolle.

»Mylady steht zu hoch, ist zu schön, zu vollkommen in jeder Beziehung, zu sehr allen ihresgleichen überlegen, als daß sie nicht Feinde und Verleumder haben sollte. Sagen Sie diesen Leuten, wie ich es Ihnen hiermit sage, daß ich gegenwärtig bei klarem Verstande und ungeschwächtem Gedächtnisse auch nicht die kleinste zu ihren Gunsten getroffne Verfügung zurücknehme oder abändere oder eine Einschränkung hinsichtlich dessen treffe, was ich ihr vermacht habe. Mein Verhältnis zu ihr ist ungetrübt und so, wie es immer war, und ich widerrufe – wie Sie hören – nichts, was ich, um sie glücklich zu machen, verfügt habe.«

Die feierliche Umständlichkeit seiner Ausdrucksweise hätte zu jeder andern Zeit, wie so oft schon, lächerlich gewirkt, aber diesmal ist sie ergreifend und rührend. Die vornehme Würde, seine Treue, sein ritterliches Einstehen für sie, die Hochherzigkeit, mit der er ihretwegen die eigne erlittene Unbill und seinen Stolz vergißt, haben etwas erschütternd Schlichtes, Ehrenhaftes und Wahres. Solche Denkungsweise adelt den gewöhnlichsten Handwerker nicht weniger als den Vornehmsten und hebt beide gleich empor aus dem Staub der Erden zum strahlenden Licht.

Von der Anstrengung erschöpft, läßt Sir Leicester den Kopf auf die Kissen sinken und schließt die Augen, aber nur eine Minute, dann sieht er wieder hinaus in das Schneegestöber und horcht gespannt auf das leiseste Geräusch. Der Kavallerist hat sich bescheiden ein paar Schritte zurückgezogen, um nicht zu stören, und steht hinter seiner Mutter Stuhl Wache. Sir Leicester hat kein Wort darüber fallen lassen, wie unentbehrlich ihm die Dienste, die ihm George leistet, in der kurzen Zeit geworden sind, aber alle fühlen es.

Der Tag neigt sich seinem Ende zu. Der Nebel und das dichte Fallen des mit Regen untermischten Schnees machen die Stunde noch finsterer, und lebhafter glänzt der Feuerschein an den Wänden und den Möbeln. Die Dunkelheit nimmt zu; Gasflammen zucken hell auf in den Straßen, und die altmodischen hartnäckigen Öllampen vor dem Palais mit halbgefrornem und halbaufgetautem Lebensborn flimmern schnappend, wie feurige Fische auf trockenem Land. Die vornehme Welt, die über das Stroh gerollt kam und die Klingeln gezogen hat, um »anzufragen«, begibt sich nach Hause und kleidet sich um zum Diner, um wieder von neuem im Stil der letzten Mode die teure Freundin zu begeifern.

Sir Leicesters Befinden verschlimmert sich, er wird unruhig, aufgeregt und leidet große Schmerzen. Volumnia zündet eine Kerze an – es scheint in ihrer Bestimmung zu liegen, stets das Unpassendste zu tun –, aber er läßt ihr befehlen, sie wieder auszulöschen, da es noch nicht dunkel genug sei. Dennoch ist es fast finster; so finster, wie es die ganze Nacht sein wird. Mit der Zeit versucht sie es abermals. »Nein! Auslöschen!« Noch immer ist es ihm nicht dunkel genug.

Die alte Haushälterin erkennt zuerst, daß er sich in dem Wahne erhalten will, es sei noch nicht spät.

»Lieber Sir Leicester, mein lieber guter Herr«, flüstert sie halblaut. »Denken Sie doch an Ihren Zustand. Es ist meine Pflicht, Sie inständigst zu bitten, sich doch nicht hier mit Wachen und Warten in der einsamen Finsternis durch die langen Stunden hinzuschleppen und sich so aufzureiben. Erlauben Sie mir, die Vorhänge zuzumachen und die Lichter anzubrennen, damit es gemütlicher im Zimmer wird. Die Zeit läuft deshalb nicht anders, Sir Leicester, und die Nacht wird schnell vorübergehen. Mylady kommt deshalb nicht früher und nicht später.«

»Ich weiß es wohl, Mrs. Rouncewell, aber ich bin schwach, und er ist schon so lange, lange weg.«

»Nicht so sehr lange, Sir Leicester. Kaum vierundzwanzig Stunden.«

»Aber das ist lange. Schrecklich lang!«

– Er sagt das mit einem Stöhnen, daß es ihr das Herz zerreißt. –

Sie fühlt, daß der Zeitpunkt nicht geeignet: ist, das grelle Licht auf sein Gesicht fallen zu lassen; seine Tränen sind ihr zu heilig, als daß er wissen dürfte, daß selbst sie sie sieht. Daher bleibt sie eine Weile stumm im Dunkeln sitzen; dann macht sie sich still im Zimmer zu schaffen, schürt das Feuer und tritt an das dunkle Fenster, um hinauszusehen. Endlich hat er seine Fassung wiedergewonnen und sagt zu ihr: »Sie haben recht, Mrs. Rouncewell, es wird nicht dadurch schlimmer, daß man es sich eingesteht. Es wird spät, und sie sind noch nicht da. Zünden Sie das Licht an!«

Als es hell im Zimmer wird und die Vorhänge zugezogen sind und das Wetter hinausgesperrt haben, bleibt ihm nur noch das Horchen.

Mrs. Rouncewell weiß, es tut ihm in seiner niedergedrückten Stimmung und seinen Leiden wohl, wenn man ihn merken läßt, daß man in Myladys Gemächern nach dem Feuer sieht und sich vergewissert, ob alles zu ihrem Empfange bereit steht. So armselig das Mittel ist, so erhalten doch diese kleinen Andeutungen, daß sie erwartet wird, die Hoffnung in ihm aufrecht.

Mitternacht kommt. Immer noch dieselbe öde leere Stimmung. Nur wenig Wagen mehr hört man auf den Straßen, und andre späte Geräusche gibt es in dieser Gegend nicht, außer daß vielleicht ein Mann, der so sinnlos betrunken ist, daß er sich in diese kalte nüchterne Zone des vornehmsten Stadtteils verirrt hat, johlend und brüllend über das Pflaster taumelt. In dieser Winternacht herrscht eine Stille, daß das Lauschen in das tote Schweigen so ist wie ein Hinaussehen in tiefste Finsternis. Wenn ein fernes Geräusch erwacht, so verklingt es durch die Nacht, wie ein schwacher Schein im Dunkel erstirbt, und alles ist dann noch tiefer und stiller als zuvor.

Die Dienerschaft ist zu Bett geschickt worden und geht nicht ungern, denn sie hat die ganze vorige Nacht aufbleiben müssen, und nur Mrs. Rouncewell und George wachen noch in Sir Leicesters Zimmer. Wie die Nacht langsam vergeht und zwischen zwei und drei Uhr fast still zu stehen scheint, stellen sich bei dem Kranken Ruhelosigkeit und der quälende Wunsch ein, zu erfahren, was für Wetter draußen ist, da er es nicht mehr sehen kann. Daher dehnt George, der regelmäßig jede halbe Stunde nach den so sorgfältig zum Empfang Myladys bereitgehaltnen Zimmern gesehen hat, seine Runde bis zur Pforte des Hauses aus und schildert sodann diese schlechteste aller Nächte in den bestmöglichen Farben. In Wirklichkeit aber fällt immer noch Schnee und Regen, und selbst auf dem Fußsteig liegt der halbgefrorne Schlamm knöcheltief.

Volumnia ist in ihrem Zimmer an einem entlegnen Treppenabsatz – dem zweiten über der Stelle, wo das Schnitzwerk und die Vergoldung aufhören –, einem Zimmer für Kusinen mit einer fürchterlichen Mißgeburt von einem Porträt Sir Leicesters – seiner Scheußlichkeit wegen hier herauf verbannt –, eine Beute schlimmster Befürchtungen. Was wird mit ihrem kleinen Einkommen geschehen, im Fall Sir Leicester »etwas zustoßen sollte«, wie sie sich ausdrückt? Wenn einem Baronet »etwas« passiert, so heißt das natürlich soviel wie das allerletzte, was einem Menschen auf dieser Erde widerfahren kann.

Eine Folge dieser Seelenqualen ist, daß Volumnia entdeckt, sie könne nicht in ihrem Zimmer zu Bett gehen und auch nicht am Kaminfeuer sitzen, sondern müsse ihr schönes Haupt mit einer Unzahl Schals umwinden und ihre junonische Gestalt in faltige Gewänder hüllen und durch das Haus wandeln wie ein Geist und vorzugsweise die warmen und luxuriösen Zimmer heimsuchen, die für die Eine bereitgehalten werden, die immer noch nicht zurückkehrt. Einsamkeit unter solchen Umständen ist natürlich ausgeschlossen, und so läßt sich Volumnia auf ihren Wanderungen von der Zofe begleiten, die, zu diesem Zweck aus dem Bett geholt, frierend, schlaftrunken und an und für sich schon zu Tod unglücklich über das harte Los, eine Kusine bedienen zu müssen, wo sie sich doch fest vorgenommen hat, es nicht billiger zu tun als mit einer Herrin von zehntausend Pfund Einkünften aufwärts, ein nichts weniger als freundliches Gesicht macht. Daß der Kavallerist bei seiner Runde von Zeit zu Zeit in diese Zimmer kommt, ist für Herrin und Zofe eine Bürgschaft des Schutzes und ein Lichtblick, der sein Erscheinen in den ersten Stunden nach Mitternacht sehr angenehm macht. Sooft man ihn kommen hört, nehmen beide einige flüchtige Verschönerungsversuche an sich vor, um ihn gebührend zu empfangen. Die Zwischenpausen vergehen teils in kurzem Schlummer, teils mit Zwiegesprächen, die einen gewissen ätzenden Charakter tragen, und manchmal sieht Miß Dedlock, die, immer die Füße auf das Kamingitter gestützt, dasitzt, aus, als stünde sie eben im Begriff, kopfüber ins Feuer zu fallen.

»Wie befindet sich jetzt Sir Leicester, Mr. George?« erkundigt sich soeben Volumnia und zupft sich dabei die Nachtmütze zurecht.

»Sir Leicesters Zustand ist ziemlich unverändert, Miß, er ist sehr schwach und phantasiert sogar bisweilen.«

»Hat er nach mir verlangt?« fragt Volumnia zärtlich.

»N-nein. Nicht, daß ich wüßte, Miß. Wenigstens habe ich es nicht gehört, Miß.«

»Das ist eine schlimme, schlimme Zeit, Mr. George.«

»Ja, wirklich, Miß. Aber möchten Sie nicht lieber zu Bett gehen?«

»Ich glaube auch, es wäre viel besser, wenn Sie zu Bett gingen, Miß Dedlock«, meint die Zofe scharf.

Aber Volumnia antwortet: Nein, nein! Er könne jeden Augenblick nach ihr verlangen. Sie würde es sich nie verzeihen können, wenn ihm »etwas« zustoßen sollte und sie wäre nicht bei der Hand, und zeigt gar keine Lust, auf die Frage der Zofe, warum sie denn dann gerade hier sein müsse, einzugehen, anstatt in ihrem eignen Zimmer (wo sie doch in Sir Leicesters Nähe sei); sie erklärt vielmehr mit großer Bestimmtheit, unbedingt hierbleiben zu wollen, und möchte es sich offenbar als ein besonderes Verdienst angerechnet wissen, die ganze Nacht »kein« Auge geschlossen zu haben, als ob sie deren zwanzig oder dreißig hätte und der Umstand, daß sie erst vor fünf Minuten zwei aufgemacht hat, nicht weiter ins Gewicht fiele.

Als es aber auf vier Uhr geht und immer noch alles still bleibt, bekommt Volumnias Standhaftigkeit einen Stoß, und sie hält es mit einem Mal für ihre Pflicht, sich lieber für morgen zu schonen, wo man sie wahrscheinlich sehr in Anspruch nehmen werde, und wird schwankend, ob sie nicht doch lieber das Opfer bringen solle, ihren Posten zu verlassen. Als daher der Kavallerist mit seinem »möchten Sie nicht lieber zu Bett gehen, Miß«, wieder erscheint und die Zofe mit größerer Schärfe als früher beteuert, »ich glaube auch, es wäre viel besser, Sie gingen zu Bett, Miß Dedlock«, steht sie geduldig wie ein Lamm auf und sagte resigniert: »Machen Sie mit mir, was Sie wollen!«

Mr. George hält es jedenfalls für das Beste, sie bis an die Tür ihres Kusinenzimmers zu geleiten, und die Zofe hält es ebenso für das Beste, sie ohne viel Umstände ins Bett zu treiben. Das wickelt sich alles sodann zur allgemeinen Zufriedenheit ab, und der Kavallerist hat jetzt das ganze Haus für sich allein.

Das Unwetter hat noch immer nicht nachgelassen. Von dem Porticus, den Rinnen, dem Fries, von jedem Sims und jeder Säule und jedem Pfeiler sickert der tauende Schnee hernieder. Er ist, wie um Schutz zu suchen, in die Nischen der großen Vorhallentüre gekrochen, in die Ecken der Fenster, in jede verborgne Spalte und Lücke, und schmilzt dort und stirbt. Ohne Unterlaß fällt er auf das Dach, dringt durch das Fenster in der Decke und tröpfelt mit der Regelmäßigkeit des Schrittes auf dem Geisterwege auf den Boden der steinernen Halle herab.

Alte Erinnerungen an Chesney Wold erwachen in der Brust des Kavalleristen durch die feierliche Einsamkeit des vornehmen Hauses, und er geht die Treppen hinauf und durch die Hauptzimmer, die Kerze sorgsam in die Höhe haltend. Wie er an die Veränderung seines Schicksals in den letzten paar Wochen denkt, an seine auf dem Lande verlebte Kindheit und an die sich jetzt so seltsam über den weiten dazwischenliegenden Zeitraum hinüber die Hände reichenden zwei so einschneidenden Epochen seines Lebens und an den Ermordeten, dessen Bild noch so lebendig vor seiner Seele steht, an Mylady, die aus diesen Zimmern verschwunden ist und von deren Aufenthalt hier noch alles Zeugnis gibt, an den Herrn des Hauses oben in seinem Zimmer und an das ahnungsvolle »wer wird es ihm sagen?« – da sieht er sich überall um und stellt sich vor, was, wenn er jetzt plötzlich etwas erblicken würde, was all seinen Mut erforderte, darauf loszugehen, darnach zu greifen mit den Händen, um sich zu überzeugen, daß es nur ein Hirngespinst sei! Aber alles ist leer, öde und leer wie die Finsternis oben und unten, wie er wieder die große Treppe hinaufgeht; öde und einsam wie das bedrückende Schweigen.

»Ist alles bereit und hergerichtet, George Rouncewell?«

»Alles, Sir Leicester, alles in bester Ordnung.«

»Keine Nachricht? Noch immer nichts?«

Der Kavallerist schüttelt den Kopf.

»Kein Brief, der vielleicht übersehen worden sein kann?«

– Er weiß selbst nur zu gut, daß auf so etwas nicht zu hoffen ist, und läßt den Kopf, ohne eine Antwort abzuwarten, wieder in die Kissen sinken. –

Wieder hebt ihn George Rouncewell von Zeit zu Zeit während des Restes der stillen Winternacht in bequemere Lagen und löscht, seinen stummen Wunsch erratend, das Licht aus und zieht die Vorhänge auf beim ersten verspäteten Morgengrauen.

Wie ein Gespenst kommt der Tag. Kalt, farblos und trübe sendet er einen fahlen leichenfarbenen Lichtschimmer voraus wie eine traurige Mahnung: »Seht ihr nicht, was ich euch bringe? Ihr, die ihr da wacht?

Wer wird es ihm sagen?«

6. Kapitel


6. Kapitel

Ganz zu Hause

Das Wetter hatte sich aufgehellt und wurde immer schöner, je weiter wir westwärts kamen. Wir fuhren durch den Sonnenschein und die frische Luft und kamen nicht aus dem Staunen über die Länge der Straßen, den Glanz der Läden, den lebhaften Verkehr und das Gedränge der Menschen, die das angenehme Wetter wie bunte Blumen hervorgelockt zu haben schien, heraus.

Allmählich ließen wir die wunderbare Metropole hinter uns und fuhren durch die Vorstädte, von denen nach meiner Ansicht jede einzelne schon eine recht ansehnliche Stadt für sich hätte bilden können, und endlich kamen wir auf die Landstraße mit ihren Windmühlen, Getreideschobern, Meilensteinen, Bauernwagen, dem Geruch von altem Heu, baumelnden Wirtshauszeichen und Pferdekrippen, Bäumen, Feldern und Hecken. Die grüne Landschaft und hinter uns die unermeßliche Hauptstadt boten einen herrlichen Anblick; und als ein Frachtwagen, mit schönen Pferden bespannt, die mit rotem Geschirr und hellklingenden Schellen geschmückt waren, sich uns mit seiner Musik näherte, hätten wir alle drei am liebsten in den Gesang der Leute eingestimmt, so heiter wirkte die ganze Umgebung auf uns.

»Der ganze Weg hat mich an meinen Namensvetter Whittington erinnert«, sagte Richard, »und dieser Wagen macht das Bild fertig. – Hallo! Was gibt’s?«

Wir hielten still und der Frachtwagen ebenfalls. Seine Musik wurde, wie die Pferde stehen blieben, zu einem leisen Klingeln, außer wenn eins den Kopf in die Höhe warf oder sich schüttelte und einen kleinen Regen von Schellengeläute um sich warf.

»Unser Postillon sieht sich nach dem Fuhrmann um«, erklärte uns Richard, »er kommt jetzt auf uns zu. Guten Tag!« – Der Fuhrmann stand jetzt an unserm Kutschenschlag.

»Das ist aber seltsam«, sagte Richard und betrachtete sich den Mann genauer. »Er hat Ihren Namen auf dem Hut, Ada!«

– Er hatte alle unsere Namen auf dem Hut. In dem Bande staken nämlich drei Briefchen; eins an Ada, eins an Richard, eins an mich. Auf die Frage, von wem sie kämen, antwortete er kurz: »Von der Herrschaft, Sir«, setzte den Hut wieder auf, knallte mit der Peitsche, weckte die Musik von neuem und fuhr klingelnd seines Weges.

»Ist das Mr. Jarndyces Wagen?« fragte Richard unsern Postillon.

»Ja, Sir. Fährt nach London.«

Wir brachen die Briefe auf. Einer lautete wie der andere, und sie enthielten in einer festen schlichten Handschrift folgendes:

»Ich möchte, meine Lieben, daß wir ohne große Umstände und gesellschaftlichen Zwang miteinander zusammenkommen. Ich schlage daher vor, daß wir uns wie alte Freunde begrüßen und ganz von der Vergangenheit schweigen. Für Euch wird es möglicherweise, für mich aber gewiß, eine Erleichterung sein. Also herzlichen Gruß
John Jarndyce.«

Ich hatte vielleicht weniger Grund, überrascht zu sein, als meine beiden Gefährten, da ich noch niemals Gelegenheit gefunden hatte, dem Manne zu danken, der mein Wohltäter und so viele Jahre lang meine einzige Stütze auf Erden gewesen war. Ich hatte mir gar nicht überlegt, wie ich ihm danken könnte, da meine Dankbarkeit dazu zu tief in meinem Herzen lag, aber jetzt, wo ich mit ihm zusammentreffen sollte, ohne es tun zu dürfen, fühlte ich, wie schwer das war.

Die Briefe frischten bei Richard und Ada eine Erinnerung wieder auf, die sie beide hatten, ohne zu wissen, wie sie dazu gekommen waren, nämlich, daß ihr Vetter Jarndyce durchaus keinen Dank für Wohltaten, die er erwiesen, vertragen könnte.

Um dergleichen aus dem Wege zu gehen, griffe er zu den seltsamsten Auskunftsmitteln und Ausflüchten und laufe unter Umständen sogar davon. Ada erinnerte sich noch dunkel, schon als ganz kleines Kind von ihrer Mutter gehört zu haben, daß er sich gegen sie ungewöhnlich hochherzig benommen habe; wie sie ihn aber, um ihm zu danken, besuchen gegangen sei und er sie zufällig durch das Fenster habe kommen sehen, sei er sofort durch die Hintertür ausgerissen und drei Monate lang verschwunden gewesen.

Dieses Thema beschäftigte uns fast den ganzen Tag. Wir rieten hin und her, wie das Haus wohl aussehen möchte und ob wir Mr. Jarndyce gleich bei unserer Ankunft oder erst später zu Gesicht bekommen würden. Alles das besprachen wir sehr ausführlich und immer wieder und wieder.

Die Straße war sehr steil für die Pferde und der Fußweg meistens gut; deshalb stiegen wir aus und gingen die ganze Strecke bergauf. Und das gefiel uns so sehr, daß wir unsern Spaziergang noch auf der Ebene fortsetzten, als wir bereits oben auf der Höhe angekommen waren.

In Barnet wechselten wir die Pferde und gingen voraus über eine Heide und ein altes Schlachtfeld, ehe uns der Wagen einholte. Durch diese Verzögerung verlängerte sich unsere Reise so sehr, daß der kurze Tag zu Ende ging, ehe wir St. Albans erreichten, in dessen Nähe Bleakhaus liegen sollte.

Wir waren schließlich so unruhig und aufgeregt, daß selbst Richard, als wir über das Pflaster der alten Straße rasselten, eingestand, er möchte am liebsten umkehren.

Was Ada und mich betraf, so zitterten wir am ganzen Leibe, trotzdem er uns mit großer Sorgfalt in Plaids eingehüllt hatte. Als wir um eine Ecke herumbogen und Richard uns sagte, daß der Postillon sich nach uns umsähe und uns zunickte, standen wir beide im Wagen auf und suchten mit unserm Blick auf der weiten Ebene in der sternhellen Nacht unser Reiseziel.

Auf einer Höhe vor uns schimmerte ein Licht. Der Postillon, der schon lange für unsere erwartungsvolle Stimmung ein großes Verständnis an den Tag gelegt hatte, deutete mit der Peitsche darauf und sagte: »Das ist Bleakhaus!« dann fuhr er im Galopp, obgleich es bergauf ging, so rasch dahin, daß die Räder den Kies von der Straße wie Schaum von einem Mühlenrad uns um den Kopf wirbelten.

Jetzt verloren wir das Licht, sahen es wieder, verloren es abermals, und dann blieb es und strahlte uns durch eine Allee hell entgegen. Es kam aus dem Fenster eines altmodisch aussehenden Hauses mit drei Dachgiebeln an der Vorderseite und einer kreisrunden Auffahrt.

Eine Glocke ertönte, als wir vorfuhren, und unter dem Schall ihrer tiefen Stimme in der stillen Nachtluft und des Hundegebells in der Ferne und in einem Lichtstrom aus der geöffneten Tür und dem Dampf der erhitzten Pferde stiegen wir mit Herzklopfen und ziemlich verwirrt aus.

