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778. Nacht

Sprich nicht: ‚Mein Herr ist unsinnig, ich allein bin
weise.‘

O mein Sohn, ein Schaf, welches seinen Lauf zu sehr
beschleunigt und sich zu weit von dem Hirten entfernt, der es beschützt, wird
die Beute des Wolfes.

So sehr Du die Gesellschaft derjenigen suchen musst,
welche in der Furcht Gottes leben, ebenso sehr musst Du diejenigen fliehen,
welche Dich zu ihren verderblichen Wegen verführen würden.

Prüfe zuvor den Freund, welchen Du dir erwählst, und
sodann geh mit ihm um.

Es ist besser, in der Gesellschaft eines weisen Mannes
Steine tragen und sich den härtesten Arbeiten unterziehen, als köstliche
Getränke mit einem Bösen trinken. O mein Sohn, vergieß lieber Deinen Wein auf
dem Grab der Guten, als dass Du ihn mit verderbten Menschen trinkst.

Gib niemals Deinen ersten Freund auf: Du würdest auch den
zweiten nicht lange behalten.

Hilf dem Unglücklichen in seiner Not, und sprich für ihn
bei dem König.

Mein Sohn, lass Dich lieber von dem Stock des Weisen
züchtigen, als Dich von einem Unwissenden mit Wohlgerüchen und Blumen
beschütten.

Die Verblendung des Herzens ist tausend Mal schlimmer, als
die Blindheit der Augen. Der des Gesichts beraubte Mensch kann nach und nach
seinen Weg wieder finden, aber derjenige, dessen Vernunft verfinstert ist,
schlägt einen falschen Weg ein, und findet sich nie wieder zurecht.

Wenn das Wasser in seinem Lauf still steht, wenn der
Vögel Flug den Himmel erreicht, wenn der Rabe weiß wird, und die Myrrhe die
Süßigkeit des Honigs hat, – alsdann werden die Unwissenden und Unsinnigen die
Weisheit begreifen und die Vernunft zu ihrem Führer annehmen.

Der Unweise stößt sich an einen Stein, und fällt: Der
Weise stolpert, aber fällt nicht. Oder, wenn er einen Fehltritt tut, so richtet
er sich wieder auf. Befällt ihn eine Krankheit, so weiß er sich selber zu
heilen: Die Krankheit der Unweisen hat aber kein Heilmittel.

Der wahrhafte Weise ist zurückhaltend mit drei Dingen,
mit der Zunge, mit den Händen und mit den Augen. Lass Deinem Mund kein Wort
entschlüpfen, was Du nicht zuvor in Deinem Herzen überlegt hast.

O mein Sohn, es gibt vier Dinge, bei welchen weder eine
Regierung noch ein Kriegsheer bestehen kann, nämlich, die Tyrannei eines
Ministers, die Ungeschicklichkeit in der Verwaltung, die Gewissenlosigkeit in
der Politik, und die Bedrückung des Volks.

Es gibt vier andere Dinge, welche sich nicht geheim halten
lassen: Wissenschaft und Unwissenheit, Armut und Reichtum.“1)

Dies waren die Lehren, welche der weise Heykar dem Nadan
gab. Er wähnte, sein Neffe hätte sie tief in sein Herz geschrieben, und er war
weit entfernt, zu argwöhnen, dass so viel auf seine Erziehung verwendete
Sorgfalt noch einst mit dem schwärzesten Undank bezahlt werden sollte.

Nachdem Heykar sich nun der öffentlichen Geschäfte
entledigt hatte, zog er sich in sein Haus zurück, und vertraute Nadan auch die
Verwaltung seiner Reichtümer. Er gab ihm unbeschränkte Macht über sein ganzes
Haus, über seine Sklaven, seine Pferde, seinen Hausrat, seine Herden, kurz,
über alles, was er besaß. Er führte ihn sodann bei dem König ein, und
übergab seinen Händen das Amt des ersten Ministers von Assyrien.


1) Diese Sprüche, welche
meistenteils der griechischen Weltweisheit in ihrer schönsten Zeit nicht
unwürdig wären, gehören sämtlich der arabischen Urschrift an. Ich habe sie nur
in eine schicklichere Folge gebracht. Auch habe ich einige davon unterdrücken
müssen, weil sie entweder nur Vorschriften einer örtlichen Sittenlehre darboten,
oder in der übersetzung den europäischen Lesern wunderlich vorkommen möchten.
Was ich hier bemerkte, gilt zugleich von den Sprüchen, welche diese Erzählung
beschießen, und welche Stoff zu mehreren Fabel hergeben könnten.