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323. Nacht

Aladdin, der an dem unterirdischen Ort, worin er begraben
gewesen, keine Ruhe genossen hatte, schlief die ganze Nacht sehr fest, und
erwachte am andern Morgen erst sehr spät. Er stand auf, und das erste, was er
seiner Mutter sagte, war, dass er Hunger hätte, und dass sie ihm kein
größeres Vergnügen machen könnte, als wenn sie ihm ein Frühstück gäbe.
„Ach mein Sohn,“ antwortete sie ihm, „ich habe auch nicht einmal
ein Stück Brot, das ich dir geben könnte, denn den wenigen Vorrat, den ich zu
Hause hatte, hast du gestern Abend aufgegessen. Aber gedulde dich nur ein
bisschen, es wird nicht lange dauern, so werde ich dir etwas bringen. Ich habe
hier etwas Baumwolle, die ich gesponnen, und die ich jetzt verkaufen werde, um
für dich Brot und etwas zum Mittagessen zu kaufen.“ – „Liebe
Mutter,“ erwiderte Aladdin, „hebe dir nur deine Baumwolle für ein
andermal auf, und gib mir die Lampe, die ich gestern mitbrachte. Ich werde gehen
und sie verkaufen, und das Geld, das ich dafür löse, wird hinlänglich sein,
um uns Frühstück, Mittagessen und vielleicht auch etwas zum Abend zu
verschaffen.“

Die Mutter holte die Lampe hervor, und sagte: „Da
hast du sie. Aber sie ist sehr schmutzig. Wenn sie nur ein wenig geputzt wird,
so wird sie dadurch bald etwas mehr gelten.“ Sie nahm sodann Wasser und
etwas feinen Sand, um sie blank zu putzen. Aber kaum hatte sie angefangen, die
Lampe zu reiben, als augenblicklich in Gegenwart ihres Sohnes ein grässlicher
und riesenhafter Geist emporstieg, sich ihr zeigte, und mit einer Donnerstimme
zu ihr sprach:

„Was willst du? Ich bin bereit, dir zu gehorchen, als
dein Sklave, und als Sklave aller derer, welche die Lampe in der Hand haben,
sowohl ich, als die übrigen Sklaven der Lampe!“

Aladdins Mutter war nicht im Stand zu antworten. Ihr Auge
vermochte nicht, die scheußliche und entsetzliche Gestalt des Geistes zu
ertragen, und ihr Schrecken war gleich bei den ersten Worten, die er aussprach,
so groß gewesen, dass sie in Ohnmacht gefallen war.

Aladdin, welcher bereits in der Höhle eine ähnliche
Erscheinung gehabt hatte, ergriff, ohne irgend Zeit oder Besinnung zu verlieren,
schnell die Lampe, und antwortete während des Stillschweigens seiner Mutter an
ihrer Statt mit festem Tone: „Ich habe Hunger, bringe mir etwas zu
essen.“ Der Geist verschwand, und einen Augenblick darauf kam er wieder,
beladen mit einem großen silbernen Becken, welches er auf dem Kopf trug, mit
zwölf verdeckten Schüsseln von demselben Metall, voll der trefflichsten
Speisen, nebst sechs großen Broten, weiß wie Schnee, zwei Flaschen des
köstlichsten Weines und zwei silbernen Schalen in der Hand. Er setzte alles
zusammen auf das Sofa, und verschwand sogleich.