»Liebe Ada, liebe Esther, willkommen! Willkommen! Es freut mich, euch zu sehen! Rick, wenn ich jetzt eine Hand übrig hätte, würde ich sie Ihnen geben.«

Der Herr, der diese Worte mit lauter, gastfreundlicher Stimme sprach, umarmte Ada und mich, küßte uns beide mit väterlicher Zärtlichkeit und zog uns durch die Vorhalle in ein kleines Zimmer, das in dem Schein eines hellen Feuers förmlich glühte. Hier küßte er uns nochmals, ließ uns los und hieß uns nebeneinander auf einem Sofa, das vor den Kamin gerückt war, Platz nehmen.

Ich hatte das Gefühl, er würde auf der Stelle fortgelaufen sein, wenn wir die mindesten Umstände gemacht hätten.

»So Rick«, sagte er, »jetzt habe ich eine Hand frei. Ein Wort aus dem Herzen ist so gut wie eine Rede. Ich freue mich außerordentlich, Sie zu sehen. Sie sind hier zu Hause. Wärmen Sie sich.«

Richard schüttelte ihm beide Hände mit einem natürlichen Gemisch von Verehrung und Freimut und sagte bloß – obgleich mit einer Innigkeit, die mich fast beunruhigte, denn ich fürchtete, Mr. Jarndyce werde plötzlich verschwinden –:

»Sie sind sehr gütig, Sir. Wir sind Ihnen sehr, sehr verbunden!« Dann legte er Hut und Mantel ab und trat ans Feuer.

»Und wie hat Ihnen die Fahrt gefallen, und wie hat Ihnen Mrs. Jellyby gefallen?« wendete sich Mr. Jarndyce an Ada.

Während Ada ihm antwortete, betrachtete ich – ich brauche wohl nicht zu sagen, mit welchem Interesse – sein Gesicht. Es war ein hübsches frisches Gesicht voll Bewegung und Leben, und das Haar war ein silbernes Eisengrau. Er schien den Sechzigern näher als den Fünfzigern zu sein, sah aber gerade, frisch und kräftig aus.

Vom ersten Augenblick an war mir seine Stimme irgendwie bekannt vorgekommen, aber jetzt erinnerten mich etwas Rasches in seinem Wesen und ein gewinnender Ausdruck in seinen Augen an den Herrn in der Landkutsche vor sechs Jahren an jenem denkwürdigen Tage meiner Reise nach Reading. Ich war fest überzeugt, daß er jetzt vor mir stand.

Ich bin in meinem ganzen Leben nicht so erschrocken, wie als ich diese Entdeckung machte, denn unsere Blicke begegneten sich, er schien meine Gedanken zu lesen und sah sich in einer Weise nach der Türe um, daß ich schon fürchtete, wir hätten ihn verloren.

Zum Glück blieb er da und fragte mich, was ich von Mrs. Jellyby hielte.

»Sie gibt sich außerordentlich viel Mühe mit Afrika, Sir.«

»Kolossal!« bestätigte Mr. Jarndyce. »Aber Sie geben dieselbe Antwort wie Ada.«

– Ich hatte nicht gehört, was sie sagte. –

»Ihr scheint mir alle noch einen Nebengedanken zu haben.«

»Es kam mir ein bißchen so vor«, gestand ich mit einem Blick auf Richard und Ada, die mir zuzwinkerten, ich solle doch sprechen, »als ob sie sich nicht allzusehr um ihre Wirtschaft bekümmere.«

»Donnerwetter!« rief Mr. Jarndyce aus.

Ich erschrak schon wieder.

»Ja, ja! Ich möchte Ihre wahren Gedanken wissen, mein Kind. Ich habe Sie vielleicht mit Absicht hingeschickt.«

»Wir glaubten«, begann ich zögernd, »daß es sich vielleicht gehöre, mit den Verpflichtungen gegen die eigne Häuslichkeit zu beginnen, und daß, solange diese übersehen und vernachlässigt sind, keine andern Pflichten an ihre Stelle treten sollten.«

»Die kleinen Jellybys«, kam mir Richard zu Hilfe, »sind wirklich, um einen starken Ausdruck zu gebrauchen, Sir, – in einem ganz verteufelten Zustand.«

»Sie meint es gut«, fiel Mr. Jarndyce hastig ein. »Es ist Ostwind.«

»Auf der Fahrt hatten wir Nordwind, Sir«, bemerkte Richard.

»Lieber Rick« – Mr. Jarndyce schürte das Feuer – »ich möchte einen Eid ablegen, daß wir entweder Ostwind haben oder daß er gleich einsetzen wird. Ich verspüre immer ein unbehagliches Gefühl, wenn der Wind aus Osten weht.«

»Wohl Rheumatismus, Sir?«

»Wahrscheinlich, Rick; ich glaube, es ist so. – Also die kleinen Jell – ich habe so meine Gedanken darüber gehabt – sind in einem – o Gott ja, es ist Ostwind«, sagte Mr. Jarndyce.

Er ging zwei oder drei Mal mit dem Schüreisen unentschlossen in der Stube auf und ab, während er diese abgerissenen Worte sprach, fuhr sich mit einer so gutmütigen Verlegenheit durch die Haare und sah dabei so komisch und liebenswürdig zugleich aus, daß wir uns mehr über ihn freuten, als wir wahrscheinlich in Worten hätten ausdrücken können. Er reichte Ada und mir den Arm, bat Richard, ein Licht zu nehmen, und wollte uns hinausführen, als er plötzlich mit uns allen wiederumkehrte.

»Die kleinen Jellybys! Konntet ihr nicht – warum habt ihr nicht –, na, wenn es z. B. Kuchen und Johannisbeertorten oder so etwas geregnet hätte?« fing er wieder an.

»Ach, Vetter –« unterbrach ihn Ada hastig.

»Sehr gut, mein Herzblatt. ‚Vetter‘ gefällt mir. Vetter John wäre vielleicht noch besser!«

»Also, Vetter John –« fing Ada von neuem lachend an.

»Haha! Ausgezeichnet!« rief Mr. Jarndyce hocherfreut. »Klingt ungemein natürlich. Also, liebes Kind?«

»Es geschah mehr als das. Esther kam hereingeschneit.«

»Nun? Und was tat Esther?«

»Sehen Sie, Vetter John«, – Ada faltete die Finger über seinen Arm und schüttelte gegen mich auf der andern Seite ihre Locken, denn ich bat sie zu schweigen, »Esther ist im Handumdrehen ihre Freundin geworden. Sie beaufsichtigte sie, brachte sie zu Bett, wusch und kämmte sie, erzählte ihnen Geschichten, kaufte ihnen Spielzeug –«

– Die gute Ada! War ich doch nur ein einziges Mal mit Peepy ausgegangen, als man ihn wiedergefunden, und hatte ihm ein kleines Pferdchen gekauft. –

»– und, Vetter John, sie tröstete die arme Karoline, die Älteste, und dachte nie an sich und war so liebenswürdig! – Nein, nein, ich lasse mir nicht widersprechen, liebe Esther! Du weißt selbst, es ist wahr.«

Das warmherzige liebe Mädchen beugte sich an ihrem Vetter vorbei zu mir herüber und küßte mich, sah ihm dann ins Gesicht und sagte herausfordernd: »Jedenfalls, Vetter John, danke ich Ihnen für die Freundin, die Sie mir geschenkt haben.« Es war, als ob sie ihn förmlich herausforderte, auszureißen. Aber er tat es nicht.

»Was für Wind hattet ihr, Rick?« fragte er wieder.

»Nordwind, als wir herfuhren, Sir.«

»Stimmt. Es ist kein Ostwind. Habe mich geirrt. Kommt, Mädchen, und seht euch das Haus an.«

Es war eins jener entzückenden unregelmäßigen Häuser, wo man von einem Zimmer ins andere Stufen auf und ab geht und immer noch neue findet, wenn man glaubt, bereits alle gesehen zu haben. Voll von kleinen Hallen und Gängen und in versteckten Winkeln heimliche alte Sommerhallen mit Jalousien und dichtem grünem Laub vor dem Fenster.

Mein Zimmer, das wir zuerst betraten, mit einer gewölbten Decke, die mehr Ecken hatte als ich zählen konnte, war von dieser Art. Es brannte ein Holzfeuer darin und spiegelte sich in den reinen, weißen Fliesen des Kamins wider.

Aus diesem Gemach ging man zwei Stufen hinab in ein allerliebstes kleines gemeinsames Vorzimmer für Ada und mich, durch das man auf einen Blumengarten hinaussah; von hier führten wieder drei Stufen hinauf in Adas Schlafzimmer, dessen hübsches breites Fenster eine wunderschöne Aussicht hatte, und wir sahen eine ausgedehnte dunkle Fläche im Sternenschimmer vor uns liegen. Am Fenster war eine große breite abschließbare Sitznische, in der sich drei Adas auf einmal hätten verstecken können.

Aus diesem Zimmer gelangte man auf einen kleinen Korridor, mit dem zwei große Salons in Verbindung standen, und zu einer kleinen Treppe mit niedrigen Stufen und – im Verhältnis zu ihrer Länge – einer Menge Absätzen, in die Vorhalle hinunter. Wenn man aber anstatt zu Adas Tür hinaus wieder durch mein Zimmer ging und ein paar vor Alter krumm gewordene Stufen, die in ganz unerwarteter Weise von der Treppenflucht abzweigten, hinaufstieg, verlor man sich in Gängen, wo Wäschemangeln, dreieckige Tische und ein echter Hindustuhl standen, der zugleich ein Sofa, ein Koffer und eine Bettstelle bilden konnte und halb wie ein großer Vogelbauer, halb wie ein Bambusgerippe aussah und von dem kein Mensch wußte, wer ihn aus Indien mitgebracht hatte.

Aus diesen Korridoren kam man in Richards Zimmer, das teils Bibliothek, teils Schlaf-, teils Wohnraum war und ein gemütliches Gemisch von allen möglichen Zimmern zu sein schien. Von hier aus ging man geradenwegs über einen kleinen Gang nach der schmucklosen Stube, wo Mr. Jarndyce das ganze Jahr hindurch bei offnen Fenstern schlief, um mehr Luft zu haben, und eine Bettstelle ohne Vorhänge in der Mitte stand, und das kalte Bad in einem kleineren Raum daneben immer bereit war. Von hier aus kam man wieder auf einen Gang mit einer Hintertreppe, und wir konnten hören, wie draußen vor dem Stall die Pferde abgerieben wurden, wobei ihnen eine Stimme warnend zurief, wenn sie auf dem holprigen Pflaster stolperten und ausglitschten. Man konnte auch, wenn man zu einer andern Tür hinausging – denn jede Stube hatte mindestens zwei Türen –, ein halbes Dutzend Stufen hinab und durch eine niedrige Bogentür geradenwegs in die Halle hinabgehen und wunderte sich dann, wie man dahin gelangt oder überhaupt wieder herausgekommen war.

Das Mobiliar war mehr altmodisch als alt, wie das Haus selbst, und allerliebst unregelmäßig. Adas Schlafzimmer war ein Garten bunter Blumen – aus Kattun und Samt, und von Stickerei auf dem Brokat der zwei steifrückigen Lehnsessel, die, jeder mit einem Taburett als stummem Diener neben sich, auf beiden Seiten des Kamins standen.

Unser gemeinsames Wohnzimmer war grün; an den Wänden hingen unter Glas und Rahmen eine Menge von erstaunlichen und erstaunten Vögeln, die aus dem Bilde heraus eine wirkliche Forelle, so glänzend und braun wie in Aspik, in einer Glasschale anstierten, ferner der »Tod des Kapitän Cook«, und die »Teebereitung in China« von Anfang bis zu Ende, gemalt von chinesischen Künstlern. In meinem Zimmer hingen ovale Stahlstiche, die Monate darstellend – Damen als Mäherinnen mit kurzen Taillen und großen, unter dem Kinn zusammengebundenen Hüten für den Juni, Edelleute mit prallen Waden, mit dreieckigen Hüten nach Dorfkirchtürmen deutend, für den Oktober. Brustbilder in Pastell hingen im ganzen Hause in reicher Fülle herum, aber so verstreut, daß ich den Bruder des jungen Offiziers in meiner Stube in der Porzellankammer und die hübsche junge Braut über meinem Bett, mit einer Blume am Leibchen, als ergraute Matrone im Frühstückszimmer wiederfand. Als Ersatz für sie hingen bei mir vier Engel aus der Zeit der Königin Anna, die mit einiger Anstrengung einen behäbigen Herrn an Blumenketten in den Himmel zu tragen versuchten, eine kunstvolle Stickerei, Früchte, einen Kessel und ein Alphabet darstellend.

Alle beweglichen Gegenstände, von den Kleiderschränken bis zu den Stühlen und Tischen, den Vorhängen, den Spiegeln, selbst bis zu den Nadelkissen und den Riechfläschchen auf den Toilettentischen herab zeigten dieselbe wunderliche Verschiedenheit. Sie stimmten nur darin überein, daß sie höchst sauber waren.

Überall, wo es nur eine Schublade, ob groß oder klein, gab, fand man ganze Haufen von Rosenblättern und Lavendel aufgespeichert.

So, mit seinen erhellten Fenstern, hie und da durch die Schatten der Vorhänge gedämpft und auf die sternenhelle Nacht hinausleuchtend, mit seinem Licht und seiner Wärme und seiner Behaglichkeit, mit dem gastlichen Geklapper von Tellern in der Ferne, mit dem die ganze Umgebung aufheiternden Gesicht seines hochherzigen Besitzers und gerade Wind genug draußen, um eine leise musikalische Begleitung zu allem, was wir hörten, zu bilden, – so waren unsere ersten Eindrücke von Bleakhaus.

»Es freut mich, daß es euch gefällt«, sagte Mr. Jarndyce, als er uns wieder nach Adas Wohnzimmer zurückbrachte. »Es ist nicht anspruchsvoll, aber ein behagliches kleines Haus, und wird dies noch in größerm Maße werden mit jungen freundlichen Gesichtern darin. Wir haben kaum noch eine halbe Stunde zum Essen. Es ist niemand hier als das beste Geschöpf von der Welt – ein Kind.«

»Kinder! Hörst du, Esther!« sagte Ada.

»Ich meine nicht buchstäblich ein Kind«, erklärte Mr. Jarndyce. »Kein Kind an Jahren. Er ist ein erwachsener Mensch, – er ist wenigstens so alt wie ich, aber in Einfalt, Frische des Gemüts, Begeisterungsfähigkeit und einer schönen, arglosen Unfähigkeit für alle weltlichen Angelegenheiten ein vollkommenes Kind.«

»– Wir interessierten uns alle lebhaft für den Betreffenden. –

»Er kennt Mrs. Jellyby. Er ist Musiker, Dilettant, könnte aber Virtuos sein. Er malt, ist Dilettant, könnte aber Maler von Beruf sein. Er ist ein Mann von großen Vorzügen und gewinnenden Manieren. Er hat Unglück in seinem Beruf, Unglück in seinen Bestrebungen und Unglück in seiner Familie gehabt; aber er kümmert sich nicht darum.«

»Er hat also selbst Kinder, Sir?« fragte Richard.

»Jawohl, Rick! Ein halbes Dutzend. Oder noch mehr! Eher ein Dutzend, glaube ich. Aber er hat sich niemals um sie gekümmert. Wie konnte er auch! Er brauchte doch selbst jemand, der nach ihm sieht. Und er ist doch selbst ein Kind.«

»Haben die Kinder also für sich selbst sorgen müssen, Sir?« fragte Richard.

»Das läßt sich leicht denken«, – Mr. Jarndyce wurde plötzlich sehr unruhig. – »Von den Kindern der ganz armen Leute sagt man, sie würden nicht erzogen, sondern wüchsen auf wie Pilze. Harold Skimpoles Kinder sind Gott weiß wie groß geworden. Der Wind dreht sich schon wieder, fürchte ich. Ich fühle es schon.«

Richard meinte, daß das Haus in der windigen Nacht etwas frei liege.

»Es liegt frei. Das ist nicht zu bezweifeln. Der Name Bleakhaus klingt schon darnach, aber kommt jetzt mit.«

Unser Gepäck stand schon im Zimmer, und so war ich in wenigen Minuten angekleidet. Ich beschäftigte mich gerade, meine Sachen einzuräumen, als ein Mädchen (nicht das, das Ada bediente, sondern ein anderes, das ich noch nicht gesehen hatte) mit einem Körbchen und zwei Bund Schlüsseln und Zetteln daran in mein Zimmer trat.

»Das ist für Sie, Miß, wenn Sie erlauben«, sagte sie.

»Für mich?«

»Die Wirtschaftsschlüssel, Miß.«

Ich konnte mein Erstaunen nicht verbergen, denn sie setzte ebenfalls ein wenig verwundert hinzu: »Ich sollte sie Ihnen bringen, sowie Sie allein wären, Miß – Miß Summerson, wenn ich nicht irre?«

»Ja«, sagte ich, »so heiße ich.«

»Der große Bund sind die Wirtschaftsschlüssel und der kleine die Kellerschlüssel, Miß. Zu jeder Stunde morgen früh, wann Sie wünschen, soll ich Ihnen die Schränke und Schlösser, zu denen sie sperren, zeigen.«

Ich bestimmte halb sieben Uhr, und als das Mädchen gegangen war, stand ich da und betrachtete das Körbchen, ganz verloren in der Größe meiner Verantwortlichkeit. So fand mich Ada und setzte soviel entzückendes Vertrauen in mich, als ich ihr die Schlüssel zeigte und meine Besorgnis ausdrückte, daß es undankbar und gefühllos gewesen wäre, wenn ich nicht frischen Mut gezeigt hätte. Freilich wußte ich, daß nur das gute Herz aus dem lieben Mädchen sprach, aber es freute mich.

Als wir herunterkamen, wurden wir Mr. Skimpole vorgestellt, der vor dem Kamin stand und Richard erzählte, wie gern er in seinen Schuljahren Fußball gespielt habe.

Er war ein kleiner, freundlicher Mann mit ein wenig zu großem Kopf, aber mit feinen Zügen und einer selten angenehmen Stimme; er hatte wirklich etwas außerordentlich Gewinnendes. Alles, was er sprach, war so ungezwungen und unberechnet und wurde mit so liebenswürdiger Heiterkeit vorgebracht, daß es eine Freude war, ihn reden zu Hören. Kleiner und schlanker als Mr. Jarndyce, sah er mit seiner lebhafteren Gesichtsfarbe und dem braunen Haar eher jünger als dieser aus. Überhaupt machte er in jeder Hinsicht mehr den Eindruck eines gealterten jüngeren Mannes als den eines jung gebliebenen Greises.

Eine ungenierte Nachlässigkeit charakterisierte sein Wesen. Das Haar war sorglos geordnet und sein Halstuch lose geschlungen und mit fliegenden Zipfeln wie das eines Künstlers. Kurz, er sah aus wie ein romantischer Jüngling, der einen eigenartigen Selbstentwertungsprozeß durchgemacht hat, und nicht wie ein Mann, der auf dem natürlichen Wege des Alterns, der Sorgen und der Erfahrung dem Ziel des Lebens näher gerückt ist.

Im Lauf der Unterhaltung erfuhr ich, daß Mr. Skimpole, ursprünglich Arzt, als solcher am Hofe eines deutschen Fürsten gelebt hatte. Er erzählte uns, er sei in allem, was Maße und Gewichte beträfe, von jeher ein Kind gewesen und habe nie das Geringste von diesen Sachen gewußt, außer, daß sie ihm höchst zuwider wären; und so sei er nie imstande gewesen, mit der nötigen, alle Einzelheiten genau ins Auge fassenden Genauigkeit Rezepte zu verschreiben. »Überhaupt«, sagte er, »habe ich keinen Kopf für Einzelheiten.«

Er erzählte uns mit großem Humor, man habe ihn, wenn er den Fürsten hätte zur Ader lassen oder einem seiner Umgebung Arzneien geben sollen, meistens im Bett liegen gefunden, mit Zeitunglesen oder Phantasieskizzenzeichnen beschäftigt und außerstande zu kommen. »Da dem Fürsten zuletzt die Sache nicht mehr paßte – worin er vollkommen recht hatte«, gestand Mr. Skimpole freimütig, »wurde das Dienstverhältnis aufgelöst, und da ich von nichts mehr zu leben hatte als von der Liebe, so verliebte ich mich, heiratete und umgab mich mit rosigen Wangen.«

Sein guter Freund Jarndyce und einige andere hätten ihn dann unterstützt – bei verschiedenen Gelegenheiten und neuen Lebensanfängen; aber das wäre ganz umsonst gewesen, denn er müßte sich, sagte er, zu zwei der seltsamsten Schwächen auf der Welt bekennen. Nämlich, daß er keinen Begriff von Zeit und noch weniger von Geld habe. Infolgedessen hielte er nie eine Abmachung ein und kenne nicht den Wert auch nur einer einzigen Sache auf der Welt! Gut! So wäre er durchs Leben getrieben und sei jetzt hier. Er läse sehr gern Zeitungen, zeichne gern Phantasieskizzen, liebe die Natur außerordentlich – und die Kunst. Bloß das eine verlange er von der menschlichen Gesellschaft, nämlich, ihn leben zu lassen. Das sei nicht viel. Er habe wenig Bedürfnisse. Zeitungen, Konversation, Musik, Hammelbraten, Kaffee, eine hübsche Landschaft, Obst zur Zeit der Reife, ein paar Bogen Zeichenpapier, ein paar Gläser Rotwein – mehr verlange er nicht. Er sei ein reines Kind auf der Erde, aber er verlange nicht nach dem Monde. Er sage zur Welt: Gehet eure verschiedenen Wege in Frieden, traget rote Röcke, blaue Röcke, Linonärmel, stecket Federn hinter die Ohren, traget Schürzen; jaget nach Ruhm, nach Heiligkeit, nach Handel, nach was ihr wollt, nur – lasset Harold Skimpole leben.

Das alles und noch viel mehr erzählte er uns nicht nur mit der größten Lebendigkeit und Selbstzufriedenheit, sondern auch mit einer gewissen munteren Offenheit, indem er von sich sprach, als ob er sich selbst gar nichts anginge und Skimpole eine dritte Person wäre; als ob er wohl wüßte, daß Skimpole seine Eigenheiten hätte, aber auch seine berechtigten Ansprüche, die Sache der Menschheit wären und nicht übersehen werden dürften.

Er war wirklich bezaubernd.

Wenn ich schon damals etwas verwirrt wurde bei dem Bemühen, das, was er sagte, mit dem in Einklang zu bringen, was ich über die Pflichten und Verbindlichkeiten des Lebens dachte, so machte es mich erst recht konfus, daß ich nicht begreifen konnte, warum gerade er frei von ihnen sein sollte. Daß er frei von ihnen sei, bezweifelte ich keinen Augenblick; und er selbst war davon vollständig überzeugt.

