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39. Nacht

Die Sultanin war nicht sobald aufgewacht, als
sie sich der Stelle erinnerte, wo sie in der gestrigen Geschichte stehen
geblieben war, und sogleich mit folgenden Worten weiter erzählte, indem sie den
Sultan anredete:

„Herr, nachdem Sobeïde ihren Sitz
wieder eingenommen hatte, schwieg die ganze Gesellschaft eine Zeit lang. Endlich
sagte Safie, die sich auf den Stuhl mitten im Saale niedergesetzt hatte, zu
ihrer Schwester Amine: „Meine liebe Schwester, steh auf, ich bitte dich; du
verstehst wohl, was ich sagen will.“

Amine stand auf, und ging in die andere
Kammer, als die, aus welcher die beiden schwarzen Hündinnen geholt waren. Sie
kam zurück, und trug ein Kästchen, das mit gelbem Atlas überzogen und reich
mit Gold und grüner Seide gestickt war. Sie näherte sich Safie, und öffnete
das Kästchen, aus welchem sie eine Laute hervorzog, und ihr überreichte. Safie
nahm sie, und nachdem sie gehörig gestimmt hatte, fing sie an darauf zu
spielen: und sie begleitete sie mit ihrer Stimme, und sang ein Lied von den
Qualen der Trennung, mit so viel Anmut, dass der Kalif und die übrigen alle
davon bezaubert wurden. Es lautete also:

„Du bist allein mein Streben, du allein
das Ziel meiner Wünsche; in deiner Nähe wünschte ich zu sein, mein Geliebter!

In deiner Gegenwart ist für mich stete
Wonne, und fern von dir sein ist Höllenqual!

Nach dir geht mein Verlangen, nach dir mein
Sehnen Tag und Nacht.

Und wahrlich! Von dir entbrannt sein ist
keine Schande.

Ja, ich habe das Kleid der Wehmut angelegt;
doch wer dich sieht, wird mich entschuldigen. –

Tränenfluten sind über meine Wangen
geflossen, und haben mein Geheimnis offenbaret.

O heile die Unfälle meiner Krankheit! Leider
bist du selber die Ursache meiner Schmerzen; wohl aber bist du auch der
Arzt.“

Als Safie das Lied vollendet, welches sie mit
so viel Empfindung und Ausdruck gesungen hatte, sagte sie zu der freundlichen
Amine: „Nimm meine Schwester, ich kann nicht mehr, und die Stimme versagt
mir; unterhalte an meiner Statt die Gesellschaft mit Gesang und Spiel.“ –
„Sehr gern,“ antwortete Amine, indem sie sich Safie näherte, welche
die Laute ihren Händen übergab, und ihr ihren Sitz einräumte.

Nach einem kurzen Vorspiele, um zu hören, ob
die Laute noch gestimmt wäre, spielte und sang Amine über denselben Gegenstand
folgendes Lied:

„Wie lange wird diese Brust noch
Schmerzen empfinden? Wie lange werden diese Augen noch Tränen vergießen? Sind
deren denn nicht schon genug vergossen?

Wie lange noch wird deine Abwesenheit mich
quälen! Ist das der Wunsch meiner Feinde, so ist er erfüllt.

Säume nicht länger; denn mein Leib vermag
nicht mehr diese Pein zu tragen!

Schone eines Liebessiechen, den Nachtwachen,
Ungeduld und Sehnsucht schon halb verzehrt haben.

Ist es erlaubt, nach den Gesetzen der Liebe, dass
ich einsam stehe, während andere sich des Glücks erfreuen, mit ihren Lieben
vereinigt zu sein?“

Sie trug diesen Gesang mit solcher
Leidenschaft vor, und war so gerührt, oder vielmehr so durchdrungen von dem
Sinne der Worte, die sie sang, dass sie ganz erschöpft aufhörte.

Sobeïde wollte ihr ihre Zufriedenheit
bezeugen, und sagte zu ihr: „Meine Schwester, du hast Wunder getan: man
sieht wohl, dass du das Leid empfindest, welches du so lebhaft
ausdrückst.“

Amine vermochte nicht, auf diesen Lobspruch
zu antworten; sie fühlte ihr Herz in diesem Augenblick so beklommen, dass sie
nur daran dachte, sich Luft zu machen, und die ganze Gesellschaft einen Hals und
einen Busen sehen ließ, der nicht so weiß war, als eine Frau, wie Amine, ihn
haben sollte, sondern mit Narben bedeckt: ein Anblick, der bei allen eine Art
von Entsetzen hervorbrachte. Gleichwohl gab ihr dies keine Linderung, und
verhinderte nicht, dass sie in Ohnmacht fiel …

„Aber, Herr,“ sagte hier
Scheherasade, „ich übersehe, dass es schon Tag ist.“

Mit diesen Worten hörte sie auf zu
erzählen, und der Sultan stand auf.

Wenn dieser Fürst auch nicht beschlossen
hätte, den Tod der Sultanin aufzuschieben, so hätte er sich dennoch nicht
entschließen können, ihr das Leben zu nehmen. Seine Neugier war zu sehr darauf
gespannt, eine mit so unerhörten Begebenheiten erfüllte Erzählung bis zu Ende
zu hören.