Der Waggon, in dem sich Nechludoff befand, war zu drei Vierteln mit Reisenden angefüllt. Es befanden sich darin Dienstboten, Handwerker, Fabrikarbeiter, Schlächter, Juden, Kommis, Frauen aus dem Volke, auch ein Soldat, sowie zwei Damen, eine Mutter und ihre Tochter, waren darunter. Die Mutter hatte ein ungeheures Armband an jedem Handgelenk; sie war von einem Manne mit hartem Gesicht begleitet, der wie ein reicher Spießbürger gekleidet war.

Diese ganze Gesellschaft saß, nachdem sie sich bei der Abfahrt sehr lebhaft benommen, jetzt ganz ruhig da. Die einen aßen, andere rauchten, und lebhafte Unterhaltungen entspannen sich unter den Nachbarn.

Taraß, Fedossjas Gatte, der rechts in der Mitte des Waggons saß, hielt – sich gegenüber – einen Platz für Nechludoff frei. Mit glückstrahlendem Gesicht unterhielt er sich mit einem andern Bauern, der auf derselben Bank saß, einen langen Tuchrock trug und – wie Nechludoff später erfuhr – ein Gärtner war, der von einem Urlaub zurückkam, Nechludoff wollte eben seinen Platz wieder einnehmen, als seine Augen auf einen im Mittelgange sitzenden weißbärtigen Greis fielen, der sich mit einer jungen Frau im Bäuerinnenkostüm unterhielt. Diese junge Frau hatte ein kleines Mädchen von sieben Jahren mit zwei fast weißen Haarflechten bei sich, die ein neues Hemdchen trug und ihre kurzen Beine schaukelte, mit denen sie den Fußboden nicht erreichen konnte; dazu bewegte sie unaufhörlich die Lippen. Unwillkürlich blieb Nechludoff bei dieser Gruppe stehen, und sogleich sagte der Greis, nachdem er die Schöße seiner Bluse, die auf der Bank lagen, hochgehoben, zu ihm in freundlichem Tone:

»Setzen Sie sich, bitte!«

Nechludoff dankte und setzte sich neben ihn. Die Bäuerin, die einen Augenblick geschwiegen, nahm wieder die Erzählung auf, in der sie sich unterbrochen. Sie erzählte, wie ihr Mann, dem sie eben ein paar Wochen in der Stadt Gesellschaft geleistet, sie aufgenommen hatte.

»Ich kam am Sonnabend in der Charwoche an und fahre jetzt wieder ins Dorf zurück,« sagte sie. »Zu Weihnachten werden wir uns, so Gott will, wiedersehen!«

»Das ist ein Glück,« meinte der Greis, sich zu Nechludoff wendend. »Es ist ein großes Glück, daß sie sich von Zeit zu Zeit wiedersehen können, denn sonst würde der Mann, der jung ist und allein in der Stadt lebt, leicht liederlich werden können.«

»Ach, Väterchen, so ist mein Mann nicht! Der wird nie Dummheiten machen! Er ist unschuldig und sanft wie ein junges Mädchen! Sein ganzes Geld schickt er bis auf den letzten Heller nach Hause! Und wenn er nur seine Tochter sieht, ist er glücklich; ach, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie glücklich er ist!«

Das kleine Mädchen, das der Unterhaltung lauschte und dabei immer noch mit den Beinen wackelte und die Lippen bewegte, richtete seine ruhigen blauen Augen auf den Greis, als wolle es die Worte seiner Mutter bestätigen.

»Er ist vernünftig, und Gott wird’s ihm lohnen,« fuhr der Greis fort. »Und das liebt er wohl auch nicht?« fügte er hinzu und deutete auf ein Arbeiterehepaar, das auf der anderen Seite des Ganges saß. Der Mann warf den Kopf nach hintenüber, führte eine Branntweinflasche an die Lippen und trank in großen Schlucken, während seine Frau ihm zusah und die Reisetasche in der Hand hielt, aus der sie die Flasche eben hervorgeholt.

»Nein, mein Mann trinkt nie!« versetzte die Bäuerin, die sich freute, eine neue Gelegenheit zum Lobe ihres Mannes gefunden zu haben. »Solche Männer wie er, Väterchen, bringt die Erde nicht viel hervor! Wenn Sie wüßten, wie gut er ist!« sagte sie wieder, sich zu Nechludoff wendend.