»Ich strebe nach nichts«, erklärte er sorglos. »Aus Besitz mache ich mir gar nichts. Hier ist meines Freundes Jarndyce vortreffliches Haus. Ich fühle mich ihm verbunden, daß er es besitzt. Ich kann eine Skizze davon machen und es beliebig verändern. Ich kann es in Musik setzen. Wenn ich hier bin, genieße ich das Gute davon und habe weder Beschwerden noch Kosten noch Verantwortlichkeit. Der Name meines Verwalters ist Jarndyce, und er kann mich nicht übervorteilen. Wir sprachen vorhin von Mrs. Jellyby. Sie ist eine Frau von klarem Blick, starkem Willen und großer Umsicht in allen geschäftlichen Details und kann sich mit wunderbarer Energie auf eine Sache werfen. Ich bedauere nicht im mindesten, daß ich mich eines starken Willens und der Beherrschung geschäftlicher Details nicht rühmen kann, um mich mit wunderbarer Energie auf eine Sache zu werfen. Ich kann die Dame ohne Neid bewundern. Ich kann mit der Sache sympathisieren, von ihr träumen. Ich kann mich ins Gras legen – bei schönem Wetter – und einen afrikanischen Fluß hinabschwimmen und alle Eingebornen, denen ich begegne, umarmen und das tiefe Schweigen empfinden und das undurchdringliche Dach üppig wuchernder tropischer Pflanzen so genau zeichnen, als ob ich dort wäre. Ich weiß nicht, ob mir das unmittelbar Nutzen bringt, aber es ist alles, was ich kann, und ich betreibe es gründlich. Um Himmels willen, wenn auch schon Harold Skimpole, ein vertrauensvolles Kind, bittet, euch, die Welt, die Gesamtheit der praktischen Leute mit Geschäftssinn, bittet, ihn leben und die menschliche Familie bewundern zu lassen, so seid doch gutherzig, so oder so, und laßt ihn sein Steckenpferd reiten.«

Offenbar war Mr. Jarndyce dieser Beschwörung nachgekommen. Das bewies schon Mr. Skimpoles Stellung im Hause, ohne daß er uns darüber aufzuklären nötig gehabt hätte.

»Nur ihr hochherzigen Menschen seid die einzigen, die ich beneide«, sagte Mr. Skimpole und wendete sich an uns, seine neuen Freunde. »Ich beneide euch um die Fähigkeit, das zu tun, was ihr tut. Darin möchte ich selbst schwelgen. Ich fühle keine sogenannte Dankbarkeit für euch. Es kommt mir fast vor, als ob ihr mir Dank schuldig wäret, weil ich euch Gelegenheit gebe, das Hochgefühl des Edelmutes zu genießen. Ich weiß, ihr habt es gern. Vielleicht bin ich bloß zu dem Zweck auf die Erde gekommen, um eure Glückseligkeit zu vergrößern, nur geboren, um euer Wohltäter zu sein, indem ich euch Gelegenheit gebe, mir in meinen kleinen Verlegenheiten beizustehen. Warum sollte ich meine Unfähigkeit in weltlichen Dingen beklagen, wenn sie solche unangenehmen Folgen hat? Ich beklage sie gar nicht.«

Von allen scherzhaften Reden, die wohl scherzhaft klangen, von Mr. Skimpole aber in vollem Ernste gemeint waren, schien keine mehr nach Mr. Jarndyces Geschmack zu sein als diese. Ich fühlte mich später oft versucht, mich verwundert zu fragen, ob es wirklich an sich merkwürdig sei oder nur mir so schiene, daß er, der wahrscheinlich beim geringsten Anlaß der dankbarste aller Menschen gewesen wäre, so sehr danach verlangte, sich der Dankbarkeitsäußerung andrer zu entziehen.

Wir alle waren förmlich bestrickt. Mir erschien es wie eine verdiente Anerkennung der gewinnenden Eigenschaften Adas und Richards, daß Mr. Skimpole schon bei seinem ersten Zusammentreffen mit ihnen sich so rückhaltlos gab und sich so außerordentlich liebenswürdig vor ihnen zergliederte. Sie beide – hauptsächlich Richard – fanden natürlich aus ähnlichen Gründen ihre Freude daran und betrachteten es als Geschenk, daß ein so anziehender Mann ihnen so offenes Vertrauen entgegenbrachte.

Je eifriger wir zuhorchten, desto lebendiger wurde Mr. Skimpole. Seine hübsche heitere Art, seine gewinnende Offenheit, mit der er mit seinen Schwächen spielte, als ob er sagen wollte, ich bin ein Kind, das wißt ihr doch! – im Vergleich mit mir seid ihr erfahrene Leute (ich selbst kam mir ihm gegenüber in diesem Lichte vor), aber ich bin heiter und unschuldig; vergeßt eure prosaischen Sorgen und spielt mit mir –, brachten eine wahrhaft blendende Wirkung auf uns hervor.

Er war so voller Empfindung und hatte einen so feinen Sinn für alles Schöne, daß er schon dadurch allein hätte mein Herz gewinnen müssen.

Als ich den Tee aufgoß und Ada im Nebenzimmer Klavier spielte und Richard eine Melodie, von der sie zufällig gesprochen hatten, vorsummte, setzte er sich aufs Sofa in meine Nähe und sprach von Ada in einer Weise, daß mir das Herz aufging.

»Sie ist wie der Morgen«, schwärmte er. »Mit dem goldnen Haar und den blauen Augen und diesen frisch blühenden Wangen ist sie wie der Sommermorgen. Die Vögel hier werden sie dafür halten. Wir wollen ein so liebliches junges Wesen wie sie, die die Freude aller Menschen ist, nicht eine Waise nennen. Sie ist das Kind des Universums.«

Ich bemerkte, daß Mr. Jarndyce nicht weit von uns stand, die Hände auf dem Rücken und ein aufmerksames Lächeln in der Miene.

»Das Universum«, wendete er ein, »ist kein besonders guter Vater, fürchte ich.«

»Oh, das weiß ich nicht«, rief Mr. Skimpole überschwenglich.

»Ich glaube, ich weiß das genau«, lächelte Mr. Jarndyce.

»Gut, Sie kennen die Welt, die in Ihrem Sinn das Universum ist, und ich kenne sie nicht, und daher sollen Sie Ihren Willen haben. Aber wenn es nach mir ginge«, setzte Mr. Skimpole mit einem Blick auf Richard und Ada hinzu, »so dürften keine Dornen jämmerlicher Wirklichkeit auf ihrem Wege liegen. Er müßte mit Rosen bestreut sein und durch freundliche Gefilde führen, wo weder Frühling, Herbst noch Winter, sondern immerwährender Sommer herrscht. Die Jahre und die Vergänglichkeit dürften dort keinen Schaden tun. Das gemeine Wort Geld dürfte dort nie gehört werden.«

Mr. Jarndyce tätschelte ihm lächelnd mit der Hand auf den Kopf wie einem Kinde, trat einen Schritt vor, blieb stehen und warf einen Blick auf die beiden jugendlichen Gestalten. Sein Auge war gedankenvoll, und ein Ausdruck des Wohlwollens lag darin, den ich später oft – so oft – wieder gesehen habe und der sich tief in mein Herz geprägt hat. Das Zimmer, in dem sie sich befanden, lag neben dem unsrigen und war nur vom Kaminfeuer erhellt. Ada saß am Klavier; Richard stand daneben und beugte sich zu ihr herab. An der Wand verschmolzen ihre Schatten miteinander, umgeben von seltsamen Gestalten, die in dem flackernden Schein des Feuers gespenstisch zu schwanken schienen. Ada spielte und sang so leise, daß der die fernen Hügel umseufzende Wind so hörbar war wie die Musik. Das Geheimnis der Zukunft und dunkle Vorbedeutung schienen sich symbolisch in dem ganzen Vorgang auszudrücken.

Aber nicht um dieses Bild zurückzurufen, so deutlich ich mich seiner auch erinnern kann, stelle ich mir die Szene wieder vor Augen. Vor allem blieb mir der Kontrast in Meinung und Absicht zwischen dem stummen Blick, den Mr. Jarndyce nach den jungen Leuten warf, und dem Schwall von Worten, der ihm vorhergegangen war, nicht ganz verborgen. Obgleich Mr. Jarndyces Auge nur einen Augenblick auf mir ruhte, fühlte ich doch, daß er mir in dieser Sekunde seine Hoffnung anvertraut habe, Ada und Richard möchte dereinst ein engeres Band verknüpfen, und ich sein Vertrauen verstanden hatte.

Mr. Skimpole konnte Klavier und Cello spielen, komponierte – er hatte einmal eine halbe Oper geschrieben, aber sie wieder liegen lassen – und trug seine Kompositionen mit vielem Geschmack vor.

Nach dem Tee hatten wir ein regelrechtes kleines Konzert, wobei Richard, der ganz bezaubert von Adas Gesang war und mir sagte, sie schiene alle Lieder, die jemals geschrieben worden, zu kennen, und Mr. Jarndyce und ich die Zuhörerschaft bildeten.

Nach einer kleinen Weile vermißte ich zuerst Mr. Skimpole und dann Richard, und während ich mich noch wunderte, wie Richard nur solange wegbleiben und soviel versäumen könnte, sah das Mädchen, das mir die Schlüssel übergeben hatte, zur Türe herein und sagte: »Möchten Sie wohl die Güte haben, Miß, eine Minute herauszukommen?«

Als ich mit ihr draußen in der Vorhalle stand, bat sie mich mit aufgehobenen Händen: »Ach, wenn Sie die Güte haben wollten, Miß – Mr. Carstone läßt Ihnen sagen, Sie möchten doch einmal herauf in Mr. Skimpoles Zimmer kommen, es ist ihm etwas zugestoßen, Miß.«

»Zugestoßen?«

»Ja, zugestoßen, Miß. Ganz plötzlich.«

Ich fürchtete, sein Zustand könnte gefährlicher Art sein, und bat sie, zu schweigen und niemand zu alarmieren, und sammelte mich unterwegs soweit, daß ich mir im Geiste zurechtlegte, welche Mittel angewendet werden könnten. Sie öffnete die Tür, und ich trat ins Zimmer, wo ich zu meinem Erstaunen Mr. Skimpole, anstatt ihn auf dem Bett oder auf dem Fußboden liegen zu finden, vor dem Kamin stehen und Richard anlächeln sah, während dieser sehr verlegen einen Mann in einem weißen Überrock ansah, der auf dem Sofa saß und sein glattes dünnes Haar mit dem Taschentuch noch glätter und dünner strich.

»Miß Summerson«, sagte Richard hastig, »ich bin froh, daß Sie gekommen sind. Sie können uns vielleicht einen Rat geben. Unser Freund – erschrecken Sie nicht – soll wegen einer Schuld verhaftet werden.«

»Wahrhaftig, liebe Miß Summerson«, bestätigte Mr. Skimpole mit seiner liebenswürdigen Offenherzigkeit. »Ich war noch nie in einer Lage, in der mir die Verständigkeit, der Ordnungssinn und der richtige Takt, den jeder an Ihnen bemerken muß, der nur eine Viertelstunde das Glück gehabt hat, mit Ihnen zusammen gewesen zu sein, mehr von Nöten gewesen wären.«

– Der Mann auf dem Sofa, der den Schnupfen zu haben schien, brach in ein so lautes Schnauben aus, daß ich zusammenfuhr. –

»Ist die Summe groß, Sir?« fragte ich.

Mr. Skimpole schüttelte freundlich den Kopf. »Liebe Miß Summerson, ich weiß es nicht. Ich glaube, es ist die Rede von einigen Pfund, ein paar Schillingen und Pence.«

– »24 £ 16 sh. und 7½ d«, bemerkte der Fremde. –

»Und es klingt – es klingt wie eine kleine Summe«, sagte Mr. Skimpole.

– Der Fremde schwieg und ließ wieder ein Schnauben hören. So gewaltig, daß es ihn ordentlich in die Höhe zu heben schien. –

»Mr. Skimpole«, erklärte mir Richard, »möchte aus Zartgefühl sich nicht gern an unsern Vetter Jarndyce wenden, weil er vor kurzem… sagten Sie nicht, vor kurzem, Sir…?«

»Jawohl«, gab Mr. Skimpole lächelnd zur Antwort. »Ich habe allerdings vergessen, wieviel es war und wann. Jarndyce würde mir gerne wieder aushelfen, aber ich bin so sehr Genußmensch, daß ich eine Abwechslung in der Unterstützung vorziehen würde und lieber« – er sah Richard und mich an – »Hochherzigkeit auf einem neuen Boden zur Blüte entwickeln möchte.«

»Was ist da wohl zu tun, Miß Summerson?« fragte mich Richard halblaut.

Ehe ich antwortete, wagte ich die Frage, was wohl geschehen würde, wenn das Geld nicht aufgebracht werden könnte.

»Gefängnis«, sagte der Fremde und steckte kaltblütig sein Taschentuch in den Hut, der vor ihm auf dem Fußboden lag. »Oder Coavinses!«

»Darf ich fragen, Sir, was das ist?«

»Coavinses? n Haus.«

Richard und ich sahen uns wieder ratlos an. Es war so merkwürdig, daß die Verhaftung uns in Aufregung versetzte und Mr. Skimpole nicht im geringsten. Er beobachtete uns mit großer Teilnahme, schien aber in all dem, so widerspruchsvoll es klingen mag, keine Spur von Selbstsucht zu sehen. Er hatte einfach die Verlegenheit auf uns abgewälzt.

»Ich habe mir gedacht«, sagte er, wie um uns gutmütig aus der Klemme zu helfen, »da Mr. Richard und seine schöne Kusine Parteien in einem Kanzleigerichtsprozeß um ein, wie die Sage geht, sehr großes Vermögen sind, könnten sie etwas unterzeichnen oder unterschreiben oder eine Verpflichtung oder sonst dergleichen eingehen. Ich weiß nicht, wie man das Ding geschäftlich nennt, aber ich sollte meinen, irgend ein Dokument müßte die Sache in Ordnung bringen.«

»Keine Spur!« mischte sich der Fremde ein.

»Wirklich nicht? Das muß jemandem, der kein Urteil in solchen Dingen hat, recht seltsam erscheinen.«

»Seltsam oder nicht«, sagte der Fremde barsch. »Ich versichere Ihnen, keine Spur.«

»Nur ruhig, lieber Freund«, besänftigte Mr. Skimpole und skizzierte den Kopf des Mannes auf das Umschlagblatt eines Buchs. »Verderben Sie sich durch Ihr Geschäft nicht die Laune. Wir können Ihre Person ganz gut von Ihrem Amte trennen und brauchen den Mann nicht mit der Sache zu verwechseln. Wir sind nicht so voreingenommen, Sie im Privatleben für etwas andres zu halten als für einen sehr achtbaren Menschen mit sehr viel unbewußter Poesie in sich.«

– Der Fremde antwortete nur mit einem abermaligen heftigen Schnauben; ob in Anerkennung des poetischen Tributs oder in verächtlicher Zurückweisung desselben, sprach er nicht aus. –

»Meine liebe Miß Summerson und mein lieber Mr. Richard«, wandte sich Mr. Skimpole heiter, unbefangen und vertrauensvoll an uns und betrachtete dabei, den Kopf schief gelegt, seine Zeichnung. »Sie sehen mich ganz unfähig, mir zu helfen, und mich ganz in Ihre Hände gegeben. Ich verlange nichts als frei zu sein. Die Schmetterlinge sind frei. Die Menschheit wird sicherlich Harold Skimpole das nicht verweigern, was sie den Schmetterlingen zugesteht.«

»Liebe Miß Summerson«, flüsterte mir Richard zu. »Ich habe zehn Pfund, die mir Mr. Kenge gegeben hat. Ich muß sehen, was sich damit ausrichten läßt.«

Ich selbst besaß fünfzehn Pfund und ein paar Schillinge, die ich mir von meinem Vierteljahrsgehalt im Lauf der Zeit zusammengespart hatte. Für den Fall, daß ich, ohne Verwandte und Vermögen, einmal in die Welt geschickt werden könnte, war ich immer bemüht gewesen, mir einen Notpfennig zurückzulegen, um nicht ganz von Geld entblößt dazustehn. Ich sagte Richard, daß ich eine kleine ersparte Summe besäße und ihrer gegenwärtig nicht bedürfe, und bat ihn, das Mr. Skimpole zartfühlend beizubringen, während ich es holte, damit wir das Vergnügen haben könnten, seine Schuld zu tilgen.

Als ich zurückkam, küßte mir Mr. Skimpole die Hand und schien wirklich gerührt zu sein. Nicht seinetwegen – ich fühlte abermals diesen verwirrenden und merkwürdigen Widerspruch –, sondern lediglich unsertwegen, als ob ihm seine eignen Angelegenheiten vollkommen uninteressant wären und ihn ganz allein die Mitfreude an unserm Glück in Anspruch nähme. Richard bat mich, um die Sache »angenehmer zu gestalten«, mit Coavinses, wie Mr. Skimpole den Fremden scherzhaft nannte, abzurechnen. Ich zählte also das Geld hin und nahm die Quittung in Empfang. Auch das freute Mr. Skimpole außerordentlich.

Seine Komplimente waren von so zarter Art, daß ich weniger errötete, als es sonst der Fall gewesen wäre, und ich rechnete mit dem Fremden im weißen Überzieher ab, ohne einen Fehler zu machen. Dieser steckte das Geld in die Tasche und sagte kurz: »Wir sind fertig. Ich wünsche Ihnen einen guten Abend, Miß.«

»Lieber Freund«, wendete sich Mr. Skimpole, an den Kamin gelehnt, an Coavinses, und legte die fertige Skizze weg, »ich möchte Sie etwas fragen, wenn Sie erlauben.«

»Schießen Sie los.«

»Wußten Sie heute früh schon, daß Sie den Auftrag erhalten würden?«

»Wußte es schon gestern nachmittag.«

»Schadete es nicht Ihrem Appetit? Beunruhigte es Sie gar nicht?«

»Ka Spur«, sagte Coavinses. »Wenn man Sie heut noch nicht vermißt hat, wären Sie morgen auch noch dagwesen. Auf einen Tag mehr oder weniger kommts not an.«

»Aber als Sie hierher unterwegs waren, meine ich«, fuhr Mr. Skimpole fort, »war ein schöner Tag. Die Sonne schien, der Wind wehte, Licht und Schatten wechselten auf den Feldern, die Vögel sangen…«

»Niemand hat das geleugnet, soviel ich weiß«, entgegnete Coavinses.

»Nein. Aber was dachten Sie sich auf dem Wege?«

»Was meinen S?« brummte Coavinses, als ob er die Frage sehr übel nähme. »Denken? Ich hab eh schon gnug zu tun und bekomm wenig genug dafür, ohne erst zu denken… Denken!« setzte er mit tiefster Verachtung hinzu.

»Sie dachten also nicht: Harold Skimpole sieht gern die Sonne scheinen, hört gern den Wind wehen, freut sich über den Wechsel von Licht und Schatten auf den Auen, hört gern den Vögeln zu, diesen Chorsängern in dem großen Dome der Natur, – und ich gehe jetzt, Harold Skimpole seinen Anteil an diesen Dingen, das einzige, was er besitzt, zu rauben? Sie dachten nichts dergleichen?«

»Ich – gewiß – nicht!« Coavinses wies diesen Gedanken mit solch störrischer Entschiedenheit zurück, daß er sich nur dadurch verständlich machen zu können glaubte, daß er hinter jedes Wort eine lange Pause setzte und das letzte mit einem Schütteln des Kopfs hervorstieß, das ihm leicht die Halswirbel hätte ausrenken können.

»Sehr sonderbar und merkwürdig ist der Denkprozeß bei euch Geschäftsleuten«, murmelte Mr. Skimpole gedankenvoll. »Ich danke Ihnen, mein Freund. Gute Nacht!«

Da unsere Abwesenheit schon lange genug gedauert hatte, um Mr. Jarndyce aufzufallen, ging ich sofort wieder hinunter. Ich fand Ada am Kamin sitzen, mit einer Handarbeit beschäftigt und in eifrigster Unterhaltung mit ihrem Vetter John. Mr. Skimpole erschien ebenfalls bald und kurz nach ihm Richard. Ich war während des übrigen Abends so ziemlich mit einer Lektion Pochbrett in Anspruch genommen, die mir Mr. Jarndyce erteilte. Er spielte es sehr gern, und ich wünschte natürlich, es so schnell wie möglich zu erlernen, um gelegentlich, wenn er keinen bessern Gegner hätte, mit ihm spielen zu können.

Erst spät in der Nacht trennten wir uns; denn als Ada um elf Uhr aufstehn wollte, setzte sich Mr. Skimpole noch ans Klavier und spielte ein lustiges Lied, mit dem Text:

Das beste Bestreben,
Um länger zu leben,
Ist der Nacht ein paar Stunden
zu rauben,
Juchhe!

Und so war es zwölf geworden, als er seine Kerze nahm und strahlenden Gesichts das Zimmer verließ.

Ich glaube wirklich, er hätte uns bis zum Morgen festhalten können.

Ada und Richard standen noch ein paar Augenblicke am Fenster und erörterten lustig die Frage, ob Mrs. Jellyby um diese Zeit wohl ihr Tagewerk schon beendet habe, als Mr. Jarndyce, der bereits das Zimmer verlassen hatte, wieder zurückkehrte.

»O mein Gott, was ist da wieder geschehen!« sagte er und rieb sich in gutgelaunter Verdrießlichkeit den Kopf und ging auf und ab. »Was muß ich hören! Rick, mein Junge, und liebe Esther, was habt ihr mir da gemacht. Was habt ihr da angestellt! Wieviel kommt auf jeden? Der Wind hat sich schon wieder gedreht. Ich fühle es über und über.«

– Wir wußten beide nicht, was antworten. –

»Nur heraus mit der Sprache, Rick! Vor dem Schlafengehen muß das abgemacht werden. Wieviel habt ihr beide ausgelegt? Ihr habt das Geld zusammengeschossen, höre ich. Wie konntet ihr das tun? Mein Gott, ja, es ist wirklich Ostwind – muß Ostwind sein.«

»Ich weiß wirklich nicht, Sir«, sagte Richard, »ob ich es Ihnen verraten darf. Mr. Skimpole verließ sich auf uns und…«

»Gott steh uns bei, mein lieber Junge! Er verläßt sich auf jeden.« Mr. Jarndyce rieb sich den Kopf gewaltig und blieb stehen.«

»Wirklich, Sir?«

»Jawohl, auf jeden, und er wird nächste Woche wieder in derselben Klemme sein«, sagte Mr. Jarndyce und ging mit langen Schritten, eine ausgelöschte Kerze in der Hand, im Zimmer auf und ab. »Er ist immer in derselben Klemme. Er ist sozusagen in der Klemme auf die Welt gekommen. Ich glaube wahrhaftig, seine Geburtsanzeige hat gelautet:

Am vergangenen Dienstag in ihrer Wohnung zu Schuldenhausen genas Mrs. Skimpole unter größten Schwierigkeiten eines Sohnes.«

Richard lachte herzlich, setzte aber hinzu:

»Dennoch, Sir, möchte ich nicht gern einen Vertrauensbruch begehen, und wenn ich Ihnen nochmals zu bedenken gebe, daß ich meiner Ansicht nach doch eigentlich sein Geheimnis zu bewahren verpflichtet bin, so hoffe ich, Sie werden nicht weiter in mich dringen. Natürlich, wenn Sie es doch tun, weiß ich, daß ich Unrecht habe, und werde Ihnen die gewünschte Auskunft geben.«

»Na, na«, rief Mr. Jarndyce, blieb wieder stehen und bemühte sich in seiner Zerstreuung vergebens, den Leuchter in die Tasche zu stecken. »Ich… ja so, der Leuchter. Bitte, setzen Sie ihn weg, liebes Kind. Ich bin so zerstreut, der Wind ist schuld daran… Hat immer diese Wirkung… Ich will nicht in Sie dringen, Rick. Sie können Recht haben. Aber – Sie und Esther herzunehmen – und euch auszupressen wie ein paar weiche junge Michaelisorangen!… Wir bekommen gewiß in der Nacht Sturm.«

– Er steckte entschlossen die Hände in die Taschen, als wollte er sie so bald nicht mehr herausziehen. Gleich darauf fuhr er sich aber wieder durch die Haare. –

Ich wendete ein, daß Mr. Skimpole doch in solchen Dingen das reinste Kind sei.

