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303. Nacht

Abu Hassan war noch ganz in diese Betrachtungen und
Gedanken vertieft, als seine Mutter herein trat. Als sie ihn so mager und
abgezehrt sah, flossen ihre Tränen reichlicher, als es bis dahin der Fall
gewesen war. Mitten unter ihrem Schluchzen begrüßte sie ihn mit dem
gewöhnlichen Gruß, und Abu Hassan erwiderte ihn, ganz gegen seine bisherige
Gewohnheit, zum ersten mal wieder. Sie nahm dies für eine günstige
Vorbedeutung, trocknete sich die Tränen aus den Augen, und sagte zu ihm:
„Nun, mein Sohn, wie geht es dir? In welcher Gemütsstimmung befindest du
dich? Hast du die Einbildungen und Reden, welche der böse Geist dir eingegeben
hat, wieder fahren lassen?“

„Meine Mutter,“ erwiderte Abu Hassan mit einer
ruhigen und gesetzten Stimmung und in einem Ton, worin der tiefe Schmerz über
das, was er gegen sie begangen, sich ausdrückte, „ich erkenne meine
Verirrung, aber ich bitte dich, mir jenes abscheuliche und verruchte Verbrechen
zu verzeihen, dessen ich mich gegen dich schuldig gemacht habe. Ein Gleiches
bitte ich von meinen Nachbarn, wegen des ärgernisses, das ich ihnen gegeben
habe. Ich bin durch einen Traum verführt worden, aber durch einen so
außerordentlichen und wahrscheinlichen, dass ich für gewiss behaupten kann,
jeder andere, dem er begegnet wäre, würde davon nicht minder ergriffen worden
sein, und würde vielleicht noch größere Narrheiten, als ihr von mir gesehen
habt, begangen haben. Selbst in dem gegenwärtigen Augenblick bin ich noch so
verwirrt davon, dass ich mich kaum überreden kann, es sei ein Traum gewesen, so
viel ähnlichkeit hat er mit dem, was unter Leuten, die wach sind, vorgeht. Wie
dem auch sein mag, ich halte es für einen Traum und für eine Täuschung, und
will es fortwährend dafür halten. Ich bin selbst überzeugt, dass ich nicht
jene Traumgestalt von Kalif und Beherrscher der Gläubigen, sondern dein Sohn
Abu Hassan bin. Ja, ich bin der Sohn einer Mutter, die ich stets geehrt habe,
bis zu jenem unglücklichen Tag, dessen Andenken mich mit Beschämung erfüllt,
einer Mutter, die ich ehre, und mein ganzes Leben hindurch ehren werde, wie sich
es gebührt.“

Bei diesen verständigen und vernünftigen äußerungen
verwandelten sich die Tränen der Betrübnis, des Mitleids und der Bekümmernis,
welche Abu Hassans Mutter seit langer Zeit geweint hatte, in Tränen der Freude,
des Trostes, und der Zärtlichkeit für ihren teuren Sohn, den sie
wieder gefunden hatte. „Mein Sohn,“ rief sie ganz außer sich,
„indem ich dich, nach dem allen, was vorgegangen ist, wieder so vernünftig
reden höre, fühle ich mich fast ebenso vergnügt und entzückt, als ob ich
dich noch einmal zur Welt geboren hätte. Ich muss dir jetzt nur meine Ansicht
über dein Abenteuer auseinander setzen und dich auf einen Umstand aufmerksam
machen, den du bis jetzt vielleicht nicht beachtet hast. Der Fremde, den du
eines Abends zum Abendessen mitbrachtest, ging fort, ohne dass er, wie du es ihm
doch anempfahlst, die Tür deines Gemachs zuschloss, und dies, glaube ich, gab
dem bösen Geist Gelegenheit, in dasselbe hinein zu gelangen und dich in die
entsetzliche Täuschung zu versetzten, worin du dich befandest. Du musst daher,
mein Sohn, Gott danken, dass er dich davon befreit hat, und ihn bitten, dass er
dich ins künftige vor den Fallstricken des bösen Geistes bewahre.“

„Du hast die Quelle meines Unglücks richtig
entdeckt,“ antwortete Abu Hassan, „gerade die Nacht war es, wo ich
diesen Traum hatte, der mein Gehirn so zerrüttete. Ich hatte dem fremden
Kaufmann ausdrücklich den Wink gegeben, dass er die Türe hinter sich zumachen
möchte, und ich merke jetzt, dass er es nicht getan hat. Ich bin nun mit dir
davon überzeugt, dass der böse Geist die Tür offen gefunden hat,
hereingedrungen ist, und mir alle diese Einbildungen in den Kopf gesetzt hat.
Man mag vermutlich zu Mussul, wo dieser Kaufmann her war, das nicht wissen, was
uns hier in Bagdad nur zu wohl bekannt ist, dass nämlich der böse Geist alle
die bösen Träume veranlasst, die uns des Nachts beunruhigen, wenn man die
Türe des Schlafzimmers offen gelassen hat. Da ich nun durch Gottes Gnade von
der Geistesverwirrung, worin ich mich befand, völlig wieder hergestellt bin, so
bitte ich dich um Gottes Willen und so inständig, als nur ein Sohn eine so gute
Mutter, wie du bist, bitten kann, bringe mich so schnell als möglich aus dieser
Hölle und befreie mich aus den Händen des Henkers, der, wenn ich noch länger
hier bleibe, mein Leben unfehlbar abkürzen wird.“

Abu Hassans Mutter, die jetzt völlig getröstet und
gerührt darüber war, als sie ihren Sohn von seiner törichten Einbildung
gänzlich hergestellt sah, ging auf der Stelle hin und suchte den Aufseher des
Hauses auf, der ihn dahin gebracht und bisher unter seiner Leitung gehabt hatte.
Sobald sie diesen versichert hatte, dass ihr Sohn jetzt wieder ganz bei Verstand
wäre, kam er herein, untersuchte ihn, und setzte ihn vor ihren Augen in
Freiheit.

Abu Hassan kehrte in seine Wohnung zurück, und blieb
mehrere Tage zu Hause, um seine Gesundheit durch kräftigere Nahrungsmittel, als
er bisher im Narrenhaus genossen hatte, wieder zu stärken. Indessen, sobald er
wieder zu seinen Kräften gelangt war, und von der in seiner Gefangenschaft
erlittenen schlechten Behandlung keine Beschwerden mehr empfand, fing es an, ihm
langweilig zu werden, die Abende so ganz ohne Gesellschaft hinzubringen. Daher
säumte er denn nicht, seine vorige Lebensweise wieder anzufangen, das heißt,
sich täglich einen hinreichenden Speisevorrat zu besorgen, um des Abends einen
neuen Gast bewirten zu können.

Der Tag, wo er seine alte Weise wieder anfing, nämlich
gegen Sonnenuntergang an das Ende der Brücke von Bagdad zu gehen, und den
ersten Fremden, dem er begegnete, anzureden, und zur Abendmahlzeit einzuladen,
war gerade der Erste des Monats, an welchem Tag, wie schon gesagt, der Kalif jedes Mal
zum Zeitvertreib verkleidet, zu einem Tor hinaus zu gehen pflegte, um
persönlich nachzusehen, ob irgend etwas vorginge, was der guten Ordnung zuwider
liefe, die er gleich zu Anfang seiner Regierung eingeführt hatte.