Achzehntes Kapitel

Achzehntes Kapitel

Mehrere Monate sind seitdem verflossen, die Sonne glüht auf den Quadern der öden Paläste, und die Reichen sind längst auf ihre Villen geflüchtet, denn auf den Trümmern der alten Stadt sitzt die Aera cattiva schon wie ein verhülltes Gespenst, Fieber und Wahnsinn brütend. Wie ist Ottos Einsiedelei seitdem so seltsam verwildert! Die Ranken an der Haustür wuchern bis über das Dach hinaus, in dem Gärtchen hat üppiges Unkraut, in roten und gelben Blüten brennend, Beete und Gänge verschlungen. – Da kehrte Otto eines Tages ermüdet von einem weiten Spaziergang zurück, er fand im Hause alles ausgeflogen, nur die Bienen summten einförmig in dem stillen Garten, er fühlte sich unbeschreiblich verlassen, Hausflur, Stuben und Bäume kamen ihm in der ungewohnten Einsamkeit auf einmal so fremd vor, daß er erschrak. Er ging einigemal im Garten auf und nieder, dann setzte er sich zwischen den tief herabhängenden Zweigen an den Tisch und schrieb folgende Zeilen:

Die Nachtigall schweigt, sie hat ihr Nest gefunden,
Träg ziehn die Quellen, die so kühle sprangen,
In trüber Schwüle liegt die Welt gefangen,
So hat den Lenz der Sommer überwunden.
Noch nie hat es die Brust so tief empfunden,
Mir war’s, als ob viel Stimmen heimlich sangen:
Auch dein Lenz, froher Sänger, ist vergangen,
Auf welkem Laub nun liegst du selbst gebunden.
O komm, Geliebte, komm zu mir zurücke!
Daß ich in deinen Augen wieder lesen
Mein Hoffen kann, mein Singen und mein Lieben!
Doch weh! wie fremd sind plötzlich deine Blicke,
Als wärst du’s, die ich meinte, nie gewesen –
Wie einsam bin ich in der Welt geblieben.
Mein Weib schwärmt beständig,
Und Deutschland liegt so weit,
Das Dichten geht elendig
In meiner Einsamkeit.
Ich dehne alle Glieder
Aus dieser schwülen Gruft,
O Herr, gib Frühling wieder,
Luft, frische, freie Luft!

Als er von dem Blatt aufsah, hörte er draußen Vorübergehende reden in der fremden Sprache, aber ein Vogel über ihm sang wie ehemals in Hohenstein – er drückte die Stirn über beide Arme auf den Tisch und weinte aus Herzensgrunde.

Da hörte man plötzlich im Hause eine liebliche Stimme einzelne Klänge aus Opernarien theatralisch anschlagen. Eine junge Dame in reicher, eleganter Kleidung trat in den Garten und hob den seidenen Hut vom Köpfchen, die reichen Locken ringelten über den schönen, vollen Nacken hinab – es war Annidi, wie war sie seitdem so prächtig geworden! Sie warf ihre Handschuh der dienstfertig herbeieilenden Mutter nachlässig zu, während ihr Vater, der sie als Bedienter begleitet zu haben schien, im Hause Schal und Sonnenschirm niederlegte. »Der Graf Archimbaldi läßt dich grüßen«, sagte sie zu Otto, »aber die ganze Noblesse wundert sich, lieber Mann, daß du so menschenscheu bist und immerfort studierst, der lustige Duca sagte: Weisheit mache weiße Köpfe. Auch die junge Malerfrau war heute dort, mein Gott, wie war die angezogen! Der junge Mensch flüsterte mir heimlich ins Ohr, sie sei wahrscheinlich, erst halb schraffiert und grundiert, ihrem Pinsel von Mann entlaufen.«

Hier brach sie plötzlich erschrocken ab, da Otto endlich aufsah und ihr das bleiche, wüste Gesicht zuwandte. Sie hielt ihn für krank, sie ließ es sich nicht ausreden. Die Mutter mußte sogleich nach der Küche laufen, es wurde Tee gekocht, herzstärkende Tropfen geholt und Kräuter gestampft mit großem Geräusch. – »Mir geschieht schon recht«, rief Otto mit schneidender Bitterkeit aus, »ihr habt ganz recht, mit den Fingern nach mir zu weisen. Doch ich will einen Strich durch die Rechnung meines Lebens machen, o ja, ich will ja auch lustig sein, daß mir das Herz zerspringt!« – Aber wie es in solchen fällen wohl geht, Annidi hatte ihn ganz mißverstanden. – »Wahrhaftig«, – sagte sie, vertraulich näher tretend – »Du magerst mir ganz ab bei dem Leben, und ich wollt‘ es dir schon lange einmal sagen: so fleißig wie du bist, es kann dir ja doch am Ende einerlei sein, was du schreibst. Da ist der junge Schreiber uns gegenüber, du schreibst eine bessere Hand als er, das sagen alle, und was verdient der, wie lebt der gegen uns!«

Da kam die Mutter mit dem Tee, Otto wies sie so heftig von sich, daß Kanne und Tassen übereinanderstürzten. »Das kommt von dem ewigen Sitzen und Brüten«, sagte der erstaunte Vater in der Haustür. – »Ja, und jede Henne brütet doch mehr aus fürs Haus als er«, brummte die Mutter. Otto aber, um nur aus alle dem Plunder herauszukommen, war schon aus dem Garten und Hause fort und schweifte, so müde er war, in der Abendkühle durch die Gassen und dunkelnden Felder, bis die Nacht völlig hereinbrach.

Als er zurückkehrte, war schon alles still im Hause, es ärgerte ihn heimlich, daß Annidi nicht besorgter war um ihn. Er fand sie droben eingeschlafen, der Mondschein machte ihre Züge so mild, ach, und sie war so schön! Da blickte er durchs offene Fenster über die Dächer in die mondbeglänzten Abgründe der Stadt hinab, einzelne Wolken flogen darüber nach seiner fernen Heimat zu. – »Wunderbar«, sagte er zu sich selbst, »schon in meiner Kindheit, wie oft bei stiller Nacht im Traume hört‘ ich der fernen Roma Glocken schallen, und nun, da ich hier bin, hör‘ ich sie wie damals wieder aus weiter, weiter Ferne, als gäb‘ es noch eine andere Roma weit hinter diesen dunkelen Hügeln.«

In dieser Zeit traf es sich, daß in der Nähe von Rom auf dem Lande eine Kirchweihe gefeiert wurde. Annidi dünkte sich zu vornehm, um an dem Feste teilzunehmen. Otto aber, den es heimlich verdroß, warf einmal alle Papiere und Bücher beiseite und eilte hinaus ins Freie. Es war in den ersten linden Herbsttagen, ein warmer Regen hatte die Gegend erfrischt, Otto atmete tief auf, es war ihm, als wanderte er wieder nach Hohenstein. Je tiefer er ins Tal hinabstieg, je belebter wurden allmählich Busch und Felder, bunte Züge von Reitern und Spaziergängern schlangen sich wie Blumenkränze durchs Grün, von den Waldeswiesen schimmerten farbige Zelte, zwischen denen zerstreute Gruppen fröhlich lagerten, während luftige Gestalten im Ballspiel über den Rasen hin und her schwebten. Mitten in dieser Wirrung aber bemerkte Otto einen schlanken Zitherbuben, der auf seinem geschmückten Pferde langsam über die beglänzte Au dahinritt. Ein voller Kranz von frischem Weinlaub umschloß seinen Hut, von dem bunte Bänder in der Abendluft flatterten, von Zeit zu Zeit gab er einen vollen Klang auf der Zither. – Otto folgte der zierlichen Erscheinung, erstaunte aber nicht wenig, als der Knabe auf einmal deutsch zu singen begann:

    Die Lerch, der Frühlingsbote,
Sich in die Lüfte schwingt,
Eine frische Reisenote
Durch Wald und Herz erklingt!

»Mein Gott«, rief Otto sich besinnend aus, »das ist ja das Reiselied, das ich so oft in Deutschland gesungen habe.« – Er trat näher, der Zitherbube sang wieder:

Die Wolken ziehn hernieder,
Die Lerche senkt sich gleich
Gedanken gehn und Lieder
Ins liebe deutsche Reich.

Aber eh‘ ich ihnen selbst nachreite, muß ich vorher trinken, denn ich bin erdurstet«, unterbrach sich hier plötzlich der Knabe, während er vor einer Laube anhielt und lachend von seinem Pferdchen dem Otto fast in die Arme sprang. Dieser erkannte er nun Kordelchen, die ihn schon längst in der Menge hinter sich bemerkt hatte.

Sie zog ihn in die Laube, Guido und ihre anderen Begleiter, sagte sie, kauerten soeben wie Nachteulen in Ruinen und Felsenritzen, um zu zeichnen, überdies habe sie sich auch mit ihnen verzankt. – »Aber wie siehst du aus!« rief sie dann, Otton genauer betrachtend, »nüchtern und blaugrün, wie eine leere Weinflasche! Das kommt vom Ehestande. Armer Junge! bliebst du mir treu, so wärest du nicht in das Unglück geraten.« – Sie bestellte nun Wein, und sie setzten sich zusammen in die Laube. Otto hatte seit Monaten keinen Bekannten gesehen, nun war ihm nach der langen Einsamkeit wie einem Genesenen, der zum erstenmal wieder in die frische Luft kommt. »Sieh, Kordelchen«, sagte er fröhlich, »gerade in solchen linden Tagen war es auch, als wir uns zum erstenmal in Deutschland sahen.« – »Ganz recht«, erwiderte sie mit leuchtenden Augen, »wir rasteten eben unter einer alten Burg im Grün, da kam er aus dem Walde und sagte, er wollte mit uns ziehen.« – Sie meinte Lotharion, Otto dachte, sie spräche von ihm. »Wahrhaftig«, fuhr er fort, »mir ist heute als käme der Frühling wieder.« »Ach nein, nein«, sagte sie traurig, »der kommt nicht mehr wieder.« – Sie nippte schnell am Weinglas, um die Augen zu verbergen, die von Tränen glänzten, dann wandte sie das schöne, von Locken und Weinlaub verhängte Gesichtchen wieder heiter nach Otto herum. Da bemerkte sie, daß er, auf beiden Armen über den Tisch gelehnt, sie mit einem langen, wirren Blick ansah, den sie gar wohl verstand; sie schien davon überrascht, beugte sich plötzlich vor ihn und sah ihm halb fragend in die Augen. Da hielt er sich nicht länger, er drückte sie mit glühenden Küssen an sich. Sie erwiderte flüchtig den Kuß und sprang dann rasch auf. »Ei Ehemann!« rief sie mit dem Finger drohend, schwang sich behend auf ihr Pferdchen, und war im Augenblick zwischen den Zelten und Büschen verschwunden.

Otto hatte nun den Wein zu bezahlen, die Neige kam ihm jetzt schal vor, da sie die brennendroten Lippen nicht mehr darin kühlte. Draußen aber war unterdes der Abend verklungen und verblüht, nur von den Bergen sah man noch einzelne Leuchtkugeln aufsteigen. Wie im Taumel wanderte er zwischen den Gitarrenklängen, dem Singen und Plaudern der Heimschwärmenden durch die laue Nacht, als mitten in dem Jubel eine dunkle Gestalt an ihm vorüberstreifte, dann aber, plötzlich zurückgewandt, ihm fest ins Auge blickte. Mit Erstaunen sah er den Maler Albert vor sich stehen: ganz bleich, verwildert und abgerissen. – »Mein Gott! Wie kommen Sie nach Rom, und in diesem Zustande?« rief der Überraschte aus. – »Verloren, alles verloren!« erwiderte Albert finster und mit solchem Ausdruck des tiefsten Grams, daß Otton schauderte. »Aber hier belauscht uns der Mond noch, auch er ist falsch in diesem Lande«, fuhr er fort, indem er Ottos Hand faßte und ihn tiefer in den Wald hineinzog. Rasch und unzusammenhängend erfuhr nun Otto, daß sein wunderlicher Landsmann, von heimlich aufschlagenden Freiheitsflammen von neuem auf diesen vulkanischen Boden verlockt, schon seit längerer Zeit hier heimlich mit wenigen Gleichgesinnten seine Kunst, Gut und Leben an eine Tollheit gesetzt, daß aber jetzt alle Pläne gescheitert und er selbst als Carbonaro verfolgt werde. – Der gutmütige Otto bot sogleich alle seine Kräfte, Geld und Verbindungen zur Hülfe an, er wollte den Unglücklichen zunächst in seinem Hause verbergen, bis sich Gelegenheit fände, ihn heimlich aus dem Lande zu schaffen. Aber Albert schüttelte den Kopf, daß ihm die langen, struppigen Haare Augen und Wangen bedeckten. »Nicht um mich handelt sich’s hier«, sagter er, »sondern um die Schmach der Zeit. Horch, wie sie draußen jauchzen und mit den Sklavenketten lustig klingeln – das ist’s, was mir das Herz frißt!« Hier hörte man verworrene Männerstimmen weiter unten im Walde, die sich zu nähern schienen. Albert blickte wild um sich und zog einen Degen unter seinem Mantel hervor. Otto erkannte sogleich das Schwert vom großen Kriegsjahre dreizehn wieder. »Die Sbirren sind mir auf der Spur«, flüsterte er, »eilen Sie fort, es ist gefährlich, die Bahn eines Geschicks zu kreuzen.« Aber Otto war fest entschlossen, lieber das Äußerste zu wagen, als den Verwirrten in dieser Not zu verlassen. Rasch und geräuschlos schritten sie unterdes immer höher ins Gebirge hinauf, Albert hieb sich mit seinem Schwerte Bahn durch das Gestrüpp, aus welchem verstörte Schlangen nach den Steinritzen schlüpften. So waren sie auf einen Felsen gekommen, der schwindelerregend über eine unermeßliche, dämmernde Tiefe hinüberhing. Albert stand am äußersten Rande und wies mit seinem Schwerte schweigend in die Ferne. – »Großer Gott, wie herrlich!« rief Otto überrascht aus – Rom lag da unten still und feierlich im Mondglanz. – Da hörte er auf einmal ein Geräusch, er sah Albert plötzlich wanken, sinken. Der Unglückliche hatte sich mit heidnischer Tugend in sein eignes Schwert gestürzt. – »Grüße das Vaterland – ich sterbe – frei«, sagte er ohne Zeichen des Schmerzes, wehrte die Hand des hinzugesprungenen Otto kräftig ab und glitt, eh‘ ihn dieser wieder fassen konnte, rettungslos in den Abgrund hinab.