»Wie, mein Liebling?« griff Mr. Jarndyce sofort das Wort auf.

»Da er ein vollkommenes Kind ist, Sir«, fing ich an, »und so ganz anders als andre Leute…«

»Sie haben Recht.« Mr. Jarndyces Gesicht strahlte. »So ein weiblicher Verstand trifft immer gleich das Richtige. Er ist ein Kind – das reinste Kind. Ich sagte es euch doch gleich.«

»Gewiß, gewiß«, bestätigten wir.

»Und er ist ein Kind, das ist doch klar, nicht?« fragte Mr. Jarndyce, und seine Miene hellte sich immer mehr und mehr auf.

»Ja, das ist er.«

»Wenn man sich’s genau überlegt, ist es wirklich kindisch von euch – besser gesagt, von mir –, ihn nur einen Augenblick lang als erwachsenen Menschen zu betrachten. Ihn könnt ihr nicht verantwortlich dafür machen. Sich Harold Skimpole in Verbindung mit Plänen, berechnender Handlungsweise oder Logik nur zu denken! Hahaha!«

Es war so köstlich, sein Antlitz immer vergnügter und vergnügter werden zu sehen und zu wissen, daß die Quelle seiner Freude sein gutes Herz war, dem es weh tat, jemand zu verdammen, Unrecht zu tun oder zu mißtrauen, daß ich in Adas Augen Tränen glänzen sah, während sie sich bemühte, in sein Lachen miteinzustimmen, und ich auch die meinen feucht werden fühlte.

»Was ich für ein Stockfisch bin, daß ich nicht gleich daran gedacht habe. Die ganze Geschichte zeigt von Anfang bis zu Ende das Kind. Nur einem Kinde konnte es einfallen, euch beide in die Sache hineinzuziehen. Und wären es tausend Pfund gewesen, er hätte es genau so gemacht.«

– Wir alle stimmten ihm nach dem, was wir diesen Abend gesehen und gehört hatten, vollkommen bei. –

»Natürlich«, sagte Mr. Jarndyce, »aber Rick, Esther und auch Sie, Ada – denn ich weiß nicht, ob selbst Ihre kleine Börse vor seiner Unerfahrenheit sicher ist –, ihr müßt mir alle versprechen, daß das nie mehr wieder geschieht. Keine Vorschüsse! Verstanden? Auch nicht einen Sixpence.«

Wir versprachen es alle getreulich; Richard mit einem verschmitzten Blick auf mich und auf seine Tasche klopfend, um damit anzudeuten, daß wir keine Gefahr mehr liefen, unser Wort zu brechen.

»Was Skimpole betrifft, so würde dem guten Jungen ein bewohnbares Puppenhaus mit einem soliden Tisch und ein paar Zinnsoldaten, die er anpumpen könnte, zum Spielen fürs ganze Leben genügen. Er schläft jetzt gewiß schon den Schlaf eines Kindes; es wird Zeit, daß ich meinen soviel tüchtigeren Kopf auf meine mehr weltlichen Kissen lege. Gute Nacht, liebe Kinder! Gott behüte euch!«

Er guckte wieder mit freundlichem Gesicht herein, als wir gerade unsre Lichter angezündet hatten, und sagte:

»Ich habe nach der Wetterfahne gesehen. Es war doch ein Irrtum mit dem Wind. Er kommt aus Süden.« Und er verließ uns, ein Liedchen summend.

Ada und ich plauderten noch ein paar Worte miteinander, als wir hinauf gingen, und waren uns darüber einig, daß diese Grille mit dem Winde nur ein Vorwand von Mr. Jarndyce sei, um Betroffenheit, Verstimmung oder Rührung zu verbergen. Es erschien uns das als sehr charakteristisch für seine exzentrische Herzensgüte und für den Unterschied zwischen ihm und den gewissen launischen Menschen, die im Gegenteil immer Wetter und Wind als Vorwand benützen, um ihre mürrische und verdrießliche Laune nicht unterdrücken zu müssen.

Zu meiner Dankbarkeit war an diesem einen Abend schon soviel Liebe zu Mr. Jarndyce gekommen, daß ich Hoffnung schöpfte, ihn schon vermittels dieser beiden Gefühle verstehen zu lernen. Scheinbare Inkonsequenz bei Mr. Skimpole oder bei Mrs. Jellyby auf ihre Ursachen zurückführen zu können, durfte ich bei meiner geringen Erfahrung und praktischen Kenntnis nicht erwarten. Ich versuchte es auch gar nicht, und als ich allein war, mußte ich viel an Ada und Richard denken und an das Vertrauen, das mir, wie mir schien, Mr. Jarndyce hinsichtlich ihrer geschenkt hatte.

Meine Phantasie, vielleicht durch das leise Stöhnen des Windes draußen ein wenig aufgeregt, wollte auch nicht ganz untätig bleiben, obgleich ich mir die größte Mühe gab. Sie schweifte zurück zu dem Hause meiner Patin und rief schattenhafte Erinnerungen an Grübeleien wieder wach, die damals manchmal in mir gedämmert hatten:… Was wohl Mr. Jarndyce von meiner frühesten Geschichte wisse und ob er wohl am Ende gar mein Vater sei… Jetzt war dieser nichtige Traum natürlich längst verschwunden.

Das ist alles längst vorüber, sagte ich mir, schüttelte meine Träume ab und stand von meinem Sitz am Kamin auf. Es handelt sich jetzt nicht darum, über die Vergangenheit nachzugrübeln, sondern mit fröhlichem Sinn und dankbarem Herzen zu handeln. Esther, Esther, Esther, denk an deine Pflicht, meine Liebe!

Und ich schüttelte mein Körbchen mit den Wirtschaftsschlüsseln, daß sie wie Glöckchen klangen und mich hoffnungsvoll zu Bett läuteten.

59. Kapitel


59. Kapitel

Esthers Erzählung

Es war drei Uhr morgens, als die ersten Häuser vor London aus dem Nebel tauchten und uns mit ihren Straßen einzuschließen begannen. Wir hatten auf viel schlechteren Wegen, als wir bei Tage angetroffen, reisen müssen, denn unablässig hatten Schneefall und das Tauwetter fortgedauert. Trotz alledem war die Energie meines Begleiters keinen Augenblick erlahmt. Es kam mir vor, als hätte sie mehr dazu beigetragen als die Anstrengung der Pferde, uns vorwärts zu bringen. Oft waren sie erschöpft auf halbem Weg bergauf stehen geblieben; sie wurden durch reißende Regenbäche gepeitscht, waren gestürzt und hatten sich in das Geschirr verwickelt, aber jedes Mal stand er mit seiner kleinen Laterne bereit, und kaum war dem Unglück abgeholfen, ertönte sein ruhiges, stereotypes »Los, Kutscher!«

Die Ruhe und das Selbstvertrauen, mit der er unsre Rückreise leitete, konnte ich mir nicht erklären. Er schwankte keinen Augenblick und ließ nie halt machen, um sich etwa zu erkundigen, bis wir bloß noch wenige Meilen von London entfernt waren; und auch da genügten ihm ein paar kurze Worte hie und da, und so erreichten wir bereits zwischen drei und vier Uhr früh Islington.

Ich will jetzt nicht von der Spannung und der Angst sprechen, die mich die ganze Zeit über in Atem hielt, wenn ich bedachte, daß wir uns mit jeder Minute weiter von meiner Mutter entfernten. Ich glaube, nur die Hoffnung hielt mich aufrecht, daß er recht haben müsse und wisse, was er tue, wenn er der andern folge; aber Zweifel quälten mich die ganze Fahrt über, und allerhand wirre Gedanken erfüllten mein Hirn. Was werden sollte, wenn wir sie fänden, und was es sein müßte, das uns für diesen Zeitverlust entschädigen könnte, waren ebenfalls Fragen, die sich mir immer und immer wieder aufdrängten, und mein Geist war durch das ewige Verweilen bei solchen quälenden Gedanken fast am Ende seiner Kräfte angelangt, als endlich der Wagen hielt.

Wir hatten in einer Hauptstraße halt gemacht, wo sich ein Fiakerstand befand. Mein Gefährte bezahlte unsre beiden Postillone, die so vollständig mit Kot bedeckt waren, als wären sie wie der Wagen selbst durch dick und dünn geschleppt worden, und nachdem er ihnen rasch erklärt, wohin sie das Fuhrwerk bringen sollten, hob er mich heraus und in einen Fiaker, den er mit Kennerblick unter den übrigen ausgesucht hatte.

»Aber, meine Liebe«, sagte er, während er mir half, »wie durchnäßt Sie sind.«

Ich hatte es gar nicht gefühlt. Der tauende Schnee war in den Wagen eingedrungen und ich überdies ein paar Mal ausgestiegen, wenn ein gestürztes Pferd losgeschirrt und wieder aufgerichtet werden mußte, und das hatte meine Kleider ganz und gar durchnäßt. Ich versicherte ihm, es habe weiter nichts auf sich; aber der Kutscher, der ihn kannte, ließ es sich nicht nehmen, die Straße hinab nach seinem Stall zu laufen, von wo er rasch mit einem Arm voll reinen, trocknen Strohs zurückkehrte.

Sie schütteten es im Wagen aus, hüllten meine Füße hinein, und bald wurde mir wieder warm und behaglich.

»Jetzt, meine Liebe«, sagt Mr. Bucket und steckte, bevor er auf den Bock stieg, den Kopf zum Fenster herein, »jetzt werden wir dieser Person Schritt für Schritt folgen. Es kostet vielleicht ein wenig Zeit, aber ängstigen Sie sich deshalb nicht. Sie sind jetzt doch ziemlich überzeugt, daß ich meine Gründe haben muß. Nicht wahr?«

Ich ahnte nicht, was er meinte – ahnte nicht, in wie kurzer Zeit ich ihn besser verstehen würde –, aber ich versicherte ihm, daß ich volles Vertrauen in ihn setze.

»Das können Sie auch, mein Kind. Und ich will Ihnen etwas sagen! Wenn Sie mir nur halb soviel Vertrauen schenken wie ich Ihnen, nach dem, was ich bisher von Ihnen gesehen habe, bin ich ganz zufrieden. Gott! Sie machen einem keine Mühe. Ich habe noch mein Lebtag keine junge Frauensperson in irgendeiner Lebensstellung gesehen – wo ich doch so manche hochgestellte kenne –, die sich so benommen hätte wie Sie, seit ich Sie in der Nacht aus dem Bett geholt habe. Sie sind ein Muster, an dem sich viele cm Beispiel nehmen können«, versicherte er mir mit Wärme. »Wahrhaftig, ja, das sind Sie.«

Ich sagte ihm, ich freute mich von Herzen, ihm nicht hinderlich gewesen zu sein, und ich hoffte, es auch weiterhin nicht zu sein.

»Mein liebes Kind«, entgegnete er, »wenn eine junge Dame ebenso sanft ist wie tapfer und so tapfer wie sanft, so braucht es nicht mehr. Mehr kann man auch von einer Königin nicht verlangen.«

Mit diesen ermutigenden Worten – die mir in dieser sorgenvollen Zeit wirklich ein großer Trost waren – stieg er auf den Bock, und wir fuhren abermals davon. Wohin, wußte ich weder damals, noch weiß ich es heute, aber es schien, als ob wir die engsten und schlechtesten Straßen Londons aufsuchten. Jedes Mal, wenn ich ihn dem Kutscher neue Befehle geben sah, war ich darauf gefaßt, daß wir uns in ein neues Labyrinth verlieren würden; und immer traf meine Voraussetzung ein.

Von Zeit zu Zeit kamen wir auf eine breite Straße heraus oder erreichten ein Gebäude, das größer als die übrigen und hell erleuchtet war. Dann machten wir bei einem Polizeibureau, ähnlich dem ersten, das wir beim Anfang unsrer Reise besucht hatten, halt, und ich sah ihn sich mit andern Beamten beraten. Manchmal stieg er bei einem Torweg oder an einer Straßenecke ab und ließ geheimnisvoll das Licht seiner kleinen Blendlaterne aufblitzen. Das lockte ähnliche Lichter aus verschiedenen dunkeln Winkeln wie Leuchtkäfer hervor, und jedes Mal fand eine neuerliche Beratung statt.

Allmählich schienen sich unsre Nachforschungen auf engere und leichter zu übersehende Grenzen zu beschränken. Einzelne auf Posten stehende Polizeimänner können jetzt Mr. Bucket sagen, was er zu wissen wünschte, und ihm zeigen, wohin er gehen sollte. Endlich machten wir halt, und er hatte mit einem dieser Leute eine ziemlich lange Unterredung, die ihn zufriedenstellen mußte, denn er nickte von Zeit zu Zeit mit dem Kopfe. Als sie fertig waren, kam er mit höchst geschäftsmäßiger und aufmerksamer Miene zu mir.

»Jetzt, Miß Summerson, dürfen Sie nicht erschrecken, was auch geschehen möge. Ich weiß, ich brauche Ihnen keine weiteren Vorsichtsmaßregeln einzuschärfen, als Ihnen zu sagen: Seien Sie auf der Hut, wir haben jetzt die sichere Spur dieser Person. Sie können mir von Nutzen sein, früher, als ich vielleicht selbst glaube. Ich möchte jetzt gern eine Gefälligkeit von Ihnen. Mein Kind, sagen Sie, würden Sie ein Stück zu Fuß gehen?«

Natürlich stieg ich sofort aus und nahm seinen Arm.

»Man glitscht hier leicht aus«, warnte Mr. Bucket, »lassen Sie sich nur schön Zeit.«

Ich sah mich verwirrt und aufgeregt um, als wir über eine Straße gingen, und glaubte mich dunkel an den Platz zu erinnern. »Sind wir in Holborn?« fragte ich.

»Ja. Kennen Sie diese Ecke?«

»Sie sieht fast aus wie Chancery-Lane.«

»Heißt auch so«, sagte Mr. Bucket.

Wir bogen in die Straße ein, und während wir durch den halbaufgetauten Schnee wateten, hörte ich die Turmuhren halb sechs Uhr schlagen. Wir gingen schweigend nebeneinander her und so rasch, wie es bei der Unsicherheit, mit der man Fuß fassen konnte, möglich war, als uns auf dem engen Trottoir jemand, in einen Mantel gehüllt, entgegenkam, still stand und Platz machte, um mich vorbei zu lassen. In demselben Augenblick hörte ich einen Ausruf des Erstaunens und meinen Namen nennen. Ich erkannte Mr. Woodcourts Stimme.

Die Überraschung kam so unerwartet und machte, ich weiß nicht, ob ich es einen peinlichen oder freudigen Eindruck nennen soll, auf mich, nach der fieberhaften Unruhe der Reise und mitten in der Nacht, daß mir unwillkürlich die Tränen in die Augen traten. Es war, als ob ich nach langer Zeit seine Stimme in einem fernen fremden Lande hörte.

»Meine liebe Miß Summerson, Sie in dieser Stunde und bei solchem Wetter auf der Straße?«

Er hatte von meinem Vormund gehört, daß ich in einer höchst ungewöhnlichen und dringlichen Angelegenheit von Hause abgeholt worden war, und sagte mir dies mit ein paar Worten, um mir weitere Erklärungen zu ersparen. Ich erklärte ihm, wir wären eben aus dem Wagen gestiegen und gingen jetzt… Ich mußte meinen Begleiter fragend ansehen.

»Wir wollen gerade in die nächste Straße einbiegen, Mr. Woodcourt. – Inspektor Bucket ist mein Name.«

Ohne meine Einwendungen zu beachten, zog Mr. Woodcourt rasch seinen Mantel aus und hüllte mich ein. »Guter Einfall, das«, meinte Mr. Bucket und half ihm. »Ein sehr guter Einfall.«

»Darf ich Sie begleiten?« fragte Mr. Woodcourt mich oder meinen Begleiter.

»Aber Gott!« rief Mr. Bucket aus, der die Frage auf sich bezog. »Natürlich.«

Das ganze Gespräch nahm nur einen Augenblick in Anspruch, dann nahmen die beiden Herren mich, in den Mantel gehüllt, in die Mitte.

»Ich komme soeben von Richard. Ich habe seit gestern abend zehn Uhr bei ihm gesessen«, erzählte Mr. Woodcourt.

»Um Gottes willen, ist er krank?«

»Nein, nein, seien Sie außer Sorge – krank nicht, nur nicht ganz wohl. Er fühlte sich so niedergedrückt und schwach – Sie wissen, er ist manchmal so angegriffen und matt –, daß Ada mich natürlich holen ließ. Ich fand ein paar Zeilen von ihr zu Hause vor. Richard erholte sich nach so kurzer Zeit, und Ada war so glücklich darüber und so sehr davon überzeugt, daß das meine Bemühungen zustande gebracht hätten, obgleich ich, Gott weiß, wenig genug dazu beitragen konnte, daß ich bei ihm blieb, als er fest eingeschlafen war, und ein paar Stunden bei ihm wachte.«

Wir lenkten unsre Schritte jetzt wieder in eine schmalere Gasse, und Mr. Bucket, der Mr. Woodcourt unterdessen scharf gemustert hatte, sagte: »Unser Weg führt uns jetzt zu einem Papierhändler, einem gewissen Mr. Snagsby. – Was, Sie kennen ihn?« Mit scharfem Blick erfaßte er auf der Stelle, daß Mr. Woodcourt der Name nicht fremd war.

»Ja, ich kenne ihn ein wenig und habe ihn hier besucht.«

»So? Nun, dann sind Sie vielleicht so gut, Sir, und geben hier inzwischen einen Augenblick auf Miß Summerson acht, während ich drin ein paar Worte mit Snagsby spreche?«

Ein Polizeimann, den Mr. Bucket vor einer Weile zu Rate gezogen hatte, stand stumm hinter uns. Ich wurde nicht eher darauf aufmerksam, als bis er sich, auf meine Bemerkung, daß ich jemanden weinen höre, ins Gespräch mischte:

»Ängstigen Sie sich nicht, Miß«, sagte er, »es ist nur Snagsbys Dienstmädchen.«

»Sie müssen wissen«, erklärte Mr. Bucket, »das Mädchen leidet an Krämpfen, und diese Nacht hat sie’s wieder mal sehr arg gepackt. Eine höchst fatale Geschichte gerade heute, ich muß nämlich etwas aus ihr herauskriegen, und das ist nicht leicht, wenn man sie nicht irgendwie zu sich bringt.«

»Jedenfalls wären die drinnen nicht mehr auf, wenn sie nicht das Gefrett mit dem Mädchen hätten, Mr. Bucket«, meinte der Polizeimann. »Es hat sie die ganze Nacht wieder mal toll beim Kragen, Sir.«

»Sie haben recht. – Halt, meine Laterne ist ausgegangen. Borgen Sie mir einen Augenblick ihre.«

Alles das wurde im Flüsterton, ein oder zwei Türen entfernt von dem Hause, gesprochen, in dem ich ein schwaches Weinen oder Jammern hören konnte. In dem kleinen runden Schein der Laterne trat Mr. Bucket an die Tür und mußte zwei Mal klopfen, ehe ihm geöffnet wurde; dann trat er ein und ließ uns auf der Straße warten.

»Miß Summerson«, fragte Mr. Woodcourt, »darf ich, ohne mich in Ihr Vertrauen drängen zu wollen, bei Ihnen bleiben?«

»Wirklich sehr liebenswürdig von Ihnen«, gab ich zur Antwort. »Wenn ich Ihnen etwas geheim halten muß, so betrifft es nicht mich selbst, und meine Hände sind gebunden.«

»Ich verstehe vollkommen. Verlassen Sie sich auf mich; ich werde nur so lange in Ihrer Nähe bleiben, als es die Diskretion erlaubt.«

»Ich weiß, wie unbedingt ich mich auf Sie verlassen kann«, sagte ich. »Ich weiß und fühle es tief, wie treu Sie Ihr Versprechen gehalten haben.«

Nach einer kleinen Weile blitzte die kleine runde Blendlaterne wieder auf, und Mr. Bucket trat uns mit ernstem Gesicht entgegen.

»Bitte, kommen Sie herein, Miß Summerson«, sagte er, »und setzen Sie sich ein wenig ans Feuer. – Mr. Woodcourt, wie ich erfahren habe, sind Sie Arzt. Möchten Sie sich nicht das Mädchen anschauen? Vielleicht läßt sich doch etwas tun, um sie zu sich zu bringen! Sie muß irgendwo einen Brief haben, den ich unbedingt brauche. In ihrem Koffer ist er nicht, und ich glaube, sie hat ihn bei sich; aber die Krämpfe haben sie so zusammengekrümmt, daß man sie nicht durchsuchen kann, ohne sie zu verletzen.«

Wir gingen alle drei zusammen in das Haus. Obgleich der Raum ungeheizt und kalt war, roch es doch dumpf und übernächtig darin. In dem Gange hinter der Tür stand ein kleiner, scheuer, sorgenvoll aussehender Mann in einem grauen Rock. Er schien von Natur aus ungemein höflich zu sein und sprach mit sehr sanfter Stimme.

»Die Treppe hinab, Mr. Bucket, wenn ich bitten darf«, sagte er. »Die Dame muß entschuldigen, daß die Küche vorn hinaus geht; wir benutzen sie als Wochentagswohnzimmer. Nach hinten hinaus liegt Gusters Schlafzimmer, und dort reißt es das arme Ding wieder einmal ganz schrecklich!«

Wir gingen die Treppe hinab, begleitet von Mr. Snagsby, so hieß der kleine Mann, wie ich erfuhr; und in der Küche vorn heraus fanden wir Mrs. Snagsby mit sehr roten Augen und sehr strenger Miene am Feuer sitzen.

»Mein kleines Frauchen«, sagte Mr. Snagsby, als er hinter uns eintrat, »um nicht durch die Blume zu sprechen, meine Liebe, lasse nur einen Augenblick in dieser nicht endenwollenden Nacht die Feindseligkeiten beiseite; ich bringe dir hier Inspektor Bucket, Mr. Woodcourt und eine Dame.«

Mrs. Snagsby machte begreiflicherweise ein sehr erstauntes Gesicht und sah speziell mich ganz besonders scharf an.