»Das ist recht!« versetzte der Greis, konnte sich aber nicht enthalten, seine ganze Aufmerksamkeit der Scene zuzuwenden, die sich auf der andern Seite des Ganges abspielte. Der Arbeiter hatte, nachdem er getrunken, die Flasche seiner Frau gereicht, die überglücklich ebenfalls von dem Branntwein zu trinken anfing. Plötzlich aber wandte der Mann, der Nechludoffs und des Greises Aufmerksamkeit auf sich gerichtet sah, sich zu ihnen und sagte:

»Na, was sehen Sie uns denn so an? Etwa, weil wir trinken? Wie wir arbeiten, das sieht keiner, aber wenn wir trinken, das sieht jeder! Ich habe mein Teil gearbeitet, und jetzt trinke ich, und meine Frau macht’s wie ich. Und was die andern davon denken, das kümmert mich nicht!«

»Ja, ja, gewiß,« sagte Nechludoff, der nicht wußte, was er antworten sollte.

»Was sage ich, mein Weib ist ’ne tüchtige Person. Ich bin mit ihr zufrieden und sie mit mir auch! Ist es wahr, was ich sage, Maria?«

»Na, nimm die Flasche, ich habe genug getrunken,« versetzte die Frau. »Du sprichst schon wieder dummes Zeug!«

»Sehen Sie, wie sie ist,« entgegnete der Arbeiter. »Eine tüchtige Person; aber wenn sie zu brummen anfängt, dann knarrt sie wie ein Karren, dem man die Räder zu ölen vergessen hat! Marie, ist es wahr, was ich sage?«

Die Frau zuckte laut lachend die Achseln.

»Da, so ist sie! Eine tüchtige Person, aber wenn sie ein Floh beißt, können Sie sie nicht halten! Was ich sage, ist wahr! Ich sehe schon, mein Herr, Sie halten mich für einen Trunkenbold! Was? – Na, ich habe eben einen Schluck zu viel getrunken; was soll ich dagegen thun?«

Darauf streckte der Arbeiter seine Beine aus, legte den Kopf auf die Schulter seiner Frau und schlief ein. Nechludoff blieb noch einige Zeit bei dem Greis, der ihm seine eigene Geschichte erzählte. Er sagte ihm, er wäre seines Standes Töpfer, arbeite seit dreiundfünfzig Jahren, hätte eine unzählige Menge von Oefen ausgebessert und wolle sich jetzt ein bißchen Ruhe gönnen. Er habe seine Kinder bei der Arbeit gelassen und fahre nun in die Heimat, um seinen Bruder wiederzusehen.

Als er fertig war, erhob sich Nechludoff und ging nach dem Platze, den Fedossjas Gatte ihm reserviert hatte.

»Nun, Barin, Sie wollen sich also nicht setzen? Na, wir wollen die Tasche fortnehmen, damit Sie’s bequemer haben,« sagte der Gärtner, der Taraß gegenüber saß und warf einen gutmütigen, lächelnden Blick auf Nechludoff.

»Wenn man eng sitzt, sitzt man sich näher,« fuhr Taraß mit seiner flötenden Stimme fort, hob seine ungeheure Tasche wie eine Feder hoch und legte sie zwischen seine Beine.