Entsetzt beugte sich Otto über die Felsenwand, es war alles still unten, nur der Strom rauschte zornig herauf – da faßte ihn ein unwiderstehliches Grauen, halb bewußtlos schwang er sich von Klippe zu Klippe den Berg hinunter. Im Fliehen bemerkte er seitwärts in dem Abgrunde mehrere dunkle, bewaffnete Gestalten mit Fackeln, die den Toten in ihrer Mitte gräßlich beleuchteten. Nun schlugen hin und wieder Hunde an, einzelne Stimmen wurden in dem Tale wach, der Widerschein der Windlichter spiegelte sich wild im Flusse. Otto wagte nicht mehr zurückzublicken, schauernd flog er über die stillen Felder, durch die leeren Gassen fort zu seiner einsamen Wohnung.

Hier fiel es ihm erst ein, daß er bei den Seinigen hinterlassen, diese Nacht auf dem Lande zubringen zu wollen. Er fand nun die Türen verschlossen, alles im Hause schien längst zu schlafen. Unmutig stieg er daher über den Zaun in den Garten, wo er sich sogleich auf die Bank in der Laube hinwarf. Das leise Rauschen in den Zweigen sang gar bald den Ermüdeten ein. Da träumte ihm, er läge in dem schönen Garten zu Hohenstein und sähe die steinernen Götterbilder vor sich im hellen Mondschein auf den Gängen stehen. Es war, als flüsterten sie in der Stille heimlich untereinander, und als er recht hinsah, regte sich das Venusbild und stieg langsam von dem marmornen Fußgestell herab. Mit Grauen erkannte er seine Annidi, sie kam gerade auf ihn zu, eine Marmorkälte durchdrang plötzlich alle seine Glieder, daß er erschrocken aufwachte. Als er aber noch ganz verwirrt umherblickte, stand wirklich die weiße Gestalt in der Haustür, leise flüsternd nach jemand zurückgewandt, den er nicht sehen konnte. Auf einmal schlug sie einen weiten Mantel auseinander, und Annidi trat aus den Falten hervor. Ein junger, hoher Mann umschlang und küßte sie, dann warf sie ihm lachend den Mantel zu und schlüpfte ins Haus, der Fremde schwang sich rasch über den Garten Zaun – und alles war wieder totenstill.

Otto starrte lange regungslos auf den dunklen Fleck, wo der furchtbare Spuk zerronnen. Darauf stürzte er aus dem Garten in die Nacht hinaus, ohne zu wissen wohin – er hatte ja nun keine Heimat mehr auf Erden! – Die Straßen waren öde, die Wasserkünste im Mondschein, die ihm sonst so bräutlich rauschten, kamen ihm jetzt gespenstisch vor, wie verschleierte Nixen, im Winde sich beugend und neigend, als flüsterten sie heimlich von ihm und seiner Schande. Unwillkürlich hatte er den Weg zu Guidos Wohnung eingeschlagen, er wollte ihn wecken, er mußte in dieser Stunde jemand haben, dem er alles sagte. Zu seinem Erstaunen fand er die Tür nur leicht angelehnt, ein Licht brannte drin. Als er in die Stube trat, sah er Kordelchen auf der Erde knien zwischen Wäsche und Kleidern, die sie eifrig in einen Mantelsack packte. Sie blickte erstaunt, fast erschrocken nach ihm herum. »Was willst du denn jetzt hier?« sagte sie, »Guido ist noch auf dem Lande, und kommt erst in einigen Tagen zurück.« – Otton aber wollte das Herz zerspringen, er warf sich auf das Sofa und brach, sein Gesicht mit beiden Händen bedeckend, in ein unaufhaltsames Weinen aus. Da stutzte Kordelchen, sie ließ alles liegen, setzte sich zu ihm und tröstete und streichelte ihn neugierig und mit herzlicher Teilnahme, bis sie nach und nach sein ganzes Unglück erfahren. Sie hörte alles still und nachdenklich an. Als er aber schwieg, sprang sie plötzlich fröhlich auf. »Wir reisen zusammen!« rief sie aus, »das ist eine langweilige Wirtschaft hier, und ich und Guido, wir paßten eigentlich niemals zusammen. Wenn er sich betrinkt, so ist das genial, wenn er sich verliebt, so ist’s Andacht, und wenn ich ihn darüber auslache, so wird er wütend und will mich durchaus mit sich emporflügeln, wie er’s nennt. Ich hab’s schon seit einigen Wochen beschlossen, ich reise heimlich fort und zurück nach Deutschland, ich habe soeben Geld genug, die Pferde sind bestellt – kurz: wir reisen noch heute!« – Dabei wartete sie gar keine Antwort ab, sondern rumorte und packte inzwischen immer lustig fort, Otto wußte nicht, wie ihm geschah, durch das offene Fenster wehte frische Reiseluft herein, der Morgen dämmerte schon leise über der stillen Stadt.

Wer dem Teufel läßt ein Haar, den faßt er ganz und gar. So brannte der Kuß von gestern noch immer heimlich fort auf Ottos Lippen, über den Trümmern seines Glücks war über Nacht eine üppig blühende Wildnis schimmernder Erinnerungen und Hoffnungen giftig aufgeschossen. – Und als die ersten Streiflichter des Morgens über die Berge flogen und die früherwachten Lerchen noch halbverträumt in den Lüften hingen, da zogen Otto und Kordelchen schon durch die stillen Felder nach Deutschland zu und sahen Rom, wie in einem Feuermeer, langsam hinter sich versinken.

Währenddes war Fortunat in Neapel und Sizilien umhergestreift. In seiner poetischen Behaglichkeit hatte er sich alles aus dem Sinn geschlagen und macht überhaupt aus seiner Liebe gar nichts als ein langes Gedicht in vielen Gesängen und verschiedenen Silbenmaßen, worin ein schönes, schlankes italienisches Mädchen die Hauptfigur spielte. Da begab sich’s aber, daß er im Schreiben sich nach und nach in diese Figur selbst verliebte, und je verliebter er wurde, je ähnlicher wurde sie unvermerkt der kleinen Marchesin, als ob Fiametta oft plötzlich zwischen den Blütengewinden der Verse hervorguckte und, ihn auslachend, ausrief: »Siehst du, ich hab‘ dich doch!« – Ja, als er in Sizilien eines Abends auf einem hohen, senkrechten Felsen über dem Meere eingeschlummert war, träumte ihm, die blaue Flut teile sich leise, und mit langem, grünem Haar und glänzenden Schultern tauche Fiametta unten empor, in irren Tönen wehmütig klagend. – Als er erwachte, war der Mond schon über dem Meere aufgegangen, in der Ferne aber sah er ein Segel schwellend durch die weite Stille nach dem jenseitigen Ufer Italiens hinübergleiten. – Da faßte ihn eine unwiderstehliche Sehnsucht, und schon die folgende Nacht segelt‘ er selber hinüber. Und so geschah es, daß aus demselben Morgenrot, in welchem Rom hinter Otto versank, die Gärten, Trümmer und Kuppeln vor dem glückseligen Fortunat duftig wieder emporsteigen.

Sein erster Gang war zu dem Palast des Marchese, mit klopfendem Herzen betrat er den stillen Hof. Er horchte, ob sich nicht irgendwo Fiamettas heitere Stimme vernehmen ließe, doch alles blieb lautlos, wie ausgestorben. So ging er durch die offene, luftige Säulenhalle in den Garten. Da sangen die Vögel und rauschten die Brunnen noch immer wie damals. Aber an der Hauptallee sah er Wäsche zum Trocknen aufgehängt, einzelne Ziegen weideten ungestört zwischen den verwilderten Blumenbeeten. Endlich glaubte er in einiger Entfernung deutsch reden zu hören. Er ging dem Klange nach und begegnete einem alten, unbekannten, etwas schäbigen Diener. Hastig fragte er nach dem Marchese A. und seiner Tochter. Der Alte sah ihn von oben bis unten an und sagte dann verdrießlich: dieser Palast sei von einem deutschen Kavalier bewohnt. Fortunat war wie im Traum. – Er verlangte nun, den Herrn zu sprechen. Der Bediente wies schweigend nach einer Laube und ging fort, ohne sich weiter um den Gast zu bekümmern.

Hellen Halses aber mußte nun Fortunat auflachen, als er in die bezeichnete Laube trat und in dem deutschen Kavalier unseren Freund Grundling erkannte: in dem geblümten Schlafrock des Marchese auf einem halbzerrissenen damastenen Sofa ausgestreckt, eine lange Tabakspfeife und ein Buch in der Hand, Talglicht, Fidibus und Kaffeekanne vor sich. Der Vielgereiste, an das wechselnde Kommen und Gehen in Rom längst gewöhnt, schien nicht im mindesten erstaunt, Fortunaten wiederzusehen. »Mir ist’s eben recht«, sagte er, »daß der alte Marchese bankerutt gemacht -« »Was! Der Marchese A.?« rief Fortunat höchst überrascht aus.

»Ja, eben recht, sag ich, daß er seinen Palast und Rom verlassen mußte, so konnt‘ ich mich hier in der liederlichen Wirtschaft seiner Gläubiger ziemlich wohlfeil einmieten. – Wenn nur«, fuhr er, seine Pfeife plötzlich grimmig wegsetzend, fort, »in der unvernünftigen Hitze der Tabak nicht so in die Zunge bisse!«

Hier verlor Fortunat alle Geduld. »Nun rede zum Teufel einmal ordentlich!« rief er, Grundling rasch an der Brust fassend, »wo ist Fiametta? Was macht sie?« – »In Deutschland wahrscheinlich und weint«, erwiderte Grundling gelassen. – »Warum weint sie?« – »Weil sie ein junges, albernes Ding ist, dem ein konfuser Wein, der noch moussiert, lieblicher in die Nase sticht als ein würdiges, abgelegenes Gewächs; das will heißen: die einen brutalen Phantasten, der sein Liebchen verläßt und seine Freunde drosselt, charmanter findet als -« »Und wem gehört jetzt dieser Palast?« unterbrach ihn Fortunat ungeduldig wieder. – »Einem filzigen Kaufmann, der ihn, seiner Entlegenheit wegen, abtragen lassen und die Steine verkaufen will.« – »So führ mich gleich zu ihm!« – Das war Grundlingen, der sich gern umhertrieb, eben recht. Wenige Minuten nach diesem Verhör waren sie schon auf der Straße, und Fortunat erfuhr nun noch unterwegs, daß Fiametta unmittelbar nach seiner Abreise aus Rom bedeutend erkrankt und bald darauf mit ihrem Vater plötzlich abgereist sei. Weder er noch der Kaufmann wisse, wohin sie sich gewendet. Auch Ottos und Kordelchens Flucht hatte der Müßiggänger schon erfahren. »Der Otto«, sagte er, »war beständig in poetischem Tran, das mußte ein Ende mit Katzenjammer nehmen.«

Während dieses Berichts waren sie bei dem Kaufmann angelangt. Dieser war, gleich Grundlingen, nicht wenig erstaunt, als nun Fortunat den alten, verfallenen Palast und Garten des Marchese zu kaufen verlangte. Die Hast und Jugend des Fremden weckte in dem Italiener merkantilische Gelüste und abenteuerliche Forderungen, da kam er aber bei Grundling übel an, welcher sogleich ein so heftiges Gezänk darüber anfing und mit solchem Geschrei fortsetzte, daß sie in einigen Stunden, ganz erschöpft, endlich, doch noch um einen leidlichen Kaufpreis einig wurden. Fortunat hatte erst kürzlich bedeutende Wechsel aus Deutschland bezogen, sie reichten eben hin, die Summe und eine genügsame Weiterreise notdürftig zu decken. Mit bewundernswürdiger Beharrlichkeit und Resignation trieb er nun das Geschäft, wie einen Kreisel, unausgesetzt zum Ausgange und endigte damit, den hocherfreuten Grundling zum Schloßwart seines neuen Besitztums einzusetzen.

Kaum aber hatten sie den Garten wieder erreicht, da erscholl im Hofe schon der fröhliche Klang eines Posthorns. Fortunat hatte seinen Wagen hierherbestellt, aus den früheren Gesprächen mit dem alten Marchese glaubte er zu ahnen, wohin er sich gewendet. Und als er nun endlich tief aufatmend draußen in den prächtigen Abend hineinfuhr, blühten alle Gärten, und ein Regenbogen stand über der Gegend, als müßte nun alles, alles wieder gut werden.

Erstes Buch

Erstes Buch

In den letzten Strahlen der Abendsonne wurde auf der grünen Höhe ein junger Ritter sichtbar, der zwischen dem Jauchzen der Hirten und heimkehrenden Spaziergänger fröhlich nach dem freundlichen Städtchen hinabritt, das wie in einem Blütenmeere im Grunde lag.

Er sann lange nach, was ihn hier mit so altbekannten Augen ansah, und sang immerfort ein längst verklungenes Lied leise in sich hinein, ohne zu wissen, woher der Nachhall kam. Da fiel es ihm plötzlich aufs Herz: wie in Heidelberg lagen die Häuser da unten zwischen den Gärten und Felsen und Abendlichtern, wie in Heidelberg rauschte der Strom aus dem Grunde und der Wald von allen Höhen! So war er als Student manchen lauen Abend sommermüde von den Bergen heimgekehrt und hatte über die Feuersäule, die das Abendrot über den Neckar warf, in die duftige Talferne gleichwie in sein künftiges, noch ungewisses Leben hinausgeschaut.

»Mein Gott«, rief er endlich, »da in dem Städtchen unten muß ja Walter wohnen, mein treuer Heidelberger Kamerad, mit dem ich manchen stillen, fröhlichen Abend auf den Bergen verlebt! Was muß der wackere Gesell nicht alles schon wissen, wenn er fortfuhr, so fleißig zu sein wie damals!« – Er gab ungeduldig seinem Pferde die Sporen und hatte bald das dunkle Tor der Stadt erreicht. Walters Wohnung war in dem kleinen Orte leicht erfragt: ein buntes, freundliches Häuschen am Markte, mit hohen Linden vor den Fenstern, in denen unzählige Sperlinge beim letzten Abendschimmer einen gewaltigen Lärm machten. Der Reisende sprang eilig die enge, etwas dunkle Treppe hinan und riß die ihm bezeichnete Tür auf, die Abendsonne, durch das Laub vor den Fenstern zitternd, vergoldete soeben die ganze, stille Stube, Walter saß im Schlafrock am Schreibtische neben großen Aktenstößen, Tabaksbüchse, Kaffeekanne und eine halbgeleerte Tasse vor sich. Er sah den Hereintretenden erstaunt und ungewiß an, seine Gipspfeife langasm weglegend. »Baron Fortunat!« rief er dann, »mein lieber Fortunat!« und beide Freunde lagen einander in den Armen.