»Mein kleines Frauchen«, fuhr Mr. Snagsby fort und setzte sich schüchtern in die fernste Ecke neben der Türe, als ob er sich damit eine große Freiheit herausnähme, »es ist nicht unwahrscheinlich, daß du mich fragst, warum Inspektor Bucket, Mr. Woodcourt und eine Dame uns in gegenwärtiger Stunde in Cook’s Court, Cursitor-Street, besuchen kommen. Ich kann nur sagen, ich weiß es nicht. Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Und wenn man es mir auseinandersetzte, glaube ich, würde ich es nicht begreifen, darum will ich es lieber gar nicht wissen.«

Er schien so unglücklich zu sein, wie er so dasaß, den Kopf auf die Hand gestützt, und meine Anwesenheit kam so sichtlich ungelegen, daß ich mich gerade entschuldigen wollte, als mir Mr. Bucket zuvorkam.

»Mr. Snagsby«, sagte er, »das Beste, was Sie tun können, ist, Sie begleiten Mr. Woodcourt und schauen nach Ihrer Guster –«

»Nach meiner Guster, Mr. Bucket!« verbesserte Mrs. Snagsby streng. »Nur so weiter, mein Herr, nur so weiter.«

»– und halten das Licht«, fuhr Mr. Bucket fort, ohne im geringsten auf ihre Worte zu achten, »oder das Mädchen, wenn es nötig sein sollte, oder machen sich sonstwie nützlich. Ich weiß doch, Sie sind ein höflicher, sanfter Mann, der auch für andre ein Herz im Leibe hat. Und Sie, Mr. Woodcourt, sind vielleicht so gut, sich das Mädchen anzusehen; und wenn Sie ihr den Brief entwinden können, bitte, bringen Sie ihn mir sobald wie irgend möglich.«

Als sie hinausgegangen, nötigte mich Mr. Bucket, in einer Ecke am Feuer Platz zu nehmen, und zog mir meine nassen Schuhe aus, die er sodann auf dem Kamingitter zum Trocknen aufhängte.

»Machen Sie sich weiter nichts daraus, Miß, daß Ihnen Mrs. Snagsby so gar keinen gastfreundlichen Blick schenkt. Sie ist nämlich in einem ganz merkwürdigen Wahn befangen und wird das viel früher entdecken, als es einer Dame von so bemerkenswerter Denkkraft angenehm sein kann, und ich selbst werde mir erlauben, ihr sogleich die nötigen Erklärungen zu geben.« Bis auf die Haut durchnäßt, seinen triefenden Hut und Schal in der Hand, stand er vor dem Kamin und wendete sich zu Mrs. Snagsby. »Das erste, was ich Ihnen als einer verheirateten, was man so sagt, reizvollen Frau – Sie kennen doch das Lied: ‚Denn so wie du, so lieblich und so schön‘ usw. –, aber natürlich kennen Sie’s, Sie werden mir doch nicht einreden, daß Sie nicht in der besten Gesellschaft verkehrten –, als einer verheirateten Frau, die Reize besitzt, die ihr ein gewisses Selbstvertrauen einflößen sollten, zu sagen habe, ist, daß Sie selbst an allem schuld sind.«

Mrs. Snagsby machte ein erschrockenes Gesicht, schien ein wenig versöhnlicher gestimmt und fragte stotternd, was Mr. Bucket damit sagen wolle?

»Was Mr. Bucket damit sagen will?« wiederholte er, und ich las in seinem Gesicht, wie gespannt er die ganze Zeit, während er sprach, lauschte, ob der Brief noch nicht gefunden sei, was mich sehr aufregte, denn ich sah daraus, wie wichtig die Sache sein mußte. »Ich will es Ihnen verraten, was er sagen will, Maam. Sehen Sie sich einmal Othello an. Das ist das richtige Trauerspiel für Sie.«

Mrs. Snagsby fragte gewissenhaft: »Wieso?«

»Wieso? Sie werden es selbst noch soweit bringen, wenn Sie sich nicht in acht nehmen. Glauben Sie mir, ich weiß genau, wovon selbst in diesem Augenblick Ihr Geist in Bezug auf die junge Dame hier nicht ganz frei ist. Sie meinen, ich soll Ihnen sagen, wer diese junge Dame ist? Nun gut, hören Sie. Sie sind, was ich eine gescheite Frau nenne –, nur ist Ihr Geist zu groß für Ihren Körper. Er reibt Sie auf; Sie kennen mich doch und erinnern sich vielleicht, wo Sie sich zuletzt gesehen haben und wovon in diesem Kreise damals die Rede war. Nicht wahr? Ja! Sehr gut. Also die junge Dame hier ist jene junge Dame.«

Mrs. Snagsby schien ihn besser zu verstehen, als ich es imstande war.

»Und der ‚Schmier-Ober‘ – der, den Sie Jo nennen – war mit in diese Geschichte verwickelt, und in keine andre, und der Kopist, den Sie gekannt haben, desgleichen, und Ihr Mann, der nicht mehr von der Sache versteht als Ihr seliger Urgroßvater, ist ebenfalls durch den verstorbnen Mr. Tulkinghorn, seinen ehemals besten Kunden, in diese selbige Geschichte, und keine andre, verwickelt worden, und die ganze übrige Gesellschaft schon gar. Aber trotzdem macht eine verheiratete Frau, noch dazu mit Ihren Reizen ausgestattet, die Augen zu, und was für schöne Augen, sieht nicht rechts, nicht links und rennt mit ihrem zarten Köpfchen gegen die Wand. Wahrhaftig, daß Sie sich nicht schämen!… (Ich dächte, Mr. Woodcourt müßte ihn jetzt haben!)«

Mrs. Snagsby schüttelte den Kopf und hielt das Taschentuch vor die Augen.

»Ist das alles?« fuhr Mr. Bucket, seine Aufregung niederkämpfend, fort. »Nein. Sehen wir mal, was weiter geschieht. Eine andre Person, die in diese Geschichte, und keine andre, mitverwickelt ist, kommt im elendesten Zustand heute nacht hierher, und Sie sehen sie mit Ihrem Dienstmädchen sprechen, und sie gibt Ihrem Dienstmädchen ein Papier, für das ich auf der Stelle hundert Pfund bar bezahlen würde. Und was tun Sie? Sie verstecken sich und belauern die beiden, stürzen auf das Dienstmädchen los – wo Sie doch wissen, was für Anfällen das arme Ding ausgesetzt ist und wie wenig dazu gehört, sie zu verursachen –, und stürzen so unerwartet und mit solcher Heftigkeit auf sie los, daß sie, ehe man sich’s versieht, hinschlägt und jetzt noch bewußtlos ist; und dabei hängt von ihren Worten ein Menschenleben ab!«

Es lag plötzlich ein so furchtbarer Ernst in seinen Worten, daß ich unwillkürlich die Hände zusammenkrampfte und fühlte, wie sich die Stube mit mir drehte. Aber es dauerte nur einen Augenblick. Mr. Woodcourt kam herein, drückte ihm ein Papier in die Hand und ging wieder hinaus.

»Das einzige, womit sie wieder etwas gut machen können, Mrs. Snagsby«, sagte Mr. Bucket mit einem raschen Blick auf das Papier, »ist, mich einen Augenblick mit der jungen Dame hier allein sprechen zu lassen. Und wenn Sie dem Herrn in der Küche irgend helfen oder sich auf etwas besinnen wollten, wodurch Sie das Mädchen wieder zu sich bringen können, so tun Sie es, bitte, so rasch wie möglich!«

In einem Augenblick war sie draußen, und er schloß die Tür. »Und jetzt, mein Kind… Sind Sie gefaßt?«

»Vollkommen.«

»Wessen Hand ist dies?«

Es war die meiner Mutter. Eine Bleistiftschrift auf einem zerknitterten Fetzen Papier, von der Nässe halb verlöscht. Achtlos zusammengefaltet, in Briefform, wie ein Kuvert zusammengelegt und an mich adressiert, bei meinem Vormund abzugeben.

»Sie kennen die Hand«, sagte er. »Und wenn Sie gefaßt genug sind, mir den Brief vorzulesen, so tun Sie es. Aber geben Sie auf jedes Wort acht.«

Der Brief war stückweise und offenbar zu verschiednen Zeiten geschrieben. Ich las folgendes:

»Aus zweierlei Gründen suchte ich die Zieglerhütte auf. Hauptsächlich, um womöglich noch ein Mal mein geliebtes Kind zu sehen – aber bloß zu sehen –, nicht mit ihr zu sprechen oder sie wissen zu lassen, daß ich in der Nähe sei. Und dann, um meinen Verfolgern zu entgehen und sie auf eine falsche Spur zu bringen. Tadle die Frau nicht wegen dessen, was sie getan hat. Die Hilfe, die sie mir geleistet hat, leistete sie auf meine nachdrücklichsten Versicherungen, daß es nur zum Besten der Geliebten geschehe. Denke an ihr gestorbenes Kind. Die Zustimmung der Männer erkaufte ich, aber sie hat mir ohne Entgelt geholfen.«

»Das hat sie geschrieben, als sie dort war«, sagte mein Begleiter. »Es stimmt zu dem, was ich mir dachte. Ich hatte recht.« Der nächste Absatz war später geschrieben worden.

»Ich bin eine lange Strecke gewandert, und viele Stunden, und ich weiß, daß ich bald sterben muß. Oh, diese Straßen! Ich habe kein andres Ziel mehr, als zu sterben. Als ich fortging, hatte ich ein schlimmeres; aber es bleibt mir erspart, noch diese Schuld zu den übrigen zu fügen. Kälte, Nässe und Erschöpfung werden genug Begründung sein, wenn man mich tot findet, aber ich sterbe aus andern Ursachen, wenn ich auch unter diesen leide. Es ist gut so, daß alles, was mich aufrecht erhielt, auf ein Mal zusammenbrechen mußte, um mich vor Angst und Gewissensqualen sterben zu lassen.«

»Mut, Mut«, sagte Mr. Bucket, »es sind nur noch ein paar Worte.«

– Auch diese waren später, und allem Anschein nach fast im Dunkeln, geschrieben. –

»Ich habe alles getan, was ich konnte, damit man mich nicht finde. So werde ich am schnellsten vergessen sein und ihm am wenigsten Schande bringen. Ich habe nichts bei mir, woran man mich erkennen könnte. Von diesem Papier trenne ich mich jetzt. An die Stelle, wo ich mich hinlegen will, wenn ich sie noch erreichen kann, habe ich oft gedacht. Leb wohl. Vergib mir.«

Mr. Bucket stützte mich und ließ mich sanft in meinen Stuhl sinken. »Kopf hoch! Halten Sie mich nicht für rücksichtslos, mein Kind; aber sobald Sie sich stark genug fühlen, ziehen Sie Ihre Schuhe an und halten Sie sich bereit.«

Ich kam seinem Wunsche nach; er ließ mich lange Zeit allein, und ich betete für meine unglückliche Mutter. Die andern beschäftigten sich unterdessen mit dem armen Dienstmädchen, und ich hörte, wie Mr. Woodcourt ihnen Anweisung gab. Endlich kam er mit Mr. Bucket zu mir und sagte, er halte es für das Beste, wenn ich ihr sanft zuredete und sie nach dem fragte, was wir von ihr zu erfahren wünschten. Es stehe außer allem Zweifel, daß sie jetzt antworten würde, wenn man sie beruhigte und nicht einschüchterte. »Die Fragen«, sagte Mr. Bucket, »wären: Wie sie zu dem Briefe gekommen und was zwischen ihr und der Person, die ihr ihn gegeben habe, vorgegangen sei, und wohin sich diese dann gewendet hätte?«

Ich konzentrierte meinen Geist, so fest ich konnte, auf diese Punkte und ging sodann in das nächste Zimmer mit. Mr. Woodcourt wollte draußen bleiben, aber auf meine Bitten begleitete er mich.

Man hatte das arme Mädchen auf den Fußboden gelegt, und sie saß jetzt aufrecht. Die übrigen standen um sie herum, aber in einiger Entfernung, damit sie sich nicht beengt fühle. Sie war nicht hübsch und sah kränklich und angegriffen aus, und ihr Blick hatte etwas Verstörtes, und ich konnte sehen, daß in ihrem Gesicht ein Ausdruck von Kummer lag. Ich kniete auf dem Fußboden neben ihr nieder und legte ihren Kopf an meine Brust, worauf sie den Arm um meinen Hals schlang und in Tränen ausbrach.

»Armes Kind«, sagte ich und legte mein Gesicht an ihre Stirn, denn auch ich weinte und zitterte sehr. »Es klingt so grausam, daß wir Sie jetzt quälen, aber es hängt mehr davon ab, daß wir etwas von diesem Briefe erfahren, als ich Ihnen in einer Stunde auseinandersetzen könnte.«

Sie fing an, ganz jämmerlich zu beteuern: »Ich hab’s nicht böse gmeint, Mrs. Snagsby, ach Gott.«

»Davon sind wir alle überzeugt«, tröstete ich sie. »Aber bitte, sagen Sie mir, wie Sie zu dem Briefe gekommen sind.«

»Ja, das will ich tun, gnä Fräuln, und die Wahrheit sagen. Ich will alles erzählen, wahrhaftig, Mrs. Snagsby.«

»Niemand zweifelt daran. Also, wie war es?«

»Ich hab etwas zu besorgen ghabt, gnä Fräuln, nach Dunkelwerden. Es war schon ganz spät, und als ich an unsre Tür kam, stand eine gemein aussehende Person, ganz naß und kotbespritzt, vor dem Hause und sah hinauf. Als sie mich hat in die Tür neingehen sehen, hat s mich zurückgrufen und gfragt, ob ich hier wohn? Und ich hab ja gsagt, und dann hat sie gmeint, sie kennt sich hier in der Gegend net gut aus und hätt sich verlaufen. – O Gott, was soll ich tun, was soll ich tun! Sie glauben mir nicht, ich seh’s! Wirklich, sie hat nichts Unrechtes zu mir gsagt, und ich zu ihr auch nicht, wahrhaftig nicht, Mrs. Snagsby!«

– Sie kam nicht darüber hinweg, und ihre Herrin mußte sie selbst trösten – was sie, wie ich sagen muß, mit sehr reuiger Miene tat –, ehe ich wieder etwas aus ihr herausbringen konnte. –

»Sie konnte also etwas nicht finden, das sie suchte?« fragte ich weiter.

»Nein!« rief das Mädchen und schüttelte den Kopf. »Nein! Konnte es nicht finden. Und sie war so erschöpft und lahm und elend, ach, so elend, daß, wenn Sie sie gsehen hätten, Mr. Snagsby, Sie ihr gwiß eine halbe Krone geben hätten!«

»Ja, ja, Guster, schon gut«, nickte Mr. Snagsby, anfangs ein wenig unschlüssig, was er sagen sollte. »Ich – ja – hm – hoffentlich.«

»Und sie hat so eine feine Sprach ghabt«, fuhr das Mädchen fort, »und mich dabei mit weit offnen Augen so angsehen, daß s einem das Herz zerrissen hat. Und dann hat s mich gfragt, ob ich den Weg nach dem Gottesacker wüßt? Welchen Gottesacker, hab ich s gfragt. Und sie hat gsagt, der, wo die Armen begraben würden. Ich hab ihr erklärt, daß ich selbst aus dem Armenhause sei und daher wüßt, daß sich das nach dem Kirchspiele richt. Aber sie hat den Begräbnisplatz gmeint, hat s gsagt, der, wo nicht sehr weit von hier is, mit einem Torweg, einer Stufen und einem eisernen Gitter davor.«

Ich sah, daß Mr. Buckets Gesicht bei ihren Worten ein Ausdruck des Schreckens überflog, und Angst ergriff mich.

»O Gott, o Gott«, rief das Mädchen wieder und hielt sich die Stirn, »was soll ich nur tun, was soll ich nur tun! Sie hat den Gottesacker gmeint, wo der Mann liegt, was den Schlaftrunk eingnommen hat – von dem Sie uns erzählt haben, Mr. Snagsby –, wo ich so erschrocken bin damals, Mr. Snagsby. Jetzt kommt’s wieder über mich. Halten S mich!«

»Sehen Sie, es ist Ihnen jetzt schon wieder viel besser«, redete ich ihr zu. »Bitte, erzählen Sie noch.«

»Ja, recht gern! Aber sind S nicht bös auf mich, gnä Fräuln, daß ich so krank gwesen bin.«

Wer hätte dem armen Mädchen böse sein können!

»So! Jetzt geht’s schon wieder. Also, dann hat s gfragt, ob ich ihr den Weg dorthin weisen könnte, und ich hab gsagt ja und hab ihm gwiesen, und sie hat mich mit Augen angsehen, fast, als ob s blind war und umfallen möcht. Und dann hat s den Brief herausgnommen und mir zeigt und gsagt, wann sie n auf die Post gab, möcht er verwischt und vergessen und niemals bsorgt werden; und ob ich n nehmen und besorgen wollt. Der Bote würde bei der Abgabe bezahlt werden. Und ich hab gsagt ja, wenn’s nichts Unrechtes war, und sie hat gsagt nein –, nichts Unrechtes. Und wie ich den Brief gnommen hab, hat s gsagt, sie könnt mir nichts geben, und ich hab gmeint, des brauchets net, ich sei selbst arm. Und Gott segne Sie! hat s gsagt und is gangen.«

»Und ging sie…?«

»Ja!« fiel mir das Mädchen in die Rede. »Ja! sie ging den Weg, den ich ihr gezeigt hab. Dann bin ich ins Haus treten, und Mrs. Snagsby is auf mich losgstürzt, hat mich festghalten, und ich bin so erschrocken.«

Mr. Woodcourt nahm sie liebevoll von mir weg. Mr. Bucket hüllte mich wieder ein, und gleich daraufwaren wir auf der Straße. Mr. Woodcourt blieb zögernd stehen, aber ich bat ihn, mich nicht zu verlassen, und Mr. Bucket setzte hinzu:

»Ja, es ist besser, Sir, Sie gehen mit, wir könnten Sie vielleicht brauchen; beeilen wir uns, wir dürfen keine Zeit verlieren!«

Von diesem Gange sind mir nur wirre Eindrücke zurückgeblieben. Ich entsinne mich noch, daß es weder Nacht noch Tag war, daß der Morgen graute und die Straßenlaternen noch nicht ausgelöscht waren. Immer noch fiel der Schnee, und die Straßen waren überall bedeckt davon. Ich entsinne mich nur noch dunkel, an ein paar fröstelnden Leuten in den Straßen vorübergegangen zu sein. Ich entsinne mich der nassen Dächer, der verstopften und überlaufenden Straßenrinnen und Gossen, der Haufen von schmutzigem Eis und Schnee, die wir passierten, und der engen Höfe, durch die wir eilten. Mir war, als klängen mir die Worte des armen Mädchens noch deutlich in den Ohren und als fühlte ich sie noch an meiner Brust ruhen. Die fleckigen Häuserfronten schienen mir menschliche Gesichter zu bekommen und mich anzusehen, und Wasserschleusen brausten in meinem Kopf oder in der Luft. Die wesenlosen Dinge wurden mir stofflicher als die wirklichen.

Endlich standen wir unter einem dunkeln und elenden gewölbten Gang, durch den der Morgen schwach hereindämmerte. Eine Laterne brannte trüb über einem eisernen Gitter. Das Tor war zu. Dahinter lag ein Begräbnisplatz – eine grauenvolle Stätte – noch halb verborgen im Dunkel der Nacht. Ich konnte kaum die Ungewissen Umrisse von Haufen vernachlässigter Gräber und Leichensteine von den sie ringsum umdrängenden unsauberen Häusern unterscheiden, in deren Fenstern ein paar trübe Lichter brannten und deren Mauern eine klebrige Feuchtigkeit wie eine scheußliche Krankheit ausschwitzten.

Auf der von dem schrecklichen Naß dieses Ortes, das überall heruntertröpfelte und –rieselte, benetzten Stufe vor dem Gittertor sah ich eine Frauengestalt liegen – Jenny, die Mutter des toten Kindes.

Ein Schrei des Mitleids und Entsetzens entfuhr mir.

Mein erster Gedanke war, auf sie zuzueilen, aber man hielt mich zurück, und Mr. Woodcourt bat mich mit der größten Innigkeit, Tränen in den Augen, ehe er mich ließe, nur einen Augenblick auf das zu hören, was Mr. Bucket mir sagen wollte. Ich glaube, ich tat es, tat es sogar bestimmt.

»Miß Summerson, wenn Sie ein wenig Ihre Gedanken sammeln, werden Sie mich verstehen. Die beiden haben in der Hütte die Kleider vertauscht.«

In der Hütte die Kleider vertauscht! – Ich mußte die Worte im Geiste langsam wiederholen, ehe ich ihren Sinn verstand, aber was sie für mich zu bedeuten hatten, konnte ich in meiner Verwirrung nicht fassen.

»Und die eine kehrte um«, sagte Mr. Bucket. »Und die andre ging weiter. Und die, die weiterging, ging, wie sie es besprochen hatten, nur eine Strecke weit, um die Fährte zu verwischen, und kehrte quer übers Feld nach Hause zurück. Denken Sie einen Augenblick nach!«

Auch dies wiederholte ich mir; aber nicht die leiseste Ahnung verriet mir, was ich mir darunter denken sollte. Vor mir auf den Stufen sah ich die Mutter des toten Kindes liegen. Sie lag dort, mit einem Arm eine Stange des eisernen Gitters umklammernd, als wolle sie sie umarmen. Sie, die erst vor so kurzem mit meiner Mutter gesprochen hatte, lag dort. Ein unglückliches, obdachloses, bewußtloses Geschöpf. Sie, die den Brief gebracht hatte, die mir allein eine Andeutung über den Aufenthalt meiner Mutter geben konnte, sie, die uns nun führen sollte, um die zu erretten, die wir weit und breit gesucht hatten, sie, die in ihrem Zustand jeden Augenblick unsrer Hilfe entrückt sein konnte, lag dort – und sie hielten mich auf?! Ich sah den feierlichen und teilnahmsvollen Blick Mr. Woodcourts, ohne ihn zu verstehen. Ich sah, wie er die Brust des andern berührte, um ihn zurückzuhalten, aber ich verstand es nicht. Ich sah ihn barhäuptig mit scheuer Ehrfurcht vor etwas Unsichtbarem in der bitter kalten Luft dastehen. Aber von dem allem verstand ich nichts.

Ich hörte wie in weiter Ferne sagen:

»Wollen wir sie gehen lassen?«

»Es ist besser. Ihre Hände sollten sie zuerst berühren. Sie hat ein heiligeres Recht dazu als wir.«

Ich eilte nach dem Gittertor und beugte mich über die Gestalt. Ich hob das schwere Haupt empor, strich das lange feuchte Haar beiseite und wendete das Gesicht dem Lichte zu.