Der treffliche Mann sagte gern von sich selbst, wenn er nicht getrunken hätte, so könne er nicht sprechen, doch wenn er ein Glas getrunken, fände er gleich einen Schwall von Worten. Und thatsächlich war Taraß gewöhnlich sehr schweigsam; doch sobald er getrunken hatte – was bei ihm übrigens nur selten vorkam – wurde er gern geschwätzig. Dann sprach er leicht und sogar elegant, und alles, was er sprach, trug den Stempel jener reizenden Sanftmut, den auch seine gutmütigen blauen Augen und das stets auf seinen Lippen schwebende Lächeln ausdrückten. Da er an jenem Tage ein bißchen getrunken, bevor er sich auf den Weg gemacht, so war er ganz besonders im Zuge. Nechludoffs Erscheinen hatte seinen Redefluß zuerst unterbrochen; doch als er es sich mit der Tasche zwischen den Beinen bequem gemacht und seine beiden dicken Hände auf die Kniee gelegt, erzählte er dem Gärtner weiter alle Einzelheiten von der Geschichte seiner Frau, weshalb man sie verurteilt hatte, und weshalb er sich nach Sibirien begab. Seine Erzählung interessierte Nechludoff auf das lebhafteste, denn er wußte darüber nichts weiter, als was die Maslow ihm berichtet hatte. Unglücklicherweise hatte Taraß den Anfang schon so viel früher erzählt, daß Nechludoff ihn nicht auffordern konnte, noch einmal zu beginnen. Er erfuhr wenigstens, was sich nach dem Vergiftungsversuch ereignet, als Taraß‘ Eltern das Verbrechen Fedossjas entdeckt hatten. »Die ganze Schuld liegt an mir, und zu meiner Strafe erzähle ich die Sache!« sagte Taraß, indem er sich mit bereuender Miene zu Nechludoff umwandte. »Das Unglück hat zu laut gesprochen! Also, Bruder, es ist gleich alles entdeckt worden. Die Alte sagte also zu meinem Vater: »Geh‘ zum Polizeimeister!« sagte sie zu ihm. Aber sehen Sie, mein Vater ist ein gottesfürchtiger alter Mann. »Halte lieber Frieden, Alte!« sagte er. – »Die arme Frau ist noch ein Kind! Sie hat selbst nicht gewußt, was sie that. Mitleid muß man mit ihr haben, Vielleicht, bereut sie!« – Aber meine Mutter wollte nichts hören. »Du willst also,« sagte sie, »daß wir sie hier behalten, damit sie uns auch wie Spinnen vergiftet!« Dann zog sie sich an, Bruder, und ging zu dem Polizeimeister. Und der hat gleich ein gutes Geschäft gewittert. Er ist zu uns gekommen und hat Fedossja mitgenommen!«

»Na, und da?« fragte der Gärtner.

»Ja, siehst du, ich lag da und hatte Kolik und Erbrechen! In meinem Leibe ging’s drunter und drüber; ich konnte kein Wort sprechen. Dann hat man gleich die Telega angespannt, um Fedossja nach dem Polizeibureau zu bringen. Und sie hat gleich alles gestanden, Bruder! Sie hat gesagt, wie sie sich das Gift verschafft und die Kuchen zubereitet hat. »Aber warum hast du denn das gethan?« hat man sie gefragt. »Na, um ihn loszuwerden!« hat sie geantwortet. »Ich will lieber nach Sibirien, als mit ihm leben!« Sie meinte: »mit mir!« fügte der Bauer lächelnd hinzu, »Na, sie klagt sich also selbst an. Die Sache war klar: ins Gefängnis mit ihr! Und dabei kommt nun die Erntezeit! Meine Mutter ist ganz allein zu Haus und auch so alt, daß sie kaum das Essen zubereiten kann. Da geht mein Vater denn zum Isprawnik; nichts zu machen. Er geht zu einem andern Beamten, er sucht fünfe hintereinander auf, keiner will ihn hören. Wir wollten schon verzichten, da kamen wir zu einem Beamten, einem schlauen Kerl. »Gebt mir fünf Rubel,« sagte er uns, »dann werde ich sie aus dem Gefängnis herausbringen!« – Wir haben uns auf drei Rubel geeinigt. Na, Bruder, er that, wie er sagte. Mir ging’s schon besser; ich fuhr selbst nach der Stadt, stellte die Pferde in der Herberge ab, nehme das Papier und laufe nach dem Gefängnis, – »Was willst du?« – »Meine Frau ist hier eingesperrt,« sage ich, – »Hast du ein Papier?« fragt man mich. Ich gebe das Papier. Man sieht es durch. – »Na gut,« sagt man mir, »komm‘ rein!« – Ich setze mich auf eine Bank, dann kommt ein Vornehmer. »Heißt du Wergunoff?« fragt er mich, – »Ja!« – »Na, warte noch ein bißchen!« – Nach einer Stunde öffnet sich eine Thür, man führt mir Fedossja in den Kleidern, die sie bei uns trug, zu. – »Na,« sage ich zu ihr, »wir wollen fort.« – »Bist du zu Fuß gekommen?« – »Nein, die Pferde sind in der Herberge.« – Wir gehen nach der Herberge, ich bezahle das Futter für die Pferde und lege den übrigen Hafer in den Wagen. Sie setzt sich mit ihrem großen Kopftuch, und wir fahren los. Sie sagt nichts, und ich sage auch nichts. Als wir aber in die Nähe des Hauses kommen, sagt sie zu mir: »Ist deine Mutter noch immer am Leben?« – »Ja,« antwortete ich ihr, – »Und dein Vater ist auch noch immer am Leben?« – »Ja!« – »Taraß,« sagt sie da, »verzeihe mir! Ich habe selbst nicht gewußt, was ich that!« – Ich antwortete ihr: »Davon ist gar keine Rede mehr, ich habe dir schon längst alles vergeben!« – Dann haben wir uns nichts weiter gesagt. Als wir nach Hause kamen, wirft sie sich meiner Mutter zu Füßen. – »Gott verzeihe dir!« sagte die Alte. Mein Vater umarmt sie und sagt: »Was vorbei ist, ist vorbei. Lebe jetzt, wie du sollst. Du kommst zur rechten Zeit, um uns zu helfen. Das Getreide ist, Gott sei Dank, tüchtig gewachsen, doch jetzt müssen wir es einbringen. Morgen früh wirst du mit Taraß mähen!« Und seit der Zeit, Bruder, hat sie sich an die Arbeit gemacht. Und wie sie arbeitete, es war unglaublich! Wir hatten damals drei Morgen Land, die wir gepachtet hatten. Das Getreide und der Hafer waren, Gott sei Dank, reichlich gewachsen. Ich mähe, und sie macht die Garben. Und sie wird so geschickt bei der Arbeit, daß sich das ganze Haus darüber wundert! Und einen Mut zeigt sie! Wir kommen nach Hause, die Finger sind mir angeschwollen und die Arme lahm! Ich will mich ausruhen; doch sie läuft noch vor dem Essen nach der Scheune, um für den nächsten Tag alles vorzubereiten. Du hättest sie sehen sollen, du hättest es kaum geglaubt!«