»Also so sieht man aus im Amt und Brot?« fragte Fortunat nach der ersten Begrüßung, während er Waltern von allen Seiten umging und betrachtete; denn es kam ihm vor, als wäre seit den zwei Jahren, daß sie einander nicht gesehen, die Zeit mit ihrem Pelzärmel seltsam über das frische Bild des Freundes dahingefahren, er schien langsamer, bleicher und gebückter. Dieser dagegen konnte sich gar nicht satt sehen an den klaren Augen und der heiteren, schlanken Gestalt Fortunats, die in der schönen Reisetracht an Studenten, Jäger, Soldaten und alles Fröhliche der unvergänglichen Jugend erinnerte. – Fragen und Gegenfragen kreuzten sich nun rasch, ohne eine Antwort abzuwarten. Walter pries vor allem sein Glück, das ihn hier so schnell eine leidliche Stelle hatte finden lassen, es fehlte nicht an größeren Aussichten, und so sehe er einer heiteren, sorgenlosen Zukunft entgegen. – Dazwischen hatte er in seiner freudigen Unruhe bald noch einen Brief zusammenzufalten, bald ein Paket Akten zu binden, bald draußen etwas zu bestellen, beide konnten den alten, vertraulichen Ton gar nicht wiederfinden.

Unterdes war eine alte Frau hereingetreten und fing an, eine altmodische Kaffeeserviette zierlich auszubreiten und Teller, Gläser und Weinflaschen aufzustellen, wobei sie von der Seite eherbietige Blicke auf den vornehmen fremden Herrn warf, der eine solche Revolution in der einförmigen Junggesellenwirtschaft verursachte. Fortunat aber überschaute am Fenster den heitern Markt, und eine leise Wehmut flog durch seine Seele über die langsam zersetzende und zerstörende Gewalt der Verhältnisse, wie sie ihm auf Walters treues Gemüt wirksam zu sein schien. – »Laß uns nach guter, alter Art im Freien trinken!« rief er, sich schnell umwendend, aus, da er die Zurüstungen hinter sich erblickte. Walter hatte Bedenken: das sei hier nicht gewöhnlich, man werde in kleinen Städten zu sehr bemerkt. Fortunat aber hatte unterdes schon unter jeden Arm eine Flasche genommen, und wanderte damit die Treppe hinunter. Walter folgte verlegen lachend, die Alte brachte voll Verwunderung Tisch und Gläser nach, und bald war die ganze fröhliche, funkelnde Wirtschaft unter den Bäumen vor der Tür aufgeschlagen.

Die Sonne war indes untergegangen, und die Dächer und die Gipfel der Berge über der Stadt glühten noch, von denen ein erquickender Strom von Kühle durch alle Straßen und Herzen ging. Kinder jagten sich und schwärmten in den Gassen, die Vornehmen, ihre Hüte nachlässig in der Hand und sich den Schweiß abtrocknend, kehrten, von allen Seiten ehrerbietig begrüßt, von ihren Spaziergängen zurück. Andere traten in bequemen Nachtkleidern mit den Pfeifen vor die Türen und plauderten mit dem Nachbar, während junge Mädchen, kichernd und in lebhaftem Gespräch, Arm in Arm über den Platz schlenderten und neugierig an dem Fremden vorüberstrichen.

Waltern ging bei den Erinnerungen an die fröhliche Studentenzeit und bei dem langentbehrten weiteren und reichen Gespräch recht das Herz auf, er hatte gar bald alle Scheu und blöde Rücksicht abgeschüttelt. – »Wie glücklich bist du zu preisen«, rief er seinem Freunde zu, »daß dir vergönnt ist, so mit den Vögeln durch den Frühling zu ziehn und die Reise nach Italien nun wirklich anzutreten, die wir in den heitersten Stunden in Heidelberg so oft miteinander besprachen. Das waren schöne Jugendträume!«

»Das verhüte Gott!« versetzte Fortunat lebhaft, »warum denn Träume? Die Ahnung war es, der erste Schauer des schönen, überreichen Lebens, das gewißlich mit aller seiner geahnten und ungeahnten herrlichen Gewalt über uns kommen wird, wenn wir nur fröhlich standhalten. Wo wären wir denn aufgewacht von den sogenannten Träumen? Was hätte sich denn seitdem verändert? Aurora scheint noch so jung über die Berge wie damals, die Erde blüht alljährlich wieder bis ins fernste, tiefste Tal – warum sollte denn unsere unsterbliche Seele, die alle den Plunder überdauert, allein alt werden? Was hindert denn zum Exempel dich, alle den Ballast von Vor-, Neben- und Rücksichten frisch wegzuwerfen, und frei mit mir in das offene Meer zu stechen? – Reise mit, alter Kumpan!«

Walter faßte lächelnd die ihm dargebotene Rechte. »Was mich eigentlich zwischen diesen Bergen festhält«, sagte er, »das sollst du künftig erfahren. – Doch – du magst immerhin lachen – das kann ich außerdem ehrlich sagen: es wäre mir schwer, ja gewissermassen unmöglich, den einmal mit Ernst und Lust begonnenen Geschäften zu entsagen, die wie ein stiller, klarer Strom in tausend unscheinbaren Nebenarmen das Land befruchten und mich so von meiner stillen Stube aus in immer wechselndem, lebendigen Verkehr mit den entferntesten Gegenden verbinden.«

Fortunat sah ihn nachdenklich an. »Du meinst es immer brav«, sagte er nach einer Psuse, »darum glaube ich dir, wo ich dich auch nicht recht verstehe. Aber in welchem greulichen Rumor lebt ihr Beamte dabei! Keiner hat Zeit zu lesen, zu denken, zu beten. Das nennt man Pflichttreue; als hätte der Mensch nicht auch die höhere Pflicht, sich auf Erden auszumausern und die schäbigen Flügel zu putzen zum letzten, großen Fluge nach dem Himmelreich, das eben auch nicht wie ein Wirtshaus an der breiten Landstraße liegt, sondern treu und ernstlich und mit ganzer, ungeteilter Seele erstürmt sein will. Ja, ich habe oft nachgedacht über den Grund dieser zärtlichen Liebe so vieler zum Staatsdienst. Hunger ist es nicht immer, noch selterner Durst nach Nützlichkeit. Ich fürchte, es ist bei den meisten der Reiz der Bequemlichkeit, ohne Ideen und sonderliche Anstrengung gewaltig und mit großem Spetakel zu arbeiten, die Satisfaktion, fast alle Stunden etwas Rundes fertig zu machen, während die Kunst und die Wissenschaften auf Erden niemals fertig werden, ja in alle Ewigkeit kein Ende absehen.« »Da rührst du«, entgegnete Walter, »an den wunden Fleck, wenigstens bei mir. Daß ich, aus Mangel an Zeit, zu beiden Seiten die schönen Fernen und Tiefen, die uns sonst so wunderbar anzogen, liegenlassen muß, das ist es, was mich oft heimlich kränkt, und was ich hier nicht einmal einem Freunde klagen kann. Dazu kommt die Abgelegenheit des kleinen Orts, wo alle Gelegenheit und aller Reiz fehlt, der neuesten Literatur zu folgen.«

»Ist auch nicht nötig«, versetzte Fortunat. »Was willst du jedem Phantasten in seine neumodischen Parkanlagen nachschreiten! Das rechte Alte ist ewig neu, und das rechte Neue schafft sich doch Bahn über alle Berge, und – wie ich oben bemerkt – auch in diesen Gebirgskessel. Denn wenn ich nicht irre, sah ich vorhin bei dir neben dem Corpus juris die neuesten poetischen Werke des Grafen Victor sehen.« »Nun«, sagte Walter, »meinen großen Landsmann muß ich doch in Ehren halten, seine Heimat liegt ja kaum eine Tagereise von hier.« – Fortunat sprang überrascht auf. »Da reit ich hin«, rief er, »den muß ich sehen.« – »Geduld«, erwiderte Walter lächelnd, »er ist schon seit mehreren Jahren auf Reisen.« »Und ich reite doch hin!« entgegnete Fortunat fröhlich, »wer einen Dichter recht verstehen will, muß seine Heimat kennen. Auf ihre stillen Plätze ist der Grundton gebannt, der dann durch alle seine Bücher wie ein unausprechliches Heimweh fortklingt.« Walter schien einem Anschlage nachzudenken. »Wohlan«, sagte er endlich, »wenn du durchaus hin willst, so begleite ich dich, ich bin dort wohlbekannt, und wir bleiben dann um so länger beisammen. Ich muß dir nur gestehen, ich hatte mich eigentlich schon selbst darauf eingerichtet, in diesen Tagen hinzugehen. Hier kann ich dir nicht viel Ergötzliches bieten, und wenn’s dir recht ist, so reisen wir morgen.« – Fortunat schlug freundlich ein.

Walter aber fing nun an, einige Lieblingsstellen aus Victors Werken zu rezitieren, was Fortunaten immer störte, weil ein gutes Gedicht keine Stellen, sondern eben nur das ganze gute Gedicht gibt, gleichwie eine abgeschlagene Nase oder ein Paar abgerissene Ohren der Mediceischen Venus für Kenner recht gut, aber sonst ganz nichtswürdig sind.

»Du kennst doch Victors Werke? Du liebst ihn doch auch?« unterbrach sich endlich Walter selbst, da Fortunat schweigend ein Glas nach dem andern hinunterstürtze. – »Ich liebe ihn«, sagte dieser, »wie ich ein nächtliches Gewitter liebe, das alles Grauen und alle Wunder in der Brust regt, ich kenne ihn, weil er von den geheimnisvollsten, innersten Gedanken meiner Seele, ja ich möchte sagen, von dem Waldesrauschen meiner Kindheit wunderbaren Klang gibt. – Friede dem großen dunklen Gemüt«, fuhr er sein Glas erhebend fort, »und freudiges Begegnen mit ihm!«

Die Freunde hatten über dem lebhaften Gespräch gar nicht bemerkt, daß unterdes der Platz allmählich öde geworden war. In der wachsenden Stille hörte man nur noch eine Geige aus einiger Entfernung und dann das einförmige Stampfen von Tanzenden dazwischen herüberschallen. Beides klappte so wenig zusammen, und die Geige wurde so unaufhörlich und entsetzlich schnell gestrichen, daß Fortunat laut auflachte und ungeachtet Walters Einwendungen sogleich dem Tanzplatze zueilte. Der verworrene Klang kam aus einem niedrigen Häuschen, über dessen Türe ein Strohbüschel als Wahrzeichen eines Weinschanks im Nachtwinde hin und her baumelte. Walter war in anständiger Ferne stehengeblieben, während Fortunat durch das Fenster in die seltsame Tanzgrube hineinblickte. Ein langes, dünnes Licht, das wie ein Peitschenstiel aus einem eisernen Leuchter hervorragte, warf ungewisse Scheine über das dunkle Gewölbe eines Kellers, an dessen Seitenwänden eingeschlafene Trinker über den langen, plumpen Tischen umherlangen. In der Mitte tanzten eifrig mehrere Paare lustigen Gesindels, bald mit den zierlich gebogenen Armen wie zum Fliegen ausholend, bald in den auserlesensten Figuren und Windungen sich nährend und wieder trennend, bevor sie einander endlich zum Walzer umfaßten. Der dicke Weinschenk ging mit aufgestreiften Hemdärmeln dazwischen herum, ahmte mit dem Munde den Wachtelschlag nach, schnitt den vorübertanzenden Frauenzimmern lächerliche Gesichter oder wagte zuweilen selbst einen künstlichen Sprung. Am auffallendsten aber war der Musikant: ein anständig gekleidetes, lebhaftes Männchen mit einem scharfen, geistreichen Gesicht, emsig in den wunderlichsten Laufern die Geige spielend, während seine Augen mit unverkennberem Wohlbehagen die Tanzenden verfolgten. Vergebens riefen diese ihm zu, sich zu moderieren, der Unaufhaltsame drehte mit wahrem Virtuosenwahnsinn die Töne, wie einen Kreisel, immer schneller und dichter, die Tanzenden gerieten endlich ganz außer Takt und Atem, es entstand ein allgemeines Wirren und Stoßen, bis zuletzt alle zornig auf den Musikus eindrangen. Dieser erhob sich nun und retirierte besonnen in künstlichen Fechtparaden nach der Tür, immer fort mit dem Fiedelbogen in den dicksten Haufen stoßend. So kam er glücklich auf die Straße heraus, die Schlafmütze des Wirts, die er im Getümmel aufgespießt, hoch auf seinem Bogen. Der lustige Wirt folgte schimpfend und vermehrte den Lärm von Zeit zu Zeit durch das Prasseln von Feuerwerk, das er täuschend mit dem Munde nachmachte.

Jetzt bemerkte der Musikus plötzlich die beiden Freunde auf der Gasse und sah sie mit seinen klugen Augen durchdringend an, während der Wirt, mit der einen Hand seine wilden Gäste in den Keller zurückdrängend, mit der andern ruhig die ihm zugeworfene Schlafmütze wieder auf den Kopf stülpte. Walter war einen Augenblick in Verlegenheit, ob und wie er den ihm unbekannten Fremden anreden sollte, und äußerte endlich seine Verwunderung über diese heillose Fertigkeit auf der Geige. – »Kleinigkeit! Kleinigkeit!« erwiderte der Musikus, »nichts als Taranteln, womit ich die Leute in die Waden beiße und den St. Veits-Tanz erfinde.« Mit diesen Worten empfahl er sich, nahm die Geige unter den Arm und schlenderte, noch einigemal furchtsam nach dem Keller zurückblickend, rasch durch die Nacht über den Marktplatz fort.

Fortunat, der bisher kein Auge von ihm verwendet hatte, trat nun schnell auf den Wirt zu, um etwas Näheres über das wunderbare Männchen zu erfahren. »Ein Fremder«, sagte der Wirt, »ein Partikulier, wie er sich nennt, mit dem ich schon manchen Verdruß gehabt habe. Er kommt zuweilen in die Stadt, aber immer nur grade zu mir, und wenn ich reelle Gäste habe, die nach getaner Arbeit ihr Gläschen trinken und vernünftig diskurrieren wollen, setzt er sich zu ihnen, und eh‘ ich’s mich versehe, hat er Händel unter ihnen angestiftet, und hat dann keine Courage, sie auszufechten. Wenn er recht vergnügt ist, zieht er gar seine verfluchte Geige hervor und spielt tolles Zeug auf. Hol der Teufel alle Phantasten!«

Hiermit kehrte der Wirt wieder in seine Höhle zurück, und die beiden Freunde bemerkten bei dem hellen Mondschein, wie der unbekannte Musikus soeben zum Stadttor hinauswanderte. »Ein herrlicher Narr!« rief Fortunat aus, dem Wanderer noch immer nachsehend. »Laß die Fledermäuse«, erwiderte Walter, »sie geraten uns sonst noch in die Haare. Komm nun nach Haus, es ist schon spät, und ich habe noch alle Hände voll zu tun für morgen.«

Auf Walters Stube ging nun ein fröhliches Rumoren an. Die alte Aufwärterin wurde herbeigerufen, Befehle wurden erteilt, Briefe versiegelt, und Akten und Wäsche gepackt, wobei Fortunat, in der Vorfreude der bevorstehenden, unerwareteten Fahrt, zur Verwunderung der Alten wütend half. Der weitgestirnte Himmel sah indes durch die offenen Fenster herein, der Brunnen rauschte vom einsamen Markte, während die Nachtigallen in den Gärten schlugen, und Fortunaten war es dazwischen, als ginge draußen das Geigenspiel des wunderlichen Musikanten noch einmal fern über die stillen Höhen.