Es war meine Mutter, starr und kalt.

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60. Kapitel

Aussichten

Ich wende mich jetzt andern Abschnitten meiner Lebensgeschichte zu. Die Güte und Freundlichkeit aller, die um mich waren, spendeten mir so viel Trost, daß ich nur mit der größten Rührung daran zurückdenken kann. Ich habe bereits so oft von mir gesprochen und noch so viel von mir zu sagen, daß ich nicht weiter von meinem Schmerz sprechen will.

Ich war krank, aber nicht lange; und ich würde diesen Umstand auch nicht weiter erwähnen, wenn nicht die Erinnerung an die Teilnahme meiner Umgebung so stark in mir lebte.

Ich komme jetzt also, wie gesagt, zu andern Abschnitten meiner Lebensgeschichte.

Während meiner Krankheit blieben wir in London, und auf Einladung meines Vormundes war Mrs. Woodcourt zu uns auf Besuch gekommen. Als mein Vormund mich für wohl und heiter genug hielt, um in der alten Weise wieder mit ihm zu plaudern – obgleich ich dazu viel eher imstande gewesen wäre, aber er wollte es lange nicht glauben –, nahm ich eines Tages wieder meine Handarbeit vor und setzte mich wie früher neben ihn. Er hatte mich darum gebeten, und wir waren allein.

»Mütterchen«, sagte er und empfing mich mit einem Kusse, »willkommen im Brummstübchen! Ich habe dir einen Plan zu enthüllen, kleines Frauchen. Ich gedenke nämlich, hier zu bleiben, vielleicht sechs Monate, vielleicht länger, wie es gerade kommt. Mit einem Wort, ich gedenke mich für ein Weilchen hier häuslich niederzulassen.«

»Und währenddessen willst du Bleakhaus im Stich lassen?«

»Ja, meine Liebe! Bleakhaus muß lernen, für sich selbst zu sorgen.«

Es schien mir, als ob seine Stimme bekümmert klänge; aber wie ich ihn anblickte, sah ich, daß ein freundliches Lächeln sein gütiges Antlitz erhellte.

»Bleakhaus«, wiederholte er, und diesmal lag nur Fröhlichkeit in seiner Stimme, »muß lernen, für sich selbst zu sorgen. Es wäre von dort ein zu weiter Weg zu Ada, mein Kind, und Ada bedarf deiner sehr.«

»Es sieht dir wieder ganz ähnlich, Vormund«, sagte ich, »an sie zu denken und uns beiden eine so angenehme Überraschung zu bereiten.«

»Es ist nicht so uneigennützig von mir, wie es vielleicht scheint, denn wenn du so oft unterwegs wärst, könntest du selten um mich sein. Und außerdem möchte ich bei dieser Entfremdung zwischen dem armen Rick und mir so viel und so oft von Ada hören wie möglich. Und nicht bloß von ihr, sondern auch von ihm, dem armen Burschen.«

»Hast du heute morgen Mr. Woodcourt gesehen, Vormund?«

»Ich sehe Mr. Woodcourt jeden Morgen, Mütterchen.«

»Ist er immer noch derselben Meinung über Richard?«

»Immer noch. Er kann keine eigentliche körperliche Krankheit an ihm entdecken und glaubt bestimmt, daß ihm in dieser Hinsicht nichts fehle. Aber trotzdem ist er keineswegs außer Sorgen seinetwegen. Begreiflicherweise.«

In der letzten Zeit war mein Herzenskind täglich bei uns gewesen, manchmal sogar zwei Mal. Aber wir fühlten, daß dies nur bis zu meiner vollständigen Genesung so fortgehen könnte. Wir wußten recht gut, daß ihr Herz voller Liebe und Dankbarkeit für ihren Vetter John schlug, und waren überzeugt, daß Richard keinen Versuch machen würde, sie von uns fernzuhalten; aber andrerseits sahen wir ein, daß sie es für Pflicht ihrem Gatten gegenüber halten mußte, ihre Besuche bei uns nach Möglichkeit einzuschränken. Mein Vormund hatte bei seinem Zartgefühl die Situation bald überschaut und sie merken lassen, daß er ihre Ansicht billige.

»Lieber unglücklicher irregeleiteter Richard«, sagte ich. »Wann wird endlich die Binde von seinen Augen fallen!«

»So bald wohl kaum, mein Kind. Je mehr er leidet, desto mehr wächst seine Abneigung gegen mich. Er hält mich doch für die Hauptursache seiner Leiden.«

»Wie unvernünftig«, rief ich aus.

»Ach Frauchen, Frauchen!« entgegnete mein Vormund. »Wo ‚Jarndyce kontra Jarndyce‘ mitspielt, ist’s um Vernunft und Einsicht geschehen. Unverstand und Ungerechtigkeit auf allen Seiten, innen und außen, Unverstand und Ungerechtigkeit von Anfang bis zu Ende, wenn man überhaupt bei einem Prozeß von einem Ende reden kann. Wie sollte da der arme Rick, der sich beständig damit abgibt, zu Verstand kommen? Er kann ebensowenig Trauben von Dornen oder Feigen von Disteln ernten.«

– Die Rücksicht, Sanftmut und Güte, mit der er stets von Richard sprach, rührten mich so, daß ich jedes Mal sehr bald wieder dieses heikle Thema fallen ließ. –

»Ich glaube, der Lordkanzler und die Vizekanzler und die ganze Kanzleibatterie würden sich auch wundern, wenn sie soviel Unverstand und Ungerechtigkeit bei einem ihrer Klienten fänden«, fuhr mein Vormund fort. »Ich meinesteils wieder würde mich wundern, wenn es diesen gelehrten Herren gelingen sollte, aus dem Puder, den sie in ihre Perücken streuen, Moosrosen zu ziehen.«

Er hatte einen Blick nach dem Fenster geworfen, um zu sehen, woher der Wind wehte, und lehnte sich nun auf die Rücklehne meines Stuhles.

»Aber weg damit, kleines Frauchen! Zeit, Zufall und vielleicht ein wenig Glück werden diesen Block schon aus dem Wege räumen, aber wir dürfen Ada nicht daran Schiffbruch leiden lassen. Sie und er dürfen sich unter keinen Umständen mehr der Gefahr, sich einen Freund zu entfremden, aussetzen. Deshalb habe ich Woodcourt inständigst gebeten, und bitte auch dich, meine Liebe, jetzt inständig, bei Rick an dieses Thema auch mit keinem Wort mehr zu rühren. Lassen wir die Sache vorläufig begraben sein. In Wochen, Monaten, Jahren, früher oder später, wird ihm die Binde schon von den Augen fallen. Ich kann warten.«

»Aber ich habe bereits mit ihm darüber gesprochen und, wie ich glaube, auch Mr. Woodcourt«, gestand ich.

»Ich weiß«, entgegnete mein Vormund. »Mr. Woodcourt hat seinen Protest eingelegt, und Mütterchen Durden ebenfalls, und damit gut und Schluß ein für allemal. – Um von etwas anderm zu sprechen, wie gefällt dir Mrs. Woodcourt, mein Kind?«

Die Frage kam seltsam unvermittelt, und ich sagte, daß mir die alte Dame jetzt sehr gefiele und angenehmer vorkäme als früher.

»Mir auch«, sagte mein Vormund. »Weniger Stammbaum, nicht wahr? Nicht mehr soviel Morgan – ap… Wie heißt er doch?«

»Ja, an den habe ich gedacht«, gab ich zu, »aber er scheint eine sehr harmlose Person gewesen zu sein, wenigstens, was wir von ihm gehört haben.«

»Jedenfalls bleibt er am besten in seinen heimatlichen Bergen. Ich bin ganz deiner Meinung. Also, kleines Frauchen, ist es nicht das Wichtigste, Mrs. Woodcourt eine Zeit hier zu behalten?«

»Ja. Und doch…«

Mein Vormund sah mich erwartungsvoll an.

Ich hatte eigentlich nichts zu sagen. Wenigstens nichts im Sinn, was ich in Worte fassen konnte. Ich hatte ein unbestimmtes Gefühl, daß ein andrer Gast vielleicht vorzuziehen gewesen wäre, aber warum, darüber war ich mir selbst keineswegs klar.

»Unsre Wohnung«, sagte mein Vormund, »liegt auf Woodcourts Weg, und er kann seine Mutter so oft besuchen kommen, wie er will; das wird beiden sehr angenehm sein; überdies hat sie dich gern und hängt an uns.«

– Ja. Das war unleugbar der Fall. Dagegen konnte ich nichts einwenden. Ich hätte selber kein besseres Arrangement treffen können; aber doch war ich innerlich nicht ganz ruhig. Esther, Esther, warum nicht? Esther, denke nach! –

»Es ist wirklich ein sehr guter Plan, lieber Vormund, und das Beste, was wir tun können.«

»Sicher, Frauchen?«

Ganz gewiß. Ich hatte mich mir gegenüber verpflichtet gefühlt, die Sache noch genau einen Augenblick zu überlegen, und konnte jetzt mit bestem Gewissen bejahen.

»Also gut«, sagte mein Vormund. »Es soll geschehen. Einstimmig angenommen.«

»Einstimmig angenommen«, wiederholte ich und nahm meine Arbeit wieder vor.

Ich stickte eine Decke für seinen Büchertisch. Ich hatte sie am Abend vor meiner trauervollen Reise weggelegt und seitdem nicht wieder aufgenommen. Ich zeigte sie ihm jetzt, und er bewunderte sie höchlichst. Nachdem ich ihm das Muster und alle die großen Effekte, die mit der Zeit sichtbar werden sollten, erklärt hatte, fing ich wieder von unserm letzten Thema an.

»Du sagtest, lieber Vormund, als wir von Mr. Woodcourt sprachen, ehe Ada uns verließ, daß du glaubtest, er werde es noch ein Mal im Auslande versuchen. Hast du ihm seitdem Ratschläge in dieser Hinsicht gegeben?«

»Ja, kleines Frauchen, ziemlich oft.«

»Hat er sich dazu entschlossen?«

»Ich glaube nicht.«

»So haben sich ihm also andre Aussichten eröffnet?«

»Nun ja –, vielleicht«, entgegnete mein Vormund langsam und nachdenklich. »In etwa einem halben Jahre wird irgendwo in Yorkshire die Stelle eines Armenarztes frei. Es ist ein blühender Ort, hübsch gelegen – Bäche und Straßen, Stadt und Land, Mühlen und Moorland –, und scheint einem Manne wie ihm eine Aussicht zu eröffnen. Ich meine einem Manne, dessen Hoffnungen und Ziele manchmal höher hinaus gehen als gewöhnlich, dem aber auch zuletzt das alltägliche Ziel hoch genug ist, wenn es sich als ein Weg der Nützlichkeit und Barmherzigkeit erweist. Ich glaube, alle lebhaften Geister sind ehrgeizig; aber der Ehrgeiz, der mit ruhigem Vertrauen einen solchen Weg betritt, anstatt krampfhafte Versuche zu machen, über ihn hinweg zu fliegen, gefällt mir am allerbesten. Und so ist Woodcourts Ehrgeiz.«

»Und wird er die Stelle bekommen?«

»Nun, mein kleines Frauchen«, entgegnete mein Vormund lächelnd, »da ich kein Orakel bin, kann ich das nicht mit Gewißheit sagen; aber ich glaube ja. Sein Ruf als Arzt ist sehr bedeutend; es waren Leute aus jener Gegend bei dem Schiffbruch, und merkwürdigerweise hat diesmal der beste Mann die beste Aussicht, wie es scheint. Du darfst es aber nicht etwa für eine ausgezeichnete Anstellung halten. Es ist ein sehr gewöhnlicher Posten, mein Kind; ein Posten, bei dem es sehr viel zu tun und sehr wenig zu verdienen gibt; aber es können sich immerhin bessere Aussichten daran knüpfen.«

»Die Armen des Ortes werden jedenfalls Grund haben, die Wahl zu segnen, wenn sie auf Mr. Woodcourt fallt, Vormund.«

»Da hast du recht, kleines Frauchen; daran ist gewiß kein Zweifel.«

Wir sprachen nicht weiter über die Sache, und er erwähnte auch kein Wort von der Zukunft von Bleakhaus. Aber da ich heute das erste Mal in meinen Trauerkleidern neben ihm saß, erklärte ich mir daraus sein Schweigen.

Ich fing nun an, meine liebe Ada in dem stillen Winkel, wo sie wohnte, täglich zu besuchen. Der Vormittag war meine gewöhnliche Zeit; aber so oft ich mich eine Stunde frei machen konnte, setzte ich meinen Hut auf und lief hinüber nach Chancery-Lane. Sie und Rick waren jederzeit so froh, mich zu sehen, und ihre Gesichter heiterten sich so auf, wenn sie mich die Tür aufmachen und hereinkommen hörten (da ich ganz wie zu Hause war, klopfte ich niemals an), daß ich nicht fürchtete, ihnen lästig zu fallen.

Bei solchen Gelegenheiten fand ich Richard häufig abwesend. Zu andern Zeiten schrieb er oder las Prozeßakten, die auf seinem Tisch, der niemals aufgeräumt werden durfte, in Stößen aufgetürmt lagen. Manchmal traf ich ihn vor der Tür von Mr. Vholes‘ Kanzlei wartend; manchmal, wie er in der Nähe herumwanderte und sich die Nägel zerkaute. Oft traf ich ihn in der Nähe von Lincoln’s-Inn, ruhelos, an der Stelle, wo ich ihn – ach, so ganz, ganz anders – das erste Mal gesehen hatte.

Daß Adas Mitgift mit den Kerzen, die ich fast immer nach Dunkelwerden in Mr. Vholes‘ Kanzlei brennen sah, zusammenschmolz, wußte ich recht gut. Es war von Hause aus nicht viel gewesen; Richard mußte Schulden gehabt haben, als er heiratete, und ich hatte längst einsehen gelernt, was es bedeutete, daß sich Mr. Vholes »mit der Schulter gegen das Rad stemmte« – was er immer noch tat, wie ich hörte.

Meine gute Ada war die wirtschaftlichste Hausfrau, die man sich denken konnte, und tat ihr möglichstes, um zu sparen, aber ich wußte, daß sie mit jedem Tage ärmer wurden.

Sie leuchtete in dem elenden Winkel wie ein schöner Stern. Sie schmückte und verschönerte ihn so, daß er ordentlich ein ganz verändertes Aussehen bekam. Blasser, als sie zu Hause gewesen, und ein wenig stiller, als ich es für möglich gehalten hätte, als sie noch so heiter und hoffnungsfreudig war, war doch auf ihrem Antlitz so wenig ein Schatten zu bemerken, daß ich fast glaubte, ihre Liebe zu Richard machte sie blind und ließ sie das Verderben nicht sehen, in das er rannte.

Ich ging eines Tages zu ihnen, um bei ihnen zu speisen, und hing solchen Gedanken nach, da begegnete ich, als ich in Symond’s-Inn einlenkte, der kleinen Miß Flite, die gerade aus der Türe trat. Sie hatte den »Mündeln in Sachen Jarndyce«, wie sie sie immer noch nannte, einen Anstandsbesuch gemacht und schwelgte noch in der Erinnerung an diese Feierlichkeit. Ada hatte mir bereits erzählt, daß sie jeden Montag um fünf Uhr mit einer kleinen weißen Extraschleife auf dem Hute, die sie sonst niemals trüge, und mit ihrem größten Strickbeutel voller Dokumente am Arme zu Besuch käme.

»Meine Gute!« fing sie an. »Freue mich unendlich! Wie geht es Ihnen! Bin so froh, Sie zu sehen. Und Sie wollen unsre guten Mündel in Sachen Jarndyce auch besuchen? Natürlich, ja! Unsre kleine Schönheit ist zu Hause, mein Kind, und wird entzückt sein, Sie zu sehen.«

»Also ist Richard noch nicht da?« sagte ich. »Das freut mich; ich fürchtete schon, ich hätte mich ein wenig verspätet.«

»Nein, er ist noch nicht da. Er hat eine lange Sitzung im Gerichtshof gehabt. Ich verließ ihn dort mit Vholes. Sie haben doch Vholes nicht gern, hoffe ich? Nur Vholes nicht gern haben! Gefäh-rlicher Mensch!«

»Ich fürchte, Sie sehen jetzt Richard öfter als früher?« fragte ich.

»Meine Teuerste, täglich und stündlich. Sie wissen, was ich Ihnen von der Anziehungskraft des Zepters des Kanzlers sagte! Mein Kind, nächst mir besucht er mit der größten Regelmäßigkeit den Gerichtshof. Er fängt unsre kleine Familiengesellschaft wirklich zu amüsieren an. Eine seh-r hübsche kleine Familiengesellschaft, nicht wahr?«

Es war wirklich jämmerlich, dies aus dem Munde der armen Wahnsinnigen zu hören, wenn man sich auch nicht darüber wundern konnte.

»Mit einem Worte, meine werte Freundin«, fuhr Miß Flite fort und näherte mit mysteriöser Gönnermiene ihre Lippen meinem Ohre, »ich muß Ihnen ein Geheimnis anvertrauen. Ich habe ihn zu meinem Testamentsvollstrecker ernannt. Ernannt, eingesetzt und bestätigen lassen. In meinem Testamente. Ja-awohl.«

»Wirklich?«

»Ja-awohl«, wiederholte Miß Flite, unendlich vornehm tuend, »zu meinem Testamentsvollstrecker, Verwalter oder Kurator. So heißt es bei uns im Kanzleigericht, meine Liebe. Ich habe mir gedacht, wenn ich einmal zu nichts mehr nütze sein sollte, könnte er den Prozeß überwachen. Er wohnt den Sitzungen so regelmäßig bei.«

Ich mußte bei dem Gedanken an ihn seufzen.

»Ich gedachte früher einmal den armen Gridley zu ernennen, einzusetzen und bestätigen zu lassen«, sagte sie und seufzte ebenfalls. »Er kam auch sehr regelmäßig, meine Liebwerteste. Ich versichere Ihnen, höchst regelmäßig! Aber mit dem Armen ist’s vorbei, und so habe ich Richard zu seinem Nachfolger ernannt. Lassen Sie nichts drüber verlauten. Ich sage Ihnen das im Vertrauen.«

Sie machte vorsichtig ihren Strickbeutel ein klein wenig auf und zeigte mir darin ein zusammengefaltetes Papier als das Testament, von dem sie gesprochen.

»Noch ein Geheimnis, meine Liebe. Ich habe meine Vogelsammlung vergrößert.«

»Was Sie sagen, Miß Flite.« – Ich wußte, wie gern sie es hatte, wenn man ihre vertraulichen Mitteilungen mit Interesse aufnahm. –

Sie nickte mehrere Male, und ihr Gesicht wurde trüb und bekümmert. »Noch zwei. Ich nenne sie die Mündel in Sachen Jarndyce. Sie sind mit den übrigen im Käfig. Mit Hoffnung, Freude, Jugend, Friede, Ruhe, Leben, Staub, Asche, Verschwendung, Mangel, Ruin, Verzweiflung, Wahnsinn, Tod, List, Torheit, Gefasel, Perücke, Plunder, Pergament, Raub, Präzedenz, Jargon, blauer Dunst und Larifari!«

Dann küßte mich die Arme mit dem verstörtesten Blick, den ich jemals an ihr bemerkt, und eilte fort. Die Art, wie sie über die Liste ihrer Vögel hinwegeilte, als wenn sie sich fürchtete, ihre Namen sogar aus ihrem eignen Munde zu hören, machte mich schaudern.

Das war keine aufheiternde Vorbereitung auf meinen Besuch, und ich hätte auf die Gesellschaft Mr. Vholes‘ gern verzichtet, den Richard, der ein oder zwei Minuten nach mir kam, mit zu Tisch brachte.

Obgleich das Mahl bescheiden war, waren doch Ada und Richard ein paar Minuten zusammen draußen, um es herzurichten. Mr. Vholes ergriff die Gelegenheit, um mit mir halblaut ein Gespräch anzuknüpfen. Er trat an das Fenster, an dem ich saß, und fing von Symond’s-Inn an.

»Ein langweiliger Ort, Miß Summerson, für jemanden, der nicht als Geschäftsmann hier wohnt«, – er wischte die Fensterscheibe mit seinem schwarzen Handschuh ab, damit ich besser hinaussehen könnte.

»Viel zu sehen ist allerdings hier nicht«, sagte ich.

»Und auch nicht viel zu hören, Miß. Manchmal verirrt sich ein bißchen Musik hierher, aber wir Juristen sind nicht musikalisch und dulden sie nicht lange. Ich hoffe, Mr. Jarndyce befindet sich wohl?«

Ich dankte und versicherte, er sei wohlauf.

»Ich habe leider nicht das Vergnügen, mit unter seine Freunde gezählt zu werden, und weiß, daß bei Personen seines Standes Herren unsres Berufs manchmal nicht sehr gern gesehen werden. Aber ob man uns Gutes oder Übles nachsagt und Vorurteile aller Art gegen uns hegt, unsre Wege sind gerade und offen. Wie finden Sie Mr. C. aussehen, Miß Summerson?«

»Sehr schlecht. Schrecklich sorgenvoll.«

»Sie haben recht«, sagte Mr. Vholes.

– Er stand hinter mir, und seine lange schwarze Gestalt reichte fast bis an die Decke des niedrigen Zimmers; dabei befühlte er die Pickel in seinem Gesicht, als wären es Zierraten, und sprach so gleichgültig in sich hinein, als sei ihm jede menschliche Leidenschaft oder Gemütsbewegung fremd. –

»Mr. Woodcourt kommt häufig zu Mr. C., glaube ich?« fing er wieder an.

»Mr. Woodcourt ist sein uneigennützigster Freund, Sir!«

»Ich meine, er behandelt ihn in seiner Eigenschaft als Arzt.«

»Das kann einem kummerbedrückten Gemüt wenig helfen«, sagte ich.

»Sehr wahr!« nickte Mr. Vholes.

Es lag etwas so Vampirhaftes in seinem Wesen, etwas Schleichendes, Gieriges, Blutloses, daß es mir vorkam, als müßte Richard schon unter den Augen eines solchen Beraters hinsiechen.

»Miß Summerson«, begann er wieder und rieb sich langsam die behandschuhten Hände, als ob es seinem Gefühlssinn ganz gleichgültig wäre, ob sie in schwarzen Handschuhen stäken oder nicht, »diese Heirat Mr. C.s war ein übelberatener Schritt.«

Ich bat ihn, dieses Thema nicht weiter zu berühren. Ich sagte ihm mit unterdrückter Entrüstung, sie hätten sich verlobt, als sie beide noch sehr jung gewesen, und zu einer Zeit, als ihre Aussichten für die Zukunft noch viel besser und freundlicher waren und als Richard sich noch nicht dem Einflusse hingegeben habe, der jetzt sein Leben verdüstere.

