Project Description

324. Nacht

Den folgenden Tag nach dem Abendessen war nichts mehr von
den schönen Speisen übrig, die der Geist gebracht hatte. Aladdin, der nicht so
lange warten wollte, bis der Hunger ihn drängte, nahm den Morgen darauf eine
von den silbernen Schüsseln unter das Kleid, und ging aus, um sie zu verkaufen.
Er wandte sich unterwegs an einen Juden, der ihm begegnete, zog ihn bei Seite,
zeigte ihm die Schüssel, und fragte ihn, ob er sie wohl kaufen wollte.

Der Jude, der ein schlauer und verschmitzter Mann war,
nahm die Schüssel und untersuchte sie, und als er erkannte, dass sie von echtem
Silber war, fragte er Aladdin, wie hoch er sie böte. Aladdin, der den Wert
derselben gar nicht kannte, und nie mit dergleichen Sachen Handel getrieben
hatte, begnügte sich damit, ihm zu sagen, er würde wohl am besten wissen, was
die Schüssel wert wäre, und er verließe sich hierin ganz auf seine
Ehrlichkeit. Der Jude war durch die Offenherzigkeit Aladdins in Verlegenheit
gesetzt. In der Ungewissheit darüber, ob Aladdin auch wohl das Material und den
Wert desselben kenne, zog er aus seinem Geldbeutel ein Goldstück, welches
höchstens den zweiundsechzigsten Teil des Werts der Schüssel betrug, und bot
es ihm an. Aladdin nahm das Goldstück mit großer Hast an sich, und sobald er
es in der Hand hatte, entfernte er sich so eilig, dass der Jude, nicht zufrieden
mit dem ungeheuren Gewinn, den er bei diesem Kauf gemacht, sehr betrübt
darüber war, dass er nicht sogleich Aladdins Unbekanntschaft mit dem Wert des
verkäuflichen Stückes erraten, und ihm nicht noch weniger geboten hatte. Er
war im Begriff, dem jungen Menschen nachzulaufen, und zu versuchen, ob er nicht
noch etwas von dem Goldstück zurückbekommen könnte. Aber Aladdin lief
schnell, und war schon so weit entfernt, dass er ihn schwerlich eingeholt haben
würde.

Auf dem Heimweg zu der Wohnung seiner Mutter blieb Aladdin
bei einem Bäckerladen stehen, wo er sich einen Vorrat von Brot kaufte, den er
auf der Stelle von dem Goldstück bezahlte, welches der Bäcker ihm umwechselte.
Als er nach Hause kam, gab er das übrige Geld seiner Mutter, welche auf den
Markt ging, um für sie beide die nötigen Lebensmittel auf einige Tag
einzukaufen.

Sie setzten ihre Lebensweise so fort, das heißt, Aladdin
verkaufte alle zwölf Schüsseln eine nach der andern an den Juden, je nachdem
sie wieder Geld brauchten. Der Jude, der ihm für die erste Schüssel ein
Goldstück gegeben hatte, wagte nicht, ihm für die übrigen weniger zu bieten,
aus Furcht, dass ihm ein so vorteilhafter Handel entgehen könnte. Er bezahlte
sie daher alle nach demselben Preis. Als das Geld von der letzten Schüssel
ausgegeben war, nahm Aladdin seine Zuflucht in dem Becken, welches allein
zehnmal so viel wog, als jede Schüssel. Er wollte es zu seinem gewöhnlichen
Kaufmann tragen, aber die große Schwere desselben hinderte ihn daran. Er musste
also den Juden aufsuchen, den er in das Haus seiner Mutter führte. Dieser,
nachdem er das Gewicht des Beckens untersucht hatte, zahlte ihm auf der Stelle
zehn Goldstücke: Womit Aladdin auch zufrieden war.

So lange die zehn Goldstücke dauerten, wurden sie auf die
täglichen Ausgaben der Hauswirtschaft verwendet. Aladdin, obwohl er an ein
müßiges Leben gewöhnt war, spielte unterdessen, seit seinem Abenteuer mit dem
Afrikanischen Zauberer, nicht mehr mit jungen Leuten seines Alters, sondern
brachte den Tag mit Spaziergängen oder in Unterhaltungen mit solchen Personen
hin, die er kennen gelernt hatte. Oft auch blieb er bei den Läden der großen
Kaufleute stehen, und horchte da den Gesprächen angesehener Männer zu, die
darin einen Augenblick verweilten, oder sich wie zu einer Art von Zusammenkunft
darin einfanden. Diese Gespräche brachten ihm allmählich etwas Weltkenntnis
bei.

Als von den zehn Goldstücken nichts mehr übrig war, nahm
Aladdin seine Zuflucht zu der Lampe. Er nahm sie in die Hand, suchte die Stelle,
welche seine Mutter berührt hatte, und sobald er diese an den Spuren, welche
der Sand daran zurückgelassen, erkannt hatte, rieb er sie gerade so, wie sie es
getan. Sogleich erschien ihm wieder derselbe Geist, der ihm schon einmal
erschienen war. Allein, da Aladdin die Lampe sanfter gerieben hatte, als seine
Mutter, so sprach er diesmal auch in einem milderen Ton zu ihm:

„Was verlangst du? Ich bin bereit, dir zu gehorchen,
als dein Sklave und als Sklave aller derer, welche die Lampe in der Hand haben,
sowohl ich als die übrigen Sklaven der Lampe!“

Aladdin sagte zu ihm: „Mich hungert, bringe mir etwas
zu essen.“ Der Riese verschwand, und einen Augenblick darauf erschien er
wieder, mit einem ähnlichen Tafelgerät beladen, wie das erste Mal, setzte es
auf das Sofa hin und verschwand wieder.