Zweites Kapitel

Zweites Kapitel

Bei dem schönsten Frühlingswetter zogen die beiden Freunde, auf ihren Pferden fröhlich von den alten Zeiten miteinander schwatzend, in das morgenrote Land hinein. Sie hatten den weiteren, aber anmutigern Weg durch das Gebirge eingeschlagen, auf welchem sie Hohenstein, den Sitz des Grafen Victor, nach Walters Versicherung noch vor Nacht bequem erreichen konnten. Das Städtchen mit seiner grünen Stille lag schon weit hinter ihnen, ein frishcer Wind ging durch alle Bäume, und Walter fühlte sich recht wie ein Vogel, der aus dem Käfig entflohen. Er war fast ausgelassen heiter, schwenkte den Hut in der Luft und stimmte alte Studentenlieder an, so daß es den beiden Reitern vorkam, als wären sie nie getrennt gewesen und zögen nur eben wieder aus dem Tor von Heidelberg den grünen Bergen zu. In dieser Stimmung ließ er sich gern von dem unruhigen Fortunat verlocken, der bald dem fremden Schall eines unbekannten Gebirgsvogels folgte, bald mit den Hirten plauderte, dann wieder einen schönen Berggipfel oder eine reizend gelegene Ruine zu erklettern hatte. So waren sie lange aufs Geratewohl umhergeschweift, als Walter endlich zu seinem Schrecken bemerkte, daß schon die Abendsonne schräg durch den Wald funkelte. Jetzt fand er auch, daß sie alle Richtung verloren hatten, er wußte nicht, wo er war. Vergebens schlug er den ersten besten Pfad ein, die Wege teilten sich bald von neuem wieder, kein Dorf war ringsumher zu sehen, je tiefer sie in den Wald kamen, je ungeduldiger wurde er, er wollte durchaus noch heut nach Hohenstein. Unterdes war die Nacht völlig hereingebrochen, sie mußten absteigen und ihre Pferde hinter sich her führen, da der Holzweg sich nach und nach in einen verwachsenen Fußsteig verlor.

Walter war verdrießlich und sprach wenig. Fortunat aber wurde immer vergnügter, je weiter sie fortschritten, und blickte recht mit frischem Herzen in die wunderbaren Mondlichter und die rätselhaften Abgründe, an denen sie vorüberzogen. Oft hielten sie horchend still, denn es war ihnen, als hörten sie aus weiter Ferne Hunde bellen und den dumpfen Takt eines Pochhammers dazwischen; aber das einförmige Rauschen der Wälder verschlang immer alles wieder.

Walter schwor endlich, nicht einen Schritt mehr weiterzugehen, er band sein Pferd an und setzte sich maulend daneben. Fortunat hatte sich gleichfalls auf den Rasen hingestreckt, während sein Gefährte nun allerlei Reden über unzeitige Romantik und verlorene Zeit verlauten ließ. Fortunat antwortete nicht darauf, und da es gar nicht enden wollte, zog er seinen Mantel über den Kopf und schlummerte bald vor Ermüdung ein.

Als er wieder aufwachte, war Walter unterdes vor Ärger fest eingeschlafen. Er sah freudig rings um sich her, die tiefe Einsamkeit, die unbekannte Gegend, der Schlafende und die Pferde im Mondschein, alles war ihm so neu und wunderbar; er ging unter den Bäumen auf und nieder und sang halb für sich:

Wie schön, hier zu verträumen
Die Nacht im stillen Wald,
Wenn in den dunklen Bäumen
Das alte Märchen hallt.
Die Berg im Mondesschimmer
Wie in Gedanken stehn,
Und durch verworrne Trümmer
Die Quellen klagend gehn.
Denn müd ging auf den Matten
Die Schönheit nun zur Ruh,
Es deckt mit kühlen Schatten
Die Nacht das Liebchen zu.
Das ist das irre Klagen
In stiller Waldespracht,
Die Nachtigallen schlagen
Von ihr die ganze Nacht.
Die Stern gehn auf und nieder –
Wann kommst du, Morgenwind,
Und hebst die Schatten wieder
Von dem verträumten Kind?
Schon rührt sich’s in den Bäumen,
Die Lerche weckt sie bald –
So will treu verträumen
Die Nacht im stillen Wald.

Und wie er aufblickte, hörte er wirklich schon den Klang einer früherwachten Lerche durch den Himmel schweifen. »Frisch auf!« rief er fröhlich Waltern zu, »frisch auf, ich wittre Morgenluft!« Walter erhob sich taumelnd und konnte sich lange nicht in dem wunderlichen Schlafsaal zurechtfinden. Der kurze Schlummer hatte ihn neu gestärkt und verwandelt, er schämte sich seines gestrigen Mißmuts, und bald saßen die beiden Freunde wieder rüstig zu Pferde, um, wo möglich, noch vor Tagesanbruch aus dem Labyrinth der Wälder herauszukommen.

Nach einem kurzen Ritt hatten sie die Freude, unerwartet wieder einen ordentlichen Weg zu erreichen. »Land! Land!« rief endlich Walter vergnügt aus, »dorthin zu liegt Hohenstein!« – Sie verdoppelten nun ihre Eile, und gelangten bald völlig aus dem Walde in das weite, geheimnisvolle Land hinaus. Immer tiefer und freudiger stiegen sie von den Bergen in das Blütenmeer, schon hörten sie von fern eine Trumuhr schlagen, zahllose Nachtigallen schlugen überall in den Gärten. Am Ausgang des Gebirges schien ein großes Dorf zu liegen, zerstreute Hügel, dunkele Baumgruppen und ein hohes, prächtiges Schloß hoben sich nach und nach aus der verworrenen Dämmerung, alles noch unkenntlich und rätselhaft, wie in Träumen. So waren sie in eine hohe Kastanienallee gekommen, als Walter plötzlich an einem zierlichen Gittertor stillhielt. »Sie schlafen noch alle«, sagte er, »wir wollen indes hier in den gräflichen Garten gehen und die Erwachenden überraschen.«

Sie banden nun ihre Pferde an den Zaun und schwangen sich von den steinernen Sphinxen, die den Eingang bewachten, über das Gitter in den Garten hinein. Da war noch alles still und duftig, einzelne Marmorbilder tauchten eben erst aus den lauen Wellen der Nacht empor. Das alte, finstere Schloß im Hintergrunde mit seinen dichtgeschlossenen Jalousien stand wie eine Gewitterwolke über einem freundlichen Nebengebäude, von dem man vor lauter Weinlaub fast nur das rote Ziegeldach sah. Unter den hohen Bäumen vor dem letztern fanden sie einen Tisch und mehrere Stühle, als wären sie eben erst von einer Gesellschaft verlassen worden. – »Da hat sie schon wieder ihre Gitarre draußen vergessen«, sagte Walter kopfschüttelnd. – »Wer denn?« fragte Fortunat, – »die schöne Amtmannstochter, von der du mir erzählt hast?« – »Ja, Florentine«, erwiderte Walter; »das ist des Amtmanns Wohnung und dort oben nach dem Garten hinaus ihre Schlafstube.« – »Du weißt hier gut Bescheid«, entgegnete Fortunat. – Walter wurde rot und schwieg verlegen. Fortunat aber ergriff ohne weiteres die auf dem Tische liegende Gitarre, stellte sich vor das bezeichnete Fenster und sang:

Zwei Musikanten ziehn daher
Vom Walde aus weiter Ferne,
Der eine ist verliebt gar sehr,
Der andre wär es gerne.

»Ich bitte dich«, unterbrach ihn Walter, »was singst du da für dummes Zeug!« – »Wart nur, ’s kommt gleich klüger«, erwiderte Fortunat und sang weiter:

Die stehn allhier im kalten Wind
Und singen schön und geigen:
Ob nicht ein süßverträumtes Kind
Am Fenster sich wollt zeigen?

Sein Wunsch ging wirklich in Erfüllung. Ein schönes Mädchen, noch ganz verschlafen, wie es schien, fuhr oben ans Fenster, schüttelte die Locken aus dem Gesichtchen und sah neugierig mit großen, frischen Augen durch die Scheiben. Als sie aber unten einen unbekannten, wohlgekleideten Mann erblickte, war sie ebenso schnell wieder verschwunden. – Walter wurde nun in der Tat unwillig, Fortunat aber griff immer lustiger in die Saiten und sang wieder:

Mein Herz ist recht von Diamant,
Eine Blum von Edelsteinen,
Die funkelt fröhlich übers Land
In tausend bunten Scheinen!
Und durch das Fenster steigen ein
Waldsrauschen und Gesänge,
Da bricht der Sänger mit herein
Im seligen Gedränge.

Unterdes war es im Hause nach und nach lebendig geworden, Türen gingen auf und zu, im Innern hörte man dazwischen das kräftige Lachen eines Mannes, das immer näher zu kommen schien. Endlich wurde die Haustür von innen geöffnet, und, mit einer langen Pfeife im Munde, stand ein schon völlig angekleideter, großer, starker Mann vor ihnen, dessen gebräuntes, lebenslustiges Gesicht von der Morgensonne hell beschienen wurde. Es war der Amtmann selbst. Er war voller Freude, Waltern so unerwartet wiederzusehen, und konnte gar nicht aufhören über das lustige Ständchen zu lachen, durch das sich Fortunat sogleich in seine entschiedene Gunst gesetzt zu haben schien. Mit schallender Stimme rief er nun alles im Hause wach, es mußten eilig Kaffee und Pfeifen ins Freie herausgebracht werden, sie lagerten sich um den Tisch auf dem grünen Platz vor der Tür, den die beiden Gäste noch vor kurzem so einsam gesehen hatten, und Walter mußte ausführlich ihre nächtlichen Irrfahrten vortragen.

Unterdes war auch die Frau Amtmannin dazugekommen. Sie hatte sich vor dem unbekannten Gaste sorgfältig und beinahe festlich angetan und empfing Fortunaten mit umständlicher, wortreicher Feierlichkeit. Fortunat, dem bei solcher Gelegenheit unwillkürlich alle Bewillkommnungskomplimente einfielen, die er in seinem ganzen Laben gehört oder auch nicht gehört hatte, konnte nicht widerstehen, mit einem unerschöpflichen Schwalle der auserlesensten Redensarten zu entgegnen, und erweckte dadurch bei der Dame eine nicht geringe Meinung von sich und seiner feinen Lebensart.

»Das ist heute ein rechter Freudentag!« sagte der Amtmann, »da soll es auch einmal hoch hergehen.« Er erzählte nun, wie sie heut gegen Abend auch noch ihren jungen Neffen Otto hier erwarteten, der von der fernen Universität zurückkehrte, um sich zu seiner Anstellung vorzubereiten. Die Amtmannin ließ mit zufriedener Miene noch einfließen, daß Otto, der Sohn ihrer verstorbenen Schweser, aus Herrn Walters Städtchen sei, daß er schon auf der Schule immer für den Stillsten und Geschicktesten galt und nun ein wahrer Gelehrter geworden sei.

Fortunat bemerkte während dieses Gesprächs, daß sich Walter unterdes verloren hatte. Der Garten, der nun in voller Morgenpracht herüberfunkelte, lockte auch ihn schon lange, und er sagte endlich dem Amtmann, wie er Waltern vorzüglich in der Absicht hierherbegleitet habe, um die Heimat des berühmten Grafen Victor einmal in der Nähe zu sehen. Der Amtmann lächelte. »Ich weiß nicht«, sagte er, »ob Sie auch solcher Meinung sind, aber wenn die andern von dem berühmten, gelehrten Grafen sprechen, denken sie sich ihn immer mit der Zipfelperücke, wie den Hilmar Curas vor seiner Grammatik. Das kann mich immer ärgern. Was da Gelehrter! Zu Pferde muß man den Grafen Victor sehen, im Walde auf der Jagd, auf den Felsen, wo allen andern schwindelt – mit einem Wort: das ist ein rechter Mann! Das Berühmtsein und Versemachen ist nur so Lumpenzeug daneben, wie eine Schabracke auf einem schönen Roß, und er gibt selber nichts darauf. Doch wir sprechen ein andermal mehr davon.« – Er stand nun auf und beschrieb Fortunaten die Gänge, die er im Garten einschlagen sollte, um zu den schönsten Punkten zu gelangen, da ihn selbst die Wirtschaftsanordunungen für den anbrechenden Tag in das Haus hineinriefen.

Fortunat wandte sich nun allein in den Garten, wo er zu seinem Erstaunen ringsumher nur architektonische Formen altmodischer Gänge, hohe, feierliche Buchenalleen, Springbrunnen und künstliche Blumenbeete erblickte, von denen dunkelglühende Päonien und prächtige Kaiserkronen glänzten. Es war, als hätte ein wunderbarer Zauberer über Nacht seine bunten Signaturen über das Grün gezogen und säße nun selber eingeschlummert in dem Labyrinth beim Rauschen der Wasserkünste und träumte von der alten Zeit, die er in seine stillen Kreise gebannt.