Dies geschah in so kurzer Zeit, dass sich Aladdins Mutter
noch nicht von ihrer Ohnmacht erholt hatte, als der Geist zum zweiten Mal
erschien. Aladdin, der ihr bereits, aber ohne Erfolg, kaltes Wasser ins Gesicht
gespritzt hatte, wollte dies soeben noch einmal wiederholen. Allein, sei es,
dass ihre entflohenen Lebensgeister sich wieder gesammelt hatten, oder dass der
Duft von den Speisen, die der Geist gebracht, etwas dazu beitrug, sie kam
augenblicklich wieder zu sich. „Liebe Mutter,“ sagte Aladdin zu ihr,
„es ist weiter nichts, steh auf und iss. Hiervon kannst du dich stärken,
und auch ich kann meinen starken Hunger befriedigen. Wir wollen so gute Speisen
nicht kalt werden lassen, sondern essen.“

Die Mutter Aladdins war erstaunlich überrascht, als sie
das große Becken, die zwölf Schüsseln, die sechs Brote, die beiden Flaschen
und die zwei Schalen erblickte, und den köstlichen Duft einatmete, der aus
allen diesen Schüsseln emporstieg. „Mein Sohn,“ sagte sie zu Aladdin,
„woher kommt uns dieser überfluss, und wem verdanken wir ein so
reichliches Geschenk? Sollte vielleicht der Sultan von unserer Armut gehört und
Mitleid mit uns gehabt Haben?“ – „Liebe Mutter,“ antwortete
Aladdin, „wir wollen uns jetzt zu Tisch setzen und essen, du bedarfst
dessen ebenso sehr, als ich. Deine Frage werde ich dir übrigens beantworten,
wenn wir gefrühstückt haben.“ Sie setzen sich zu Tisch und speisten mit
umso größerer Esslust, da Mutter und Sohn sich noch nie an einer so gut
besetzten Tafel befunden hatten.

Während der Mahlzeit konnte Aladdins Mutter gar nicht
aufhören, das Becken und die Schüsseln zu betrachten und zu bewundern, obwohl
sie nicht recht wusste, ob sie von Silber oder aus anderem Metall wären, so
wenig war sie den Anblick solcher Dinge gewohnt. Eigentlich war es bloß die
Neuheit, die sie in solche Bewunderung versetzte, und auch ihr Sohn Aladdin
hatte von dem Wert dieser kostbaren Sachen nicht mehr Kenntnis als sie.

Aladdin und seine Mutter, welche bloß ein einfaches
Frühstück einzunehmen gedacht hatten, befanden sich um die Stunde des
Mittagsessens noch bei Tafel. Die trefflichen Speisen hatten ihre Esslust noch
mehr geweckt, und da sie noch ganz warm waren, so glaubten sie nicht übel zu
tun, wenn sie nicht erst zwei Mal tafelten, sondern beide Mahlzeiten sogleich
mit einem Male abmachten. Nachdem sie beide Mahlzeiten geendigt hatten, blieb
ihnen noch so viel übrig, dass sie davon nicht nur zu Abend essen, sondern auch
noch den folgenden Tag zwei Mahlzeiten davon halten konnten.

Als Aladdins Mutter den Tisch abgedeckt und das Fleisch, welches unberührt
geblieben, aufgehoben hatte, setzte sie sich neben ihren Sohn auf das Sofa, und
sagte zu ihm: „Aladdin, ich erwarte, dass du jetzt meine Neugierde in
Hinsicht dessen befriedigst, worüber du mir Auskunft zu geben versprochen
hast.“ Aladdin erzählte ihr umständlich alles, was sich während ihrer
Ohnmacht zwischen ihm und dem Geist zugetragen hatte.

Die Mutter war voll Verwunderung über die Reden ihres
Sohnes und über die Erscheinung des Geistes. „Aber, mein Sohn,“
erwiderte sie, „was willst du denn eigentlich damit sagen? So lange ich
lebe, habe ich nie unter allen meinen Bekannten jemand sagen gehört, dass er
einen Geist gesehen. Durch welchen Zufall hat sich nun dieser hässliche Geist
gerade mir vor Augen gestellt? Warum hat er sich an mich gewendet, und nicht an
dich, dem er doch schon einmal in der Schatzhöhle erschienen war?“