»Und ist sie zu dir sanfter geworden?« fragte der Gärtner.

»Sprich nicht davon! Sie ist zu mir so anhänglich geworden, daß wir beide gleichsam eine einzige Seele bilden. Alles, was ich denke, denkt auch sie! Selbst die alte Mutter, die doch nicht bequem ist, sagt: »Man hat uns unsere Fedossja umgetauscht; sie ist nicht mehr dieselbe Frau!« Eines Tages, als wir beide Garben einholen, frage ich sie: »Sag‘ mir, Fedossja, wie konntest du nur auf einen solchen Gedanken kommen?« – Da sagt sie mir: »Ich hatte es mir in den Kopf gesetzt, ich könnte nicht mit dir leben. Lieber sterben, sagte ich mir!« – »Na, und jetzt?« – »Jetzt,« sagt sie mir, »bist du mein herzliebster Mann!«

Taraß hielt inne und nickte mit fröhlichem Lächeln mit dem Kopfe, um dann seufzend fortzufahren:

»Als wir eines Tages vom Felde heimkommen, finde ich den Isprawnik, der uns vor der Thür erwartet. Er holt Fedossja zur Verhandlung ab. Und wir hatten gar nicht gedacht, daß sie überhaupt vor Gericht kommen würde.«

»Sicherlich hat sie der Teufel in Versuchung geführt,« sagte der Gärtner. »Der Mensch kommt allein gar nicht darauf, so seine Seele zu Grunde zu richten! Da ist bei uns ein Bursche …«

Und nun begann der Gauner eine Erzählung, doch in demselben Augenblick fuhr der Zug langsamer.

»Man hält,« sagte der Gärtner, »stärken wir uns!«

So wurde die Unterhaltung abgeschnitten. Nechludoff, der Taraß und dem Gärtner folgte, verließ den Waggon, um auf den feuchten Fliesen des kleinen Bahnhofes auf und ab zu wandeln.