Schon waren Schloß und Amtmannswohnung hinter Fortunaten versunken, als er plötzlich einen wohlgekleideten jungen Mann bemerkte, der an den Marmorstufen eines einsamen Gartenhauses eingeschlafen war. Er wollte umkehren, aber der Schläfer, von dem Geräusch erweckt, fuhr soeben rasch auf, blickte verworren ringsumher und fragte Fortunaten, wer er sei. Dieser erzählte nun sein nächtliches Abenteuer und seinen langgehegten Wunsch, diese Gegend einmal zum Angedenken des Dichter-Grafen Victor zu durchstreifen. – »Vortrefflich«, erwiderte der andere, »so will ich Sie sogleich herumführen!« – »Kennen Sie den Grafen Victor?« fragte Fortunat. – »Nicht sonderlich«, erwiderte jener, »doch wieß ich eben genug von ihm, um Ihnen hier überall genügende Auskunft zu geben.«

Fortunat nahm das unerwartete Anerbieten dankbar an und betrachtete, als sie nun miteinander weitergingen, mit freudiger Überraschung das schöne, aber etwas bleiche und wüste Gesicht des Unbekannten, über das die Morgenlichter durch das Laub wunderlich wechselnde Scheine warfen. Er äußerte endlich seine Verwunderung über die, wie es schien, absichtlich und sehr sorgfältig festgehaltene Altmodigkeit dieses Gartens. – »Der Graf«, entgegnete sein Begleiter, »will es so haben. Buchsbaumene Kindlichkeit! Wie es in seiner Kindheit gewesen, so soll es hier ferner verbleiben, selbst dieselben Blumen müssen jährlich an denselben Plätzen wieder gepflanzt werden, wie damals.« – »Er hat recht«, sagte Fortunat, »was soll ein Garten, wenn er nicht ein Gedicht von ganz bestimmtem Klange ist! In diesem einförmigen Plätschern der Wasserkünste, in dieser geisterhaften Symmetrie der Laubwände und stummen Marmorbilder ist eine Wehmut, die einen wahnsinnig machen könnte.«

Jetzt standen sie an dem Abhang des Berges, dessen obere Fläche das Schloß und der eigentliche Ziergarten einnahmen. Von der mit Efeu umrankten Felswand sah man hier plötzlich in tiefe Schluchten und Wiesenplätze hinab, wo im kühlen Schatten uralter Bäume Rehe und Damhirsche weideten, die scheu die Köpfe nach ihnen emporhoben und dann pfeilschnell im tieferen Dunkel verschwanden. – »Sehen Sie da«, rief Fortunats Begleiter aus, »das Großartige und Kühne dieser Komposition. Ich betrete diesen Ort nie ohne Ehrfurcht vor dem seltenen Genius dieses Dichter-Grafen – oder sagen wir es nur lieber gerad’heraus: Dichterkönigs! Besonders muß ich Sie hier auf jene leichtgeschwungenen Brücken aufmerksam machen. Sie führen, wie Sie sehen, über die Wipfel der Bäume hinweg nach einzelnstehenden, hohen, abgerissenen Felsen hinüber, die, mit ihren bunten Gärtchen auf den Gipfeln, wie funkelnde Blumenzinnen über die Waldeseinsamkeit emporragen. Diesen Einfall hat der liebenswüdige Graf vor dem lieben Gott voraus, er legte diese hängenden Gärten an; das waren die Blocksberge seiner Phantasie. Hier pflegte er als Knabe, wenn ein Gewitter heraufzog und im Schlosse alles ängstlich durcheinanderlief, vor der unermeßlichen Aussicht zu sitzen, mit den Beinen über dem Abgrunde baumelnd, bis ihm die ersten dicken Regentropfen an die seidenen Strümpfe klatschten.« – »Es freut mich« – erwiderte Fortunat, der, ganz in den Anblick des wunderbaren Grundes vesunken, die letzten Worte fast überhörte hatte – »es freut mich recht, daß Sie Victors poetische Erscheinung so hochhalten.«

Der Begleiter sah ihn aus den schönen Augen scharf und zweifelhaft an. – »Ich bedaure ihn aufrichtig«, sagte er dann, »denn ich halte die Anstellung als Genie für eine der epinösesten in der Welt. Ein anderer stopft sich seine Pfeife, zieht seinen Schlafrock an, setzt sich auf dem Schreibesel zurecht, und macht seine Arbeiten ab und geht dann zufrieden in die Ressource, wo er wieder ganz Mensch sein kann. Aber so ein Genie, zumal ein Dichter, kann das Genie gar nicht loswerden; wie ein Spaziergänger, der im Herbst über Feld gegangen, schleppt er die Sonnenfäden seiner Träume an Hut und Ärmeln bis auf die Ressource nach. Ist dort gar das Fenster offen, so sind die Nachtigallen und Lerchen draußen recht versessen auf ihn und rufen ihn ordentlich bei Namen, ja zuweilen spielt ihm seine kaum halbfertig gedichtete Geliebte den fatalen Streich und blickt ihn plötzlich aus den Augen irgendeiner albernen Dame an.« – Hier stand er plötzlich selber überrascht still. Sie waren in das Felsental hinabgestiegen und an einen einsamen Weiher gelangt, in dessen Mitte sich eine, wie es schien, unzugängliche Insel im frischen Schmuck des Morgentaues spiegelte. Spuren ehemaliger Gänge und Blumenplätze waren von hohem Grase und Unkraut überwachsen, fremde Blütengewächse schlangen sich an den Baumstämmen empor, nur einzelne hohe Blumen funkelten noch hier und da aus der bunten Verwilderung, in der unzählige Vögel sangen. »Das war sonst Victors Lieblingsplatz«, sagte der Fremde nach einem Weilchen, »hier hat er den Namen seines ersten Liebchens in die Bäume geschnitten. Das Mädchen ist tot, der Nachen zu der Insel lange zertrümmert und versenkt, und Wipfel und Zweige, Unkraut und Blüten schlingen sich drüben verwildert durcheinander und können doch nicht in den Himmel wachsen.« – Ein seltsames Leuchten flog bei diesen Worten über sein geistreiches Gesicht. Dann auf einmal zu Fortunaten gewandt, sagte er: »Aber Sie sind am Ende selbst der Graf Victor – leugnen Sie nur nicht!« – Fortunat brach in lautes Lachen aus, und bat den Unbekannten, der ihm wohl behagte, zu wechselseitiger näherer Bekanntschaft sogleich mit zum Amtmann hinaufzukommen. Der Fremde besann sich einen Augenblick und fragte dann, ob noch mehrere Gäste dort wären? Da er hörte, daß auch Walter droben sei, entschuldigte er sich, er habe zu lange am Brunnen geschlafen und müsse nun schnell wieder weiter. – »Sind Sie denn nicht hier aus dem Hause?« fragte Fortunat erstaunt. – Aber jener eilte schon fort, winkte noch einmal mit dem Hute und war bald zwischen den Bäumen verschwunden.

Elftes Kapitel

Elftes Kapitel

Ein prächtiges Schloß über schimmernden Fernen, ein bunter, fürstlicher Hofhalt, Komödianten und ein Liebchen im Grün – was Wunder, daß Ottos fröhliches Studentenherz wie eine Lerche singend über dem phantastischen Herbstschmuck der Wälder hing! – Auch Fortunat verschob seine Abreise von einem Tag zum andern, die geheimnisvolle Aufmerksamkeit, womit man ihn hier unbegreiflicherweise auszeichnete, wurde immer auffallender. Er glich einem Fremden, der auf der Durchreise, bevor der Postillion wieder blies, sich auf einige Minuten im Theater an einen Pfeiler gelehnt und nun auf einmal gewahr wird, daß droben auf den Brettern von ihm selber die Rede sei und alle Blicke sich unheimlich auf ihn heften. Das Rätsel, meinte er, müsse jeden Augenblick sich lösen, er wollte wenigstens den ersen Akt noch abwarten.

Am wunderlichsten aber war es Dryandern ergangen. Sein Dichterruf öffnete ihm alle Flügeltüren des Schlosses, da hatte ihn aber der Hofwind so wacker gefaßt, daß er bald den Hut samt dem Kopfe darüber verloren hätte. Die unverschämte Art, mit der er sich selbst vergötterte, sein Witz und poetisches Wetterleuchten dazwischen, blendete, verwirrte und belebte alles, und eh‘ man sich dessen versah, hatte der Fürst ihn bei Hofe angestellt; die Schauspieler meinten: als lustigen Rat. Er selbst aber nahm die Sache sehr ernst, hielt einen Bedienten, mit dem er sich täglich zankte, kleidete sich sorgfältig nach der neuesten Mode, sprach nur französisch zu den Komödianten, die es nicht verstanden, und wies Lotharios Gelächter mit gründlicher Verachtung zurück.

Währenddes hatte auch der junge, schöne Maler Guido sich immer mehr in Kordelchens feingeschlitzte Augen vertieft und entdeckte in dem mutwilligen Mädchen täglich neue, unerhörte, nur von der Gemeinheit ihrer Umgebung verschüttete Talente, von denen sie selber nicht wisse. Strotzend von guten Vorsätzen, voll Selbstvertrauens und jugendlichen Glaubens an Tugend und Liebe, ging er mutig darauf los, sie aus ihrer Verwilderung mit sich emporzuflügeln. – Eines Nachmittages saßen beide zusammen in dem altmodischen Ziergarten, der die Wohnung der Schauspieler umgab. Sie strickte einen Strumpf, er las ihr Goethes Tasso vor. Zwischen den grünen Taxuswänden schillerten von fern die reichen Täler herauf, bunte Schmetterlinge flatterten auf den halbverwilderten Blumenbeeten; die feierliche Pracht der Gänge, die Hermen römischer Dichter, die in der Einsamkeit umherstanden, weiterhin über den Buchenwipfeln das heitere fürstliche Schloß – alles versetzte ihn recht mitten in das schöne Gedicht, er las sich immer mehr ins Feuer. – »Wie schön sie ist!« rief da auf einmal Kordelchen fast traurig aus. Guido glaubte: die Prinzessin im Stück. Kordelchen aber meinte die Gräfin Juanna, die soeben, eine Laute im Arm, durch den oberen Schloßgarten ging. Er sah ihr selber nach, bis sie zwischen den Orangenbäumen wieder verschwunden war, dann fuhr er, etwas gestört, weiter fort. Aber seine Schülerin war heute ganz zerstreut. »Haben Sie gestern, abends, Lotharion droben gesehen?« unterbrach sie ihn von neuem, »ich glaube, er wollte ein Ständchen bringen.« – Guido wollte aus der Haut fahren, er nickte ihr nur flüchtig zu, er war eben an einer Lieblingsstelle und deklamierte so eifrig fort, daß ihm die Stirn davon rot wurde. Als er aber einmal über das Buch hinwegsah, hatte Kordelchen gar ihr Strickzeug weggelegt und den ganzen Schoß voll Sternblumen. – »Sie liebt ihn – sie liebt ihn nicht -« sagte sie leise in Gedanken vor sich hin, eine Blume nach der andern zerpflückend. Guido stand auf, klappte das Buch heftig zu und schob es in die Tasche, seine begeisterten Augen leuchteten im Zorne so schön unter den herabwallenden braunen Locken. »Du närrischer Junge!« rief Kordelchen, ihn mit einem herzhaften Kuß festhaltend. Da wanderte eben Otto vorüber und warf ihr einen verächtlichen Blick zu. Sie warf ihm dagegen lachend alle ihre Blumen nach und sprang dann selber schnell in den Garten fort.

Ungünstigeres aber hätte Otton in diesem Augenblick nicht begegnen können als der unerwartete Anblick dieser Vertraulichkeit. Denn er ging soeben, das Manuskript eines Trauerspiels unter dem Arme, mit klopfendem Herzen nach dem alten Palast der Schauspieler, um es ihnen behufs einer zu verhoffenden Darstellung vorzulesen. – Er fand Herrn Sorti und die übrigen Stimmführer der Gesellschaft bereits vor dem Hause in einer Wolke von Tabaksrausch zwischen hohen Biergläsern um einen runden Tisch versammelt. Zerstreut und in Gedanken noch halb bei Kordelchen, begann er mit unsicherer, fast schüchterner Stimme die Vorlesung. Doch bald faßte ihn der rasche Strom der eigenen Dichtung, heiter glitt er an den duftigen Gestaden, Rebengeländern und Burgen hinab, und das stille Glück der Stunden, ja die Gegenden und Plätze, wo er damals gedichtet, wehten ihn wieder erfrischend an. So las er immer schöner und mächtiger und bemerkte nicht, wie die Gesichter seiner Zuhörer nach und nach immer länger wurden, dort einer heimlich durch die Nase gähnte, da ein anderer mit vornehmem Lächeln unverwandt sein Bierglas ansah. Und als er endlich schloß, erfolgte eine allgemeine Stille, daß man das Laub im Baume sich bewegen hörte – ein Zustand, wobei einem jungen Autor die Gedanken plötzlich zu Eiszapfen gefrieren können.

»Schön – recht poetisch«, nahm endlich Sorti das Wort, »aber aufführen« »Keine Drucker«, platzte Ruprecht heraus. – »Zu viel Verwandlungen«, meinte ein anderer. – »Kein einziger brillianter Abgang.« – »Aber was hat denn alle das Teufelszeug mit meinem Gedicht zu schaffen?« fragte der erstaunte Otto in seiner poetischen Unschuld. – »Wird sich schon geben, mein Liebster«, entgegnete Sorti gelassen, »wird sich nach und nach schon geben mit der zunehmenden Bühnenkenntnis.« – Nun steckten alle die Nasen in das Heft, und ein jeder fing an, nach seiner Art zu mäkeln. Der Dialog war zu phantastisch, er sollte noch einmal überarbeitet, herabgestimmt und natürlicher gemacht werden. Der Held dagegen erschien allen zu einfach, die Dame gar zu verliebt. – »Das Lieblichste«, rief er aus, »das Heimlichste, Wahrste und Beste, was ich wußte, hab‘ ich gegeben, und nicht einen Buchstaben ändere ich an dem ganzen Stück!« – Hiermit schleuderte er das Manuskript zornig auf den Tisch und ging rasch in den Garten fort, und es war ihm in einiger Entfernung, als hörte er die Schauspieler hinter sich lachen.

In diesem heftig bewegten Zustande begegnete er Lotharion, der ihm sehr bald die ganze Geschichte abgefragt hatte und darauf in ein tolles Gelächter ausbrach. »Darf man erfahren, worüber Sie lachen?« fragte Otto empfindlich. »Weil Sie«, erwiderte Lothario, »durch diese glückliche Begebenheit hoffentlich auf den nächsten Weg geraten sind, sich der theatralischen Flausen gänzlich zu entschlagen.« Otto sah ihn verwundert an. Aber Lothario ließ sich nicht irremachen. »Überlegt doch nur selbst«, fuhr er fort, »was wollen sie denn eigentlich! Ein großer, starker Kerl, der plötzlich herausstürzt und rezitativisch schreit: »Ich fürcht‘ mich vor dem Tode nicht! – ein Posaunenstoß oder ein paar Striche über die große Baßgeige dazu – das ist ein Held. Ein zimperlich Ding, etwas verliebt und etwas tugendhaft und sehr geschnürt, das in Jamben spricht und mit den Logen kokettiert – das ist eine Jungfrau. Ein Korb voll Kaldaunen, der nach Tische zur Verdauung Poesie treibt und in Romeo und Julie eines gemalten Pomeranzenbaums bedarf, um sich nach Italien zu versetzen: das ist das Publikum.« – »Und dennoch«, erwiderte Otto nach einer kurzen Pause, »wenn alle so dächten, so müßte die dramatische Poesie in der Luft spielen und die Bühne zugrunde gehen.« – »Ja, das hoff ich auch!« sagte Lothario, »die Dichter müssen nur nicht nachgeben, sondern die Theater poetisch aushungern, sie an ihrer eigenen Misere und Langweiligkeit allmählich verschmachten lassen und unterdes draußen frisch und keck die Welt auf ihre eigene Hand dramatisieren. Das Publikum ist so dumm gerade nicht, wie es aussieht. Ist es erst im Buch an die ursprüngliche Schönheit wieder gewöhnt, so wird es auch die Bühnen schon zwingen, sich zu akkommodieren. Aus der alten, guten Poesie kann sich ein neues Theater bilden, nimmermehr aber eine neue Poesie aus den kranken Gelüsten des Publikums und der Pedanterei der Theatermaschinisten. Und überhaupt, junger Mensch«, fuhr er fort, »wollt Ihr ein Dichter werden – und ich meine, Ihr habt die unglückliche Disposition dazu – so müßt Ihr Euch ein für allemal daran gewöhnen, für die Handvoll Gescheuter im Lande zu dichten und nach den andern nicht zu fragen. Vor allem aber müßt Ihr Euch hier von uns Komödianten und Frauenzimmern losmachen, denn wer sich so in der Rumpelkammer des Lebens herumtreibt, dem fliegen die Fledermäuse an den Kopf, und es wäre schade um Euer weiches Flachshaar.«