„Liebe Mutter,“ erwiderte Aladdin, „der
Geist, welcher dir erschienen, ist nicht derselbe, der mir erschien. Sie sind
sich freilich in Hinsicht auf ihre Riesengröße gewissermaßen ähnlich, aber
an Gesichtsbildung und Kleidung sind sie gar sehr voneinander verschieden, auch
gehören sie verschiedenen Herren an. Wenn du dich noch erinnerst, derjenige,
den ich sah, nannte sich einen Sklaven des Ringes, den ich am Finger habe, und
der, den du sahst, nannte sich einen Sklaven der Lampe, die du in der Hand
hattest. Aber ich glaube nicht, dass du es gehört hast, denn, wie mich dünkt,
fielst du sogleich in Ohnmacht, als er zu reden anfing.“

„Wie?“, rief die Mutter aus, „also deine
Lampe ist Ursache, dass dieser hässliche Geist sich lieber an mich, als an dich
wandte? Ach, lieber Sohn, da schaffe mir sie nur aus den Augen und hebe sie auf,
wo es dir gefällt. Ich mag sie nicht mehr anrühren. Meinethalben mag sie
lieber weggeworfen oder verkauft werden, als dass ich Gefahr laufe, bei
Berührung derselben vor Schrecken zu sterben. Wenn du mir folgst, so wirst du
auch den Ring von dir tun. Man muss keinen Verkehr mit Geistern haben. Es sind
Unholde, wie schon unser Prophet gesagt hat.“

„Mit deiner Erlaubnis, liebe Mutter,“ erwiderte
Aladdin, „ich werde mich jetzt wohl hüten, das zu tun, was ich vor kurzem
wollte, nämlich eine Lampe zu verkaufen, welche dir und mir so viel Nutzen
schaffen wird. Siehst du nicht, was sie uns soeben verschafft hat? Sie soll uns
jetzt fortwährend Nahrung und Lebensunterhalt verschaffen. Du kannst, wie ich,
wohl leicht erachten, dass mein fälschlicher und böser Oheim sich nicht ohne
Grund so viel Mühe gegeben, und eine so weite und beschwerliche Reise
unternommen hat, um sich in den Besitz dieser Wunderlampe zu setzen, welche er
all dem Gold und Silber vorzog, das, wie er wusste in den drei Sälen vorhanden
war, und das ich selber ganz so, wie er es mir beschrieben, da gesehen habe. Er
kannte nur zu wohl den Preis und den Wert dieser Lampe, als dass er sich von
jenem übrigen reichen Schatz noch irgend etwas gewünscht hätte. Da uns nun
der Zufall die geheime Kraft derselben entdeckt hat, so wollen wir den
möglichst vorteilhaften Gebrauch davon machen, aber ganz ohne den Neid und die
Missgunst unserer Nachbarn zu erregen. Ich will sie dir übrigens schon aus den
Augen schaffen, und sie an einem Ort aufheben, wo ich sie finde, im Fall ich
ihrer bedarf, da du nun einmal solche Furcht vor Geistern hast. Was den Ring
betrifft, so möchte ich mich übrigens ebenso wenig entschließen können, ihn
wegzuwerfen, denn ohne ihn würdest du mich nie wieder gesehen haben, ja ich
würde vielleicht jetzt nicht einmal mehr leben. Du wirst mir also wohl erlauben
müssen, dass ich ihn behalte und ihn stetes am Finger trage. Wer weiß, ob
nicht noch einmal irgend eine andere Gefahr mir zustößt, die wir beide nicht
voraussehen können, und wovon er mich dann befreien kann.“ Da diese
Bemerkung Aladdins ziemlich richtig zu sein schien, so hatte seine Mutter nichts
dagegen. „Lieber Sohn,“ sagte sie zu ihm, „du kannst so handeln,
wie du denkst. Ich für mein Teil mag mit Geistern nichts zu schaffen haben. Ich
erkläre dir hiermit, dass ich meine Hände in Unschuld wasche, und mit dir nie
ein Wort weiter deshalb reden werde.“