Als Nechludoff den Waggon verließ, bemerkte er im Hofe des Bahnhofes mehrere mit prächtigen Pferden bespannte Galawagen, und als er auf den Perron gelangt war, sah er eine Ansammlung, die sich vor einem Waggon erster Klasse gebildet hatte. Im Mittelpunkte derselben erschien eine große und starke alte Dame in einem Regenmantel und einem ungeheuren Federhut; sie war von einem langen jungen Manne mit sehr mageren Beinen im Radfahrkostüm und einem an der Leine geführten großen Hund begleitet. Um sie bemühte sich ein Diener, der Mäntel auf dem Arm trug, eine Kammerzofe und ein Kutscher. Die ganze Gruppe, von der dicken Dame bis zu dem Kutscher, drückte ein merkwürdiges Gemisch von Zufriedenheit und Selbstvertrauen aus. Man merkte sogleich, daß das satte, gesunde Personen waren, die sich glücklich schätzten, auf der Welt zu sein. Um die Gruppe hatte sich bald ein Kreis von Neugierigen gebildet, die das Schauspiel des Reichtums angelockt hatte. Da standen der Stationsvorsteher in der roten Mütze, ein Gensdarm, eine junge Bäuerin, die Brötchen verkaufte, ein Telegraphenbeamter und etwa zehn Reisende, die aus ihren Waggons gestiegen waren.

In dem jungen Manne im Radfahranzuge erkannte Nechludoff Missys jüngsten Bruder. Auch die dicke Dame war ihm nicht unbekannt; es war Missys Tante, bei der die Kortschagins den Sommer zubringen wollten. Der Zugführer öffnete die Thür und hielt sie mit tausend Zeichen der Unterwürfigkeit offen, bis der Diener Philipp und ein Bahnhofsangestellter die alte Prinzessin in ihrem Krankenstuhl hinuntergebracht hatten. Die beiden Schwestern umarmten sich; Nechludoff hörte, wie mehrere Phrasen in französischer Sprache über die Frage gewechselt wurden, ob man die Fürstin in die Kalesche oder in das Coupé setzen sollte; dann setzte sich der Zug mit den beiden Damen an der Spitze in Bewegung. Den Schluß bildeten die beiden Kammerzofen, die ganz mit Sonnenschirmen, Shawls und Reisetaschen beladen waren.

Von dem Gedanken erschreckt, den Kortschagins von neuem zu begegnen und ihnen noch einmal Lebewohl sagen zu müssen, versteckte sich Nechludoff hinter einem Pfeiler, bis der Zug den Bahnhof verlassen hatte. Die alte Fürstin, ihr Sohn, Missy und der Arzt bildeten jetzt die Spitze, dann kam der Fürst mit seiner Schwägerin in zweiter Reihe.

Unter den in französischer Sprache gesprochenen Bemerkungen, die zu Nechludoffs Ohren drangen, fiel ihm eine, wie es oft geschieht, ohne daß er wußte, auf und blieb mit dem sie begleitenden Stimmklang lange in seiner Erinnerung haften. Es war eine Bemerkung des Fürsten, der mit seiner Schwägerin von jemand gesprochen hatte.

»Oh! il est du grand monde, du vrai grand monde!« sagte der alte Kortschagin mit seiner selbstgefälligen Stimme, als er an der Ausgangsthür vorüberkam, wo ihn eine Doppelreihe von Beamten, und Gepäckträgern ehrfurchtsvoll grüßte.

In demselben Augenblick erschien auf dem Perron von der andern Seite des Bahnhofs ein Trupp Arbeiter in Holzschuhen und Felleisen auf den Rücken. Mit gleichmäßigen und entschiedenen Schritten gingen die Arbeiter auf den ersten Waggon zu, der sich vor ihnen befand, und schickten sich an, in denselben einzusteigen; doch sofort kam ein Schaffner herbeigelaufen, um sie daran zu hindern. Die Arbeiter gingen weiter und stiegen in den zweiten Waggon; aber auch hier war für sie jedenfalls kein Platz, denn der Schaffner befahl ihnen, wieder auszusteigen und belegte sie dabei mit allerlei Schimpfreden. Nun wandten sich die Arbeiter zu einem dritten Wagen, demselben, in dem sich Nechludoff befand. Wieder sagte ihnen der Schaffner, sie sollten anderswo suchen, doch Nechludoff, der der Scene beigewohnt, erklärte ihnen, sie würden in dem Waggon ganz gut unterkommen. Sie stiegen also ein und Nechludoff hinter ihnen. In dem Waggon schritten die Arbeiter den Durchgang entlang, um Plätze zu suchen, wo sie sich niederlassen konnten, als der Spießbürger und die beiden Damen seiner Begleitung, die das Erscheinen dieser Arbeiter jedenfalls als einen persönlichen Schimpf ansahen, sich ihrem Eindringen heftig widersetzten und ihnen befahlen, sich so schnell wie möglich zu trollen. Sofort zogen die Arbeiter wieder den Durchgang entlang und schlugen dabei mit ihren Felleisen an die Bänke, Schlösser und Thüren. Man sah, daß sie sich wirklich schuldig fühlten und bereit waren, so bis zum Ende der Welt von Waggon zu Waggon zu irren, um Plätze zu suchen, auf denen sie sich niederlassen konnten. Es waren zwanzig Mann, darunter Greise und Jünglinge; doch alle hatten dasselbe vertrocknete und ausgedörrte Gesicht und im Blick ihrer hohlen Augen dasselbe Gemisch von Abspannung und Entsagung.