Otto zürnte wie ein Mädchen. Lothario aber, in seinem kühnen Wesen, griff wie ein eisiger Morgenwind durch alle Saiten seiner wunden Seele. Auch hatte es Otto ja mit eigenen Augen gesehen: Kordelchen war treulos, das Brettergerüst seines geträumten Bühnenruhms zertrümmert, er kam sich nach den heutigen Erfahrungen nun selbst hier kahl und erbärmlich vor. Und so geschah es, daß er, ehe sie noch das Ende des Gartens erreichten, dem harten Freunde mit dem Ungestüm eines frischen Entschlusses die Hand darauf gab, sogleich weiterzureisen, um ungestört und mit strengem Ernste ganz der Dichtkunst zu leben. – Nun fehlte es aber wieder am nötigen Reisegeld zur Ausführung eines so löblichen Vorsatzes. – Lothario machte bei dieser Bemerkung eine lebhafte Bewegung und schien einen raschen Vorschlag auf dem Herzen zu haben, schwieg aber plötzlich. – Da standen sie soeben vor Dryanders Tür. »Halt!« sagte er, »hier wohnt Fortunas Hofnarr, da wollen wir anklopfen, kommen Sie nur geschwind.«

Mit diesen Worten drängte er den Zögernden in das Haus hinein. Ein Bedienter empfing sie in der Vorstube und wollte anmelden. Der Schauspieler schob ihn aber lächelnd zur Seite und trat ohne weiteres in das Zimmer. Hier war durch tief herabhängende, grünseidene Gardinen ein künstliches Halblicht verbreitet, ein zierlicher, bronzener Opferaltar auf dem Mahagonitisch erfüllte das Gemach mit Wohlgerüchen, Dryander selbst, in einem feinperkalenen Negligé, ruhte mit einem Papier in der Hand nachlässig auf einer Ottomane. Er blinzelte die eintretenden vornehm an, als könnte er sie nicht gleich erkennen, faltete und versiegelte erst den Brief und klingelte nach dem Bedienten: »An Se. Durchlaucht, aber sogleich.« – Dann sprang er auf und nötigte die Gäste verbindlich auf das Sofa. – Lothario, als sie sich feierlich niedergelassen, drückte mit devoter Stimme ihre langverhaltene Freude über seinen sehr ergötzlichen Glückwechsel aus. »Mich hat es nicht im geringsten überrascht, verehrter Hofrat«, sagte er, »du strebtest von jeher obenhinaus: keine Dachstube war dir zu hoch, du hattest schon damals immer die besten Aussichten.« – Dryander, hofmännisch überhörend, wandte sich, ohne darauf zu antworten, zu Otto, ihn seiner besonderen Teilnahme an seinem schönen Talent versichernd, doch müsse er ihm als Freund raten, seinen Umgang sorgfältiger zu wählen. – »Eben darum«, unterbrach ihn Lothario, »hat dieser junge Mann einen festen Entschluß gefaßt. Du hast gestern dein Gehalt bezogen und brauchst es nicht; wir wollten daher gehorsamst bitten, ob du vielleicht die Güte haben möchtest, ihm unter die Arme zu greifen – ein kleines Darlehn – auf kurze Frist – er will nach Italien.« – »Nach Italien?« rief Dryander aus, »in das göttliche Land « »Ja, wo, nach Goethe, die Zitronen blühn«, fiel Lothario ein. – »Meine Verbindungen hier bei Hofe, ich kann Ihnen vielleicht nützlich sein«, fuhr Dryander fort, »auch kenne ich mehrere Personen von Rang in Rom, Neapel, mein Freund der Duca -« »Degli Lazzaroni«, meinte Lothario, »eine alte Familie, ich glaube, ihr seid verwandt.« – Otto stand hochrot und entrüstet auf. – »Ich bedaure nur«, sagte Dryander, gleichfalls aufbrechend, »daß in diesem Augenblick dringende Amtsgeschäfte – es wird mir aber sehr erfreulich sein, Sie vor meiner Abreise -« »Allerliebster Hofrat!« rief hier plötzlich Lothario, seine Hand fassend: »jetzt tanz noch ein Menuett mit mir.« – Dryander maß ihn mit verächtlichen Blicken. – »Oder soll ich dich morgen vor dem ganzen Hofe auffordern? Du kennst ja meine Kuchenreuter«, sagte Lothario. – Der Hofrat wollte hastig klingeln. – »Tanz« – wiederholte Lothario warnend. Da stellte sich Dryander mit teuflischem Lächeln in Positur, Lothario sang vergnügt die Menuett à la Vigano, so führten sie auf dem bunten Teppich graziös mehrere Touren aus, und es war wunderlich anzusehen, wie Dryander seinen Gegner mit den Augen erstechen wollte, sooft sie feierlich aneinander vorüberschwebten. Dann geleitete ihn Lothario an den Fingerspitzen bis zum Sofa, machte eine tiefe Verbeugung und entfernte sich mit dem verlegenen Otto, der gar nicht wußte, wie ihm geschehen.

»Das war eine gesunde Motion « sagte Lothario lachend – als sie draußen waren – »aber Mensch, sehen Sie nicht so trübe aus! Schreiben Sie noch heut nach Hohenstein um Geld, treu, klar und aufrichtig; Sie kriegen des Plunders genug; wer ehrlich will, was er soll, der kann auch, was er will!« – Mit diesen Worten wandte er sich wieder in den Garten. Otto stand noch lange zweiflend still, dann aber eilte er auf sein einsames Stübchen, um sogleich den guten Rat zu befolgen. – Als er oben am offenen Fenster saß, tanzte schon das Abendgold durch das Weinlaub so lustig über das reine Blatt vor ihm. Er stand oft im Schreiben auf und lehnte sich zum Fenster hinaus. Die Abendsonne beschien draußen die herbstliche Gegend, die Wandervögel zogen über das Haus fort, seine ganze Seele war voll fröhlicher Verheißung und zog mit ihnen in die schöne, wunderbare Ferne hinaus.

Währenddes kehrte unten der Fürst mit mehreren Begleitern von einem Ausfluge heim. Sie ritten zwischen den einsamen Felsenwänden den kühlen Strom entlang, die Wälder glühten im buntfarbigen Herbstschmuck. Da erblickten sie hoch über sich auf einem überhangenden Felsen die Gräfin Juanna, unter wilden Waldblumen nach dem Strome hinabgebeugt, daß die dunklen Locken Stirn und Wangen bedeckten. – »Lurelei!« – sagte der Fürst wie in Gedanken zu seinen Begleitern, die geblendet hinaufschauten.

Aber er selber war schon in ihrem Bann, und als sie am Schlosse angekommen, hatte er sich unbemerkt entfernt und stieg allein hastig und verwirrt durch die schöne Einsamkeit hinauf. Er kannte von seinen Jagden den wenig betretenen Fußsteig zur Höh‘, Juanna fuhr erschrocken auf, als er soeben plötzlich durch das Gebüsch brach und neben ihr auf die Knie sank, ihre Hand mit glühenden Küssen bedeckend. Sie schwieg und sah ihn lange durchdringend an. »Still, still« – sagte sie dann, »hier kann man uns vom Schloß aus sehen.« – Hiermit ergriff sie seine Hand und führte ihn rasch durch die Hecken, über schmale Felsrücken an jähen Abgründen vorbei. Durch seine Seele gingen wechselnd Furcht und Hoffnung, wie die Schatten im Walde. »Wo wandern wir hin?« fragte er endlich betroffen, denn die grünen Plätze kamen ihm so bekannt vor, das Abendrot spielte, wie die alte schöne Zeit, darüber. So traten sie auf einmal zwischen den Bäumen heraus und erblickten unter einzelnen Tannen ein kleines Haus mit einem stillen, zierlichen Gärtchen davor. – Der Fürst drängte erschrocken weiter. »Hier wollen wir ausruhen«, sagte Juanna, ihn festhaltend. Er schaute nun unverwandt hinüber, wie in einem Traum. Eine alte, blinde Frau saß in der Abendsonne vor der Tür, ein schönes, bleiches Mädchen ging singend vor ihr im Garten auf und nieder. Da erblickte sie auf einmal den Fürsten und floh wie ein erschrecktes Kind zu der Mutter und setzte sich zu ihren Füßen ins Gras. – »Was hast du denn?« fragte die Blinde. Das Mädchen sagte: es gehe ein Engel im Abendscheine durch den Wald, ein anderer stehe neben ihm, der werfe einen langen Schatten weit über den Wald und die Täler, »ach es dunkelt schon, und er kommt noch immer nicht wieder!« – Sie drückte ihr Gesicht in den Schoß der Mutter und weinte bitterlich.

Der Fürst wandte sich ab. Es war das Jägermädchen, das er so oft in früheren Jahren heimlich besucht. Ihr Herz war gebrochen, da sie in ihrem Liebsten den Fürsten erkannt, nun war sie lange wahnsinnig, er hatte sie fast vergessen. – Die Abendglut blickte noch einmal durch den Wald herauf, daß die Gegend plötzlich ganz fremd und wie verwandelt erschien. Juannas Augen funkelten beinahe tödlich, er hielt sie nicht länger aus und floh tief erschüttert von dem entsetzlichen Ort.

Sie aber war unterdes in das Gärtchen getreten und sprach trostreich zu der Blinden und ihrem armen Kind und warf ihr, ehe sie weiterging, einige Goldstücke in den Schoß. Da betete die Alte still vor sich, denn nun glaubte sie’s selbst auch, daß in der Abendstille ein Engel an ihrem Hause vorübergegangen. – Währenddes stieg der Maler Albert, bis an die Zähne bewaffnet, still und ernst den Waldberg hinan. Er hatte vorhin die Gräfin auf dem Felsen, dann den Fürsten heimlich hinaufschleichen gesehen und in seiner Tugendhaftigkeit sogleich beschlossen, mit Gut und Blut die Unschuld zu beschützen. Die Nacht war schon hereingebrochen, die ganze Gegend stand wie in Gedanken im Mondglanz umher, und als Juanna wieder im Schloß an ihrem Fenster stand, hörte sie unter sich den Strom aufrauschen, wie von Ruderschlägen. Es war Lothario, der unten auf einem Nachen vorüberfuhr und sang, sie konnte durch den Nachtwind nur folgende Worte verstehen:

Wetterleuchten fern im Dunkeln,
Wunderbar die Berge stehn,
Nur die Bäche manchmal funkeln,
Die im Grund verworren gehn,
Und ich schaue froh erschrocken
Wie in eines Traumes Pracht
Schüttle nur die dunklen Locken,
Deine Augen sind die Nacht.

Der Nachtwächter unter den Fenstern aber schüttelte den Kopf und sah zu seiner Verwunderung auf dem Felsen drüben eine lange Gestalt, auf ihr Schwert gestützt, die halbe Nacht hindurch gleich einer verlornen Schildwacht stehen.

Zwölftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Es kann ein Mensch lange Zeit in den besten Grundsätzen wie ein Schneemann eingefroren sitzen, aber die lustigen Frühlingsbäche unterwaschen schon heimlich plaudernd und neckend den Sitz unter ihm – ein Laut, der leise Flug eines Vogels: und er stürzt kopfüber und verschüttet alle guten Vorsätze wieder. – So erging es Dryandern.

Es war ein schöner, stiller Abend, da ging die Fürstin allein in einem entlegenen Teile des Gartens spazieren, sie schien unruhig, oft blieb sie stehen und hörte zu, wie die Schauspieler unten sangen. Aber die kluge Kordelchen hatte sie schon aus der Ferne bemerkt, Lothario fehlte heut wider seine Gewohnheit bei dem Gesange – sie hatte ihre eigenen Gedanken. So begegnete sie Dryandern am Eingange des Parks, da flog ihr plötzlich ein Anschlag durch den Kopf. »Endlich finde ich Sie!« flüsterte sie ihm geheimnisvoll zu, »die Fürstin dort, sie erwartet Sie. Aber still« sagte sie, den Finger auf den Mund legend, und verschlüpfte schnell wieder zwischen den Bäumen. – Eitelkeit macht dumm. Der überraschte Dryander überblätterte geschwind das Glücksbuch seiner hiesigen Anstellung, jedes Blatt rauschte ihm plötzlich wie die Schleppe der Fürstin, nun verstand er erst alles, ja, er überredete sich in allem Ernste, selber längst in die Fürstin sterblich verliebt zu sein. So, im Garten fortrennend, umspann er sich immer hitziger mit dem tollsten Roman, und als nun die schlanke Gestalt in einem dunklen Bogengange auf einmal vor ihm stand, überschüttete er sie atemlos, ohne Eingang und Vorbereitung, verworren mit der glühendsten Liebeserklärung. Die Fürstin, da er so auf sie losstürmte, stand erst verwundert, dann lächelte sie fein und still, es fiel ihr nicht ein, daß er sich einbilden könnte, sie meine ihn. – »Tasso!« scherzhaft warnend, »wir sind hier nicht in Belriguardo.« – Indem sie aber den Handschuh ausziehen wollte, um ihm ihre weiße Hand zum Kuß zu reichen, fiel ein Mondstrahl durch das Laub auf Stirn und Mund. Da kam sie Dryandern schon eigentlich etwas alt vor, sie gefiel ihm auf einmal gar nicht, und seine Gedanken schlugen ihm unwillkürlich um, wie Milch beim Wetterleuchten. »O Gott, Fürstin!« rief er aus, »die Nacht ist eine wilde, phantastische Blume, berauschenden Duft verstreuend, schöne gefallene Engel wiegen sich auf den Blättern und singen im Traume von den Sternen, wo sie sonst gewohnt, und zwischen den träumenden Kaiserkronen und Blütenglocken flüsternd, ringelt die alte Schlange sich leise empor, und von ihrem Krönlein lösen sich grüngoldene Funken und schwärmen durch das Blütengeflecht, und in ihrem streifenden Widerscheine sehen die Gesichter leichenblaß, wie Sie jetzt, Fürstin, im Mondlicht.« – So redete er sich nach und nach in die Tugend und tragisches Wesen hinein, sprach entsetzlich von der Sünde, immer begeisterter, wilder und herzzerschneidend. Die Fürstin überlief es heimlich eiskalt dabei. Aber sie bezwang sich und unterbrach ihn lachend: »Der Duft der Nachtblume ist Ihnen zu Kopfe gestiegen, gehen Sie nach Hause und nehmen Sie ein Fußbad.« – Dann wandte sie sich stolz nach dem Schlosse.

