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610. Nacht

Geschichte
des Abu-Myut und des Abu-Nyutin

„Ein ehrlicher, aber vom Missgeschick verfolgter
Mann namens Abu-Nyut fassten den Entschluss, sein Vaterland zu verlassen und
sich in einem andern Land ein besseres Los zu suchen. Er nahm alles mit
sich, was er besaß, was freilich nur ein einziger Scherif war, und machte
sich auf den Weg. Er war noch nicht weit gegangen, als ein Mann sich zu ihm
gesellte, der sich mit ihm in ein Gespräch einließ, in welchem er erfuhr,
dass er Abu-Nyutin oder Doppelsinnig hieße. Da sie gleiche Absicht hegten,
so beschlossen sie, ihr Glück zusammen zu suchen, und es wurde ausgemacht,
dass Abu-Nyut die gemeinschaftliche Kasse führen sollte. Abu-Nyutin besaß
zehn Scherifs.

Nach einigen Tagen mühevoller Wanderung erreichten
sie eine Stadt, in welcher sie bei ihrem Eintritt ein Bettler mit folgenden
Worten anrief: „Würdige Gläubige! Allah sei mit Euch! Gebt mir ein
Almosen, und ihr werdet tausend Mal dafür belohnt werden.“ Hierauf gab
Abu-Nyut ihm einen Scherif. Sein Gefährte, der das für Verschwendung
hielt, verlangte sein Geld zurück, was jener ihm auch gab, und verließ
seinen neuen Freund, der nun nichts mehr hatte. Abu-Nyut ging, sich seinem
Schicksal überlassend und der Vorsehung vertrauend, in eine Moschee, um
dort seine Andacht zu verrichten und in der Hoffnung, daselbst irgend jemand
zu finden, der ihm aus seiner Not helfen würde; aber er fand niemand. Er
blieb eine Nacht und einen Tag in der Moschee; aber niemand gab ihm ein
Almosen. Vom Hunger getrieben, stahl er sich in der Abenddämmerung weg und
irrte mit schwankenden Schritten durch die Straßen. Als er nun einen
Sklaven erblickte, der die überbleibsel eines Mahles von einem Tischtuch
auf die Straße warf, las er sie auf, setzte sich in einen Winkel und nagte
mit Begierde an den Knochen, worauf er die Augen zum Himmel hob und Gott
für diese dürftige Mahlzeit dankte. Der Sklave, der sein Tun beobachtet
hatte, war über sein Elend und seine Frömmigkeit erstaunt und gerührt und
erzählte seinem Herrn davon, der ein frommer Mann war und dem Abu-Nyut zehn
Scherifs schickte.

Der Sklave hatte aus Habsucht einen Scherif für sich
behalten und gab dem Abu-Nyut nur neune. Dieser, der das Geld zählte,
dankte Gott für seine Güte, sagte jedoch, er hätte dem Ausspruch der
Schrift gemäß für den Scherif, den er dem Bettler gegeben, zehne erhalten
sollen. Der Herr des Sklaven hörte diese äußerung, rief den Abu-Nyut zu
sich herauf, ließ ihn neben sich sitzen und fragte ihn nach seiner
Geschichte, die er seinem Wirt erzählte, der ein angesehener Kaufmann und
so von seiner frommen Einfalt eingenommen war, dass er beschloss, sich mit
ihm zu befreunden, und ihm eine Wohnung in seinem Haus anbot.

Abu-Nyut hatte kaum einige Tage bei seinem
freundlichen Wirt gewohnt, als die Zeit herankam, zu welcher der in
Erfüllung seiner religiösen Pflichten sehr pünktliche Kaufmann sein
Vermögen berechnete, den zehnten Teil davon absonderte und bar seinem Gast
schenkte, dem er den Rat gab, einen Laden zu eröffnen und sein Glück im
Handel zu versuchen. Abu-Nyut folgte diesem Rat, und zwar mit so vielem
Erfolg, dass er in wenigen Jahren einer der angesehensten Kaufleute in der
Stadt war.