»Wo lauft ihr denn hin, ihr Bande? Ihr seid hier eingestiegen, also richtet euch auch ein, hier zu bleiben,« rief ihnen der Kondukteur zu, der ihnen vom andern Ende des Waggons entgegenkam.

»Voilà encore des nouvelles!« sagte die junge Dame in der festen Ueberzeugung, sie würde sich durch ihr elegantes Französisch die Aufmerksamkeit und Achtung Nechludoffs erringen. Was die alte Dame mit den Armbändern, ihre Mutter, betraf, so beschränkte sie sich darauf, zu schnauben, sich die Nase zu schnäuzen, die Stirn kraus zu ziehen und über die Unannehmlichkeit, in Gesellschaft gräßlicher, schlecht riechender Muschiks zu reisen, hastige Bemerkungen auszustoßen.

Inzwischen waren die Arbeiter mit der freudigen Erleichterung von Leuten, die eben heil und gesund einer schrecklichen Gefahr entronnen sind, im Gange stehengeblieben und fingen an, sich niederzulassen, indem sie die schweren Felleisen, die sie auf dem Rücken trugen, mit einer Bewegung der Schultern abschüttelten und auf die Bänke fallen ließen.

Der Gärtner, der in einem andern Waggon einen Freund getroffen, hatte den Platz, den er zuerst Taraß gegenüber einnahm, verlassen, so daß neben Taraß und ihm gegenüber drei Plätze in dem Coupé frei waren. Drei der Arbeiter ließen sich schnell darauf nieder; doch als sich Nechludoff ihnen näherte, versetzte sie der Anblick seines eleganten Anzugs in so große Verwirrung, daß alle drei unwillkürlich aufstanden, um anderswo Platz zu suchen. Nechludoff mußte lange zureden, ehe sie sich wieder setzten; er selbst blieb stehen und lehnte sich an den Rücken einer Bank.

Einer der drei Arbeiter, ein großer und dürrer Mann von etwa fünfzig Jahren, wechselte, nachdem er sich wieder gesetzt, einen mißtrauischen Blick mit einem jüngeren Genossen, der ihm gegenüber saß. Alle beide waren offenbar überrascht und etwas unruhig, daß Nechludoff, anstatt sie, wie es einem »Barin« zukam, zu beschimpfen und fortzujagen, ihnen seinen eigenen Platz abgetreten hatte. Es wollte ihnen noch immer nicht aus dem Sinn, daß sich daraus für sie etwas Unangenehmes entwickeln konnte.

Doch als sie bemerkten, daß er nicht die Absicht hatte, ihnen zu schaden und sich in der natürlichsten Weise von der Welt mit Taraß unterhielt, beruhigten sie sich, und der neben Taraß Sitzende wollte sich durchaus auf die andere Bank setzen, damit Nechludoff sich auch setzen konnte. Zuerst schien der alte Arbeiter sehr verlegen und schob seine in Holzschuhen steckenden Stiefel so weit wie möglich unter die Bank, damit sie dem »Barin« nicht hinderlich werden konnten. Bald aber wurde er kecker und begann so vertraulich mit Nechludoff zu reden, daß er ihm mehrmals seine grobe knochige Hand auf das Knie legte, um die Bedeutung seiner Worte noch mehr hervorzuheben.