»Sehr wahr«, stimmte Mr. Vholes bei. »Dennoch möchte ich, um ganz offen zu sein, wenn Sie gestatten, Miß Summerson, bemerken, daß ich diese Heirat für einen sehr übel beratenen Schritt halte. Dies zu sagen, bin ich nicht nur Mr. C.s Verwandten und Freunden schuldig, denen gegenüber ich mich ganz natürlich zu decken wünschen muß, sondern auch meinem Rufe, den ich mir als Geschäftsmann unbefleckt zu erhalten trachte, eingedenk meiner drei Mädchen zu Hause, deren Lage ich unabhängig zu gestalten mich bemühe, sowie auch meines alten Vaters, dessen Erhaltung mir außerdem obliegt.«

»Es würde eine ganz andre Ehe, eine viel glücklichere und bessere sein, Mr. Vholes«, sagte ich, »wenn sich Richard überreden ließe, von dem unseligen Ziele, das Sie mit ihm verfolgen, abzulassen.«

Mit einem lautlosen Husten – oder vielmehr Schnappen – hinter seiner schwarz behandschuhten Hand neigte Mr. Vholes das Haupt, als ob er auch dies nicht bestreite.

»Miß Summerson«, sagte er, »das ist wohl möglich, und ich gestehe gern zu, daß die junge Dame, die auf so übelberatene Weise Mr. C.s Namen angenommen hat – ich bin überzeugt, Sie werden mir nicht zürnen, daß ich als eine Pflicht, die ich Mr. C.s Verwandten und Freunden schuldig bin, diese Bemerkung noch ein Mal mache –, eine höchst achtbare junge Dame ist. Geschäfte haben mich abgehalten, mich viel in andrer als beruflicher Gesellschaft zu bewegen, aber dennoch getraue ich mir das Urteil zu, daß sie eine höchst achtbare junge Dame ist. Was Schönheit betrifft, so bin ich darin nicht kompetent, und ich habe schon als Knabe kein besonderes Verständnis dafür gehabt, aber ich glaube sagen zu dürfen, daß an der jungen Dame auch in diesem Punkte nicht das geringste auszusetzen ist. Wie ich höre, gilt sie bei den Schreibern in Symond’s-Inn als eine Schönheit, und diese können darüber besser urteilen als ich. Was die Art betrifft, in der Mr. C. seine Interessen verfolgt…«

»Ach, ich bitte Sie, seine Interessen, Mr. Vholes!«

»Verzeihen Sie«, fuhr Mr. Vholes genau in derselben in sich gekehrten und leidenschaftslosen Weise fort, ohne sich aus der Fassung bringen zu lassen, »Mr. C. hat gewisse Interessen kraft gewisser, in dem Prozeß bestrittener Testamente. Es ist das ein Geschäftsausdruck bei uns. Was die Art betrifft, mit der Mr. C. sein Interesse verfolgt, so erwähnte ich bereits damals, als ich das erste Mal das Vergnügen hatte, Sie zu sehen, Miß Summerson, bewegt von dem Wunsche, stets offen zu handeln – ich gebrauchte genau diese Worte, denn ich schrieb sie später zufällig in meinem Tagebuch auf, das ich jederzeit vorweisen kann –, daß Mr. C. das Prinzip verfolgt, selbst darüber zu wachen, und daß, wenn einer meiner Klienten einem Grundsatz huldigt, der seiner Natur nach nicht unsittlich – das heißt, nicht ungesetzlich ist –, es meine Pflicht sei, diesem Grundsatz Rechnung zu tragen. Ich habe ihm Rechnung getragen und trage ihm auch jetzt Rechnung. Aber ich möchte um keinen Preis einem Verwandten oder Bekannten Mr. C.s die Sachen in einem günstigeren Lichte darstellen, als es sich mit dem Fall verträgt. So offen, wie ich gegen Mr. Jarndyce war, bin ich gegen Sie. Ich betrachte dies als meine Pflicht als Geschäftsmann, wenn ich auch niemandes Konto damit belasten kann. Ich sage offen, so wenig mundgerecht es auch klingen mag, daß, meiner Meinung nach, Mr. C.s Angelegenheiten sehr schlecht stehen, daß es mit ihm selbst sehr schlecht steht, und daß ich diese Heirat für einen sehr übelberatenen Schritt halte… Ob ich hier bin, Sir? Ja, ich danke Ihnen; ich bin hier, Mr. C., und erfreue mich des Vergnügens einer Unterhaltung mit Miß Summerson, für die ich Ihnen vielen Dank schuldig bin, Sir.«

Er brach auf diese Weise ab, da Richard hereinkam und ihn anredete.

Ich durchschaute Mr. Vholes‘ gesucht gewissenhafte Art, sich und seine Respektabilität für alle Fälle zu salvieren, zu gut, um nicht zu fühlen, daß unsre schlimmsten Befürchtungen ganz am Platze gewesen waren.

Wir setzten uns zu Tisch, was mir Gelegenheit gab, Richard genau zu beobachten. Mr. Vholes – der erst kurz vor dem Essen seine Handschuhe auszog – störte mich darin nicht, obgleich er mir gegenüber saß, denn ich bezweifle, daß er seine Augen ein einziges Mal von dem Gesicht Richards abwendete, wenn er überhaupt aufblickte.

Ich fand Richard abgemagert und schlaff aussehen, unordentlich in der Kleidung, zerstreut in seinem Wesen, dann und wann gezwungen heiter, und dann wieder in trübe Gedanken versunken. Seine großen hellen Augen, die so lustig dreinzuschauen pflegten, waren so eingesunken und ruhelos, daß man sie kaum mehr wiedererkannte. Ich kann nicht direkt den Ausdruck gebrauchen, daß er alt aussah, aber es gibt eine Ruine von Jugend, die dennoch nichts mit Alter gemein hat, und zu einer solchen Ruine war Richards jugendliche Schönheit geworden.

Er aß wenig, und es schien ihm gleichgültig zu sein, was er aß; er zeigte sich viel ungeduldiger als gewöhnlich, selbst Ada gegenüber. Anfangs glaubte ich, sein früheres leichtblütiges Wesen sei überhaupt schon ganz verschwunden, aber manchmal kam es doch auf Sekunden wieder zum Vorschein; wie ich selbst zuzeiten Augenblicke hatte, wo es mir schien, als ob mir aus dem Spiegel mein altes Gesicht entgegenschaue. Auch sein Lachen hatte er nicht ganz verlernt, wenn es auch nur der Nachhall seines früheren fröhlichen Temperaments war und mich unendlich traurig berührte.

Trotz alledem war er in seiner alten liebreichen Weise so sichtlich froh wie sonst, mich bei sich zu sehen, und wir sprachen fröhlich von den alten Zeiten. Diese schienen Mr. Vholes nicht zu interessieren, wenn er auch manchmal mit dem Mund eine schnappende Bewegung machte, was offenbar ein Lächeln sein sollte. Kurz nach dem Essen stand er auf und sagte, er werde mit der Erlaubnis der Damen sich in seine Kanzlei begeben.

»Immer Geschäfte, Vholes!« rief Richard.

»Ja, Mr. C.«, entgegnete er, »die Interessen der Klienten dürfen unter keinen Umständen vernachlässigt werden, Sir. Sie nehmen in den Gedanken eines Geschäftsmannes wie mir, der sich einen guten Namen unter seinen Kollegen und in der Gesellschaft im allgemeinen zu erhalten wünscht, die erste Stelle ein. Daß ich mir das Vergnügen der gegenwärtigen so angenehmen Unterhaltung versage, geschieht vielleicht nicht ganz ohne Rücksicht auf Ihre Interessen, Mr. C.«

Richard sprach seine Überzeugung aus, daß er keinen Augenblick daran zweifle, und leuchtete Mr. Vholes hinaus. Bei seiner Rückkehr versicherte er uns wiederholt, Vholes sei ein verläßlicher Kerl, ein Mann, der das tue, was er sage; wirklich ein Prachtsmensch! Es lag trotzdem soviel Unsicherheit in seinem Ton, daß ich mich des Gedankens nicht erwehren konnte, daß er Mr. Vholes zu mißtrauen anfange.

Dann warf er sich ganz erschöpft aufs Sofa, und Ada und ich räumten auf, denn sie hatten keinen andern Dienstboten als eine Aufwartefrau. Meine liebe Ada besaß ein kleines Klavier und fing an, einige von Richards Lieblingsliedern zu singen; aber erst mußte die Lampe in das Nebenzimmer getragen werden, da er klagte, daß sie seinen Augen weh täte.

Ich saß zwischen ihnen, an der Seite meines lieben Mädchens, und der Klang ihrer lieblichen Stimme stimmte mich unendlich trübe. Ich glaube, das war auch bei Richard der Fall, und vielleicht ließ er nur deshalb die Lampe hinaustragen.

Sie hatte eine Zeitlang gesungen und war von Zeit zu Zeit aufgestanden, um sich über ihn zu beugen und mit ihm zu sprechen, als Mr. Woodcourt kam, neben Richard Platz nahm und ihn im Lauf des Gespräches, halb scherzend, halb im Ernst, auf unauffällige Weise ausfragte, wie er sich befände und was er den ganzen Tag getrieben habe. Er schlug ihm sodann vor, in der hellen Mondnacht einen Spaziergang auf einer der Brücken zu machen, und da Richard bereitwilligst einverstanden war, gingen sie zusammen aus.

Als sie fort waren, saß meine liebe Ada noch immer am Piano, und ich neben ihr. Ich schlang meinen Arm um sie, und sie legte ihre linke Hand in die meine; mit der rechten glitt sie gedankenvoll über die Tasten, ohne einen Ton anzuschlagen.

»Liebste Esther«, sagte sie endlich, »niemals befindet sich Richard so wohl, und ich bin nie so ruhig seinetwegen, als wenn er in Gesellschaft Allan Woodcourts ist. Das haben wir dir zu danken.«

Ich wollte meinem Herzenskinde klarmachen, daß das kaum so sein könne, da Mr. Woodcourt ihres Vetters John Haus besucht und dort uns alle gekannt hätte und überdies immer Gefallen an Richard und dieser an ihm gefunden habe; – u. a. m.

»Das ist alles wahr«, gab Ada zu, »aber daß er uns ein so treuer Freund ist, verdanken wir doch nur dir.«

Ich hielt es für das Beste, meinem lieben Mädchen den Willen zu lassen und weiter nichts dagegen zu sagen. Dies äußerte ich auch gegen sie. Ich sagte es leichthin, weil ich fühlte, daß sie zitterte.

»Liebste Esther, ich möchte so gern eine gute, eine sehr gute Gattin sein. Willst du es mich nicht lehren?«

»Ich es dich lehren?!«

Ich schwieg sofort still, denn ich bemerkte, wie ihre Hand unruhig über die Tasten glitt, und wußte, daß ich nicht sprechen dürfte und sie etwas auf dem Herzen habe.

»Als ich Richard heiratete«, fing sie zögernd an, »war mir nicht verborgen, was ihm bevorstand. Ich war lange Zeit mit dir vollkommen glücklich gewesen und hatte keinen Kummer und keine Sorge gekannt, so liebte und pflegte mich alles; aber ich wußte trotzdem genau, welche Gefahr ihm drohte.«

»Ich weiß, ich weiß wohl, mein Liebling.«

»Als ich ihn geheiratet hatte, trug ich mich mit der leisen Hoffnung, daß ich imstande sein würde, ihn von seinem Irrtum zu überzeugen, daß er als mein Gatte die Sache in einem neuen Lichte betrachten würde und sie nicht noch meinetwegen verzweifelter verfolgen, wie er es jetzt tut. Aber auch wenn ich diese Hoffnung nicht gehegt hätte, liebe Esther, ich würde ihn dennoch geheiratet haben.«

An der augenblicklichen Festigkeit ihrer bisher ruhelos gewesnen Hand – eine Festigkeit, die von ihren letzten Worten ausströmte und mit ihrem Laut erstarb –, sah ich die Bestätigung ihres innigen Tones.

»Du darfst nicht denken, liebe Esther, daß ich nicht sehe, was du siehst, und nicht fürchte, was du fürchtest. Niemand kann ihn besser kennen als ich. Der größte Weise auf Erden könnte Richard kaum besser kennen, als ich ihn kenne in meiner Liebe.«

Sie sprach so bescheiden und mild, und ihre zitternde Hand verriet große Aufregung, wie sie sich auf den stummen Tasten hin- und herbewegte. Meine gute, liebe Ada!

»Ich sehe ihn jeden Tag in seinem schlimmsten Zustande. Ich beobachte ihn im Schlaf. Ich kenne jeden Wechsel seines Mienenspiels. Als ich ihn heiratete, war ich fest entschlossen, Esther, mit Gottes Hilfe, ihm nie zu zeigen, daß ich mich seiner Handlungsweise wegen grämte, um ihn nicht noch unglücklicher zu machen. Wenn er nach Hause kommt, darf er keine Spur von Sorge auf meinem Gesicht lesen. Wenn er mich ansieht, soll er in mir finden, was er liebte. Deshalb habe ich ihn geheiratet, und das hält mich aufrecht.«

Ich fühlte, wie sie immer mehr zitterte. Ich wartete, was noch kommen würde, und glaubte jetzt zu wissen, was es sein werde.

»Und noch etwas andres erhält mich aufrecht, Esther.«

Sie hielt eine Minute inne. Sie hielt nur inne im Sprechen – ihre Hand bewegte sich immer noch ruhelos.

»Nur noch eine kleine Weile, dann wird mir Gott vielleicht eine große Hilfe schicken. Wenn dann Richard seinen Blick auf mich richtet, sieht er vielleicht etwas an meiner Brust liegen, das beredter zu ihm spricht als ich, das größere Macht hat, ihm den wahren Weg zu zeigen und ihn wieder zurückzugewinnen.«

Ihre Hand wurde jetzt ruhig. Sie zog mich an ihre Brust, und ich umschlang sie mit meinen Armen.

»Auch wenn es diesem kleinen Geschöpfe nicht gelingen sollte, Esther, so will ich immer noch warten. Ich werde lange, lange Jahre warten und mir dann denken, daß, wenn ich alt oder vielleicht tot bin, ein schönes Weib, seine Tochter, glücklich verheiratet sein wird, und stolz auf ihn und ein Segen für ihn. Oder daß ein wackerer, braver junger Mann, so schön, wie er einst war, hoffnungsreich und glücklicher, ihn stützt, wenn sie im Sonnenschein miteinander spazieren gehen, sein graues Haar ehrt und zu sich sagt: ‚Ich danke Gott, daß das mein Vater ist! Zugrunde gerichtet durch eine unselige Erbschaft und wiederhergestellt durch mich!’«

– »O liebe Ada! Du gutes, treues Herz.« –

»Diese Hoffnungen halten mich aufrecht, meine liebe Esther, und ich weiß, daß sie auch fernerhin mich aufrecht erhalten werden, obwohl sogar sie manchmal von mir weichen und der Angst Platz machen, die mich erfaßt, wenn ich Richard ansehe.«

Ich versuchte, mein Herzenskind zu beruhigen, und fragte, wovor sie sich denn fürchte?

Schluchzend und weinend gab sie zur Antwort:

»Daß er nicht so lange lebt, um sein Kind zu sehen!«

61. Kapitel


61. Kapitel

Eine Entdeckung

Wie können die Tage, während deren ich jenen elenden Winkel besuchte, den mein Herzenskind verschönte, aus meinem Gedächtnis entschwinden! Ich sehe ihn jetzt nie mehr, und wünsche ihn auch nie mehr zu sehen; ich bin seit der Zeit, an die ich denke, nur ein einziges Mal dort gewesen, aber in meiner Erinnerung umschwebt ihn dennoch ein trauervoller Glanz, der nie von ihm weichen wird.

Natürlich verging kein Tag, wo ich nicht hinging. Anfangs fand ich zwei oder drei Mal Mr. Skimpole dort, der auf dem Piano herumklimperte und in seiner gewöhnlichen lebhaften Weise plauderte. Außer dem, daß ich sehr die Möglichkeit argwöhnte, daß er nicht hinkommen würde, ohne nicht jedes Mal Richard ärmer zu machen, schien mir auch seine sorglose Fröhlichkeit zu unverträglich mit dem zu sein, was in Adas innerstem Herzen vorging. Überdies bemerkte ich deutlich, daß Ada meine Empfindungen teilte. Nach vielem Nachdenken darüber entschloß ich mich daher, Mr. Skimpole einen Privatbesuch zu machen und zu versuchen, ihm mein Bedenken auf eine zarte Weise auseinanderzusetzen. Der Gedanke an mein Herzenskind machte mich so kühn.

Ich begab mich daher eines Morgens, begleitet von Charley, nach Somers-Town. Während ich mich dem Hause näherte, fühlte ich eine starke Neigung, umzukehren, denn es wurde mir immer klarer, welch verzweifelter Versuch es sei, einen Eindruck auf Mr. Skimpole zu machen, und wie wahrscheinlich es sei, daß ich ihm gegenüber den Kürzern ziehen würde. Ich dachte jedoch, daß ich, einmal hergekommen, die Sache auch zu Ende führen sollte. Ich klopfte daher mit zitternder Hand an Mr. Skimpoles Tür- buchstäblich mit den Fingerknöcheln, denn der Klopfer war abgebrochen –, bis mich nach langem Debattieren eine Irin einließ, die gerade dabei gewesen war, im Halbkellergeschoß den Deckel eines Wasserfasses mit dem Schüreisen zu Brennholz zu zerschlagen.

Mr. Skimpole lag in seinem Zimmer auf dem Sofa, spielte Flöte und war anscheinend entzückt, mich zu sehen. Er fragte mich, wer mich in aller Form empfangen sollte? Wer mir als Zeremonienmeisterin am liebsten wäre? Welche von seinen Töchtern es sein sollte, die Komödien-, die Schönheits- oder die Gemütstochter? Oder ob alle drei auf ein Mal, wie ein Blumenstrauß?

Schon halb besiegt, gab ich zur Antwort, daß ich mit ihm allein zu sprechen wünschte, wenn er es erlaubte.

»Meine liebe Miß Summerson, mit dem größten Vergnügen! Natürlich«, sagte er, indem er seinen Stuhl neben den meinen schob und gewinnend lächelte. »Natürlich kann es sich nicht um Geschäfte handeln und muß daher ein Vergnügen betreffen.«

Ich sagte, ich käme allerdings nicht in Geschäften, aber trotzdem beträfe es keine angenehme Sache.

»Dann sprechen Sie lieber nicht davon«, riet er mir mit der offenherzigsten Heiterkeit. »Warum wollen Sie von etwas sprechen, das nicht angenehm ist? Ich tue das nie. Und Sie sind in jeder Hinsicht ein viel angenehmeres Wesen als ich. Sie sind vollkommen Sonnenschein, und ich bin es nur in unvollkommenem Maße, wie viel weniger dürfen Sie daher von einer unangenehmen Sache sprechen, wenn ich es nicht tue! Das wäre also abgemacht, und wir wollen von etwas anderm reden.«

Obgleich ich verlegen war, so faßte ich mir doch ein Herz, ihm anzudeuten, daß ich trotzdem die Sache nicht fallen lassen könnte.

»Mr. Skimpole«, begann ich und blickte ihn fest an, »ich habe Sie so oft sagen hören, daß Ihnen die Angelegenheiten des täglichen Lebens ganz fremd sind –«

»Sie meinen unsre drei Bankierfreunde, Pfund, Schilling, und wie heißt der jüngste Associe doch? Penny?« unterbrach mich Mr. Skimpole fröhlich. »Habe keinen Begriff von ihnen.«

»– daß Sie vielleicht deshalb meine Keckheit entschuldigen werden. Ich – ich glaube, Sie sollten sich allen Ernstes vor Augen halten, daß Richard ärmer ist, als er je war –«

»Mein Gott! Das bin ich doch auch, höre ich allgemein.«

»– und in sehr bedrängten Umständen.«

»Ganz genau mein Fall«, sagte Mr. Skimpole mit erfreuter Miene.

»Das bereitet natürlich Ada gegenwärtig viel geheimen Kummer, und da ich glaube, daß sie sich weniger Sorgen macht, wenn sie weniger durch Besuche in Anspruch genommen wird, und überdies Richard immer eine große Sorge auf der Seele liegt, so habe ich es für meine Pflicht gehalten, mir die Freiheit zu nehmen, Sie zu bitten – lieber – nicht…«

Es wurde mir schwer, meine Bitte auszusprechen; aber er nahm jetzt meine beiden Hände und kam mir mit strahlendem Gesicht und auf das lebhafteste zuvor.

»Nicht hingehen? Gewiß nicht, meine liebe Miß Summerson, ganz gewiß nicht. Warum sollte ich hingehen? Wenn ich irgendwohin gehe, tue ich es immer nur des Vergnügens wegen. Um mir Schmerz zu bereiten, gehe ich keinen Schritt, weil ich für Vergnügen geschaffen bin. Der Schmerz kommt schon zu mir, wenn er mich braucht. Nun habe ich letzter Zeit sehr wenig Vergnügen bei unserm guten Richard gefunden, und Ihr praktischer Scharfsinn sagt Ihnen, warum. Unsre jungen Freunde verlieren die jugendliche Poesie, die sie einst so anziehend machte, und fangen an zu denken: das ist ein Mann, der Pfunde braucht. Das stimmt allerdings bei mir; ich brauche immer Pfunde; nicht für mich, sondern weil beständig Gewerbsleute sie von mir verlangen. Weiters fangen unsre jungen Freunde an, berechnend zu denken: das ist ein Mann, der sich immer Geld ausgeborgt. Und das stimmt wieder. Ich borge mir immer Geld aus. So sinken unsre jungen Freunde zur Prosa herab, was sehr zu bedauern ist, und büßen ihre Fähigkeit, Vergnügen zu bereiten, ein. Weshalb sollte ich sie daher besuchen? Höchst überflüssig!«

Durch das strahlende Lächeln, mit dem er mich während dieser Rede ansah, glänzte jetzt ein Blick uneigennützigen Wohlwollens, der wahrhaft erstaunlich war.

»Außerdem«, fuhr er in seinem Tone leichtherziger Überzeugung fort, »wenn ich nirgends hingehe, um Schmerz zu suchen – was eine Verkehrung meines Lebenszweckes und etwas ganz Ungeheuerliches für mich wäre –, warum sollte ich es tun, um andern Schmerz zu bereiten? Und wenn ich fortführe, unsre jungen Freunde in ihrer gegenwärtigen schlechten Gemütsverfassung zu besuchen, so würde ich ihnen Schmerz verursachen. Mein bloßer Anblick müßte sie verstimmen. Sie könnten sagen, das ist der Mann, der sich Geld von uns ausborgte und es nicht bezahlen kann; was ich natürlich nicht: kann; nichts steht so außer aller Frage wie das. Daher gebietet die Freundschaft, fernzubleiben, und das werde ich auch tun.«

Er schloß, indem er mit Wärme meine Hand küßte und mir dankte. Nur Miß Summersons feinem Takt, sagte er, verdanke er, darauf aufmerksam geworden zu sein.