Dryander stand wie vom Donner gerührt. Jetzt wollte er ihr nach, sie festhalten, rannte aber in der Verwirrung mit der Stirn an einen Baum, daß er den Hut verlor. Er schimpfte sich selbst einen gefallenen Engel, der gotteslästerlich die Unschuld an die Wand male, die ihn verführt. So eilte er wie besessen quer durch den Wald, in der Ferne verklang eben noch die letzte Abendglocke, die Mädchen im Dorfe unten sangen vor den Haustüren. Und als er am Ende des Parks plötzlich heraustrat, erblickte er vor der letzten Hütte des Dorfs beim hellsten Mondschein eine schöne Jungfrau, die er noch niemals gesehen, in reichem Gewand unter einer Linde sitzend. Sie hatte ein blondgelocktes Kind auf dem Schoß, ein anderes stand auf ihr Knie gestützt und sah an ihr empor, alle von einem weiten Schleier umgeben, durch den die Sterne flimmerten, als wären sie dreingewirkt. Da war’s ihm, als hätte der Himmel sich barmherzig auf diesen Hügel herabgeneigt, todmüde, außer sich, warf er sich zu ihren Füßen auf den Rasen hin, vor den unschuldigen Augen. »O heilige Jungfrau, bitte für mich!« redete er sie aus tiefstem Grund der Seele an, »beschütze mich vor der wilden Jagd – ich selber Hund und Wild – erlöse mich von der inneren Lüge!« – Sie sah ihn ernsthaft an, sie konnte vor den Kindern nicht aufstehen. – Er aber achtete nicht darauf; wie ein Kranker, der einen seligen Traum hat, sprach er immerfort zu ihr und bot ihr endlich gerührt seine Hand an. Er wolle sie mit den Kindern auf einen Esel setzen, so wollten sie ziehen durchs einsame Gebirg die Klippen hinab in der schattigen Kühle, alles hinter sich lassen und vergessen, fort nach der blauen Ferne, bis in das stille Himmelreich. – »Was sind das für Bälger?« unterbrach er sich hier plötzlich selbst, das Kind hastig abwehrend, das mit den schmutzigen Händen zu ihm wollte. – »Ich brachte ihnen Speise und Medizin«, erwiderte das Fräulein, »ihre Muter liegt drin krank – « »Krank?!« rief Dryander schnell aufspringend und bedenklich nach der Hütte blickend, denn er hatte eine abergläubische Furcht vor Ansteckung. Ein Bedienter mit einem Handkörbchen war unterdes aus dem Hause dazugetreten, das Fräulein erhob sich, wie erlöst, von dem Rasen, und entfernte sich rasch, noch öfters furchtsam zurückblickend. – In dem Gebüsch daneben aber hörte er ein feines Lachen, er glaubte ein Frauenkleid durch die Zweige schimmern zu sehen.

Es war Kordelchen, die ihm heimlich gefolgt. Aber es bekam ihr schlimm. Denn sie hatte sich kaum in ihrem Versteck zurechtgesetzt, da stürzte Dryander, wie ein Rasender, schreiend und tobend daher und fuhr mit dem Kopf gerade in ihre Röcke. Sie sprang erschrocken auf – eine Fledermaus, da er seinen Hut im Walde gelassen, war ihm unversehens in die Haare geflogen und blickte, dort festgenestelt, mit stieren Augen vom Kopfe des Dichters. Dieser schrie, Kordelchen schimpfte, keines mochte anfassen darüber fuhren Köpfe, Mägde und Kinder aus allen Fenstern und Türen, die Hunde im Dorfe schlugen an, Dryander nahm ganz verblüfft Reißaus, der Nachtwächter, der eben blasen wollte, mit langen Schritten ihm nach – so kam er atemlos nach Hause, wo er, endlich von dem gespenstischen Untier befreit, sogleich zu Bett ging und sich fest einbildete, todkrank zu sein.

Feine Lebensart ist wie ein guter Firnis, den die gemeine Luft nicht angreift; so war auch die Fürstin seit jenem Abend ganz unverändert; sie erwähnte des Vorfalls mit keinem Wort, sie mochte wohl ihre Gründe dazu haben. Dryander, da es ihn nicht mehr interessierte, hatte längst alles wieder vergessen, bis auf die schöne mildtätige Jungfrau vor der Hütte. Diese aber war niemand anders als Fräulein Trudchen von dem wüsten Schlosse des Barons. Die leichte, heitere Art der vornehmen Gäste bei dem fürstlichen Besuche hatte sie ganz verblendet; wie nach Sonnenuntergang flimmerte es noch lange in ihrer Einsamkeit nach, und sie hörte nicht auf zu bitten und zu schmollen, bis der Vater sie endlich auf mehrere Wochen zu dem fürstlichen Forstmeister, ihrem Verwandten hinüberschickte, um sich zu bilden. – Dryander besuchte nun regelmäßig jeden Abend den Forstmeister, disputierte mit den dort häufig versammelten Gutsbesitzern, trank viel und verfolgte das Fräulein mit wahrhaft poetischer Wut. Er schleppte ihr unermüdlich Bücher zu: Goethe, Shakespeare, Calderon, Cervantes, sie mußte geschwind lesen, ihre Unwissenheit reizte ihn nur immer mehr. Es war ihr alles so neu, im Hause hatten alle großen Respekt vor seiner Gelehrsamkeit, er umstrickte sie ganz mit seinem leidenschaftlichen Wesen. – Die Schauspieler hatten insgeheim ihre große Freude daran, und eines Abends kamen die Schalksnarren Ruprecht, Kordelchen, Fabitz, eins nach dem andern, feierlich zu ihm, der eine brachte ein Gedicht, der andere einen dicken Blumenstrauß, und gratulierten zu seiner morgigen Vermählung mit dem Fräulein. Er stutzte und lief sogleich noch zum Forstmeister hinüber. – Es war schon spät, er fand einen seltsamen Rumor im Hause, Spiegel und Kronleuchter wurden geputzt, Gäste vom Lande waren angekommen, andere wurden noch erwartet. Im Garten aber sah er unter den Pflaumenbäumen ein trübes Feuer glühen, vor dem sich dunkle Gestalten seltsam hin und herbewegten. Er eilte hin und fand sein Trudchen, eine Schürze vorgebunden und die Ärmel aufgestreift, in voller Arbeit vor dem Backofen, in welchen soeben Kuchen geschoben wurden. Neugierig und diensteifrig wollte er ihr helfen, um etwas Näheres zu erfahren. Aber sie hatte nicht viel Zeit, er war ihr überall im Wege, sie streifte ein paarmal dicht an ihn an, daß er auf der einen Seite ganz weiß von Mehl wurde. »Nun, nun«, sagte sie, da er sich eifrig abstäubte, »es ist ja nicht Ihr Hochzeitsfrack.« – »Wahrhaftig«, rief er, »wo soll ich bis morgen einen bessern hernehmen?« – »Kommen Sie nur in dem«, erwiderte sie, »und bringen Sie ein hübsches Gedicht mit.« – Er wollte sie, da die Mädchen eben in den Ofen sahen, schnell haschen und küssen. Aber sie hatte gerade den Kochlöffel in einen Topf voll Pflaumenmus getunkt und fuhr ihm fix damit über den Mund. »Morgen!« sagte sie lachend und lief nach dem Hause. Er sah ihr nach – es war ihm, als führe sie unter den Bäumen wie eine kleine Hexe auf dem Kochlöffel davon.

Am folgenden Morgen war er schon frühzeitig auf dem Platz, in Schuh und Strümpfen, einen Klapphut unter dem Arm. In des Forstmeisters Hause schien noch alles zu schlafen; er trat unbemerkt in den stillen Gartensaal. Dort war eine lange Tafel schon festlich gedeckt, buntes Naschwerk schimmerte zwischen den künstlich gefalteten Servietten, in der Mitte ein prächtiger, altmodischer Aufsatz mit Pomeranzenbäumchen von Wachs und porzellanenen Götterfiguren, die sich in dem Spiegelboden wie in einem Weiher verdoppelten. Er schritt neugierig auf und nieder und kostete alle Teller durch. Dann ging er in den Garten, um in der Geschwindigkeit noch die Rede zu memorieren, die er an der Hochzeitstafel halten wollte. Da sangen aber die Vögel so spöttisch und die schlanken Pappeln im Morgenwind verneigten sich vor ihm, als wollte ihm alles gratulieren. Von einem umwachsenen Hügel konnte er gerade ins Haus seiner Liebsten sehen. Dort war es unterdes auch schon lebendig geworden, er sah, wie sich Vettern und Basen im festlichen Staate versammelten, immer neue Gestalten erschienen an den Fenstern, ein galantes Wirren, Scharren und Knicksen flimmernd durcheinander, draußen wurden Pasteten und ein hoher Baumkuchen ins Haus getragen, vom Jubel der Dorfjugend begleitet, die eben zur Schule ging. Er hatte sich das alles noch niemals so recht voraus überlegt, jetzt aber befiel ihn, allmählich wachsend, eine unwiderstehliche Angst vor dem Heiraten, und als er eben in eine Allee hineinbiegen wollte, erblickte er am anderen Ende gar zwei alte Damen, die in taftenen Kleidern feierlich auf ihn dahergerauscht kamen. Da wandte er sich schnell und entfloh in langen Sätzen unaufhaltsam durch den Garten, am Dorfe vorüber in die Berge hinein, es war ihm, als verfolge ihn Gott Hymen und klopfte seine Fackel an seinem Kopfe aus, daß ihm die Funken knisternd um die Augen sprühten.

In dem Hause ging es unterdes schon hoch her, es war des Forstmeisters Geburtstag, kein Mensch dachte an Hochzeit. Trudchen trat oft ans Fenster und ging immer wieder ganz böse fort, daß Dryander noch nicht kam. Auch der Baron, der sich wie gewöhnlich zu dem Feste mit eingefunden, war begierig, ihn zu sehen, denn der Forstmeister hatte ihm schon von seiner Liebschaft, seiner einträglichen Stelle und seinen bedeutenden Verbindungen am Hofe erzählt, und der Baron in seinen verzweifelten Vermögensumständen dachte sogleich daran, seine Tochter unter die Haube und sich unter Dach zu bringen, ehe sein eignes ihm über dem Kopf zusammenstürzte. Aber vergeblich war mehreremal nach Dryanders Wohnung geschickt worden, man hatte sich endlich zu Tisch gesetzt, die Unterhaltung wurde immer lauter, in dem Lärm flogen schon Bonbons und bedeutende Blicke zwischen den jungen Leuten hin und her, vom Knall der Champagenerflaschen salutiert, als sich auf einmal durch die Diener vom Schlosse her das Gerücht verbreitete, der Hofrat sei entsprungen und fern im Walde in vollem Staat gesehen worden. Niemand wußte sich’s zu erklären, denn die Schauspieler, die einen solchen Ausgang nicht erwartet hatten, hüteten sich wohl zu verraten, was sie Dryandern eingeredet. – Trudchen aber stand plötzlich auf und ging hochrot hinaus. Da wurde die Sache erst recht auffallend, alle Blicke waren auf die Fortgehende gerichtet, die Mädchen zischelten einander heimlich in die Ohren, der Baron eilte ihr nach, denn es sollte noch getanzt werden. Aber das Fräulein war wie ausgewechselt, schmollend und trotzig, und wollte durchaus nicht mehr zur Gesellschaft zurück. Sie wisse es am besten, sagte sie, die Alltäglichkeit dieser prosaischen Menschen habe den Hofrat vertrieben, sie frage gar nicht mehr nach den unwissenden Leuten, sie kenne nun eine ganz andere Welt! – Der Baron aber schalt sie eine verdrehte Närrin. Dann ließ er voller Zorn mitten in der allgemeinen Verwirrung anspannen, schob sie in den Wagen und verschwor sich: der Kerl, der Hofrat solle sie nehmen, oder er jage ihm eine Kugel durch den Kopf!

Keinem war der Vorfall fataler als Lotharion, denn der Doktor war ihm lange wie ein Blitzableiter, in den sein Witz und Ärger lustig einzuschlagen pflegte. Er ging soeben, die seltsame Flucht besprechend, mit Fortunaten durch den Garten, als ihnen plötzlich Otto mit leuchtenden Augen entgegenkam. »Gute Nachtrichten aus Hohenstein!« rief er schon von weitem, einen Brief emporhalten. Er hatte, über alle Erwartung, nicht nur die Zustimmung des Amtmanns in seine Pläne, sondern auch eine bedeutende Summe erhalten, die mehr als zureichend schien, die Reise durch Italien behaglich zu vollenden. Auch ein Brief von Walter an Fortunat war beigeschlossen, den dieser mit großer Freude sogleich erbrach.

»Unser Otto«, schrieb der wackere Freund, »hat uns von Eurem seltsamen Zusammentreffen und dem poetischen Leben an dem Hoflager des Fürsten ausführlichen Bericht erstattet. Er schreibt überaus lebendig, und es ist uns allen, als wären wir in den Palästen und grünen Gängen mitten unter Euch und sähen und hörten jeden nach seiner Weise sich bewegen und sprechen, diesen Lothario, Kordelchen und Dich selbst nicht ausgenommen. Da sitzen wir dann in Hohenstein, wenn im Feld und Haus alles besorgt ist, jeden Abend wieder unter den Linden vor der Haustür zusammen, und ich muß den Brief immer wieder von Anfang bis zu Ende laut und deutlich vorlesen, bis der Mond über uns aufgeht. So bist Du auch in der Ferne bei uns, wie denn überhaupt eine stille, mondhelle Nacht schon an sich etwas Traumhaftes hat und entfernte, geliebte Gegenden und Personen der Seele wunderbar näherbringt.

Wie glücklich seid Ihr Dichter! Euerem zaubersichen Sinne erschließt sich überall, wo Ihr wandelt, wie dem Geliebten, willig und vertraulich die verborgene Schönheit der Welt, mit jedem Schritt erweitern sich die Kreise, das Entfernte, Dunkele rückt verständlich in freundliche Nähe und neue Fernen heben sich wieder wunderbar immer weiter und schöner. Was ist Dir nicht alles wieder begegnet, seit wir uns trennten! – Mit mir geht es gerade umgekehrt. Je weiter ich komme, je enger wird der Kreis, und die Fernen, die mich in der Jugend entzückten, verbleichen und versinken mir allmählich. – Doch ich denke, das muß wohl so sein. Ruhiger, als Du Dir vielleicht einbilden magst, habe ich endlich meine Stellung in der Welt erkannt und von den vornehmen Täuschungen Abschied genommen. Ich lerne mich bescheiden und beschränken, und mir ist wohl. Euere Aufgabe ist unübersehbar, verwickelt und selten recht in Eurer eigenen Gewalt. Mein Beruf dagegen ist einfach und mir jederzeit klar, und, glaube nur, es ist auch was wert, mit sich selber im reinen zu sein.