Er sagte Nechludoff, wie er hieß, aus welchem Dorfe er sei; er erzählte ihm, daß er und seine Genossen nach Hause führen, nachdem sie zehn und einen halben Monat in einem Torfstich gearbeitet. Er brachte eine Summe von zehn Rubeln mit und hatte schon im vorigen Monat fünf Rubel erhalten. Für diese fünfzehn Rubel hatte er täglich bis zum Knie ins Wasser gehen und vom Morgen bis zur Stunde der Mahlzeit ununterbrochen darin bleiben müssen.

»Wer nicht dran gewöhnt ist, dem wird es zuerst ’n bißchen schwer,« sagte er; »doch wenn du dich einmal abgehärtet hast, dann thut’s nicht mehr weh! Wenn nur das Essen zu genießen wäre! In der ersten Zeit konnte man nichts ‚runterbringen! Aber dann hatten die Leute mit uns Mitleid, und das Essen ist ausgezeichnet geworden, und auch die Arbeit wurde dann leichter.«

Er erzählte dann, daß er so seit mehr als zwanzig Jahren im Tagelohn arbeite und das Geld, das er verdiente, stets zu Hause abgegeben hätte; erst seinem Vater, dann seinem älteren Bruder; jetzt gäbe er es einem Vetter mit starker Familie, dem es sehr schwer wurde, zurechtzukommen. Trotzdem behielt er von den sechzig Rubeln, die er jährlich verdiente, nur zwei oder drei, »zum Amüsieren«, das heißt, um sich Tabak und Streichhölzer zu kaufen.

»Und dann, wissen Sie, sündigt man auch und versagt sich bei Gelegenheit auch ein Gläschen Schnaps nicht!« fügte er mit vertraulichem Lächeln hinzu.

Der Arbeiter erzählte auch von seinen verheirateten Gefährten, deren Frauen im Dorfe blieben und von dem Gelde lebten, das sie ihnen schickten. Er sagte, wie der Werkmeister ihnen an diesem Tage, bevor er sie entließ, allen einen Tropfen hatte auffahren lassen; dann erzählte er, daß einer seiner Genossen gestorben sei und sie einen sehr schwer krank nach Hause brächten.

Der Kranke, von dem er sprach, saß in dem Nebencoupé. Es war ein magerer und blasser Mensch mit blauen Lippen in ganz jugendlichem Alter. Offenbar hatte er sich bei der Arbeit im Wasser das Fieber zugezogen. Nechludoff trat auf ihn zu, doch der junge Mensch warf ihm einen gleichzeitig so strengen und so leidensvollen Blick zu, daß Nechludoff nicht den Mut hatte, ihn durch seine Fragen zu ermüden; er ersuchte deshalb auch nur den alten Arbeiter, ein bißchen Chinin für ihn zu kaufen. Den Namen dieses Mittels schrieb er auf ein Stück Papier, Er wollte ihm auch Geld geben, doch der alte Arbeiter lehnte das entschieden ab.

»Ich habe viele »Barine« gesehen,« sagte er, sich zu Taraß wendend, als Nechludoff den Rücken gedreht hatte, »doch einen solchen Barin habe ich noch nicht gesehen. Er sucht einen nicht nur nicht zu quälen, sondern er steht sogar noch auf und tritt einem seinen Platz ab! Das beweist, Bruder, daß es auch von den Barins verschiedene Arten giebt!«

Während dieser Zeit betrachtete Nechludoff die trockenen und muskulösen Glieder dieser Männer, ihre groben Kleider, ihre abgespannten Gesichter, und überall fühlte er sich von einer neuen Menschheit umgeben, die ernstes Interesse, ernste Freuden und ernstes Leiden besaß. Er fühlte, daß er einem wirklichen menschlichen Leben gegenüberstand.

»Le voici, le grand monde, le vrai grand monde!« Das ist die große, die wahrhaft große Welt,« sagte er sich, und wieder mußte er der französischen Phrasen des Fürsten Kortschagin, der ganzen erbärmlichen Welt dieser Kortschagins mit aller Eitelkeit und Niedrigkeit ihrer Interessen gedenken.

Nechludoff aber empfand tiefer als je das fröhliche Gefühl des Wanderers, der ein neues Land, reich an Früchten und Blumen, entdeckt hat!