Ich war sehr in Verlegenheit, tröstete mich aber mit dem Gedanken, daß, wenn nur der Hauptzweck erreicht sei, es wenig darauf ankomme, welch seltsam verdrehter logischer Denkschlüsse sich Mr. Skimpole bediene. Ich hatte mir jedoch vorgenommen, noch etwas zur Sprache zu bringen, und dachte, wenigstens in diesem Punkte nicht schachmatt gesetzt werden zu können.

»Mr. Skimpole«, sagte ich, »ehe ich meinen Besuch beendige, muß ich mir noch die Freiheit nehmen, Ihnen zu sagen, daß ich zu meinem größten Erstaunen vor kurzem aus zuverlässigem Munde erfahren habe, daß Sie wußten, mit wem jener arme Knabe von Bleakhaus wegging, und daß Sie bei dieser Gelegenheit ein Geschenk angenommen haben. Ich habe meinem Vormund nichts davon gesagt, weil ich fürchtete, ihm unnötigerweise weh zu tun, aber Ihnen kann ich ja sagen, daß ich mich sehr darüber gewundert habe.«

»O? Wirklich gewundert, meine liebe Miß Summerson?« entgegnete er und zog lächelnd die Augenbrauen in die Höhe.

»Höchlichst gewundert.«

Er dachte mit einem höchst freundlichen Gesicht eine kleine Weile nach, gab es aber dann auf und sagte in seiner gewinnendsten Weise:

»Sie wissen, was für ein Kind ich bin. Warum gewundert?«

Ich ging ungern näher auf die Frage ein, aber da er mich darum bat und wirklich neugierig auf meine Antwort zu sein schien, gab ich ihm mit den zartesten Worten, die ich finden konnte, zu verstehen, daß er durch sein Benehmen seine moralischen Verpflichtungen verletzt habe. Dies zu hören, ergötzte und interessierte ihn höchlichst, und er sagte mit wahrhaft kindlicher Einfalt: »Oh, wirklich?«

»Sie wissen, mir geht der Sinn für Verantwortlichkeit vollständig ab. Verantwortlichkeit ist etwas, das immer für mich zu hoch – oder zu niedrig gewesen ist«, sagte er. »Ich weiß nicht einmal, was von beiden; aber wenn ich den Standpunkt recht verstehe, von dem aus meine liebe Miß Summerson, die ich stets wegen ihrer praktischen Einsicht und Klarheit bewundere, den Fall beurteilt, möchte ich denken, es drehe sich hauptsächlich um die Geldfrage, nicht wahr?«

Unvorsichtigerweise stimmte ich bei.

»Ah! Dann müssen Sie aber selbst einsehen, daß ich es ganz unmöglich begreifen kann.«

Als ich aufstand, um zu gehen, gab ich ihm noch zu verstehen, daß es überdies unrecht sei, das Vertrauen meines Vormundes um eine Bestechungssumme zu mißbrauchen.

»Meine liebe Miß Summerson«, entgegnete er mit der heiteren Offenherzigkeit, die ihm eigen war, »ich kann nicht bestochen werden.«

»Auch nicht von Mr. Bucket?«

»Nein. Von niemandem. Ich lege doch nicht den mindesten Wert auf Geld! Ich kümmere mich nicht darum, ich verstehe nichts davon, ich brauche keins, ich behalte keins, – es schwindet mir unter der Hand weg. Wie kann ich da bestochen werden?«

Ich ließ ihn merken, daß ich andrer Meinung sei, wenn ich auch nicht die Fähigkeit besäße, über die Sache zu disputieren.

»Im Gegenteil«, fuhr er fort, »ich bin gerade der Mann, der in einem solchen Falle höher als andre steht. Ich stehe in einem solchen Falle über der Menschheit. Ich kann in einem solchen Falle als Philosoph handeln. Ich bin nicht in Vorurteile eingeschnürt wie ein italienischer Säugling in seine Windeln. Ich bin so frei wie die Luft. Ich fühle, daß ich so hoch über jedem Verdacht stehe wie Cäsars Frau.«

– So etwas wie die naive Unbefangenheit seines Wesens und die spielerische Unparteilichkeit, mit der er sich selbst zu überzeugen schien und die Frage wie einen Federball hin und her warf, war gewiß noch nicht dagewesen. –

»Fassen Sie den Fall wohl ins Auge, meine liebe Miß Summerson. Die Sache liegt so: Ein Knabe wird in einem Zustande, gegen den ich äußerst viel einzuwenden habe, in das Haus aufgenommen und zu Bett gebracht. Kaum ist das geschehen, steht plötzlich ein Mann da – wie ein Pilz aus dem Boden geschossen. Der Mann wünscht über den Knaben, gegen dessen Gesundheitszustand ich ausnehmend viel einzuwenden habe und der in das Haus aufgenommen und zu Bett gebracht worden ist, Näheres zu wissen. Er zieht eine Banknote hervor, und Skimpole nimmt sie an. Das sind die Tatsachen. Sehr gut. Sollte der Skimpole die Banknote ausschlagen? Warum sollte Skimpole die Banknote ausschlagen? Skimpole sagt zu Bucket: ‚Wofür ist das? Ich verstehe es nicht. Es nützt mir nichts, nehmen Sie es wieder zurück.‘ Aber Bucket bittet Skimpole, die Banknote anzunehmen. Gibt es Gründe, warum Skimpole, der von Vorurteilen frei ist, es annehmen sollte? Ja. Skimpole sieht sie. Was sind diese Gründe? Skimpole sagt sich: Dieser Mann ist ein gezähmter Luchs, ein tätiger Polizeibeamter, ein gescheiter Mann, eine Person von einer nach einer eigentümlichen Richtung gehenden Energie und großer Schlauheit im Entwerfen und Ausführen seiner Pläne. Ein Mann, der unsre Freunde und Feinde für uns findet, wenn wir sie suchen müssen, der unser Eigentum wieder zur Stelle schafft, wenn wir bestohlen worden sind, der uns in aller Ruhe rächt, wenn wir totgeschlagen worden sind. Dieser tätige Polizeibeamte und gescheite Mann hat in der Ausübung seines Amtes einen starken Glauben an die Macht des Geldes gewonnen; er findet, daß es ihm sehr nützlich ist, und verwendet es auf eine der Gesellschaft sehr nützliche Weise. Soll ich diesen Glauben Buckets erschüttern, wo ich seiner vielleicht einmal selbst bedarf? Soll ich mit voller Überlegung eine von Buckets Waffen abstumpfen ? Soll ich möglicherweise Buckets Kraft für seine nächsten Operationen lähmen?

Und weiter: Wenn es tadelnswert von Skimpole ist, die Banknote anzunehmen, so ist es tadelnswert von Bucket, die Note anzubieten, viel tadelnswerter von ihm, weil er der erfahrene Mann ist. Nun wünscht Skimpole gut von Bucket zu denken; Skimpole hält es bei den heutigen gesellschaftlichen Zuständen für direkt wesentlich, gut von Bucket zu denken. Der Staat fordert ihn ausdrücklich auf, Bucket Vertrauen zu schenken, und er tut es. Und weiter tut er nichts!«

Ich hatte auf diese Auseinandersetzung nichts zu erwidern und nahm daher Abschied. Mr. Skimpole jedoch, der bei vortrefflicher Laune war, wollte durchaus nicht gestatten, daß ich, nur von der kleinen »Coavinses« begleitet, nach Hause ginge, und geleitete mich daher selbst. Unterwegs unterhielt er mich auf die fesselndste und angenehmste Weise und gab mir beim Abschied die Versicherung, daß er niemals vergessen werde, mit welch feinem Takt ich ihn auf die Punkte betreffs unsrer jungen Freunde aufmerksam gemacht hätte.

Da ich nie wieder mit Mr. Skimpole zusammenkam, will ich gleich hier seine Geschichte auserzählen, soweit ich sie kenne. Hauptsächlich aus den vorerwähnten Gründen, und weil er die Bitten meines Vormundes in bezug auf Richard gewissenloserweise nicht beachtete – wie wir später von Ada erfuhren –, trat zwischen beiden eine Entfremdung ein. Daß er bedeutend in der Schuld meines Vormundes stand, hatte natürlich nichts damit zu tun. Als er ungefähr fünf Jahre später starb, hinterließ er ein Tagebuch mit Briefen und andern »Belegen«, das im Druck erschien und zeigte, daß er das Opfer einer Verschwörung der Menschheit gegen ein liebenswürdiges Kind geworden sei. Man rühmte es als eine sehr amüsante Lektüre, aber ich habe nie mehr als den Satz gelesen, auf den mein Auge zufällig, als ich den Band aufschlug, fiel. Er lautete: »Jarndyce ist, wie die meisten andern Menschen, die ich kennen gelernt habe, die verkörperte Selbstsucht.«

Und nun komme ich zu einem Teil meiner Geschichte, der mich sehr nahe angeht und auf den ich gar nicht gefaßt war, als sich der Vorfall, den ich jetzt erzählen will, ereignete.

Wenn noch einige sehnsüchtige Gedanken in bezug auf mein früheres Aussehen dann und wann in mir aufgetaucht waren, so tauchten sie nur auf wie Erinnerungen an einen Teil meines hinter mir liegenden Lebens – in der Vergangenheit unwiederbringlich versunken wie meine Kindheit. Ich habe keine von meinen vielen Schwächen hinsichtlich dieses Punktes verschwiegen, sondern sie so getreulich niedergeschrieben, wie es mir mein Gedächtnis erlaubte. Und ich hoffe und gedenke dasselbe bis zum letzten Ende dieser Blätter zu tun, das ich in nicht zu weiter Ferne bereits vor mir liegen sehe.

Die Monate verflossen, und mein Herzenskind, aufrecht erhalten von der Hoffnung, die es mir anvertraut hatte, blieb derselbe schöne Stern in dem elenden Winkel. Abgespannter und hohläugiger Tag für Tag besuchte Richard den Gerichtshof; teilnahmslos und still saß er dort die langen Stunden, selbst wenn er wußte, daß keine Aussicht auf eine Verhandlung seines Prozesses vorhanden war, und wurde so zu einer der typischen Gestalten des Ortes. Ich möchte gern wissen, ob einer der Herren sich seiner erinnerte, wie er war, als er das erste Mal dort erschien.

Seine fixe Idee hielt ihn so vollkommen umstrickt, daß er in seinen heitern Augenblicken zu gestehen pflegte, er würde jetzt nie frische Luft schöpfen gehen, außer Woodcourt zu Liebe. Bloß dieser brachte es zuwege, gelegentlich ein paar Stunden hintereinander seine Aufmerksamkeit abzulenken und ihn aufzurütteln, wenn er in eine Lethargie des Geistes und des Körpers versank, die uns durch ihre von Monat zu Monat immer häufiger werdende Wiederkehr außerordentlich beunruhigte.

Meine Herzens-Ada hatte recht, wenn sie sagte, daß er seinen Irrlichtern ihretwegen nur um so verzweifelter nachjagte. Ich bezweifle nicht, daß sein Kummer um sein junges Weib seinen heißen Wunsch, das Verlorene wieder zu gewinnen, noch brennender machte, bis er schließlich zum Wahnsinn eines Spielers ausartete.

Ich besuchte sie, wie ich schon erwähnt habe, zu allen Stunden. Wenn ich abends bei ihnen war, fuhr ich meistens mit Charley nach Hause; manchmal erwartete mich auch mein Vormund in der Nachbarschaft, und wir gingen dann zusammen heim. Eines Abends hatten wir besprochen, uns um acht Uhr zu treffen. Ich konnte nicht ganz pünktlich gehen, was ich sonst für gewöhnlich tat, denn ich arbeitete etwas für meine gute Ada und hatte noch ein paar Stiche zu machen, um fertig zu werden – aber bereits ein paar Minuten nach der bestimmten Stunde konnte ich mein kleines Arbeitskörbchen zusammenpacken, gab meinem Herzenskinde zum Abschied für die Nacht noch einen Kuß und eilte die Treppe hinunter. Mr. Woodcourt begleitete mich, da es schon dämmerig war.

Als wir an den Ort kamen, wo wir uns treffen sollten – es war nicht weit, und Mr. Woodcourt hatte mich oft bis dahin begleitet –, war mein Vormund nicht da. Wir warteten eine halbe Stunde und gingen unterdessen auf und ab; aber er kam nicht. Wir glaubten, es hätte ihn entweder etwas abgehalten oder er sei dagewesen und wieder fortgegangen; und Mr. Woodcourt erbot sich, mich nach Hause zu bringen.

Es war der erste längere Gang, den wir zusammen machten, und wir sprachen auf dem ganzen Wege von Richard und Ada. Ich dankte ihm nicht in Worten für das, was er getan – ich dachte zu hoch davon, als daß ich es mit Worten hätte ausdrücken können –, aber ich hoffte innerlich, er werde etwas von dem ahnen, was ich so tief fühlte.

Als wir zu Hause ankamen und hinaufgingen, bemerkten wir, daß sowohl mein Vormund wie auch Mrs. Woodcourt ausgegangen waren. Wir befanden uns in demselben Zimmer, in das ich meine errötende Ada geführt hatte, als ihr jugendlicher Geliebter, jetzt ihr so veränderter Gatte, der Erwählte ihres jungen Herzens gewesen war – in demselben Zimmer, aus dem mein Vormund und ich sie einst in der frischen und hoffnungsreichen Blüte ihrer Jugend in den Sonnenschein hatten hinaustreten sehen.

Wir standen am offenen Fenster und blickten die Straße hinab, als Mr. Woodcourt zu sprechen anfing. Ich wußte in einem Augenblick, daß er mich liebte; ich wußte in einem Augenblick, daß mein vernarbtes Gesicht für ihn noch das alte war. Ich wußte in einem Augenblick, daß das, was ich für Teilnahme und Mitleid gehalten, hingebende, edle, treue Liebe war. Oh, ich wußte es jetzt zu spät. Zu spät, zu spät.

Das war der erste undankbare Gedanke, den ich hatte.

Zu spät!

»Als ich aus Ostindien zurückkehrte«, sagte er zu mir, »und nicht reicher, als ich hingegangen war, und Sie kaum vom Krankenlager erstanden und doch voll von so liebreicher Sorge für andre und so frei von jedem selbstischen Gedanken fand…«

»Oh, Mr. Woodcourt, bitte, sagen Sie das nicht!« bat ich ihn. »Ich verdiene nicht Ihr hohes Lob. Ich hatte damals gar manchen selbstischen Gedanken!«

»Der Himmel weiß, Geliebte meiner Seele«, sagte er, »daß mein Lob nicht das Lob eines Liebenden ist, sondern die Wahrheit. Sie wissen nicht, was alle um Sie in Esther Summerson sehen, wie viele Herzen sie rührt und erweckt, welch heilige Bewunderung und Liebe sie gewinnt.«

»Oh, Mr. Woodcourt«, rief ich, »es ist eine große Sache, Liebe zu gewinnen! Ich bin stolz darauf und fühle mich geehrt dadurch; und es zu hören, macht mich Tränen vergießen, Tränen der Freude und des Schmerzes – der Freude, daß ich sie gewonnen, des Schmerzes, daß ich sie nicht besser verdient habe; aber an Ihre Liebe zu denken, ist mir nicht erlaubt.«

Ich sagte es mit gestärktem Herzen, denn als er mich so pries und ich aus seiner Stimme den Glauben herausklingen hörte, daß das, was er sagte, die Wahrheit sei, da erfüllte mich das Verlangen, mich des Lobes noch würdiger zu machen. Es war nicht zu spät dazu. Wenn ich diese Seite meines Lebens, die die Hand des Schicksals jetzt in so ungeahnter Weise und so plötzlich beschrieben, entschlossen umwendete, konnte ich ihrer mein ganzes Leben lang würdiger sein. Und es war mir ein Trost und ein neuer Sporn, und ich empfand in mir etwas wie einen inneren Wert, den ich ihm verdankte, wenn ich so dachte.

Er brach das Schweigen.

»Ich würde eine armselige Probe des Vertrauens geben, das ich auf die Geliebte setze, die mir für alle Zeit gleich teuer sein wird« – der innige Ernst, mit dem er dies sagte, gab mir zugleich Kraft und machte mich weinen – »wenn ich nach ihrer Versicherung, daß es ihr nicht erlaubt ist, an meine Liebe zu denken, weiter in sie drängen wollte. Teuerste Esther, erlauben Sie mir nur, Ihnen zu sagen, daß die innige Zuneigung, die ich für Sie mit übers Meer nahm, in den Himmel wuchs, als ich nach Hause zurückkehrte. Ich habe immer gehofft, Ihnen dies in der ersten Stunde, wo nur ein Strahl von Glück auf mich fallen würde, sagen zu können. Ich habe stets gefürchtet, daß ich vergeblich zu Ihnen sprechen würde. Meine Hoffnungen und Befürchtungen haben sich an diesem Abend bestätigt. Aber ich sehe, ich tue Ihnen weh. Ich habe genug gesagt.«

Etwas schien an meine Stelle zu treten, das dem Engel glich, für den er mich hielt, und der Verlust, den er erlitten, betrübte mich tief! Ich wünschte ihn in seinem Kummer zu trösten, wie damals, als ihm das Mitleid mit mir auf dem Gesichte geschrieben stand.

»Lieber Mr. Woodcourt«, begann ich, »ehe wir heute voneinander gehen, muß ich Ihnen noch etwas sagen. Ich könnte es nie so tun, wie ich wünschte – es ist unmöglich – aber –«

– Ich mußte noch einmal an meinen Entschluß denken, seiner Liebe und seines Schmerzes würdiger zu werden, bevor ich fortfahren konnte. –

»– ich empfinde Ihre Hochherzigkeit aufs tiefste und werde die Erinnerung daran bis zu meiner letzten Stunde in meinem Herzen bewahren. Ich weiß vollkommen, wie sehr ich verändert bin, ich weiß, daß Ihnen meine Geschichte nicht unbekannt ist, und weiß, was für eine große Liebe es sein muß, die so treu aushält. Was Sie mir gesagt haben, hätte mich von keinen andern Lippen so rühren können, aus keinem andern Munde hätte es solchen Wert für mich gehabt. Es wird nicht verloren sein. Es wird mich besser machen.«

Er bedeckte die Augen mit der Hand und wendete sich ab.

– Wie werde ich mich jemals dieser Tränen würdig machen können?-

»Wenn Sie in dem unveränderten Verkehr, den wir miteinander haben werden, indem wir über Richard und Ada wachen – und ich hoffe, unter fröhlicheren Lebensverhältnissen –, etwas in mir entdecken, das Sie wirklich für besser halten können, als es früher war, so glauben Sie, daß es von heute abend herrührt und ich es Ihnen verdanke. Und glauben Sie niemals, lieber, lieber Mr. Woodcourt, glauben Sie niemals, daß ich diesen Abend vergessen könnte oder daß ich, solange mein Herz schlägt, nicht voll des Stolzes und der Freude sein müßte, von Ihnen geliebt worden zu sein.«

Er ergriff meine Hand und küßte sie. Er hatte sich wieder vollständig gefaßt, und ich fühlte mich noch mehr ermutigt als vorher.

»Nach dem, was Sie soeben erwähnten«, fragte ich, »kann ich wohl annehmen, daß Ihre Bemühungen Erfolg hatten?«

»Ja«, gab er zur Antwort. »Mit der Hilfe, die mir Mr. Jarndyce, wie Sie sich leicht denken können, wo Sie ihn so gut kennen, hat angedeihen lassen.«

»Der Himmel segne ihn dafür«, sagte ich und reichte Mr. Woodcourt die Hand, »und der Himmel segne Sie in allem Ihrem Tun.«

»Ihr Segenswunsch wird mir ein Sporn sein; er wird mich meine neuen Pflichten wie ein mir von Ihnen vertrautes heiliges Amt betrachten lassen.«

»Ach, Richard!« rief ich unwillkürlich aus. »Was wird aus ihm werden, wenn Sie fort sind?«

»Ich brauche jetzt noch nicht zu gehen, und würde ihn auch nicht verlassen, wenn ich jetzt fort müßte, liebe Miß Summerson.«

Noch einen andern Gegenstand mußte ich berühren, fühlte ich, ehe er mich verließ. Ich wußte, daß ich seiner Liebe, die ich nicht annehmen konnte, nicht würdiger sein würde, wenn ich es unterließ.

»Mr. Woodcourt«, sagte ich also, »es wird Sie gewiß freuen, aus meinem Munde, ehe ich Ihnen gute Nacht sage, zu hören, daß ich in der Zukunft, die so klar und hell vor mir liegt, glücklich und sorgenlos sein und nichts zu beklagen und nichts zu wünschen haben werde.«

Es freue ihn wirklich von ganzer Seele, das zu hören, gab er zur Antwort.

»Von Kindheit an«, fuhr ich fort, »bin ich der Mittelpunkt der unerschöpflichen Güte des besten aller Menschen gewesen. Ich bin durch jedes Band von Zuneigung, Dankbarkeit und Liebe so fest an ihn geknüpft, daß alles, was ich im Laufe eines ganzen Lebens tun könnte, nicht imstande wäre, die Gefühle eines einzigen Tages auszudrücken.«

»Ich teile diese Gefühle«, entgegnete er. »Sie sprechen von Mr. Jarndyce.«

»Sie kennen seine hohen Eigenschaften, Mr. Woodcourt, aber wenige sind imstande, die Größe seines Charakters so zu kennen wie ich. Aber alle seine schönsten und besten Eigenschaften sind mir noch nie in glänzenderem Lichte erschienen als in der Aussicht auf die Zukunft, in der ich mich so glücklich fühle, und wenn Sie ihm noch nicht die höchste Verehrung und Achtung zollten, so würden Sie es jetzt, glaube ich, nach dieser Versicherung tun, und infolge des Gefühls, das Sie meinetwegen für ihn empfinden müßten.«

Er antwortete mit Innigkeit, ich wisse gar nicht, wie hoch er Mr. Jarndyce schätzte, und ich reichte ihm abermals die Hand.

»Gute Nacht!« sagte ich. »Leben Sie wohl…!«

»Das erste, bis wir uns morgen wiedersehen; das zweite als einen Abschied von diesem Gegenstand für uns auf immer?«

»Ja.«

»Also, gute Nacht! Leben Sie wohl!«

Er ging, und ich stand an dem dunkeln Fenster und sah auf die Straße hinaus. Seine Liebe hatte mich in ihrer Treue und ihrem Edelsinn so sehr überwältigt, daß er noch keine Minute von mir fort war, als mich all meine Kraft verließ und ein Tränenstrom die Straße vor meinem Blick verhüllte.

Aber es waren nicht Tränen des Schmerzes und der Trauer. Nein. Er hatte mich die Geliebte seiner Seele genannt und gesagt, ich würde ihm immer so teuer bleiben wie jetzt, und diese Worte erfüllten mein Herz mit einem solch seligen Frohlocken, daß ich glaubte, es müsse zerspringen. Ich hatte mein inneres Gleichgewicht wieder gefunden. Es war nicht zu spät, seine Worte zu hören, denn es war nicht zu spät, von ihnen zur Hochherzigkeit, zur Wahrheit, zur Dankbarkeit und zur Zufriedenheit angespornt zu werden.

Wie eben war mein Weg; wie viel ebener als der seinige!