Kann ich nun nicht selbst, wie ich früher wohl träumte, mit hinaus in das schöne Land der Poesie, so will ich wenigstens den Dichtern redlich helfen, wie und wo ich’s vermag. So ist es mir denn auch endlich gelungen, den Otto mit seinen Pflegeeltern zu versöhnen, denn ich meine, es stand da ein bedeutendes Talent auf dem Spiele. Glaube aber nur nicht etwa, daß das so schwer hielt. Ein rechter, fester Wille tut überall Wunder. Ottos plötzlicher Entschluß die Heimat zu verlassen, hat die bisherige Ansicht der Sache, ich möchte sagen, auf den Kopf gestellt und der Einbildungskraft der Hohensteiner eine ganz neue Richtung gegeben. Dem Amtmann gefällt Ottos Mut, um so mehr, je weniger er ihn dem sanften Stillen zugetraut hatte. Die gute Mutter aber freut sich nun heimlich darauf, Ottos Namen gedruckt oder gar sein Bild vor einem Buche zu sehen.

Du wirst Dich wahrscheinlich über das viele Geld wundern, das wir schicken. Aber es kommt nicht von uns. Otto hat hohe Gönner – mehr darf ich für jetzt davon nicht verraten.

Das ist jetzt eine glückliche Zeit. Kaum war diese Angelegenheit wegen Otto nach Wunsch beseitigt, so erhielt ich aus der Stadt die Nachricht, daß mir das einträgliche Amt eines Gerichtsverwalters hier in Hohenstein, das ich so lange zwischen Hoffnung und Zweifeln ersehnt, zuteil geworden. Nun steht unserer Verheiratung nichts mehr im Wege. – Soeben guckt mir Florentine über die Schulter ins Blatt und hält mir schnell mit der Hand den Mund zu, damit ich nicht alles ausplaudern soll. Da ich aber unterdes fortfuhr zu schreiben, so läuft sie nun gar fort und läßt Dich nicht einmal grüßen. – Ich schreibe im Garten auf demselben Platze mit der großen Aussicht, wo Du alle Morgen zu lesen oder zu dichten pflegtest. Aber die Felder unten sind schon leer, auf den Beeten neben mir prangen nur noch die Astern, und die Blätter auf den Bäumen färben sich und fallen. Das ängstigte mich sonst immer, diesmal ist mir gar wunderlich zumute dabei, denn im Hause durch die offenen Fenster sehe ich die Mutter emsig Federn schütten zu den Brautbetten, der Tischler hat seine muntere Werkstatt vor der Haustür aufgeschlagen und schnitzt die Doppelfenster für unsere künftige Wohnung, und ich richte mich mit innigem Behagen in Gedanken für den Winter ein – da mögen draußen Sturm und Schnee an die Fenster schlagen! Doch dieses Gefühl verstehst Du wohl nicht? – Nun, Gott sei mit Dir, lieber Bruder, und führe Dich auf Deinen weiten Wegen zu solchem Glück und solcher Herzensfreude, als ich auf dem nächsten hier gefunden habe.«

Fortunat legte den Brief mit ganz eigenen Empfindungen zusammen, es war ihm, als stände er tief im stillen Abendrot. Vor ihm aber stand Otto mit Lotharion an dem Abhang und schaute trunken in die Ferne, in die er nun bald hinausziehen sollte.

Dreizehntes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Und wo noch kein Wandrer gegangen,
Hoch über Jäger und Roß,
Die Felsen im Abendrot hangen
Als wie ein Wolkenschloß.
Dort zwischen den Zinnen und Spitzen,
Von wilden Nelken umblüht,
Die schönen Waldfrau sitzen
Und singen im Wind ihr Lied.
Der Jäger schaut nach dem Schlosse:
Die droben, das ist mein Lieb!
Er sprang vom scheuenden Rosse,
Weiß keiner, wo er blieb.

So sang Lothario auf einer Waldhöh‘ auf seine Büchse gestützt. Fortunat trat zu ihm herauf, da sahen sie jenseits den Wald schon von Jägern und Reitern blitzen, der Fürst hatte zum Valet noch eine große Jagd veranstaltet, bevor alles vor dem Winter wieder in die Stadt flüchte.

»Hast du die Braut nicht gesehen?« fragte Lothario unruhig umherspähend. – »Du meinst die Gräfin Juanna, so hörtest du auch davon?« erwiderte Fortunat, »sie halten’s so geheim vor mir, und alle Jäger wissen’s. Erst diesen Morgen hört‘ ich, daß der Bräutigam, ein Baron Manfred, noch heut zur Jagd erwartet wird.« – »Das ist ein prächtiges Wetter zum Heiraten«, sagte Lothario, »der Altweibersommer fliegt, als hätten sich alle alte Jungfern das Haupthaar ausgerauft und in die Lüfte umhergestreut, da bleibt mancher Ritter noch mit den Sporen drin hängen. Gebt acht, es gibt eine köstliche Verwickelung!« – Hiermit schüttelte er Fortunaten heftig die Hand und ging schnell ins Tal hinunter.

Fortunat sah ihm verwundert nach, dann folgte er der Jagd, die jetzt immer lustiger durch die Berge ging. So verlor er sich bald in das Labyrinth der Wälder und kam zuletzt in eine grüne Schluft, über deren Felsenwände von allen Seiten Efeu verwildert hinabstieg. Auf einmal brach ein Hirsch durch das Dickicht, eine Meute Hunde an seinen Fersen und hinter ihnen Juanna. Das edle Tier bei seinem Anblick stutzte schnaubend und stürzte sich seitwärts in den Abgrund, Hunde und Reiterin konnten ihm dorthin nicht folgen. Da hielt Juanna plötzlich über Fortunaten in der wilden Einsamkeit, die Hunde streckten sich lechzend zu ihren Füßen. »Seht, der ist frei« – sagte sie, die schwarzen Locken aus dem erhitzten Gesicht schüttelnd – »und eher fangt Ihr mit verliebten Blicken einen Hirsch im Walde als mich! Was wollt Ihr von mir? Laßt das Werben um mich, mir ist wohl in meiner Freiheit. Was auch die Fürstin für Anschläge hat, ich werde nie die Eurige und keines Mannes Weib – hütet Euch, es wäre unser beider Tod!« – Hierauf wandte sie ihr Roß, die alten Bäume schüttelten sich und streuten ihre gelben Blätter wie einen Goldregen über die schöne Gestalt. Fortunat stand ganz verwirrt, ihm war, als sprächen ringsum die Quellen irre den Wald entlang, Unerhörteres konnte ihm nicht begegnen, als daß er nun am Ende selbst der Bräutigam sein sollte! – Unterdes hatte sich Juanna wieder höher in das Gebirge gewendet, ein plötzlicher Anschlag schien ihre ganze Seele zu bewegen. Sie kannte den Waldweg nach einem Nonnenkloster, das jenseits des Gebirges lag und dessen Äbtissin ihr verwandt war. Dort wollte sie noch heute hin und abwarten, bis der Winter Gebirge, Freier und Verliebte verschüttet. Aber mitten in diesen Gedanken erblickte sie auf einmal eine Gemse über sich, die sich hoch über den Wipfeln von Klippe zu Klippe schwang. Das war ihr ganz neu, sie konnte der gefährlichen Lust nicht widerstehen. Ein alter Jäger, der sich bis in diese Öde verstiegen hatte, arbeitete sich eben durch das Gesträuch, sie übergab ihm ihr Pferd, er sollte es hüten, bis sie wiederkäme, und eh‘ er sie noch warnen konnte, war sie schon zwischen den Felsen verschwunden.

Nun kletterte sie wie ein schlanker Panther über die Klippen, das scheue Wild verlockte sie immer höher hinauf, die Lust wuchs mit der Gefahr, sie hatte sich lange nicht so wohl gefühlt und erstaunte, da sie plötzlich eine Felsenwand über sich wie in Feuer erblickte, es war der Widerschein der Abendsonne, die soeben jenseits hinter den schwarzen Wäldern versank. Mit der einen Hand sich an einen Strauch haltend, sah sie über den Felsrand hinab: die Täler unten dunkelten schon, aus weiter Ferne hörte sie noch eine Abendglocke heraufschallen, sie meinte, es komme von dem Kloster herüber. Eilig schlug sie nun die Richtung ein, aber sie konnte sich in dem wilden Gewirre nicht zurechtfinden, wohin sie sich wandte, taten sich neue Abgründe auf; so stand sie in der entsetzlichen Einsamkeit wie einer, der nachts zwischen den Zacken und Steinbildern eines unbekannten Münsters vergessen worden. In dieser Not verfiel sie darauf, ihr Gewehr zum Signal abzuschießen. Zu ihrer Freude gab sogleich ein Schuß ganz nahe Antwort. Bald darauf hörte sie Fußtritte auf dem lockeren Gerölle, eine hohe, schlanke Gestalt trat plötzlich zwischen den Steinen hervor – es war Lothario. »Das ist ein gefährliches Revier«, sagte er, »und die Nacht bricht schon herein, doch ich bin hier der Pfade kundig und meiner Richtung gewiß.« – Die Gräfin aber hatte bei seinem Anblick ein seltsamer Eigensinn ergriffen, gerade ihm dachte sie hier am wenigsten zu begegnen, und eh‘ er’s verhindern konnte, schwand sie, ihn abwehrend, sich auf einen einzelnen, senkrecht über die Tiefe hinausragenden Fels, daß ihm in innerster Seele grauste – nur ein Fehltritt und sie glitt in den Abgrund hinunter. – Da hatte Lothario mit sicherem Blick seinen Vorteil abgesehen. In raschem Entschluß umfaßte er sie plötzlich und schwang die Sträubende auf seinem Arm. Erschrocken, überrascht, wußte sie nicht, wie ihr geschehe, und sah ihm verwundert und zornig in die Augen. Er aber trug sie grauenhaft an jähen Schlünden vorüber durch die Dämmerung von Klippe zu Klippe hinab, daß sie, vor Entsetzen mit dem einem Arm seinen Nacken umklammernd, ihn rings mit ihren aufgeringelten Locken umgab. So schwiegen sie beide lange Zeit.

Jetzt ging der Mond prächtig über den Wäldern auf. Lothario schaute in die wunderbare Einsamkeit und sagte halb für sich: »So hab‘ ich’s manchmal im Traume gesehen.« – Juanna aber blickte spähend umher, die Gegend war ihr ganz fremd, einzelne Wolkenschatten flogen darüber, tiefer schimmerten die Gründe fast heimatlich herauf, wie die Täler in Spanien, sie gedachte der schönen Sommernächte unter den Guerillas. – Auf einmal stutzte sie, zwei gesattelte Pferde standen dicht vor ihnen im Walde, und ehe sie sich besinnen und fragen konnte, hob sie Lothario schon auf das eine Roß, schwang sich selbst auf das andere, und über den mondhellen Waldgrund nun ging es rasch fort durch die stille, sternklare Nacht.

Hier blitzte plötzlich eine furchtbare Ahnung durch Juannas Seele, sie konnte kein Wort hervorbringen, dem Unglaublichen finster nachsinnend, während Büsche, Täler und ferne Dörfer geheimnisvoll an ihnen vorüberflogen. Lothario war wie verwandelt. »Juanna!« rief er aus Herzensgrunde zu, »blick um dich, die Erde ist so still und schön wie eine Brautnacht! Frei sollst du wohnen auf hohem Schloß, wo die Rehe an den Abhängen einsam grasen, dort will ich unter deinem offenen Fenster ruhen in den Sommernächten und dich in Traum singen, bis die Sterne verlöschen und die erste Lerche mich ablöst hoch in der stillen Luft. Und fallen die Blätter und die Vögel ziehen fort und dich befällt Heimweh, wenn du vom Schloß über die einsamen Wälder siehst: ich führe dich weit über die Berge fort, du arme Fremde! Auf dem Meere wollen wir fahren an glänzenden Küsten vorüber, bis die Laute deiner Muttersprache gleich bunten Wundervögeln herschweifen und deine ernste, schöne Heimat emportaucht, duftige Gärten, Gebirge und maurische Schlösser in den trunkenen Fluten spiegelnd – o Juanna, mir ist’s wie von einem hohen Berg ins Morgenrot zu sehen!«

So sprach er voll Freude, während sie ritten, Juanna war immerfort still, in der Tiefe neben ihnen rauschte ein Strom, sie horchte manchmal hinunter. Auf einmal blinkte das Wasser zwischen den dunklen Bäumen hinauf, da warf sie ihr Roß gewaltsam zur Seite, setzte die Sporen ein und schwang es mit sich in den Fluß hinab. Erschrocken stürzte Lothario nach, er sah sie mit dem weitaufgelösten Haar gleich einer Nixe in klarem Mondlicht über die Flut dahinschweben, sinken und wieder emportauchen. Endlich hatte er sie gefaßt, sie ruhte an seiner Schulter, ihre feuchten Locken verdunkelten ihm Stirn und Augen. So sank er mit seiner Beute erschöpft am jenseitigen Ufer auf den Rasen hin und lauschte in der entsetzlichen Stille kniend über ihr – aber sie atmete nicht mehr, stumm und bleich in strenger Todesschönheit.

Das hatte alles anders gestellt, als die lustigen Jäger sich’s dachten. Fortunat war damals noch vor Abend von der Jagd abgekommen und mehrere Tage allein im Walde umhergeschweift, um recht nach Herzenslust das schöne Gebirge zu durchforschen. Als er zurückkehrte, fand er zu seinem Erstaunen alles leer, das Abendrot schien über Schloß und Garten, aus dem einen Flügel klang eine Spieluhr noch in einzelnen, langgezogenen Tönen herüber. Bei seinen Tritten, die in dem trockenen Laube raschelten, fuhr der alte Schloßwart erschrocken empor, der auf den Marmorstufen vor dem Schlosse eingeschlummert war. Von diesem hörte er nun, die Gräfin Juanna habe sich auf der Jagd in den Klippen verstiegen, so sei sie im Fluß verunglückt, zwei Hirten hätten sie im Mondschein auf dem Strome schwimmen gesehen und mit dem Wassermann ringen. Da wäre der Fürst sogleich am andern Morgen mit seinem ganzen Gefolge nach der Residenz aufgebrochen, auch die Schauspielertruppe sei wieder weitergezogen; von Lothario wußte er nichts. – Fortunaten aber befiel ein tiefes Grauen in der plötzlichen Einsamkeit, er beschloß, noch heut bis in das nächste Städtchen zu reisen und sich dann ohne weiteren Aufenthalt nach Italien zu wenden. – Als er fortritt, dunkelte es schon, fern an den Bergen sah er einen stillen Fackelzug, es war Juannas Leiche, die sie nach der Residenz brachten. So geht oft ein Schauer mahnend durch die Lust der Menschen, damit sie sich erinnern, daß ihnen die schöne Erde nur geliehen sei.