Aladdins Mutter war, sobald sie das Vorhaben ihres Sohnes
merkte, unter irgend einem Vorwand ausgegangen, um sich bei der Erscheinung des
Geistes nicht zu Hause zu befinden. Sie kam bald darauf wieder nach Hause, und
war, als sie die Tafel und den Schenktisch so reich besetzt erblickte, über die
wunderbare Wirkung der Lampe fast ebenso erstaunt, als das erste Mal. Aladdin
und seine Mutter setzten sich zu Tisch, und nach der Mahlzeit blieb ihnen noch
so viel übrig, um die beiden folgenden Tage reichlich davon leben zu können.

Sobald Aladdin wieder sah, dass weder Brot, noch
Lebensmittel, noch Geld zu Hause war, nahm er wiederum eine silberne Schüssel,
und suchte den Juden auf, um sie ihm zu verkaufen. Auf dem Hinweg ging er bei
dem Laden eines Goldschmieds vorüber, der ein ehrwürdiger Greis und zugleich
ein sehr rechtschaffener Mann war. Der Goldschmied sah ihn, rief ihn an, und bat
ihn, zu ihm herein zu treten. „Mein Sohn,“ sagte er sodann zu ihm,
„ich habe dich schon mehrere male, eben so beladen wie jetzt, vorbeigehen,
und den und den Juden aufsuchen, und sodann mit leeren Händen zurückkehren
sehen. Ich bin auf den Gedanken gekommen, dass du ihm das, was du trägst, jedes
Mal verkaufst. Aber du weißt vielleicht nicht, dass dieser Jude ein Betrüger,
und zwar ein ärgerer Betrüger als alle andern Juden ist, und dass keiner von
denen, die ihn kennen, mit ihm etwas zu schaffen haben will. übrigens sage ich
dir das bloß zu deinem Vorteil Wenn du mir zeigen willst, was du jetzt eben
trägst, und sofern du es verkaufen willst, so werde ich dir treulich, sofern es
mir ansteht, den Preis dafür zahlen. Wo nicht, so werde ich dich wenigstens an
andere Kaufleute weisen, die dich nicht betrügen werden.“

Die Hoffnung, noch mehr Geld aus der Schüssel zu lösen,
bewirkte, dass Aladdin sie unter dem Kleid hervorzog und dem Goldschmied zeigte.
Der alte Mann, welcher sogleich erkannte, dass die Schüssel von dem feinsten
Silber war, fragte ihn, ob er wohl schon dergleichen an den Juden verkauft, und
wie hoch sie ihm dieser bezahlt hätte. Aladdin gestand ihm ganz offen, dass er
deren schon zwölf verkauft, und für eine jede von dem Juden bloß ein
Goldstück erhalten habe. „O, dieser Spitzbube!“, rief der
Goldschmied. „Mein Sohn,“ fuhr er sodann fort, „was geschehen
ist, ist geschehen. Man muss daran nicht weiter denken. Allein, wenn du erfahren
wirst, was deine Schüssel, die vom feinsten Silber ist, das nur irgend von uns
verarbeitet wird, wert ist, dann wirst du einsehen, wie sehr der Jude dich
betrogen hat.“

Der Goldschmied nahm die Waage, wog die Schüssel, und
nachdem er dem Aladdin erklärt hatte, was eine Mark Silber wäre, wie viel sie
gelte, und ihre Unterabteilungen, so machte er ihm begreiflich, dass die
Schüssel ihrem Gewicht nach zweiundsiebzig Goldstücke wert sei, die er ihm auf
der Stelle bar hinzählte. „Da hast du,“ sagte er, „den vollen
Wert deiner Schüssel. Wenn du im mindesten zweifelst, so kannst du dich nach
Belieben an jeden andern der hiesigen Goldschmiede wenden, und wenn er dir sagt,
dass sie mehr wert ist, so will ich dir das Doppelte zahlen. Wir gewinnen an dem
Silberwerk, das wir kaufen, nichts, als die Arbeit und die Form, und damit
begnügt sich kein Jude, selbst der ehrlichste nicht.“

Aladdin dankte dem Goldschmied für den guten Rat, den er
ihm gegeben hatte, und von welchem er bereits so großen Vorteil zog. In der
Folge wandte er sich bloß an ihn, in Hinsicht des Verkaufs der übrigen
Schüsseln, so wie des Beckens, dessen voller Wert ihm nach Maßgabe des
Gewichts bezahlt wurde. Obwohl Aladdin und seine Mutter eine unversiegbare
Geldquelle an ihrer Lampe hatten, so lebten sie dennoch fortwährend mit
derselben Mäßigkeit, wie zuvor, mit Ausnahme dessen, was Aladdin davon bei
Seite legte, um sich anständig zu unterhalten und verschiedene Bedürfnisse
für ihre kleine Wirtschaft anschaffen zu können. Seine Mutter dagegen nahm zur
Ausgabe auf ihre Kleider bloß das, was ihr das Baumwollspinnen einbrachte. Man
kann leicht erachten, wie lange bei einer so ordentlichen Lebensweise das Geld,
welches Aladdin für die zwölf Schüsseln und das Becken von dem Goldschmied
erhalten hatte, gereicht haben mag. So lebten sie dann mehrere Jahre lang von
Unterstützung der Lampe, welche Aladdin von Zeit zu Zeit rieb.