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358. Nacht

Als ich die Büchse in meinen Händen hatte, öffnete ich
sie, betrachtete die Salbe und sagte zu ihm: „Da du so gutwillig bist und
nicht müde wirst, dich mir gefällig zu beweisen, so bitte ich dich, dass du
mir gefälligst sagst, welchen besonderen Gebrauch man von dieser Salbe machen
kann.“

„Einen höchst merkwürdigen und wunderbaren,“
erwiderte der Derwisch. „Wenn du nämlich etwas weniges davon um das linke
Auge und auf das Augenlid streichst, so werden vor deinen Augen alle Schätze
erscheinen, die im Schoß der Erde verborgen sind. Streichst du aber etwas davon
auf das rechte Auge, so macht es dich blind.“

Ich wünschte diese wunderbare Wirkung an mir selber zu
erfahren, und sagte zu dem Derwisch, indem ich ihm die Büchse reichte:
„Hier nimm und streiche mir etwas von der Salbe um das linke Auge. Du
verstehst es besser als ich. Ich bin voll Ungeduld, etwas an mir selber zu
erfahren, das mir unglaublich erscheint.“

Der Derwisch war so gefällig, sich dieser Mühe zu
unterziehen. Ich musste das linke Auge schließen, und er brachte etwas von der
Salbe darauf. Als es geschehen war, öffnete ich das Auge und sah, dass er mir
die Wahrheit gesagt hatte. Ich erblickte wirklich eine unendliche Menge von
Schatzgewölben, mit so ungeheueren und mannigfaltigen Reichtümern angefüllt,
dass es mir unmöglich sein würde, sie alle einzeln genau anzugeben. Da ich
jedoch währenddessen das rechte Auge mit der Hand fest zuhalten musste und ich
dessen müde wurde, so bat ich den Derwisch, mir von dieser Salbe auch etwas auf
das rechte Auge zu streichen.

„Das will ich dir wohl tun,“ sagte der Derwisch,
„doch darfst du nicht vergessen, was ich dir bereits gesagt habe, dass,
wenn du etwas davon auf das rechte Auge bringst, du augenblicklich blind werden
wirst. Die Salbe hat nun einmal diese Kraft, und du musst dich danach
richten.“

Anstatt zu glauben, dass der Derwisch die Wahrheit rede,
bildete ich mir vielmehr ein, dass es dabei noch ein anderes Geheimnis gäbe,
das er mir verbergen wolle.

„Bruder,“ erwiderte ich lächelnd, „ich
sehe wohl, dass du mich etwas überreden willst. Es wäre ja widernatürlich,
wenn eine und dieselbe Salbe zwei so durchaus entgegen gesetzte Wirkung
hervorbringen sollte.“

„Und doch ist die Sache ganz so, wie ich es dir
sage,“ antwortete der Derwisch, indem er den Namen Gottes zum Zeugen
anrief, „und du kannst mir es auf mein Wort glauben, denn ich vermag nie
die Wahrheit zu verhehlen.“

Ich wollte auf das Wort des Derwisches, der als
Recht schaffender Mann mit mir redete, nicht trauen. Die unüberwindliche
Begierde, nach meinem Belieben alle Schätze der Erde zu betrachten, und
vielleicht dieselben, so oft ich nur Lust hätte, genießen zu können,
bewirkte, dass ich weder auf seine Warnungen hören, noch eine Sache glauben
wollte, die – wie ich es bald nachher zu meinem großen Unglück erfuhr – nur zu
gewiss war.

In dem Vorurteil, das ich gefasst hatte, bildete ich mir
ein, dass, wenn diese Salbe, auf das linke Auge gestrichen, die Kraft habe, mich
alle Schätze der Erde sehen zu lassen, so möge sie, auf das rechte Auge
angewendet, vielleicht die Kraft haben, dieselben sofort zu meiner Verfügung zu
stellen. In diesem Gedanken drang ich hartnäckig in den Derwisch, mir etwas
davon selber um das rechte Auge zu streichen. Jedoch er weigerte sich standhaft,
es zu tun.

„Nachdem ich dir so viel Gutes erzeigt, mein
Bruder,“ sagte er zu mir, „kann ich mich nicht entschließen, dir ein
so großes Unheil zuzufügen. Bedenke selber, was für ein Unglück es ist,
seines Gesichts beraubt zu sein, und versetze mich nicht in die traurige
Notwendigkeit, dir in einer Sache zu willfahren, die du dein ganzes Leben lang
bereuen würdest.“

Ich trieb meine Hartnäckigkeit bis aufs äußerste.
„Bruder,“ sagte ich ziemlich fest zu ihm, „ich bitte dich, alle
diese Schwierigkeiten, die du mir da machst, zu beseitigen. Du hast mir auf eine
großmütige Weise alles gewährt, um was ich dich bisher bat, willst du nun,
dass ich mich wegen einer so unbedeutenden Kleinigkeit unzufrieden von dir
trennen soll? Im Namen Gottes, bewillige mir auch diese letzte Gunst noch. Was
auch daraus hervorgehen mag, ich werde mich nie an dich halten, sondern die
Schuld davon wird stets mein sein.“

Der Derwisch bot allen nur möglichen Widerstand auf, doch
da er sah, dass ich imstande sei ihn zu zwingen, sagte er: „Da du es denn
durchaus haben willst, so werde ich dir den Willen tun.“

Er nahm nun etwas von dieser Unheil bringenden Salbe und
strich mir es auf das rechte Auge, das ich fest zuhielt. Aber, ach, als ich es
wieder öffnete, sah ich bloß dichte Finsternis vor meinen Augen und blieb
fortan blind, wie du siehst.

„Ach, unglücklicher Derwisch,“ rief ich
augenblicklich aus, „was du mir sagtest, ist nur zu wahr! Unselige
Neugierde,“ fügte ich hinzu, „unersättliches Verlangen nach
Reichtümern, in welchen Abgrund von Unglück habt ihr mich gestürzt! Ich
fühle freilich, dass ich mir das alles selber zugezogen. Jedoch, lieber
Bruder,“ rief ich, zu dem Derwisch mich wendend, „der du so mildtätig
und wohltuend bist, besitzest du denn unter so vielen wunderbaren Geheimnissen,
um die du weißt, nicht auch eines, das mir mein Augenlicht wiedergeben
könnten?“

„Unglücklicher,“ antwortete mir hierauf der
Derwisch, „dass du dies Unglück nicht vermiedest, lag gewiss nicht an mir.
Aber du hast jetzt bloß, was du verdienest, und deine Herzensverblendung hat
dir die Blindheit deines Körpers zugezogen. Freilich bin ich im Besitz von
Geheimnissen. Du hast dies in der kurzen Zeit, wo ich bei dir war, leicht merken
können. Doch weiß ich kein einziges, wodurch ich dir das Gesicht wiedergeben
könnte. Glaubst du, dass es noch eines dergleichen gibt, so wende dich an Gott.
Bloß er kann dir es wiedergeben. Er hatte dir Reichtümer verliehen, deren du
nicht wert warst. Er hat dir sie jetzt wieder genommen, und wird sie durch meine
Hände an Menschen gelangen lassen, die nicht so undankbar sein werden wie
du.“

Der Derwisch sagte kein Wort weiter, und ich wusste ihm
auch nichts zu erwidern. Er ließ mich nun in meiner Bestürzung und in einen
unbeschreiblich tiefen Schmerz versenkt stehen, und nachdem er meine achtzig
Kamele versammelt hatte, trieb er sie vor sich her und setzte seine Reise nach
Balsora fort.